Was erklärtermaßen wie ein Pädagogikum für angehende Organisten daherkommt, kann als Summe und Rekapitulation des ganzen Künstlerlebens Frescobaldis gelten.
Der am 12.09.1583 in Ferrara, einem der wichtigsten kulturellen Zentren der italienischen Renaissance geborene Girolamo Frescobaldi hat seinen immensen zeitgenössischen Ruhm in der Hauptsache seinen Instrumentalkompositionen zu verdanken, mit denen er deren endgültige Emanzipation von der vokalen Musik besiegelte. Die in der Renaissance noch alles beherrschende Singstimme verlor ihre alles dominierende Rolle. Darüber hinaus stand er als überragender Orgel- und Cembalovirtuose seiner Zeit in höchstem Ansehen, was unter anderem auch seine 35 Jahre währende Stellung als Organist am Petersdom in Rom bis zu seinem Tode dokumentierte. Nach seinem Tod stritten mehrere Kirchen Roms um die Ehre, dem großen Orgelmeister eine letzte Ruhestätte zu bieten, die er schließlich in der Apostelkirche fand.
In den "Musikblüten" konfrontiert Frescobaldi im Rahmen dreier Orgelmessen cantus-firmus-gebundene Sätze, freie Toccaten (als Musik zur Einleitung und zur Konsekration), streng kontrapunktische Ricercari und Capricci sowie Tanzsätze miteinander. Der Band besteht aus den Teilen Messa della domenica (Sonntagsmesse), Messa degli Apostoli (feierliche Messe) und Messa della Madonna (Marienmesse). Diese Dreiteilung entsprach den damals geläufigsten Messformen.
Girolamo Frescobaldi |
Beim Hören der Fiori Musicali auf CD entsteht naturgemäß eine künstliche, gegenüber einer Aufführung im katholische Ritus in besonderer Weise unauthentische Situation. Der musikalische Inhalt der Stücke verteilte sich seinerzeit auf viele Stunden. Der heutige Hörer dürfte für diese Zusammenfassung allerdings dankbar sein. Es stellt sich beim Anhören eine fast magisch-meditative Wirkung der im Wechsel stehenden gregorianischen Versetten mit den ungeheuer klaren, für an Orgeldonner gewöhnte heutige Ohren fast spartanisch wirkenden Orgelsätzen ein.
Die Fiori Musicali sind wie Bachs Kunst der Fuge das letzte Werk Frescobaldis. Die Parallele vom frühbarocken italienischen zum spätbarocken deutschen Meister zu ziehen ist vielleicht etwas gewagt. Gemeinsam ist beiden die meisterliche Beherrschung des Kontrapunktes. So verwundert es nicht, daß Bach das Genie Frescobaldis sogleich erkannte und sich eigenhändig eine Abschrift der Fiori Musicali verschaffte. Jenseits der Alpen, insbesondere in Person von Johann Jacob Froberger, seinem prominentesten Schüler, wurde Frescobaldis Orgelkunst weiterentwickelt, während die europäische Bedeutung der italienischen Orgelmusik mit seinem Tode erlosch.
Quelle: Andreas Hartrodt, Schwerin
Track 21: Messa della Domenica: Toccata cromaticha per le levatione
TRACKLIST Girolamo Frescobaldi 1583-1643 Fiori Musicali Venezia 1635 MESSA DELLA DOMENICA 1 Toccata avanti la Messa della Domenica 1'36 2 Kyrie della Domenica 0'33 3 Kyrie gregoriano 0'18 4 Kyrie 0'44 5 Christe gregoriano 0'21 6 Christe 0'37 7 Christe gregoriano 0'21 8 Kyrie alio modo 0'43 9 Kyrie gregoriano 0'17 10 Kyrie alio modo 0'37 11 Kyrie gregoriano 0'26 12 Christe alio modo 0'28 13 Christe alio modo 0'33 14 Christe alio modo O'34 15 Kyrie alio modo 0'36 16 Kyrie ultimo 0'41 17 Kyrie alio modo 0'36 18 Kyrie alio modo 0'30 19 Canzon dopo l'Epistola 2'20 20 Recercar dopo il Credo 2'04 21 Toccata cromaticha per le levatione 4'14 22 Canzon post il Comune 3'14 MESSA DELLI APOSTOLl 23 Toccara avanti la Messa delli Apostoli 1'46 24 Kyrie delli Apostoli 0'38 25 Kyrie gregoriano 0'22 26 Kyrie 0'46 27 Christe gregoriano 0'20 28 Christe 0'31 29 Christe gregoriano 0'20 30 Kyrie 0'36 31 Kyrie gregoriano 0'20 32 Kyrie 0'48 33 Kyrie gregoriano 0'37 34 Kyrie 0'39 35 Christe 0'53 36 Kyrie 0'53 37 Canzon doppo l'Epistola 2'46 38 Toccata avanti il recercar 1'21 39 Recercar cromaticho post il Credo 3'43 40 Altro recercar 3'38 41 Toccata per le levatione 3'44 42 Recercar con l'obbligo del Basso come appare 2'36 43 Canzon quarti toni Dopo il Post Comune 2'46 MESSA DELLA MADONNA 44 Toccata avanti la Messa della Madonna 1'22 45 Kyrie della Madonna 0'34 46 Kyrie gregoriano 0'15 47 Kyrie 0'36 48 Christe 0'31 49 Christe gregoriano 0'18 50 Christe 0'33 51 Kyrie 0'31 52 Kyrie gregoriano 0'18 53 Kyrie 0'35 54 Kyrie gregoriano 0'43 55 Canzon dopo l'Epistola 1'44 56 Recercar dopo il Credo 2'08 57 Toccata avanti il recercar 0'54 58 Recercar con obligo di cantar la quinta parta senza toccarla (organo e tromba barocca) 2'12 59 Toccata per le levatione 2'32 60 Bergamasca 4'49 61 Capriccio sopra la Girolmera 4'31 Total time: 78'04 Roberto Loreggian, organ - organo Bonatti (1716) Fabiano Ruin, tromba barocca Schola Gregoriana 'Scriptoria', directed by Dom Nicola M. Bellinazzo Recording: 3-4 June 2008, Chiesa di S. Tomaso Cantuariense, Verona Sound engineer: Matteo Costa - Artistic direction: Fabio Framba 2009
Track 43: Messa delli Apostoli: Canzon quarti toni Dopo il Post Comune
Otto Pächt:
Künstlerische Originalität und ikonographische Erneuerung
Abb 1: Giotto: Arenakapelle: Verkündigung |
Abb 2 |
Und wenn seinerzeit die formalistische Stilkunde mit dem Anspruch aufgetreten war, die Geschichte der Kunst als einen in sich notwendigen Ablauf, als immanente Stilentwicklung begreifen zu können, so zeichnet sich in der heutigen, durch die Vorherrschaft des ikonographischen Interesses gekennzeichneten Phase die Tendenz ab, den eigentlichen Motor des künstlerischen Geschehens in der Dynamik geistiger Strömungen religiös-philosophischer oder sozial-politischer Natur zu suchen, in der Wirksamkeit von Ideen, die in spezifischen ikonographischen Motiven ihren Niederschlag gefunden haben und aus diesem Grund vornehmlich in ikonographischer Analyse - unter nur ganz gelegentlicher Berücksichtigung stilistischer Momente - aufgespürt und erfaßt werden müssen.
Abb 3: Pariser Pseudo-Bonaventura, Verkündigung |
Wird diese intellektualistische Anschauung vom Wesen des Kunstwerks akzeptiert - sie liegt den heute Legion gewordenen Versuchen zugrunde, die Größe eines Werkes in der Fülle, Dichte, Vielschichtigkeit seines Symbolgehaltes zu erweisen - dann heißt dies aber, auf das Entwicklungsgeschehen übertragen, daß jede wahrhaft große künstlerische Leistung eo ipso eine entscheidende ikonographische Neuerung beinhalten muß. Wäre dem nicht so, dann könnte der Anspruch von Ikonographie und Symbolgeschichte, einen Zugang zum Kern des künstlerischen Phänomens zu bieten, wohl kaum zu Recht bestehen. Nun ist man sich bei gewissen künstlerischen Spitzenleistungen über ihre Originalität und epochale Bedeutung immer einig gewesen, auch ohne daß man eine Begründung dieser Wertung versucht hätte, und lange ehe man auf den Gedanken kam, das Wesen künstlerischer Originalität in ikonographischen Neuerungen zu suchen oder sich künstlerische Neuschöpfung automatisch mit ikonographischer Neuerung gepaart vorzustellen. Da erhebt sich die Frage: sollte man nicht gerade in diesen Fällen die Probe aufs Exempel machen und untersuchen, ob hier die zur künstlerischen Größe als Komplementärerscheinung geforderte ikonographische Originalität sich auch wirklich nachweisen läßt?
Abb 4: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Verkündigung |
Vor kurzem ist endlich der umfangreichste Bildzyklus, der sich in einer Pseudo-Bonaventura-Handschrift erhalten hat (Paris, Bibl. Nationale, Ms. Ital. 115), veröffentlicht worden, doch mehr als Beigabe einer neuen englischen Übersetzung des Textes. Eine eingehende ikonographische Analyse der um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Miniaturenfolge steht noch aus. Überdies ist in der erwähnten Publikation eine zweite Illustrationsfolge, die eine Pseudo-Bonaventura-Handschrift einer Oxforder College-Bibliothek schmückt und die zwar bescheidener an Zahl und Qualität der Bilder als die Pariser ist, dafür aber zum Teil eine ältere, ursprünglichere Fassung wiederzuspiegeln scheint, überhaupt noch nicht berücksichtigt worden.
Abb 5: Pariser Pseudo-Bonaventura, Einwilligung Mariae |
Abb 6: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Einwilligung Mariae |
Ihre nächste Analogie hat diese Bildarchitektur in dem Mittelteil des antikisierenden Thronbaus, der in Cavallinis Verkündigungsmosaik von S. Maria in Trastevere (Abb. 7) der Madonna als Folie dient. Beim Vergleich der beiden Szenarien drängt sich dann die Vermutung auf, daß die an die Luken eines Taubenschlags gemahnenden Wandöffnungen der Oxforder Aedicula als verkümmerte Abkömmlinge der luftigen Wanddurchbrechungen der Cavalliniarchitektur zu verstehen sind. Mit einem Wort, die Bildarchitekturen der Pseudo-Bonaventura-Illustrationen sind in der Mitte des 14. Jahrhunderts ein Anachronismus, der sich nur so erklären läßt, daß die Vorlage dieser Miniaturen und somit die Erfindung dieser Illustrationsfolge auf Cavallinis Zeit, d. h. auf die Generation vor Giotto zurückgeht, eine Annahme, die in dem Vorkommen von charakteristischen Cavallini-Motiven in anderen Bildern des Oxforder Illustrationszyklus (z. B. in dem Szenarium der Geburt Johannes des Täufers (Abb.9), das dem der Geburt Mariens in den Cavallini-Mosaiken (Abb. 8) auffallend ähnlich ist) ihre zusätzliche Bestätigung findet.
Für unsere Fragestellung ergibt sich aus all dem, daß das Urheberrecht für die Neufassung des Verkündigungsthemas Giotto abgesprochen werden muß. Zur Ermittlung von Giottos Größe hat sich der ikonographische Maßstab als untauglich erwiesen.
Abb 7: Pietro Cavallini, Verkündigung |
Hundert Jahre nach Giotto ist es abermals eine Verkündigungsdarstellung, mit der ein neues Kapitel in der Geschichte der Malerei anhebt. Es ist die Verkündigung des Mèrodealtars (Abb. 11), das früheste bekannte Beispiel eines reinen Interieurbildes. Auch für diese epochale Bildschöpfung glaubte man, wenigstens teilweise, eine ikonographische Erklärung gefunden zu haben: seit Tolnays geistvollen Deutungsversuchen des 'Gehalts' der Werke des Flèmallers und der van Eyck gilt insbesondere die Verkündigung des Merodealtars als Bahnbrecherin einer neuen Ikonographie, deren Eigenheit darin bestehen soll, daß eine Fülle von das Mysterium des Heilsgedankens versinnbildlichenden Symbolen als oft ganz unauffällige Realitätsphänomene verkleidet dem Beschauer präsentiert wird. Diese Interpretationsweise, die den Realismus als geheimen Symbolismus enthüllt oder entlarvt, ist bekanntlich dann von Panofsky bei der Entschlüsselung vieler anderer Hauptwerke der altniederländischen Malerei in souveräner Weise gehandhabt worden. Die Ikonographie des Merodealtars wurde von Tolnay nochmals in einer kürzlich erschienenen Studie erörtert, die den Vorzug hat, daß sie das Ausmaß und den Leitgedanken der ikonographischen Erneuerung scharf zu präzisieren sucht.
Abb 8: Pietro Cavallini, Geburt Mariae |
Tolnay hat uns selbst die Mittel an die Hand gegeben, mit denen seine seltsame These, wie ich glaube, eindeutig widerlegt werden kann. In seiner Studie hat er nämlich auf ein Werk hingewiesen, das thematisch wie kompositionell dem Mèrodealtar offensichtlich äußerst nahesteht, dessen Beziehungen zu dem Flèmaller Triptychon vorher aber noch nie erörtert worden waren. Es handelt sich um ein Straßburger Bild aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts (Abb. 10), das einem umfangreichen Marienaltar angehört haben muß, von dem sich noch eine zweite Tafel mit der Mariengeburt erhalten hat, und das Maria und Joseph in einem Raum vereinigt zeigt, der zugleich Wohnstube wie Zimmermannswerkstatt ist.
Abb 9: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Geburt Johannes d. T. |
Tolnay sieht in der Straßburger Marientafel - wie ich glaube, mit Recht - ein wichtiges Argument dafür, dem Meister von Flèmalle das Urheberrecht für den Einfall, die Zimmermannswerkstatt Josephs mit dem Schauplatz der Verkündigung zu verquicken oder ihr anzugliedern, abzusprechen und das Verdienst der ihm vorangehenden Künstlergeneration zu geben. Er denkt dabei in erster Linie an Melchior Broederlam als den mutmaßlichen Erfinder der neuen realistischen Milieuschilderung. Die Leistung des Meisters von Flèmalle hätte dann darin bestanden, diesen neuen Erzählungsstil in einen sakralen Realismus zu verwandeln.
Abb 10: Oberrheinischer Meister, Die Zweifel Josephs [Quelle] |
Die Miniatur findet sich in einem in Rouen 1412 vollendeten franziskanischen Brevier, und zwar dient sie als Initialschmuck zu einer Homilie des Hl. Ambrosius zum Thema der Verkündigung. In dieser Homilie beschäftigt Ambrosius nur die eine Frage, warum die vom göttlichen Ratschluß zur Gottesgebärerin Erwählte zugleich »desponsata et virgo« hatte sein müssen, mit Joseph durch ehelichen Vertrag Verbundene und doch Jungfrau. Ambrosius war, wie wir aus anderen seiner Schriften wissen, der Ansicht, daß Maria und Joseph seit ihrer Verlobung in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, aber selbst wenn der Illuminator von Rouen davon nichts gewußt hätte, würde der zu illustrierende Homilientext es nahegelegt haben, einerseits die unbefleckte Empfängnis im Thalamus der Jungfrau, und andererseits den über seine Arbeit gebeugten alten Joseph, den Behüter der ihm anvertrauten Tempeljungfrau und ihrer Unversehrtheit, nachbarlich in einem Bilde vereinigt zu zeigen.
Unsere bescheidene Miniatur wird gewiß auch nicht der erste Versuch gewesen sein, die Koexistenz von Maria und Joseph zur Zeit des Vollzugs des Mysteriums darzustellen, jedenfalls aber steht fest, daß die Schaffung der neuen Verkündigungsikonographie nicht das Werk des Flèmallers, sondern das seiner Vorgänger war. Unter dem Titel der Einbeziehung Josephs in die Bildwelt der Verkündigung läßt sich der Anspruch des Mèrodealtars auf ikonographische Originalität schwerlich aufrecht erhalten.
Abb 11: Meister von Flèmalle, Mèrodealtar |
Schule gemacht hat das Mittelbild des Triptychons, die eigentliche Verkündigung; es gibt kaum eine altniederländische Verkündigungsdarstellung, die nicht diesem Pionierwerk direkt oder indirekt Tribut zollt. In einem Punkt zwar haben auch die beinahe wörtlichen Wiedergaben der Mèrode-Verkündigung, z. B. die Verkündigung des Brüsseler Museums (Abb. 13), ihr Vorbild nicht vorbehaltlos übernommen, sondern es für nötig befunden, dieses zu korrigieren. Es ist der Punkt, in dem die Mèrode-Verkündigung (Abb. 11) gegen eine der fundamentalsten Regeln der ikonographischen Tradition verstößt. Bis dahin war es selbstverständlich gewesen, daß Maria durch Gebärde und Haltung zu erkennen gibt, daß sie in ihrer Tätigkeit - sei es Spinnen oder Lesen - durch das Kommen des Engels überrascht worden ist. Wir bekommen zu sehen, welchen Emdruck die Botschaft auf sie macht, sei es, daß bloß das Erschrecken - perturbata est - geschildert wird, sei es, daß die demütige Hinnahme ihrer Mission zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Maria des Mèrodealtars ist so sehr in ihre Lektüre vertieft, daß sich von ihr nicht einmal sagen läßt, ob sie die Botschaft überhaupt hört, geschweige denn, wie sie auf diese reagiert. Diese extreme Neutralisierung des Ausdrucks der Hauptfigur des Dramas ist offenbar den Schülern und Nachfolgern des Flèmallers widersinnig erschienen, und so haben sie zwar das am Boden Hocken der Lesenden, die für die Madonna Humilitatis typische Haltung, beibehalten, jedoch die den englischen Gruß beantwortende Geste wieder eingeführt. Eine Korrektur im Sinne eines Kompromisses mit der Tradition, ja, im Grunde eine Kritik einer zu gewagten ikonographischen Neuerung.
Abb 12: Franziskanisches Brevier, Verkündigung |
Doch vermag ich wenigstens ein Beispiel namhaft zu machen - einen katalonischen Ableger einer toskanischen Verkündigungsdarstellung - das zeigt, daß es in der Trecentoentwicklung Strömungen gab, die auf die durch den Mèrodealtar berühmt gewordene Formulierung des Themas hinzusteuern scheinen, Versionen, die einige für letzteren charakteristische Bildgedanken bereits vorwegnehmen. In der Verkündigungsszene des katalonischen Retabels (Abb. 14) hockt Maria in nahezu derselben Stellung wie im Brüsseler Flèmalle-Schulbild am Boden, das Buch auf ihren Knien aufgeschlagen, so daß wirklich sie und nicht wie üblich nur der Betrachter darin lesen kann. Bezeichnenderweise ist dann aber noch zwischen den beiden Gestalten auf einer Truhe beim Eingang ins Schlafgemach, weiter im Hintergrund, ein zweites Buch zu sehen, diesmal aber so aufgeschlagen, daß wir, die Betrachter, in ihm Mariens Erwiderung »Ecce ancilla Domini« lesen können. Noch hält die katalonische Annunziata die Hand leicht abwehrend vor der Brust, aber es ist eine sehr leise Antwort geworden, kaum vernehmbar, und so übernimmt es das eingeschobene Buch, für Maria zu sprechen. Im Mèrodealtar ist schließlich Maria ganz verstummt, es herrscht tiefe Stille im Gemach, und das Wunder liegt jetzt darin, daß der Engel ins Gemach getreten und sie ihn überhaupt nicht bemerkt hat. Vielleicht darf man in der Schriftrolle und dem Buch, das auf dem Tisch zwischen Gabriel und Maria aufgeblättert liegt, Abkömmlinge jenes Buches erblicken, das in dem spanischen Trecentobild die Funktion gehabt hatte, Mariens Antwort auf den englischen Gruß wenn nicht laut, so doch sichtbar werden zu lassen. Aber dies muß vorläufig bloße Vermutung bleiben.
Abb 13: Brüsseler Kopie der Verkündigung des Mèrodealtars |
Es liegt mir fern, aus dem negativen Resultat, das unsere Untersuchung des Zusammenhanges von künstlerischer Größe und ikonographischer Originalität an zwei - wenn auch hochbedeutenden - Beispielen ergeben hat, generalisierend die Lehre ziehen zu wollen, ein solcher Nexus bestünde überhaupt in keinem Falle. Es lassen sich sehr wohl historische Konstellationen vorstellen, in denen die Antwort positiver ausfallen könnte. Aber vielleicht sollte die Einsicht, die wir gewonnen haben, uns doch helfen, endlich die Grenzen der Ikonographie zu erkennen und uns zum Bewußtsein zu bringen, daß diese wichtige Disziplin legitim nur die gedankliche Vor-stellung, den Vor-wurf zu ihrem Gegenstand hat, daß sie auch im Aufspüren verborgenster Symbolbedeutungen bloß das äußere Thema sichtbar werden läßt und doch nicht das innere Thema und seine Gestaltung, um die es in der Kunstgeschichte letzten Endes geht.
Abb 14: Retabel von Cardona, Verkündigung |
Quelle: Otto Pächt: Künstlerische Originalität und ikonographische Erneuerung. In: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgew. Schriften. München, Prestel, 1986, 3. verbesserte Auflage 1995. ISBN 3-7913-0410-0. Zitiert wurde der zuerst 1967 publizierte Aufsatz vollständig (Seiten 153-164).
OTTO PÄCHT (1902-1988), der selbst in Wien und Berlin studiert hatte, gehörte der traditionsreichen Wiener Schule der Kunstgeschichte an, und lehrte von 1963 bis 1972 als Ordinarius an der Universität Wien. Er galt als Autorität auf den Gebieten der mittelalterlichen Buchmalerei und der europäischen Kunst des 15. Jahrhunderts.
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CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 38 MB
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Unpack x217.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue+Log Files [78:04] 5 parts 383 MB
Reposted on December 23th, 2017
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