8. Juli 2014

Girolamo Frescobaldi: Fiori Musicali (Venedig, 1635)

"Es war stets mein Bestreben, durch das Talent, welches mir von Gott verliehen wurde, mit meinen Arbeiten den Lernbegierigen des musikalischen Berufes behilflich zu sein. Mit meinen in Partitur oder in Tabulatur gedruckten Werken von Capricci und aller Art Inventionen habe ich stets der Welt bewiesen, daß es mein sehnlichster Wunsch war, daß jeder, der meine Werke sieht und studiert, davon befriedigt sei und daraus einen Nutzen ziehe".

Was erklärtermaßen wie ein Pädagogikum für angehende Organisten daherkommt, kann als Summe und Rekapitulation des ganzen Künstlerlebens Frescobaldis gelten.

Der am 12.09.1583 in Ferrara, einem der wichtigsten kulturellen Zentren der italienischen Renaissance geborene Girolamo Frescobaldi hat seinen immensen zeitgenössischen Ruhm in der Hauptsache seinen Instrumentalkompositionen zu verdanken, mit denen er deren endgültige Emanzipation von der vokalen Musik besiegelte. Die in der Renaissance noch alles beherrschende Singstimme verlor ihre alles dominierende Rolle. Darüber hinaus stand er als überragender Orgel- und Cembalovirtuose seiner Zeit in höchstem Ansehen, was unter anderem auch seine 35 Jahre währende Stellung als Organist am Petersdom in Rom bis zu seinem Tode dokumentierte. Nach seinem Tod stritten mehrere Kirchen Roms um die Ehre, dem großen Orgelmeister eine letzte Ruhestätte zu bieten, die er schließlich in der Apostelkirche fand.

In den "Musikblüten" konfrontiert Frescobaldi im Rahmen dreier Orgelmessen cantus-firmus-gebundene Sätze, freie Toccaten (als Musik zur Einleitung und zur Konsekration), streng kontrapunktische Ricercari und Capricci sowie Tanzsätze miteinander. Der Band besteht aus den Teilen Messa della domenica (Sonntagsmesse), Messa degli Apostoli (feierliche Messe) und Messa della Madonna (Marienmesse). Diese Dreiteilung entsprach den damals geläufigsten Messformen.

Girolamo Frescobaldi
Weltliche und religiöse Ereignisse waren zu jenen Zeiten kaum getrennt, sie waren eng miteinander verwoben und schufen ein streng gegliedertes und komplexes Gebilde mit gegenseitigen Beziehungen. Die auf Latein gelesene Messe schien der Mittelpunkt des sozialen Geschehens zu sein. Es war aber für die Zuhörer fast immer unmöglich, den oft halblaut gemurmelten Text in den riesigen Kirchen zu verstehen. So wurde die Aufmerksamkeit der Gläubigen durch den visuellen Aspekt und die musikalische Untermalung geweckt, die sich in beeindruckender Weise entwickelte. Obwohl der Ablauf der Musik in den Kirchen streng durch liturgische Vorgaben geregelt war, entfernte er sich zusehends von der ihm zugewiesenen dienenden Rolle. Das aufgeführte Repertoire wies nun unverkennbar Zielrichtungen auf, die der Freude des Gehörs und sinnlichen Erlebens dienten.

Beim Hören der Fiori Musicali auf CD entsteht naturgemäß eine künstliche, gegenüber einer Aufführung im katholische Ritus in besonderer Weise unauthentische Situation. Der musikalische Inhalt der Stücke verteilte sich seinerzeit auf viele Stunden. Der heutige Hörer dürfte für diese Zusammenfassung allerdings dankbar sein. Es stellt sich beim Anhören eine fast magisch-meditative Wirkung der im Wechsel stehenden gregorianischen Versetten mit den ungeheuer klaren, für an Orgeldonner gewöhnte heutige Ohren fast spartanisch wirkenden Orgelsätzen ein.

Die Fiori Musicali sind wie Bachs Kunst der Fuge das letzte Werk Frescobaldis. Die Parallele vom frühbarocken italienischen zum spätbarocken deutschen Meister zu ziehen ist vielleicht etwas gewagt. Gemeinsam ist beiden die meisterliche Beherrschung des Kontrapunktes. So verwundert es nicht, daß Bach das Genie Frescobaldis sogleich erkannte und sich eigenhändig eine Abschrift der Fiori Musicali verschaffte. Jenseits der Alpen, insbesondere in Person von Johann Jacob Froberger, seinem prominentesten Schüler, wurde Frescobaldis Orgelkunst weiterentwickelt, während die europäische Bedeutung der italienischen Orgelmusik mit seinem Tode erlosch.

Quelle: Andreas Hartrodt, Schwerin

Track 21: Messa della Domenica: Toccata cromaticha per le levatione


TRACKLIST

Girolamo Frescobaldi
1583-1643

Fiori Musicali
Venezia 1635

MESSA DELLA DOMENICA 

 1 Toccata avanti la Messa della Domenica   1'36 
 2 Kyrie della Domenica                     0'33 
 3 Kyrie gregoriano                         0'18 
 4 Kyrie                                    0'44 
 5 Christe gregoriano                       0'21
 6 Christe                                  0'37
 7 Christe gregoriano                       0'21
 8 Kyrie alio modo                          0'43 
 9 Kyrie gregoriano                         0'17 
10 Kyrie alio modo                          0'37 
11 Kyrie gregoriano                         0'26 
12 Christe alio modo                        0'28 
13 Christe alio modo                        0'33 
14 Christe alio modo                        O'34 
15 Kyrie alio modo                          0'36
16 Kyrie ultimo                             0'41 
17 Kyrie alio modo                          0'36 
18 Kyrie alio modo                          0'30 
19 Canzon dopo l'Epistola                   2'20  
20 Recercar dopo il Credo                   2'04  
21 Toccata cromaticha per le levatione      4'14 
22 Canzon post il Comune                    3'14 

MESSA DELLI APOSTOLl 

23 Toccara avanti la Messa delli Apostoli   1'46 
24 Kyrie delli Apostoli                     0'38 
25 Kyrie gregoriano                         0'22 
26 Kyrie                                    0'46  
27 Christe gregoriano                       0'20 
28 Christe                                  0'31 
29 Christe gregoriano                       0'20 
30 Kyrie                                    0'36
31 Kyrie gregoriano                         0'20 
32 Kyrie                                    0'48 
33 Kyrie gregoriano                         0'37
34 Kyrie                                    0'39
35 Christe                                  0'53 
36 Kyrie                                    0'53
37 Canzon doppo l'Epistola                  2'46 
38 Toccata avanti il recercar               1'21
39 Recercar cromaticho post il Credo        3'43
40 Altro recercar                           3'38 
41 Toccata per le levatione                 3'44
42 Recercar con l'obbligo del Basso 
   come appare                              2'36 
43 Canzon quarti toni Dopo il Post Comune   2'46

MESSA DELLA MADONNA

44 Toccata avanti la Messa della Madonna    1'22
45 Kyrie della Madonna                      0'34
46 Kyrie gregoriano                         0'15
47 Kyrie                                    0'36 
48 Christe                                  0'31
49 Christe gregoriano                       0'18
50 Christe                                  0'33
51 Kyrie                                    0'31
52 Kyrie gregoriano                         0'18
53 Kyrie                                    0'35
54 Kyrie gregoriano                         0'43
55 Canzon dopo l'Epistola                   1'44
56 Recercar dopo il Credo                   2'08
57 Toccata avanti il recercar               0'54
58 Recercar con obligo di cantar la quinta
   parta senza toccarla (organo e tromba 
   barocca)                                 2'12
59 Toccata per le levatione                 2'32
60 Bergamasca                               4'49
61 Capriccio sopra la Girolmera             4'31

Total time: 78'04 

Roberto Loreggian, organ - organo Bonatti (1716)
Fabiano Ruin, tromba barocca
Schola Gregoriana 'Scriptoria', directed by Dom Nicola M. Bellinazzo

Recording: 3-4 June 2008, Chiesa di S. Tomaso Cantuariense, Verona
Sound engineer: Matteo Costa - Artistic direction: Fabio Framba
2009

Track 43: Messa delli Apostoli: Canzon quarti toni Dopo il Post Comune


Otto Pächt:



Künstlerische Originalität und ikonographische Erneuerung



Abb 1: Giotto: Arenakapelle: Verkündigung
Abb 2
Der außerordentliche Aufschwung, den die ikonographische Forschung von dem Moment an erfahren hat, in dem das Postulat einer geistesgeschichtlichen Verankerung aller Stilerklärung sich durchzusetzen begann, hat die Ikonographie über Nacht aus einer mehr wie ein notwendiges Übel behandelten Hilfswissenschaft zu einer Hauptdisziplin, ja zweifelsohne zu dem konsolidiertesten und exaktesten aller Untersuchungsverfahren gemacht, über das die Kunstgeschichte heute verfügt. In der ikonographischen Betrachtungsweise wird das Kunstwerk nicht nur auf zwanglose Weise in den umfassenderen kulturellen und geistigen Zusammenhang gestellt, in dessen Kenntnis man die unentbehrliche Voraussetzung für das Verständnis der künstlerischen Phänomene sieht, die Ikonographie ist gegenüber der Stilkunde überdies noch in der privilegierten Position, daß sie es mit sprachlich vorgeformten Gehalten zu tun hat, deren Terminologie von längst gefestigten und gereiften wissenschaftlichen Disziplinen wie Theologie, Liturgik, Religionswissenschaft, Mythologiegeschichte etc. weitgehend erarbeitet und geklärt worden ist.

Und wenn seinerzeit die formalistische Stilkunde mit dem Anspruch aufgetreten war, die Geschichte der Kunst als einen in sich notwendigen Ablauf, als immanente Stilentwicklung begreifen zu können, so zeichnet sich in der heutigen, durch die Vorherrschaft des ikonographischen Interesses gekennzeichneten Phase die Tendenz ab, den eigentlichen Motor des künstlerischen Geschehens in der Dynamik geistiger Strömungen religiös-philosophischer oder sozial-politischer Natur zu suchen, in der Wirksamkeit von Ideen, die in spezifischen ikonographischen Motiven ihren Niederschlag gefunden haben und aus diesem Grund vornehmlich in ikonographischer Analyse - unter nur ganz gelegentlicher Berücksichtigung stilistischer Momente - aufgespürt und erfaßt werden müssen.
Abb 3: Pariser Pseudo-Bonaventura, Verkündigung
Mit der Verlegung des Schwerpunktes ins Ikonographische und der daraus sich ergebenden jähen Bereicherung und Vertiefung des ikonographischen Wissens - um wie viel präziser sind doch heute unsere Vorstellungen von dem Werden des Pietà-Motivs verglichen mit denen von der Entstehung des 'weichen' Stils! - hat sich ein radikaler Wandel in den Anschauungen vom Wesen und Wert der künstlerischen Schöpfung vollzogen, offenbar ohne daß man sich dessen schon bewußt geworden wäre, vielleicht auch, ohne daß man es wahrhaben will. Man würde sich um die Erforschung des ikonographischen Gehalts eines Kunstwerks, um das Nachspüren der in ihm symbolisierten Ideen, wohl nicht so intensiv und nahezu ausschließlich bemühen, wäre man nicht stillschweigend davon überzeugt, daß jedes hervorragende Kunstwerk im Grunde eine Manifestation bedeutender Gedanken und geistreicher Einfälle darstelle, die der Künstler bewußt in seine Schöpfung eingebaut hat und die deshalb rational formulierbar und ikonographisch erfaßbar sind.

Wird diese intellektualistische Anschauung vom Wesen des Kunstwerks akzeptiert - sie liegt den heute Legion gewordenen Versuchen zugrunde, die Größe eines Werkes in der Fülle, Dichte, Vielschichtigkeit seines Symbolgehaltes zu erweisen - dann heißt dies aber, auf das Entwicklungsgeschehen übertragen, daß jede wahrhaft große künstlerische Leistung eo ipso eine entscheidende ikonographische Neuerung beinhalten muß. Wäre dem nicht so, dann könnte der Anspruch von Ikonographie und Symbolgeschichte, einen Zugang zum Kern des künstlerischen Phänomens zu bieten, wohl kaum zu Recht bestehen. Nun ist man sich bei gewissen künstlerischen Spitzenleistungen über ihre Originalität und epochale Bedeutung immer einig gewesen, auch ohne daß man eine Begründung dieser Wertung versucht hätte, und lange ehe man auf den Gedanken kam, das Wesen künstlerischer Originalität in ikonographischen Neuerungen zu suchen oder sich künstlerische Neuschöpfung automatisch mit ikonographischer Neuerung gepaart vorzustellen. Da erhebt sich die Frage: sollte man nicht gerade in diesen Fällen die Probe aufs Exempel machen und untersuchen, ob hier die zur künstlerischen Größe als Komplementärerscheinung geforderte ikonographische Originalität sich auch wirklich nachweisen läßt?

Abb 4: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Verkündigung
Im Falle Giotto, auf dessen Schultern die gesamte neuzeitliche Kunst steht, hat schon eine vor mehr als 40 Jahren angestellte ikonographische Untersuchung feststellen müssen, daß die Verdienste dieses Giganten um die Erneuerung der Ikonographie höchst bescheidene sind. Immerhin schien für Giotto doch noch die Neufassung eines wichtigen Themas gesichert zu sein, nämlich des Verkündigungsbildes. Einer Anregung der Meditationen des Pseudo-Bonaventura folgend, bringt das Fresko vom Triumphbogen der Arenakapelle (Abb. 1 u. 2), wie man glaubte »zum ersten Male«, sowohl den Engel wie Maria kniend, wodurch die Darstellung zur Exemplifizierung des religiösen Ideals der Humilitas wird. Unverständlicherweise hat niemand es bisher für der Mühe wert gefunden, die Illustrationen des Pseudo-Bonaventuratextes selbst über diesen Punkt zu befragen.

Vor kurzem ist endlich der umfangreichste Bildzyklus, der sich in einer Pseudo-Bonaventura-Handschrift erhalten hat (Paris, Bibl. Nationale, Ms. Ital. 115), veröffentlicht worden, doch mehr als Beigabe einer neuen englischen Übersetzung des Textes. Eine eingehende ikonographische Analyse der um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Miniaturenfolge steht noch aus. Überdies ist in der erwähnten Publikation eine zweite Illustrationsfolge, die eine Pseudo-Bonaventura-Handschrift einer Oxforder College-Bibliothek schmückt und die zwar bescheidener an Zahl und Qualität der Bilder als die Pariser ist, dafür aber zum Teil eine ältere, ursprünglichere Fassung wiederzuspiegeln scheint, überhaupt noch nicht berücksichtigt worden.

Abb 5: Pariser Pseudo-Bonaventura, Einwilligung Mariae
Aus diesen beiden Illustrationsfolgen lernen wir erstens, daß die uns aus Giottos Arenafresko bekannte Verkündigungsversion als Darstellung der zweiten Phase der ganzen Begebenheit verstanden werden muß. In beiden Illustrationsfolgen wird der Vorfall in zwei Bildern erzählt. Zunächst die Überbringung der Botschaft des Engels: Gabriel kniet vor der Madonna, als er sein »Ave gratia« sagt (Abb. 3). Maria, sitzend, ist beim Lesen der Heiligen Schrift überrascht worden und erschrickt - perturbata est. Dies entspricht vollkommen älterem ikonographischem Brauch. Erst im zweiten Verkündigungs bild (Abb. 5) kniet auch Maria - denn dies soll schildern »come Maria accepta«, wie es in der Beischrift der Miniatur heißt. Nachdem sie zuerst geschwiegen, dann rückgefragt und die Erklärung des Engels vernommen, kniet sie nieder zum Zeichen, daß sie die vom göttlichen Ratschluß ihr zugedachte Rolle in aller Demut zu übernehmen gewillt ist: »Ecce ancilla Dei ...« In Giottos Arenakapellenfresko ist somit die 'Einwilligung Mariens' zum zentralen Aspekt des Verkündigungsthemas schlechthin geworden.

Abb 6: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Einwilligung Mariae
Merkwürdiger- und unlogischerweise wechselt in der Pariser Handschrift der Schauplatz von der ersten zur zweiten Verkündigungsphase: in der ersten (fol. 10 r) (Abb. 3) sehen wir die Madonna in der Öffnung eines eigentümlich aufgestockten, mit einem Schindeldach bekrönten Torbogens thronen, in der zweiten (fol. 11 v) (Abb. 5) kniet Maria vor der halb geöffneten Tür eines kapellenartigen Häuschens, das rückwärts von einer romanischen Apside abgeschlossen wird. Der ungewöhnliche, völlig untrecenteske Torbau der ersten Szene zeigt nun einige Berührungspunkte mit der nicht minder auffälligen Bildarchitektur der Verkündigungsbilder der Oxforder Handschrift (fols. 7 v, 8 v) (Abb. 4 u. 6), in denen aber das Szenarium sich gleich bleibt. In den Oxforder Miniaturen ist es ein perspektivisch vertiefter Torbogen, der zu einer mit einem Giebeldach versehenen Aedicula ausgeweitet erscheint. Sein besonderes Gepräge erhält diese Bildarchitektur durch die forcierte Untersicht, die die Kassettierung sowohl der Thronnische wie des Giebelvorsprungs sichtbar werden läßt.

Ihre nächste Analogie hat diese Bildarchitektur in dem Mittelteil des antikisierenden Thronbaus, der in Cavallinis Verkündigungsmosaik von S. Maria in Trastevere (Abb. 7) der Madonna als Folie dient. Beim Vergleich der beiden Szenarien drängt sich dann die Vermutung auf, daß die an die Luken eines Taubenschlags gemahnenden Wandöffnungen der Oxforder Aedicula als verkümmerte Abkömmlinge der luftigen Wanddurchbrechungen der Cavalliniarchitektur zu verstehen sind. Mit einem Wort, die Bildarchitekturen der Pseudo-Bonaventura-Illustrationen sind in der Mitte des 14. Jahrhunderts ein Anachronismus, der sich nur so erklären läßt, daß die Vorlage dieser Miniaturen und somit die Erfindung dieser Illustrationsfolge auf Cavallinis Zeit, d. h. auf die Generation vor Giotto zurückgeht, eine Annahme, die in dem Vorkommen von charakteristischen Cavallini-Motiven in anderen Bildern des Oxforder Illustrationszyklus (z. B. in dem Szenarium der Geburt Johannes des Täufers (Abb.9), das dem der Geburt Mariens in den Cavallini-Mosaiken (Abb. 8) auffallend ähnlich ist) ihre zusätzliche Bestätigung findet.

Für unsere Fragestellung ergibt sich aus all dem, daß das Urheberrecht für die Neufassung des Verkündigungsthemas Giotto abgesprochen werden muß. Zur Ermittlung von Giottos Größe hat sich der ikonographische Maßstab als untauglich erwiesen.

Abb 7: Pietro Cavallini, Verkündigung
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Hundert Jahre nach Giotto ist es abermals eine Verkündigungsdarstellung, mit der ein neues Kapitel in der Geschichte der Malerei anhebt. Es ist die Verkündigung des Mèrodealtars (Abb. 11), das früheste bekannte Beispiel eines reinen Interieurbildes. Auch für diese epochale Bildschöpfung glaubte man, wenigstens teilweise, eine ikonographische Erklärung gefunden zu haben: seit Tolnays geistvollen Deutungsversuchen des 'Gehalts' der Werke des Flèmallers und der van Eyck gilt insbesondere die Verkündigung des Merodealtars als Bahnbrecherin einer neuen Ikonographie, deren Eigenheit darin bestehen soll, daß eine Fülle von das Mysterium des Heilsgedankens versinnbildlichenden Symbolen als oft ganz unauffällige Realitätsphänomene verkleidet dem Beschauer präsentiert wird. Diese Interpretationsweise, die den Realismus als geheimen Symbolismus enthüllt oder entlarvt, ist bekanntlich dann von Panofsky bei der Entschlüsselung vieler anderer Hauptwerke der altniederländischen Malerei in souveräner Weise gehandhabt worden. Die Ikonographie des Merodealtars wurde von Tolnay nochmals in einer kürzlich erschienenen Studie erörtert, die den Vorzug hat, daß sie das Ausmaß und den Leitgedanken der ikonographischen Erneuerung scharf zu präzisieren sucht.

Abb 8: Pietro Cavallini, Geburt Mariae
Tolnay bezeichnet das Verkündigungstriptychon des Flèmallers als 'ikonographisches Unikum' und sieht das für die Neufassung des Verkündigungsthemas entscheidende Moment in der Einführung der Gestalt des Zimmermanns Joseph, der den Evangelien zufolge zur Zeit der Verkündigung mit Maria ja erst verlobt gewesen sei und noch keinen gemeinsamen Haushalt mit ihr gehabt hätte. Somit stünden wir hier vor einer vollkommenen Anomalie, die sich nur dann erklären ließe, wenn wir annähmen, daß in dem rechten Flügel des Triptychons, der uns einen Einblick in Josephs Zimmermannswerkstatt gibt, ein zeitlich nach der Verkündigung liegender Moment wiedergegeben werden soll, nämlich etwa die Zeit von Christi Geburt. Wenn unser Blick sich von der Mitteltafel zum rechten Flügel wendet, ist die Zeit von Frühling bis Winter vergangen.

Tolnay hat uns selbst die Mittel an die Hand gegeben, mit denen seine seltsame These, wie ich glaube, eindeutig widerlegt werden kann. In seiner Studie hat er nämlich auf ein Werk hingewiesen, das thematisch wie kompositionell dem Mèrodealtar offensichtlich äußerst nahesteht, dessen Beziehungen zu dem Flèmaller Triptychon vorher aber noch nie erörtert worden waren. Es handelt sich um ein Straßburger Bild aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts (Abb. 10), das einem umfangreichen Marienaltar angehört haben muß, von dem sich noch eine zweite Tafel mit der Mariengeburt erhalten hat, und das Maria und Joseph in einem Raum vereinigt zeigt, der zugleich Wohnstube wie Zimmermannswerkstatt ist.

Abb 9: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Geburt Johannes d. T.
Dargestellt ist allerdings nicht die Verkündigung, sondern die Szene, in der der Engel Josephs Zweifel an der Unschuld Mariens zerstreut. Die literarische Quelle dieses Bildes ist nicht Lukas oder Matthäus, sondern das Protoevangelium Jacobi, denn dort wird erzählt, daß Joseph Maria in seine Hut genommen hatte und daß er, als er, offenbar nach einer vorübergehenden Abwesenheit, von seinen Arbeiten nach Hause zurückgekehrt war, Mariens Schwangerschaft entdeckte und in Bestürzung geriet. Nach der Fassung dieser apokryphen Schrift, von der ja bekanntlich die bildkünstlerische Gestaltung des Verkündigungsthemas im Osten wie im Westen ungleich stärker angeregt worden ist als von den kanonischen Evangelien, haben also Maria und Joseph von dem Augenblick an zusammengewohnt, in dem dem greisen Joseph unter allen Freiem das Los zugefallen war, die Tempeljungfrau in seine Obhut zu nehmen. Kurz, der apokryphen Überlieferung zufolge hat die Verkündigung im Hause Josephs stattgefunden, somit ist in diesem wichtigen Punkt die Darstellung im Merodealtar gewiß keine Anomalie.

Tolnay sieht in der Straßburger Marientafel - wie ich glaube, mit Recht - ein wichtiges Argument dafür, dem Meister von Flèmalle das Urheberrecht für den Einfall, die Zimmermannswerkstatt Josephs mit dem Schauplatz der Verkündigung zu verquicken oder ihr anzugliedern, abzusprechen und das Verdienst der ihm vorangehenden Künstlergeneration zu geben. Er denkt dabei in erster Linie an Melchior Broederlam als den mutmaßlichen Erfinder der neuen realistischen Milieuschilderung. Die Leistung des Meisters von Flèmalle hätte dann darin bestanden, diesen neuen Erzählungsstil in einen sakralen Realismus zu verwandeln.

Abb 10: Oberrheinischer Meister, Die Zweifel Josephs [Quelle]
Was man sich darunter konkret vorzustellen hat, darauf braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, sicher ist damit aber das eine gemeint, daß der Meister von Flèmalle das neue ikonographische Vokabular, die Motive als solche, einschließlich des Motivs der Zimmermannswerkstatt Josephs, von seinen Vorgängern fertig übernommen haben dürfte. Und in diesem Punkt läßt sich Tolnays Hypothese, die mir übrigens im Widerspruch zu seiner anfänglichen Behauptung, der Mèrodealtar sei ein ikonographisches Unikum, zu sein scheint, verifizieren. Eine bisher unveröffentlichte Miniatur (Abb. 12) kann uns darüber Gewißheit verschaffen, daß Joseph, der Zimmermann, tatsächlich schon vor dem Mèrodealtar in einer Verkündigungsszene mitdargestellt worden ist.

Die Miniatur findet sich in einem in Rouen 1412 vollendeten franziskanischen Brevier, und zwar dient sie als Initialschmuck zu einer Homilie des Hl. Ambrosius zum Thema der Verkündigung. In dieser Homilie beschäftigt Ambrosius nur die eine Frage, warum die vom göttlichen Ratschluß zur Gottesgebärerin Erwählte zugleich »desponsata et virgo« hatte sein müssen, mit Joseph durch ehelichen Vertrag Verbundene und doch Jungfrau. Ambrosius war, wie wir aus anderen seiner Schriften wissen, der Ansicht, daß Maria und Joseph seit ihrer Verlobung in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, aber selbst wenn der Illuminator von Rouen davon nichts gewußt hätte, würde der zu illustrierende Homilientext es nahegelegt haben, einerseits die unbefleckte Empfängnis im Thalamus der Jungfrau, und andererseits den über seine Arbeit gebeugten alten Joseph, den Behüter der ihm anvertrauten Tempeljungfrau und ihrer Unversehrtheit, nachbarlich in einem Bilde vereinigt zu zeigen.

Unsere bescheidene Miniatur wird gewiß auch nicht der erste Versuch gewesen sein, die Koexistenz von Maria und Joseph zur Zeit des Vollzugs des Mysteriums darzustellen, jedenfalls aber steht fest, daß die Schaffung der neuen Verkündigungsikonographie nicht das Werk des Flèmallers, sondern das seiner Vorgänger war. Unter dem Titel der Einbeziehung Josephs in die Bildwelt der Verkündigung läßt sich der Anspruch des Mèrodealtars auf ikonographische Originalität schwerlich aufrecht erhalten.

Abb 11: Meister von Flèmalle, Mèrodealtar
Zudem ist es sehr fraglich, ob man das Wesentliche der im Mèrodealtar vorliegenden Neufassung des Verkündigungsthemas nur erfassen kann, wenn man die Nebenszene mit Joseph mitberücksichtigt. Das Echo, das die Flèmallische Verkündigungsversion sofort gefunden hat, beweist, daß sie als Neuschöpfung rasch erkannt und gewertet wurde. Es gibt nur wenige Bilder des nordischen 15. Jahrhunderts, deren Komposition auch nur annähernd so oft kopiert oder paraphrasiert wurde wie der Mèrodealtar. Doch ist mir nicht ein einziger Fall bekannt, wo der Josephsflügel mitkopiert worden wäre. Danach zu schließen, war dieser für die zeitgenössischen Bewunderer des Meisters und seine unmittelbaren Nachfahren kein wesentlicher Bestandteil der einmaligen Leistung, in deren Banne sie standen.

Schule gemacht hat das Mittelbild des Triptychons, die eigentliche Verkündigung; es gibt kaum eine altniederländische Verkündigungsdarstellung, die nicht diesem Pionierwerk direkt oder indirekt Tribut zollt. In einem Punkt zwar haben auch die beinahe wörtlichen Wiedergaben der Mèrode-Verkündigung, z. B. die Verkündigung des Brüsseler Museums (Abb. 13), ihr Vorbild nicht vorbehaltlos übernommen, sondern es für nötig befunden, dieses zu korrigieren. Es ist der Punkt, in dem die Mèrode-Verkündigung (Abb. 11) gegen eine der fundamentalsten Regeln der ikonographischen Tradition verstößt. Bis dahin war es selbstverständlich gewesen, daß Maria durch Gebärde und Haltung zu erkennen gibt, daß sie in ihrer Tätigkeit - sei es Spinnen oder Lesen - durch das Kommen des Engels überrascht worden ist. Wir bekommen zu sehen, welchen Emdruck die Botschaft auf sie macht, sei es, daß bloß das Erschrecken - perturbata est - geschildert wird, sei es, daß die demütige Hinnahme ihrer Mission zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Maria des Mèrodealtars ist so sehr in ihre Lektüre vertieft, daß sich von ihr nicht einmal sagen läßt, ob sie die Botschaft überhaupt hört, geschweige denn, wie sie auf diese reagiert. Diese extreme Neutralisierung des Ausdrucks der Hauptfigur des Dramas ist offenbar den Schülern und Nachfolgern des Flèmallers widersinnig erschienen, und so haben sie zwar das am Boden Hocken der Lesenden, die für die Madonna Humilitatis typische Haltung, beibehalten, jedoch die den englischen Gruß beantwortende Geste wieder eingeführt. Eine Korrektur im Sinne eines Kompromisses mit der Tradition, ja, im Grunde eine Kritik einer zu gewagten ikonographischen Neuerung.

Abb 12: Franziskanisches Brevier, Verkündigung  
Heißt dies nun, daß wir hier, in dem Stummwerden der Annunziata, endlich auf ein ikonographisches Motiv gestoßen sind, das sich als des Flèmallers persönliches geistiges Eigentum bezeichnen läßt? Nein, auch dies darf nicht uneingeschränkt behauptet werden. Bekanntlich haben sienesische und florentinische Trecentomaler zuerst die Idee der Madonna Humilitatis auf die Annunziata übertragen, allerdings ohne sonst die traditionelle Ikonographie der Verkündigung anzutasten: die Verkündigung bleibt ein Dialog.

Doch vermag ich wenigstens ein Beispiel namhaft zu machen - einen katalonischen Ableger einer toskanischen Verkündigungsdarstellung - das zeigt, daß es in der Trecentoentwicklung Strömungen gab, die auf die durch den Mèrodealtar berühmt gewordene Formulierung des Themas hinzusteuern scheinen, Versionen, die einige für letzteren charakteristische Bildgedanken bereits vorwegnehmen. In der Verkündigungsszene des katalonischen Retabels (Abb. 14) hockt Maria in nahezu derselben Stellung wie im Brüsseler Flèmalle-Schulbild am Boden, das Buch auf ihren Knien aufgeschlagen, so daß wirklich sie und nicht wie üblich nur der Betrachter darin lesen kann. Bezeichnenderweise ist dann aber noch zwischen den beiden Gestalten auf einer Truhe beim Eingang ins Schlafgemach, weiter im Hintergrund, ein zweites Buch zu sehen, diesmal aber so aufgeschlagen, daß wir, die Betrachter, in ihm Mariens Erwiderung »Ecce ancilla Domini« lesen können. Noch hält die katalonische Annunziata die Hand leicht abwehrend vor der Brust, aber es ist eine sehr leise Antwort geworden, kaum vernehmbar, und so übernimmt es das eingeschobene Buch, für Maria zu sprechen. Im Mèrodealtar ist schließlich Maria ganz verstummt, es herrscht tiefe Stille im Gemach, und das Wunder liegt jetzt darin, daß der Engel ins Gemach getreten und sie ihn überhaupt nicht bemerkt hat. Vielleicht darf man in der Schriftrolle und dem Buch, das auf dem Tisch zwischen Gabriel und Maria aufgeblättert liegt, Abkömmlinge jenes Buches erblicken, das in dem spanischen Trecentobild die Funktion gehabt hatte, Mariens Antwort auf den englischen Gruß wenn nicht laut, so doch sichtbar werden zu lassen. Aber dies muß vorläufig bloße Vermutung bleiben.

Abb 13: Brüsseler Kopie der Verkündigung des Mèrodealtars  
Wie wir gesehen haben, hat diese, soviel ich sehe, einzige mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Flèmaller zurückgehende ikonographische Neuerung sich nicht durchsetzen können, sie ist in der Geschichte des Themas Episode geblieben und dies, obwohl Komposition und malerischer Stil desselben Werkes begeisterte Aufnahme gefunden haben. Ähnlich wie bei Giotto muß im Falle des Meisters von Flèmalle gesagt werden, daß die Ars nova seiner Malerei (Panofsky) - die zusammen mit der Kunst der van Eyck eine neue Epoche der Malerei einleitet - nicht oder am allerwenigsten als ikonographische Leistung verstanden werden kann.

Es liegt mir fern, aus dem negativen Resultat, das unsere Untersuchung des Zusammenhanges von künstlerischer Größe und ikonographischer Originalität an zwei - wenn auch hochbedeutenden - Beispielen ergeben hat, generalisierend die Lehre ziehen zu wollen, ein solcher Nexus bestünde überhaupt in keinem Falle. Es lassen sich sehr wohl historische Konstellationen vorstellen, in denen die Antwort positiver ausfallen könnte. Aber vielleicht sollte die Einsicht, die wir gewonnen haben, uns doch helfen, endlich die Grenzen der Ikonographie zu erkennen und uns zum Bewußtsein zu bringen, daß diese wichtige Disziplin legitim nur die gedankliche Vor-stellung, den Vor-wurf zu ihrem Gegenstand hat, daß sie auch im Aufspüren verborgenster Symbolbedeutungen bloß das äußere Thema sichtbar werden läßt und doch nicht das innere Thema und seine Gestaltung, um die es in der Kunstgeschichte letzten Endes geht.

Abb 14: Retabel von Cardona, Verkündigung

Quelle: Otto Pächt: Künstlerische Originalität und ikonographische Erneuerung. In: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgew. Schriften. München, Prestel, 1986, 3. verbesserte Auflage 1995. ISBN 3-7913-0410-0. Zitiert wurde der zuerst 1967 publizierte Aufsatz vollständig (Seiten 153-164).

OTTO PÄCHT (1902-1988), der selbst in Wien und Berlin studiert hatte, gehörte der traditionsreichen Wiener Schule der Kunstgeschichte an, und lehrte von 1963 bis 1972 als Ordinarius an der Universität Wien. Er galt als Autorität auf den Gebieten der mittelalterlichen Buchmalerei und der europäischen Kunst des 15. Jahrhunderts.

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Reposted on December 23th, 2017

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