16. Dezember 2019

Karl Amadeus Hartmann: Die Klavierwerke

Die sechs erhaltenen Kompositionen für Klavier solo, die neben einer Reihe von Solowerken für Violine sowie einigen Ensemblewerken und dem satirischen Wachsfigurenkabinett zum Frühwerk Karl Amadeus Hartmanns gehören, sind in einem von ihm eigenhändig zusammengestellten Werkkatalog aus dem Jahr 1950 nicht enthalten. Der Komponist bezeichnete die frühen Solowerke wie auch die übrigen in der Zeit von 1927 bis 1932 entstandenen Kammermusikwerke als nicht „wesentlich“, sondern erwähnte lediglich seine beiden Streichquartette als gültige Arbeiten. Obwohl Hartmann stets mit Behauptungen wie „Alle meine damaligen Kompositionen vernichtete ich später“ sein Frühwerk zu verschweigen versuchte und sogar die radikale Vernichtung früher Werke glaubhaft machen wollte, indem er erklärte: „Ich habe meine beiden Klaviersonaten verbrannt, da ich nicht mehr zu ihnen stehen konnte“, sind einige frühe Arbeiten erhalten oder wieder aufgefunden. Während Hartmanns Frau Elisabeth von einem „Stapel von Kammermusiknoten“ berichtete, der unberührt — aber auch unvernichtet — „jahrelang in der Wohnung lag“, dokumentierte Hans Moldenhauer, dass Hartmann „die Archive als geeigneten Aufbewahrungsort gerade für seine Frühwerke, die er erst nach seinem Tod veröffentlicht wissen wollte, erachtete.“

Der Grund für diese Negierung des Frühwerks zu Lebzeiten ist neben der selbstkritischen Haltung des Komponisten und dem reifenden künstlerischen Urteilsvermögen sein wachsendes Selbstverständnis als Symphoniker. Dazu kommt, dass sich Hartmann sowohl der Gefahr einer einseitigen Bewertung anhand früher und teils provozierend gestalteter Werke als auch der Einordnung als politischer Komponist und „Bekenntnismusiker“ entziehen wollte, indem er jeden möglichen Hinweis auf politische Bezugnahmen oder die Subsumierung seines künstlerischen Schaffens unter entsprechender Kategorisierung zu vermeiden versuchte. Hartmann war daran gelegen, seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer liberalen und humanen Welt ohne Einschränkungen oder gar politische Positionsbestimmung künstlerisch umzusetzen und im Werk zu verdichten.

Einzig die Sonate „27. April 1945“ als in mehrfacher Hinsicht exponiertes Werk galt zu Hartmanns Lebzeiten als unvernichtet; jedoch bemühte sich der Komponist, Aufführungen selbst dieser Klaviersonate zu verhindern, wie er 1957 in einem Brief an Fritz Büchtger deutlich machte: „Nun ist dieses Stück ein Jugendwerk von mir, zu dem ich überhaupt nicht mehr stehe und deshalb möchte ich die Klaviersonate auf gar keinen Fall in München aufgeführt wissen.“

Die frühen Arbeiten für Klavier solo stellen keine geschlossene Einheit dar, sondern sind in drei Gruppen zu unterteilen:

Die in den Jahren 1927 während des Musikstudiums an der Akademie für Tonkunst in München entstandenen frühesten erhaltenen Werke Suite I und II für Klavier solo, daneben die Jazz-Toccata und —Fuge aus dem Jahr 1928, die Sonatine aus dem Jahr 1931 und die 1. Sonate (1932), die hinsichtlich ihres Umfangs wie ihrer Bezeichnung als eigenständig konzipierte Klavierwerke zu betrachten und dennoch der frühen kammermusikalischen Arbeit mit ihrer Erprobung stilistischer Elemente und formaler Mittel zuzurechnen sind und schließlich die mit ihrer besonderen Entstehungsgeschichte als einzelnes Werk existierende Sonate 27. April 1945, die weit nach der Hinwendung Hartmanns an die symphonische Besetzung entstanden ist.

Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)
Suite I und II für Klavier solo

In den frühen Suiten für Klavier solo setzte sich Hartmann mit traditionellen Kompositionsmitteln auseinander; die Erprobung individueller Motive im historischen Kontext dokumentiert noch den Studiencharakter der während der Kompositionsausbildung verfassten Werke, verweist jedoch gleichzeitig auf die früh erarbeiteten stilistischen Ziele, die Hartmann innerhalb der konzis gefassten Einzelsätze der Suiten bereits formuliert: Er wollte „ein Stück absoluten Lebens darstellen — Wahrheit, die Freude bereitet und mit Trauer verbunden ist". Dieser Wunsch findet mit der reliefartigen Kontrastierung kontemplativer Momente und eruptiver Ausbrüche - etwa mit „Sehr langsam“ im 1. und dem „Sehr lebhaft (sehr roh)“ des folgenden 2. Satzes der Suite I - Eingang schon in das frühe Werk. In Anlehnung an die Klavierkompositionen der Zeitgenossen - zu nennen ist Hindemith mit einer Vielzahl kurzer Klavierwerke‚ aber auch Bartók mit ähnlich kompakten Stücken im Mikrokosmos — erarbeitete sich Hartmann nicht nur traditionelle Satzformen und erforschte die dramatische Architektur innerhalb der oft nur wenig über 20 Takte langen Einzelsätze mit expressiven, oft zentral angelegten Höhepunkten in A-B-A-Form‚ sondern er experimentierte mit bitonalen Strukturen und ungeraden metrischen und synkopierten Motiven.

Hartmann schrieb die Suite I „Zur Erinnerung an einen Mittwoch in der Ludwigstraße“, in der sich im Odeon sein damaliger Ausbildungsort befand. Weitere Auskünfte hinsichtlich dieser Widmung sind unbekannt — jedoch sprechen sie für die lebensfrohe Haltung Hartmanns und seine Fähigkeit der Kontemplation‚ die sich bereits hier in hochsensiblen Strukturen und Formen zeigt. Bemerkenswert dabei ist der frühe Ansatz eines expressiven Stils, der sich im späteren symphonischen Schaffen in den groß angelegten Adagio-Sätzen wiederfindet, aber bereits im 1. Satz der Suite I zu erkennen ist: Das in der Unterstimme (T. 9 und 10 des 1. Satzes) verwendete Motiv der fallenden großen Sexte mit sich anschließender kleiner Sekunde gerät bei der Wiederverwendung in der 1. Symphonie und in Friede Anno 48 mit entsprechender Textierung zum Symbol von Trauer und Betroffenheit.

Die Tendenz, traditionelle Stilmittel zu entdecken, zu verarbeiten, zu transformieren und mit innovativen Elementen zu konfrontieren, wechselte sich ab mit einer herausfordernden „enfant terrible“-Haltung, die mit der Faszination an den motorischen Impulsen der neuen Sachlichkeit in Ostinatofiguren deutlich wird, sich in ungeraden Metren und Angaben wie „sehr roh“ manifestiert und sich bis zum swinging „Jazz“ des Finalsatzes der Suite II mit seinem locked hand-Stil entwickelte.

Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)
Jazz-Toccata und -Fuge

Dieses dissonante und provozierende Werk, eine bereits im Titel postulierte Verbindung zwischen barocker Fonn und neuen Klängen, könnte zum Zerwürfnls zwischen Hartmann und seinen Lehrern geführt haben: Der konservative Kompositionslehrer Joseph Haas, der später auch mit Hartmanns besorgter Schwiegermutter über das fragliche Talent seines Schülers gesprochen hat (und dies nie abstritt), war offensichtlich einer Unzahl von Entwürfen des jungen Hartmann ausgesetzt und vertrat die zutreffende Ansicht, dass sich sein Schüler zu sehr an Hindemith und Strawinsky orientiere. Offensichtlich äußerte Haas seine Bedenken auch im Unterricht deutlich und verärgerte seinen Studenten mit abfälligen Bemerkungen über neue Musik, was dazu führte, dass Hartmann ihm voller Zorn einen Schlüsselbund vor die Füße warf; später hat er dies wie folgt beschrieben: „Als ich jedoch der Akademie eigene Arbeiten vorlegen mußte, sah ich voraus, daß diese keinen Anklang finden würden, behelligte die Professoren erst gar nicht damit und ließ die Tür getrost hinter mit zufallen.“

Die „polternde“ Toccata, die zunächst das Solo eines Jazzbasses nachahmt, um dann nach einigen fast perkussiven Einwürfen eine Melodiestimme vorzubereiten, enthält im weiteren Verlauf eine Vielzahl von Ideen zur Gestaltung: kontrastreiche dynamische Wechselm verspielte Spiegelfiguren, kanonische Führungen, „trompetenhafte“ Quartparallelen und Cakewalk-Rhythmen ergeben einen dichten Satz mit zahlreichen thematischen Episoden, die den Satz fast überladen und daher folgerichtig als plötzliche Auflösung in einem ironischen A-Dur-Akkord enden, nicht ohne zuvor mit einem ‚BACH-Zitat’ dem Großmeister der gewählten Formenstruktur spöttisch-liebevolle Reverenz zu erweisen. Die Fuge ist „Markant: im schnellen Jazztempo“ zu spielen und enthält mit Dux und Comes zunächst alle traditionellen Merkmale, gewinnt jedoch im weiteren Verlauf durch rhythmisch komplexe und dynamisch ausgreifende Passagen individuelle Gestalt, die in einem „Charleston“ gipfelt, der „Mit aller Macht!" zu spielen ist und sogar die perkussive Behandlung des Instrumentes mit dem Hinweis „Pedal hörbar aufheben“ einschließt. Auch dieser Satz endet mit einem Dur-Akkord, der das vorangegangene Geflecht abrupt und gleichzeitig augenzwinkernd löst. Die damals gewagte Art der Gestaltung, die in Anlehnung an Hindemiths Aufforderung nach der Behandlung des Klaviers „wie ein Schlagzeug“ entstanden ist, steht für einen unbedingten Wunsch nach Befreiung von Konventionen, spiegelt die ‚roaring twenties‘ in den Großstädten mit ihren Jazzbezügen - und ist als vertonte Provokation gleichzeitig ein Dokument des Zeitgeists, das die Mixtur traditioneller Formen mit neuen Klängen in virtuoser Weise behandelt.

Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)
Sonatine

Die im Ttel Sonatine verwendete Diminutivform der dreisätzigen Arbeit nimmt Bezug auf die zeittypische kurze Faktur, die bei vielen Zeitgenossen Hartmanns vorbildhaft geprägt und in der Reduzierung als ‚Befreiung‘ von langen und ausgreifenden spätromantischen Sätzen zu verstehen ist. Dennoch ist das Werk durch die Verwendung verschiedener thematischer Bereiche in Relation zur Form ‚überladen‘; es enthält überdies einen wesentlichen ‚stilistischen Bruch‘, der durch zwei im Ausdruck völlig unterschiedliche Teile entsteht und den für Hartmann charakteristischen Kontrast zwischen sachlich—dissonantem und expressiv-kontemplativem Charakter exponiert. Mit der direkten Gegenüberstellung der beiden Eigenarten und im Hinblick auf die Motivik nimmt das Werk eine Schlüsselrolle im Werkkatalog Hartmanns ein: Die Mittel der in einem schroffen Stil gefassten Sachlichkeit im ersten Teil weichen in der zweiten Hälfte des Werks einer Tonsprache, die in expressiver und lamentohafter Gestik einen deutlichen Kontrast bildet und die vorangegangene Passage fast persönlich reflektiert. Zentrales Motiv des ersten Teils ist eine Fünfachtelgruppe, die durch die Sekundkombination stark dissonant wird und — von vielfachen Taktwechseln und differierenden metrischen Einheiten unterstützt — einen ,zerrissen-impulsiven’ Eindruck erzeugt. Mit dem neuen Teilabschnitt „sehr breit, ausdrucksvoll“ beginnt der Expressiv-Charakter, der einen stilistischen Bruch innerhalb der kurzen Sonatine herbeiführt. Die Expressivität wird verstärkt durch Anklänge an das von Hartmann auch in weiteren Werken — etwa im 1. Streichquartett oder in der Oper Simplicius — verwendete Lied Elijahu ha-navi. Hinzu kommen melismenartige Figuren und der für Hartmanns Gesamtwerk charakteristische Sekundfall; damit werden die Spezifika jüdischer Musik noch bekräftigt und gleichzeitig Hartmanns Faszination an der Vielfalt der Möglichkeiten des Einsatzes jüdischer Melodieelemente dokumentiert. Die Verwendung jüdischer Motive kann noch nicht als unmittelbare Bezugnahme auf die drohende Verfolgung und systematische Ermordung des jüdischen Volks gewertet werden, sondern ist zunächst die unmittelbare Folge der vielfachen Besuche Hartmanns bei der im Jahr 1928 in München gastierenden Theatergruppe „Habimah“, deren ausdrucksstarke Vorstellungen ihn so tief beeindruckt haben, dass er zeitlebens begeistert von den Auftritten der Schauspieler berichtete. Insbesondere die quasi improvisierten kleinschrittigen Intervalle und Melismen der Theatermusik wirkten auf den Komponisten so nachhaltig, dass sie fester Bestandteil seines späteren Werks wurden. Die Sonatine ist das künstlerische ‚Ergebnis‘ der vorangegangenen kompositorischen Arbeit mit jazzähnlichen Elementen, ‚sachlichen‘ Merkmalen und ‚bewährter‘ Motivik, angereichert mit neuen Eindrücken aus der jüdischen Theaterwelt; das Werk dokumentiert mit seinem Espressivogehalt eine deutlich gereifte Stilsicherheit des Komponisten und zugleich die Tendenz zur raumgreifenden Ausweitung mit symphonischen Zügen: extreme Lagen, perkussive Elemente, rhythmische Figuren und melodische Linien lassen die Charakteristik eines Klavierauszugs erkennen, der nur der Instrumentierung für großes Orchester harrt.

Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)
Sonate I

Hartmanns Sonate I für Klavier solo ist das Ergebnis der Erprobungszeit eigener Mittel; das Streben nach direkter Gestaltung eines (‚subjektiven‘) Ausdrucks geht mit den aktuellen konstruktiv-sachlichen Kompositionstechniken der Zeitgenossen eine charakteristische Verbindung ein.

Die Eingangsmotivik des 1. Satzes wird auch im 1936 entstandenen Friede Anno 48 (und dementsprechend in der verkürzten Neufassung Lamento von 1955) wieder verwendet. Somit ist nicht nur die bewusste Vernichtung des gesamten Frühwerks widerlegt, sondern die Bedeutung der frühesten Kompositionen im Hinblick auf den Einsatz expressiver Elemente im späten Schaffen dokumentiert. Besonders deutlich setzt Hartmann im weiteren Verlauf des 1. Satzes als konstruktives Element noch einmal bitonale Strukturen ein, die aus der Kombination zweier tonaler Stimmen entstehen. Mit einer zunächst annähernd ‚volkstümlichen‘ Anlage der Oberstimme bei vergleichsweise einfacher Rhythmisierung und der Ergänzung tonaler Ostinatofiguren als Begleitung erzielt Hartmann eine Art Sprachduktus, mit Hilfe dessen er seine Vorstellung eines „Kunstwerke mit einer Aussage“ auf individuelle Weise realisiert.

Bemerkenswert ist im kontrastierenden langsamen 2. Satz, dem eine einfache A-B-A-Form zugrunde liegt, dass im Beginn des B-Teils der Tritonus als Außenintervall die Motivik dominiert; die Tritonusmotivik dient der Spannungssteigerung und findet sich im Gesamtwerk Hartmanns immer wieder an exponierter Stelle. Auch die konsequent eingesetzten großen Septimen, die hintereinander gereiht als Einschübe den Verlauf unterbrechen, jedoch nicht entspannen, dienen der zusätzlichen espressivo-Dichte des Satzes. Mit der „attacca subito“-Anweisung folgt der Finalsalz, der in der Gestaltung des Eingangsmotivs deutliche Parallelen zum Allegro barbaro von Bartók aufweist. Hier greift Hartmann noch einmal auf die Motorik der 1920er Jahre zurück, verlangt gar „maschinell ausspielen“ im dreifachen Fortissimo und „sehr hart“ im angedeuteten Marsch, der wie Tonfolgen im 2. Salz der Sonatine an seine Tanzsuite für Bläserquintett aus 1931 erinnert.

Die vorläufig letzte Arbeit für Klavier solo enthält vlele Merkmale zeitgenössischer Kompositionsästhetik mit ihren provozierenden Elementen der „Neuen Sachlichkeit“ und ihrer Definition, die den „linken ,veristischen‘ Flügel“ entgegen der klassizistischen Bewegung konservativer Kräfte als Bewegung versteht und „durch eine ,Verneinung der Kunst‘ das ‚wahre Gesicht unserer Zeit‘ zeigt“, verweist aber — zusammen mit den etwa zeitgleich entstandenen Werken für Ensemble und Orchester — auf die fortgeschrittene Reife Hartmanns bei der Motivgestaltung und die folgende Abkehr vom provokativen Stil.

Karl Amadeus Hartmann, Gabrielle Dumaine und Olivier Messiaen
 beim 4. Konzert im Rahmen der Konzertreihe „musica viva“ am 31. Januar 1952
Sonate für Klavier solo „27. April 1945“

Hartmanns letztes Werk für Klavier ist eng mit seiner Biografie verbunden und nimmt direkten Bezug auf die Umstände der letzten Kriegstage. Die Sonate wird damit zu einem beispiellosen Dokument der Betroffenheit und der Verzweiflung: Im Haus der Schwiegereltern in Kempfenhausen am Starnberger See, in das sich Hartmann mit seiner Frau Elisabeth und seinem damals zehnjährigen Sohn Richard zum Schutz vor Bombenangriffen zurückgezogen hatte, wurde der Komponist Zeuge eines der letzten grausamen Ereignisse des nationalsozialistischen Regimes. Um die Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau der Befreiung durch die Alliierten zu entziehen, wurden sie in nächtlichen Märschen zum Weg in die Alpen gezwungen. Die durch Folter und Grausamkeit gequälten und völlig ausgezehrten Menschen — diejenigen unter ihnen, die aus Erschöpfung zusammenbrachen, wurden von den brutalen Aufsehern sofort erschossen — zogen am Wohnhaus der Familie Hartmann vorbei; die Schüsse waren deutlich zu hören.

Ein verzweifelter kam an das Haus, um Nahrungsmittel zu erbitten. Der Schock dieses Anblicks und der endgültigen Gewähr, dass nicht nur Kriegsereignisse, sondern vor allem ideologische Verirrungen und Wahnsinn zu Greueltaten und Mord führten, veranlasste Hartmann dazu, seiner tief empfundenen Betroffenheit in Tönen Ausdruck zu geben: „Am 27. und 28. April 1945 schleppte sich ein Menschenstrom von Dachauer ‚Schutzhäftlingen‘ an uns vorüber — unendlich war der Strom — unendlich war das Elend — unendlich war das Leid -“.

Er berichtete dann auch seinem Bruder Adolf, mit dem er sich in fortdauernder Korrespondenz über alle Ereignisse austauschte, in einem Brief vom 4. Juni 1945: „In den 12 Jahren der Nazi habe ich nichts schrecklicheres gesehen wie dies. (…) Dies Bild des Schreckens, dies Bild des Grauens ist nicht zu schildern".

Die Sonate, von deren 4. Satz zwei verschiedene Fassungen existieren, enthält einige Zitate, motivische Merkmale und Reminiszenzen, die mit der Entstehungsgeschichte eng zusammenhängen: Im 1. Satz ist nach der melismatischen Ausgestaltung der ersten Takte, die hier eindeutig als Solidaritätserklärung an das verfolgte jüdische Volk, aber auch mit dem Trauerton als Ausdruck des fast unerträglichen Zustands zu deuten ist, immer wieder ein tonales Motiv (aus sog. Hornquinten) zu hören, das der Interpret Benedikt Koehlen selbst als Anspielung auf die Sonate op. 81a Das Lebewohl (Les Adieux) von Beethoven versteht. In Hartmanns Sonate erzeugt dieses Motiv eine sehr eigene Stimmung, ein Abschied — vielleicht von der Unterdrückung und der Grausamkeit, ein „Lebewohl“ für die Überlebenden, aber auch die tragische Gewissheit, den Getöteten ein letztes „Les Adieux“ zu vermitteln. Das verdeckte Zitat des Liedrefrains aus der „Internationalen“, „Völker hört die Signale“ im mit „Scherzo“ überschriebenen 2. Satz, ist Ausdruck der Hoffnung, im dreifachen Forte, „con fuoco e con passione" wird es zum Aufschrei und appelliert an den in der Situation nur imaginären Hörer und dennoch an die gesamte Menschheit wie eine Beschwörung, die Zukunft besser und menschlicher zu gestalten. Hartmanns unerschütterlicher Glaube an eine bessere Zukunft, die zumindest in nachfolgenden Generationen möglich sein sollte, vermischt sich mit der lange bereits bestehenden Sympathie für die sozialistische Idee, für die die „Internationale“ das Erkennungszeichen ist.

Karl Amadeus und Elisabeth Hartmann, 1948.
Der 3. Satz, „Marcia funebre“, enthält das leicht verfremdete Liedzitat „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. Dieses Lied‚ auch ein wesentliches Symbol der sozialistischen Bewegung, kann im Zusammenhang mit dem Häftlingszug nicht als politischer Kampfappell, sondern muss als Zeichen spontanen Mitgefühls verstanden werden. Den gefolterten Insassen des Konzentrationslagers Dachau wollte der zeitlebens hochsensible Hartmann keine politischen Richtlinien mitgeben, sondern den Überlebenden einen wörtlich zu verstehenden Wunsch übermitteln und gleichzeitig seine Solidarität zeigen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder, zum Lichte empor“ kann nur als inniger Wunsch ausgelegt werden, nicht jedoch als Dokument politischer Positionsbestimmung - in dieser leidvollen Situation. Auch im 4. Satz greift Hartmann auf präexistentes Liedgut zurück und paraphrasiert das Lied „Partisanen vom Amur“ als Zeichen seiner Verbundenheit mit den Häftlingen; der Zug der Partisanen‚ der in der von Ernst Busch geschaffenen deutschen Fassung des Lieds auf eine russische volkstümliche Melodie beschrieben wird, greift die Bewegung des Häftlingsstromes auf.

Hartmann unterbricht jedoch mit der Spielanweisung „herunter stürzen!“ und darauf folgenden entrückten „dolce“-Passagen die marschmäßige Kampfstimmung bewusst und leitet damit erneut einen Reflexionsprozess ein, den er selbst durchlebt hat und auf diese Weise dem imaginären Hörer mitteilen wollte. Reflexion als ständiges Hinterfragen wendete Hartmann in zweifacher Hinsicht an: Als Künstler unterzog er sich und seine Kompositionen einer fortwährenden kritischen Betrachtung, die dazu führte, dass er bereits im Frühwerk einen eigenen ästhetischen Stil erarbeitete und im Schaffen nach 1945 viele seiner Orchesterwerke einer Revision unterzogen hat, um sie hinsichtlich der Wirkung und des Gehalts zu optimieren, während er als Mensch zeitlebens von sozialistischen Idealen im Sinne einer allumfassenden Humanität und Freiheit geprägt war, die jedoch in ihrer parteilich organisierten und zur Staatsform ernannten Umsetzung nach 1945 seinen Überzeugungen nicht mehr standhielten.

Karl Amadeus Hartmann hat seine gelebte Überzeugung von Freiheit und Humanität niemals geopfert, sondern in seinem gesamten Schaffen künstlerisch verdichtet und erlebbar gemacht. Die Stationen dieses konsequenten künstlerischen Weges sind von der ersten Suite für Klavier solo bis zum letzten unvollendeten Werk, der Gesangsszene, in aller Eindeutigkeit zu erkennen.

Quelle: Christoph Brehler, im Booklet


TRACKLIST

Karl Amadeus Hartmann
(1905-1963)

Das Klavierwerk

    Kleine Suite I (c. 1924-26)          [06:39]
01. I.   Sehr langsam                    [02:26]
02. II.  Sehr lebhaft (sehr roh)         [01:00]
03. III. Fließend                        [00:58]
04. IV.  Breit und zart                  [01:29]
05. V.   Äußerst lebhaft                 [00:45]

    Kleine Suite II (c. 1924-26)         [08:19]
06. I.   Lebhaft                         [00:59]
07. II.  Sehr langsam, zart              [03:25]
08. III. Fließend                        [02:22]
09. IV.  Jazz                            [01:32]

    Jazz-Toccata und -Fuge (1927-8)      [08:05]
10. Toccata                              [04:43]
11. Fuge                                 [03:22]

12. Sonatine (1931)                      [07:03]
    
    Erste Sonate (1932)                  [10:38]
13. I.   Toccata                         [03:14]
14. II.  Langsamer Tanz                  [04:39]
15. III. Finale                          [03:47]

    Sonate '27 April 1945' (1945)        [30:01]
16. I.   Bewegt                          [03:52]
17. II.  Presto assai                    [04:05]
18. III. Marcia funebre                  [09:28]
19. IV.  (2. Version) Allegro risoluto   [06:47]
20. V.   (1. Version) Allegro furioso    [05:45]

                             Total Time: [70:43]
Benedikt Koehlen, Piano 

Aufnahmeort / recorded at: Tonstudio Mechernich-Floisdorf
Aufnahmedaten / recording dates: 02.-03.08.2004 / 25.-26.02.2005
Toningenieur / recording engineer: Manfred Dahlhaus
Aufnahmeleitung / recording director. Joachim Krist
(C)+(P) 2006


Götz Aly:

Linker Antisemitismus

November 1969: Bombe im Jüdischen Gemeindehaus Berlin [Quelle]
Da sich die Neue Linke auf diese Weise von den nationalsozialistischen Verbrechen abwandte, hatte sie es nicht weit, um aus denselben Gründen der Schuldabwehr die Distanz zu Israel und zu den jüdischen Deutschen zu suchen. Auch das geschah nicht ohne Übergänge, konnte sich als Desinteresse äußern oder militante Formen annehmen. Wie die Umfragen im Sommer 1967 zeigen, waren die Studenten noch mehrheitlich proisraelisch eingestellt. Seit 1959 gab die Deutsch-Israelische Studiengruppe an der Freien Universität die Zeitschrift DIS-kussion heraus, getragen von vielen SDS-Mitgliedern.

Am Abend des 6. Juni, unmittelbar nach dem Beginn des Sechstagekriegs und mitten in der Erregung um den Tod Ohnesorgs, demonstrierten 1000 Berliner Schüler und Studenten auf dem Berliner Kurfürstendamm unter der Parole »Unser Herz schlägt für Israel«; an die 300 meldeten sich bei der Jüdischen Gemeinde spontan für den zivilen Einsatz in Israel. Ähnliches geschah in Frankfurt. Am selben Tag sprach Professor Weischedel verständnisvoll zu den Studenten. Er klagte die Staatsgewalt an und beklagte die Leisetreterei seiner Kollegen. Mitten in der Rede kam er auf den Krieg im Nahen Osten zu sprechen. Sicherlich, so führte er aus, sei es schwierig, Recht und Unrecht in diesem Konflikt genau zu unterscheiden, doch ergreife er dennoch Partei; er umriss einen noch bestehenden Konsens: »Ich habe es selber erlebt, wie schon einmal eine Vernichtungsaktion gegen die Juden unternommen wurde. Viele meiner Freunde sind damals umgekommen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass nun ein weiteres Mal an diesem Volk das Verbrechen des Völkermordes verübt werden soll. [...] Ich kann nicht anders, als meine volle Sympathie diesem kleinen Volk in seinem Kampf um seine Existenz zuzuwenden.«

In demselben Ton kommentierte Ulrike Meinhof in konkret: »Vorbehaltlos« beschwor sie die Sympathie der europäischen Linken für Israel, »die nicht vergessen wird, dass ihre jüdischen Mitbürger verfolgt wurden«, gerade die Linke müsse den Arabern »den Verzicht auf Israel, die Bereitschaft zur Koexistenz mit Israel abverlangen«. Meinhof mahnte ihre Gesinnungsfreunde, nicht dem »pro- und antiisraelischen Freund-Feind-Denken« zu erliegen und ähnlich wie im Hinblick auf Polen alles für die Aussöhnung mit Israel zu tun.

Diese gemeinsame Überzeugung der Linken zerfiel in den folgenden Wochen und Monaten zusehends. Anfang Juli 1967 veranstaltete der Frankfurter SDS ein Wochenendseminar zum Thema »Israel«. Noch differenzierten die Beteiligten in ihrer Resolution »zwischen unseren Gefühlen zu Israel« und der »rationalen Analyse der Position des Staates Israel«. Allerdings verwandten die Autoren den Begriff »Philosemitismus« bereits in diffamierender Weise und begannen unter tätiger Beihilfe von Wolfgang Abendroth Ägypten als »im Wesentlichen progressive republikanische Militärdiktatur« anzusehen.

Das Jüdische Gemeindehaus in der West-Berliner Fasanenstraße
Die Vordenker des revolutionären SDS wussten schon 1967 eines genau: Israel verdankte seine Existenz angeblich dem »amerikanischen Imperialismus und jüdischen Kapitalisten«; der Sechstagekrieg im Juni 1967 »beseitigte« für sie »den letzten Zweifel« am »reaktionären Charakter« seiner führenden Politiker. Anerkennung verdiente demnach das »Existenzrecht der in Palästina lebenden Juden«‚ nicht jedoch das »zionistische Staatsgebilde«. Zur deutschen Judenfeindschaft, Gewalt- und Vernichtungspolitik fiel den SDS-Strategen 1967 ein, die Juden seien nicht von Deutschen, sondern »durch den Faschismus aus Europa vertrieben und von vielen westlichen Ländern abgewiesen« worden und dann in Palästina »eingedrungen«. Der Frankfurter Literaturwissenschaftler Martin Stern sah sich im Sommersemester 1968 »als ›Fachidiot‹‚ als Schweizer Staatsbürger und Träger eines jüdischen Namens [...] systematisch diffamiert«. Die Studenten sprengten sein Seminar zur expressionistischen Dichtung mit der Begründung, Stern betreibe »metaphysische Literaturmauschelei« und sei »von keinem Furz sozialer Wirklichkeit je erreicht« worden.

Am 9. November 1969 tickte im Westberliner Jüdischen Gemeindehaus eine Brandbombe mit erheblicher Sprengkraft. Sie versagte, weil die Drahtverbindung zwischen Wecker, Batterie und Zünder nicht funktionierte. Eingestellt war der Wecker genau auf den Zeitpunkt der Gedenkveranstaltung zum Judenpogrom von 1938. Am folgenden Morgen fand eine Putzfrau die Höllenmaschine. Lange blieb unklar, wer den Anschlag ausgeheckt hatte. 35 Jahre später klärte Wolfgang Kraushaar den Fall auf. Er sichtete die Urkunden der Ermittlungsbehörden, die zeitgenössischen linken Flugschriften und die einschlägigen Erkenntnisse des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Vor allem aber gelang es ihm, wichtige Beteiligte zum Sprechen zu bewegen, insbesondere den Bombenleger selbst: den 1947 geborenen Albert Fichter. Er stammt aus einer schwäbischen Arztfamilie und schloss sich 1968/69 der Gruppe um Dieter Kunzelmann in Berlin an, die sich bald Tupamaros West-Berlin nannte. Fichter gehörte also zu einer derjenigen hyperradikalen Frontorganisationen, die sich nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in immer rascherer Folge aus der Mitte der Achtundsechziger-Bewegung bildeten. Fichter blieb lange verschwunden; dank Kraushaars Energie bat er im Sommer 2004 die »Berliner Jüdische Gemeinde für diese üble Tat um Vergebung«.

Wolfgang Abendroth (1906-1985)
Er beging sie unter der geistigen Anleitung von Kunzelmann, von dem er sagt, er habe schon damals immer »auf die ›Scheißjuden‹ geflucht«. Kunzelmann hatte im Oktober 1969 ein Ausbildungslager palästinensischer Terroristen besucht, dort nach eigenem Bekunden »genau gelernt, wie man Zeitbomben herstellt«‚ und war Anfang November nach Berlin zurückgekehrt. Der misslungene Anschlag fügte sich in die unter den Achtundsechziger-Aktivisten und -Mitläufern rasch verfestigte Logik vom »antiimperialistischen Befreiungskampf der Völker«.

Wohin diese Logik schon geführt hatte, zeigte sich genau sechs Monate vor dem Anschlagsversuch‚ als der erste, gerade eben akkreditierte israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Asher Ben-Natan, am 9. Juni 1969 an der Universität Frankfurt zum Thema »Frieden in Nahost« sprechen sollte. Eingeladen hatte ihn der Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland. Der phonstarke, linksradikale Teil der Zuhörer begrüßte den Botschafter mit der Parole »Ha, ha, ha — Al Fatah ist da«. Als Ben-Natan begann, den Staat Israel und dessen Politik zu verteidigen, wurde das Mikrophonkabel durchschnitten, und es ertönte der Ruf »Zionisten raus aus Deutschland«.

Zwei Tage nach dem Frankfurter Krawall sollte Ben-Natan in Hamburg sprechen. Dort kündigte der AStA an: »Der Herrenmensch Asher Ben-Natan wird in Hamburg nicht reden.« Der anonyme Verfasser des Aufrufs zeigte sich als einer jener autoritär-antiautoritären Rechthaber, die sich für damalige Verhältnisse gründlich mit der NS-Zeit beschäftigten und die so gewonnenen Erkenntnisse dann mit einem kleinen Trick ins Antisemitische verkehrten: Demnach verstand es Ben-Natan »virtuos«, den »ins ›Positive‹ verbogenen Antisemitismus« der Bonner Politiker »für die herrschende Klasse Israels auszunutzen«.

Als Begründung führte der Hamburger Großinterpret an: »Die Blitzsieger von 1940 können sich ohne Schwierigkeiten mit den Blitzsiegern von 1967 identifizieren; die Herrenmenschen des Dritten Reiches betrachten mit Genugtuung die rassistische Politik der Dayan-Meir-Clique gegen arabische ›Untermenschen‹.« In seiner Presseerklärung nahm der SDS-Bundesvorstand am 18. Juni zu den Vorfällen Stellung. Er bezeichnete die Al Fatah als »berechtigte sozial-revolutionäre Organisation« und den »Zionisten Ben-Natan« als Vertreter einer »rassistischen« und »autoritären« Ideologie. Von dieser »weichen« Linie grenzte sich die SDS-Gruppe Heidelberg scharf ab: Nach Meinung der dortigen Revolutionäre galt es, statt der kompromisslerischen Fatah die Demokratische Volksfront zur Befreiung Palästinas zu unterstützen, weil nur sie eine wirklich »revolutionäre Politik zur Organisation des Volkskrieges in Palästina« betreibe. Zum linken Ressentiment gegen Israel fügte sich die Schwärmerei für die militante Black-Power-Bewegung in den USA. Stokely Charmichael vertrat im Hinblick auf Israel die Auffassung: »Wir müssen auf der Seite der Araber stehen. Punkt. Punkt. Punkt.«

Dieter Kunzelmann (1939-2018) auf dem Fahndungsplakat von 1970
Für das bemerkenswert abweisende Selbstverständnis der Neuen Linken gegenüber Israel spricht ein Detail: Der Republikanische Club in Westberlin‚ dem vorzugsweise ältere Intellektuelle unterschiedlicher Couleur angehörten‚ hatte den 9. November 1969 als Tag für die Podiumsdiskussion zum Thema »Palästina — ein neues Vietnam?« ausgesucht. Selbst wer diese Frage mit Ja beantwortete oder nur für berechtigt hielt, musste sie nicht ausgerechnet am Jahrestag der Pogromnacht von 1938 als die einzige diskutable Frage aufwerfen. Erklärbar wird das nur, wenn man den linken Antisemitismus in Deutschland, und in diesem Fall kann die DDR einbezogen werden, als Form der Schuldübertragung auf die Opfer der deutschen Rassen- und Vernichtungspolitik interpretiert.

Während dieser Veranstaltung verteilte eine Angehörige der linken Szene im Republikanischen Club das Bekenner-Flugblatt zu dem misslungenen, aber noch nicht bekannten Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus. Die Überschrift lautete »Shalom — Napalm«. Auch darin zeigte sich die auf Schuldabwehr und Schuldübertragung gerichtete Tendenz des linken Antisemitismus. Der Begriff Napalm stand für das Verbrennen wehrloser Frauen, Kinder und Greise.

Alles für die palästinensische Revolution

Nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 9. November 1969 veröffentlichte das Palästina-Komitee des Frankfurter SDS eine Erklärung. Sie analysierte den zionistischen Staatsgedanken so: »Die endgültige Etablierung dieses Staates konnte allerdings erst auf dem Hintergrund der Erfahrung des Faschismus (der Erhöhung der Zahl der Einwanderer und der politischen Scheinlegitimierung eines Judenstaates) erfolgen.« Israel sei »selber ein rassistischer Staat«, und die Zionisten dort würden »die durch die Barbarei des Faschismus erzeugten Schuldgefühle, die in der BRD in einen positiven Rassismus in Gestalt des Philosemitismus umgeschlagen« seien, für ihre Zwecke nutzen. Im Übrigen verurteilten die Verfasser den Anschlag, weil ihn die in Deutschland lebenden Juden nur »vor dem Hintergrund ihrer Verfolgung und Vernichtung als Juden« begreifen könnten. Der Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit beobachtete »eine zunehmende Aggressivität einzelner rechts- und linksradikaler Gruppen gegenüber den in der Bundesrepublik lebenden jüdischen Mitbürgern und Israelis«.

Dieter Kunzelmanns "Brief aus Amman", veröffentlicht in agit 883 am 27.11.1969 [Quelle]
Am 27./28. Dezember 1969 tagte der »Erste Internationale Solidaritätskongress mit dem palästinensischen Volk« in Algier. Der SDS schickte eine fünfköpfige Delegation, darunter Udo Knapp, Wolfgang Schwiedrzik, Inge Presser und offenbar nur zufällig Joschka Fischer. 34 Jahre später, 2001, machte die Reise dem damaligen Außenminister Fischer zu schaffen. Knapp und Schwiedrzik meldeten sich öffentlich zu Wort, und Knapp behauptete, sie hätten sich seinerzeit von den martialischen Auftritten und dem »blanken Hass auf alle Israelis« angewidert gefühlt und »die Konferenz so oft wie möglich verlassen«. Der zeitgenössische Bericht des Verfassungsschutzes lautet anders. Demzufolge kritisierten die SDS-Delegierten in Algier die offizielle propalästinensische Resolution des Kongresses als »revisionistisch«. Alternativ dazu brachten sie eine Gegenresolution ein. Nachdem diese abgelehnt worden war, verließen sie die Versammlung »unter Protest«.

Offensichtlich basierte der Verfassungsschutzbericht auf einer Darstellung des Mitreisenden Schwiedrzik, veröffentlicht in der Roten Presse Korrespondenz. Seinen Artikel versah Schwierdrzik mit der Überschrift »Zwei Beispiele revisionistischer Praxis. Der Palästina-Kongress in Algier«. Demnach hatte die Generalunion Palästinensischer Studenten den Bundesvorstand des SDS im Namen der Al Fatah eingeladen, aber keine genauen Auskünfte über den geplanten Verlauf gegeben. Schwiedrzik beklagte sich über den hermetischen Charakter der »Kongresszeremonien« und teilte mit: »Der Versuch der westdeutschen und der Westberliner Delegation, mit einer Gegenresolution gegen die zur Akklamation vorgelegten Resolutionen die politische Diskussion im Plenum zu erzwingen, wurde vom Tagungspräsidium ohne Diskussion souverän hinwegmanipuliert.« Deshalb »zog die westdeutsche Delegation aus dem Plenum aus« und verließ das »prinzipienlose Spektakel«.

Solange die Alternativresolution der SDS-Delegierten nicht vorliegt oder von den Algier-Reisenden herausgegeben wird, gibt es keinen Grund, den Beteuerungen zum Schutz Fischers zu glauben. Nach dem Schwiedrzik-Bericht hatten sich die deutschen Delegierten gegen »revisionistische Phrasen« gewandt, weil sie befürchteten, die benachbarten arabischen Staaten Israels könnten »durch Umarmungstaktiken […] die palästinensische Revolution unter Kontrolle bringen«.

In einem in der Berliner Untergrundzeitschrift Agit 883 im April 1970 veröffentlichten »Brief aus Amman« kommentierte Kunzelmann den am 12. Februar 1970 gescheiterten palästinensischen Versuch zur Entführung einer El-Al-Maschine auf dem Flughafen München-Riem. Dabei war der Holocaust-Überlebende Arie Katzenstein aus Lübeck tödlich und die Schauspielerin Hanna Maron lebensgefährlich verletzt worden. Kunzelmann schrieb dazu: Solche »verzweifelten Todeskommandos« seien »durch besser organisierte, zielgerichtetere Kommandos zu ersetzen, die von uns selbst durchgeführt werden und damit besser vermittelt werden können«. Was immer Kunzelmann damit meinte. Jedenfalls hatte sich einen Tag nach der gescheiterten Flugzeugentführung ein Brandanschlag auf das jüdische Alters- und Fremdenheim in München ereignet. Sieben Menschen erstickten und verbrannten in den Flammen. Aufgeklärt wurde das schwere Verbrechen bis heute nicht.

Als »Faschist« beschimpft. Israels Botschafter Asher Ben-Natan am
 9. Juni 1969 bei einer Veranstaltung in Frankfurt a. M.
In diesem Zusammenhang erscheint eine Presseerklärung, die der SDS in Frankfurt drei Tage nach der Münchner Mordtat herausgab, von Interesse. Darin werden der Brandanschlag »und alle ähnlichen terroristischen Anschläge auf die jüdische Gemeinde und ihre Institutionen« verurteilt. Entsetzt über die Folgen der eigenen Agitation und offenbar von der Vorstellung geleitet, dass Angehörige der Neuen Linken in das Verbrechen verwickelt sein könnten, stellte der SDS klar: »Derartige antisemitische Aktionen sind kein Mittel im Kampf gegen den Zionismus.« Der SDS kämpfe gegen den Zionismus »und seinen politischen Ausdruck Israel, nicht gegen die Juden«. Die geplante Demonstration zum Besuch des israelischen Außenministers Abba Eban sagte der SDS ab.

Auch wer damals, wie zum Beispiel ich, niemals ein Fatah-Tuch trug oder an einer anti-israelischen Demonstration teilgenommen hat, las die Untergrundzeitung Agit 883 doch sehr gern und verdrängte wesentliche Teile des Gelesenen später. Bis zur Lektüre des aufklärenden Buchs von Wolfgang Kraushaar über die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus im Jahr 2005 hatte ich alle Details vergessen, selbst die Tatsache, dass es überhaupt einen solchen Bombenanschlag gegeben hatte. Der Spiritus Rector der Aktion, Dieter Kunzelmann, galt innerhalb der Berliner Linken, dann auch als Abgeordneter der Alternativen Liste im Berliner Abgeordnetenhaus, lange Zeit als ein zwar übergeschnappter Subversiver, aber in seiner Authentizität akzeptabler, in seiner entschlossenen Antibürgerlichkeit bewundernswerter Kampfgenosse. Seine Texte las ich 1969 bestimmt, hatte aber aus meinem Gedächtnis getilgt, wie er damals zum »Kampf gegen die heilige Kuh Israel« aufrief, wie er die erste Nachkriegsgeneration immer wieder dazu aufforderte, zugunsten propalästinensischer Solidarität endlich den »Judenknacks« zu überwinden.

Im Juni 1969 berichtete Theodor W Adorno in »äußerster Depression« seinem Freund Herbert Marcuse, wie »man in Frankfurt den israelischen Botschafter niedergebrüllt hat«‚ und fügte für den Protestmentor Marcuse an: »Du müsstest nur einmal in die manisch erstarrten Augen derer sehen, die, womöglich unter Berufung auf uns selbst, ihre Wut gegen uns kehren.« Ernst Fraenkel bemerkte zur Judengegnerschaft in der Bundesrepublik, auf der rechten politischen Seite trete sie nicht in Erscheinung, wohl aber auf der linken, und es sei erschüttemd, »mit welcher Inbrunst die ahnungslosen Jünglinge und Jungfrauen [...] ihre proarabischen Sprüche herunterleiern«.

Eine Attacke auf Thedor W. Adorno im Hörsaal VI
der Frankfurter Universität. [Der Spiegel. Heft 18 / 1969]
Am 7. Dezember 1970 kniete Willy Brandt vor dem Warschauer Ghettodenkmal; 1973 reiste er als erster deutscher Bundeskanzler nach Israel. Das markierte entscheidende Veränderungen in der deutschen Außenpolitik. Die neuen Linken interessierten sich dafür nicht. Die beiden in Berlin damals bestehenden linksradikalen Blätter, die Rote Presse Korrespondenz und Agit 883 erwähnten den Kniefall Brandts nicht. Einerseits prognostizierten sie in den Ausgaben jener Tage für die nahe Zukunft »eine faschistische Diktatur« in den USA, andererseits gaben sie die für die unmittelbare Gegenwart nützliche Parole aus, »Lernt vom Nikolaus, räumt das Kaufhaus aus«.

Noch in den Achtzigerjahren war die taz-Redaktion im Hinblick auf Israel tief gespalten. 1991, während des ersten Irakkriegs, hielt der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele die irakischen Raketenangriffe auf Israel für »die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels«. 1995 rechnete die Grüne Antje Vollmer mit Marcel Reich-Ranicki ab — nicht mit dessen Urteil über einzelne Bücher, sondern mit dessen Art, wie er »seine Ansicht hinaustrompetet«. Sie bezeichnete den Literaturkritiker als »eine der sieben Plagen‚ die wir vermutlich verdient haben«, warf ihm »medialen Kannibalismus« vor, kennzeichnete ihn als »Enthemmten« und »Hysteriker«. Wo man vor 1945 vom Zersetzer gesprochen hätte, sprach Vollmer 1992 vom »neuen Barbaren«‚ der »dunkle Kräfte« mobilisiere, statt diese zu bannen. Sie empfahl, »den Großmogul« Reich-Ranicki endlich der Lächerlichkeit preiszugeben: »Dann kann und wird er keine Bücher mehr zerreißen, dann macht er es wahrscheinlich wie Rumpelstilzchen und zerreißt am Ende vor Wut sich selber.« Die Überschrift lautete »Das Ende der Unschuld«. Die Ausdrucksformen des Schuldabwehr-Antisemitismus sind vielfältig.

Quelle: Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück. S. Fischer, Frankfurt/Main, 2008, ISBN 978-3-10-000421-5. Ausgezogen wurde das Kapitel »Vergangenheitsfurcht und ›Judenknacks‹«, Seiten 159 bis 168


Klavier Solo in der Kammermusikkammer

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