Nach einem kurzen Zwischenspiel als Violin- und Theorielehrer am Konservatorium in Baku (Aserbeidschan) kehrte er 1897 wieder nach Berlin zurück, das bis kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung seine Heimat bleiben sollte. Joseph Joachim holte ihn 1905 als Lehrer an die Berliner Musikhochschule; 1911 wurde er dort Professor fur Komposition, eine Stellung, die er erst 1934 aufgab. In den Jahren der Weimarer Republik gehörte er zu den angesehensten Kompositionslehrern Deutschlands.
Schon seit 1925 hatte er die Sommermonate meist in der Heimat seiner zweiten Frau, Marie Günthert, in Vevey am Genfer See, verbracht. Die politische Entwicklung in Deutschland bewog ihn 1934 dazu, endgültig nach Vevey zu übersiedeln‚ wo er 1940 starb.
Im ersten Drittel unseres Jahrhunderts ist Juons Name sehr häufig auf den Konzertprogrammen zu finden. Eine zählebige Sorte von Musikkritikern, die selten ein falsches Schlagwort verfehlen, brachte für ihn das Etikett vom „russischen Brahms“ auf, und zu einer Zeit, als das für viele noch einer Beschimpfung gleichkam, verstiegen sich etliche von ihnen bei der Besprechung seiner Werke zu Vergleichen mit Stravinskij. Aber weder diese marktschreierischen Fehlgriffe der Kritiker noch auch die unbestreitbaren Qualitäten der Juonschen Musik konnten das Überleben seines Werkes sichern: Juon gehört heute sicher zu den unbekanntesten unter den relevanten Komponisten seiner Zeit.
Paul Juon, Jugendbildnis |
Das erste von insgesamt sechs Klaviertrios Paul Juons wurde l90l in Berlin vollendet; es bildet in gewissem Sinne den Höhepunkt und Abschiuß der „russischen" Periode Juons. Vor allem in den Ecksätzen herrscht der Ton des ostslawischen Volksliedes mit all seinen Charakteristika (Quarten- und Quintenmotivik‚ modale Harmonik usw.) völlig unangefochten.
Der erste Satz (Allegro, a-moll) spielt mit zwei kontrastierenden Varianten ein und des selben Themas in verschiedener rhythmischer Gestalt. Das Seitenthema und die daraus entwickelte Codetta versucht erst gar nicht, sich dem Übergewicht dieses Hauptthemas entgegenzustellen: es besteht aus kleinräumigen, tänzerischen Motiven, die auf elegante Weise kontrapunktisch verflochten werden.
Das Adagio non troppo (C-Dur) kombiniert ein modal gefärbtes Liedthema mit recht verblüffenden Gegenstimmen und schließlich mit einem hochromantisch chromatisierten Nebengedanken, der in fast theatralische Deklamation mündet. Diese mitunter irritierende Ambivalenz der musikalischen Sprache, in der Schlichtheit und Pathos so eng ineinander verwoben sind, ist ganz typisch für die Epoche und gehört zu jenen Stilmerkmalen, die die Übertragung des Begriffes „Jugendstil“ auf die Musik als gerechtfertigt erscheinen lassen.
Ein Rondo (Allegro. a-moll/A-Dur) bildet den Abschluß des in seinen Dimensionen und Formen bewußt knapp gehaltenen Werkes. Auch in diesem tänzerischen Kehraus herrscht wieder ein unbekümmert folkloristischer Ton; das Ritornell ist (bei völliger Anderung des Grundcharakters) in Modus und Duktus aus dem Hauptthema des ersten Satzes entwickelt. Von den beiden Episoden ist die erste ganz "a la Borodin" erfunden, während die zweite auf eine walzerselige Apotheose hin angelegt ist, die in der Coda durch widerspenstige Ritornell-Zitate nicht gestört, sondern nur noch gesteigert wird.
Paul Juon mit Tochter Ina, 1916 |
Juons zweites Klaviertrio erschien im Jahre 1908 mit einer Widmung an jenes Ensemble, das sich über die ganze Zeit seines Bestehens am nachhaltigsten und erfolgreichsten für das Werk des Komponisten eingesetzt hat und das auch dieses Opus uraufführte: das Russische Trio. Juons Studienkollege Josef Press, der als einer der besten Repräsentanten der Moskauer Geigenschule galt, hatte dieses Ensemble 1906 zusammen mit seiner Frau Vera Maurina (Klavier) und seinem Bruder Michael Press (Violoncello) gegründet. In den Vorkriegsjahren residierte das Trio in Berlin und gehörte zu Juons engerem Freundeskreis. Auch Selma Lagerlöf, die sich schon mit ihrem Erstlingswerk „Gösta Berlings Saga" Weltruhm erworben hatte, hatte Juon in Berlin kennengelernt. Seine Bewunderung für die Eigenart der großen Dichterin drückte er in zwei großangelegten Kammermusikkompositionen aus: der Rhapsodie op. 37 für Klavierquartett (1907) und unserer im darauffolgenden Jahr beendeten Trio-Caprice.
Der erste Satz (Moderato non troppo, h-moll) entwickelt auf rhapsodische Weise zwei Grundgedanken, die nur mehr sehr bedingt als „Haupt-“ und „Seitenthema" eines Sonatensatzes gedeutet werden können. In allen Teilen der Großform ABABA wird das Material assoziativ verarbeitet und verknüpft, wobei der dritte Abschnitt am deutlichsten durchführungsartige Züge aufweist, während die Eckteile einander spiegelbildlich entsprechen und als Exposition und (invertierte) Reprise fungieren.
Auch in den als unzertrennliche Einheit konzipierten Mittelsätzen (Andante, G-Dur, und Scherzo, Vivace, d-moll) ist die formale Dramaturgie des traditionellen viersätzigen Zyklus erkennbar, aber auf sehr persönliche und charakteristische Weise umgedeutet und neugestaltet: Im Andante wird ein weiträumiges, zwischen Dur und Moll irisierendes Thema nicht etwa „variiert", sondern von seinem harmonischen Fundament abgelöst, auf dem sich dann ein völlig andersgeartetes Nachfolgethema breitmacht. Am Spiel zwischen diesen beiden „Verkleidungen" desselben Gerüstes läßt sich die für die Musik des Jugendstils so typische Spannung zwischen archaisch-volksliedmäßigen und urban-salonhaften Elementen wieder besonders gut nachvollziehen.
ln analoger Weise mündet das eigenwillige Finale (Risoluto, h-moll), in dem der schwedische Landpastor Gösta Berling uns etliche Male in akzentfreiem (und recht ungebärdigem) Russisch anzuspechen scheint, in eine hymnische Beschwörung der beiden Leitthemen des ersten Satzes, bevor die Schlußwendung des Andante—Themas‚ die jetzt alle fragende Nachdenklichkeit abgeworfen hat, dem Satz ein grimmiges Ende bereitet.
Paul Juon (undatierte Postkarte) |
Die suggestive Kraft der in der Trio-Caprice beschworenen Bilder wirkt sogar noch in dem sieben Jahre später (1915) erschienenen und dem Ehepaar J. H. Block gewidmeten dritten Klaviertrio nach: Im zweiten Satze, der sicher zu den reifsten und tiefsten Momenten des Juonschen OEuvres zählt, erscheint ein nahezu wörtliches Zitat des Anfangs von Op. 39. Ansonsten ist dieses Werk aber eher dem ersten Klaviertrio verwandt. dessen Grundzüge wir hier — reifer. voller und reicher — wiederfinden.
Das eröffnende Moderate assai (G-Dur) ist wie der analoge Satz von op. 17 ein „regelmäßiger“ Sonatenhauptsatz. und wie dort gewinnt Juon ein Gutteil der koloristischen Wirkung aus einem ungewöhnlichen tonalen Verhältnis zwischen Haupt- und Seitensatz, der hier in fis-moll steht. Die Durchführung ist diesmal weit knapper, weniger „gelehrt" und wesentlich klangsinnlicher. In der Reprise werden die Tonartenbeziehungen dann „zurechtgebogen“, und zwar, ganz „à la Reger“, durch eine geschickt plazierte Halbtonrückung, die den Seitensatz jetzt in g-moll münden läßt.
Daß aber das ursprüngliche fis-moll keine willkürliche Laune war, erhellt aus dem folgenden Andante cantabile (h-moll), einem dreiteiligen Liedsatz, in dem der Dominantton Fis Ausgangs- und unverrückbarer Mittelpunkt des Geschehens ist. Die Harmonik des Satzes ist sehr unkonventionell und persönlich. ohne je gesucht oder diffus zu wirken.
Zweifellos am nächsten zur folkloristischen Welt von Juons Trioerstling kommen wir mit dem Finalrondo (Risoluto, ma non troppo allegro, g-moll/G-Dur), Auch hier geben die modalen Eigenwilligkeiten des ostslawischen Volksliedes den Hintergrund ab, vor dem sich ein launiges Spiel von ansteckendem Übermut entspinnt. An die Stelle der volksliedhaften Treuherzigkeit ist hier aber das Raffinement selbstironischen Esprits getreten, dem es auch nicht fernliegt, etwa im Scheinfugato der Mittelepisode mit aller Schalkhaftigkeit Brahms zu zitieren (das Incipit des Scherzos aus dem B-Dur-Streichsextett Op. l8). So endet das Werk schließlich mit jener doppelbödig mutwilligen Ausgelassenheit. die sich vielleicht nicht besser ausdrücken läßt als mit einem unüberhörbaren Anklang an das altbekannte wienerische „O du lieber Augustin" — ein makabrer Kontrapunkt zu dem Inferno, in das Europa zur Zeit der Entstehung des Werkes schon geschlittert war.
Paul Juan, Autogramm, 1929 |
Das Erlebnis dieses lnfernos und des Zusammenbruches der „alten Welt“ teilt auch das Werk Juons deutlich in ein „Vorher“ und „Nachher“. Die letzten beiden großen Triokompositionen des Meisters tragen tiefe Spuren dieser Erfahrung. Juon hat für diese beiden Werke, Litaniae und Legende, deshalb auch eine Gestalt gewählt, die sich deutlich von der seiner bisherigen Triokompositionen unterscheidet. Er fand sie in einem seit der Jahrhundertwende zunehmend in Gebrauch gekommenen formalen Konzept, in dem die traditionellen Teile einer viersätzigen symphonischen Form in einen einzigen Satz zusammengefaßt werden, dessen Architektur durch weiträumige thematische und motivische Querverbindungen zusammengehalten wird.
Litaniae entstand 1920 und wurde 1929 mit einer Widmung an Ida Schwarz-Schlumberger veröffentlicht. Man ist versucht, in dem Werk ein kammermusikalisches Requiem auf einen geliebten Menschen zu sehen, doch hat Juon wohl in dem Wissen um die unantastbare Autonomie des musikalischen Materials auf jeden über den suggestiven Titel hinausgehenden Hinweis in dieser Richtung verzichtet.
Wohl an keiner anderen Stelle seines Werkes hat Juon eine gleichzeitig so dichte und so freiassoziative Sprache gefunden. Das Konstruktionsprinzip — alle Themen sind aus knapp einer Handvoll archetypischer Kleinmotive gewonnen und auf komplizierte Weise miteinander verknüpft — ist so sehr vom stream of consciousness der heraufbeschworenen Bilder überflutet, daß es sich der hörenden Erfahrung nirgendwo aufdrängt, sondern nur wie die Logik des Traumes aus den Fernen des Unterbewußten wirkt. Der sich hierin manifestierende Eklektizismus Juons ist keine Schwäche, sondern eine seinem künstlerischen Naturell ideal entsprechende Ausdrucksweise.
Aus dem Familienalbum |
Die gleichen Qualitäten zeichnen die 1930 komponierte und Eugene Couvreu gewidmete Legende aus. Unter den Klaviertrios Juons ist dieses Werk sicher das schwierigste und anspruchsvollste, wenn man auch mit einigem Recht die vorangehende Litaniae als das „geglücktere" bezeichnen könnte. Aber das liegt wohl an der Natur der Sache selbst: Wir sind hier aus der zeitlosen Welt des Traumes in die gebrochene und verfremdete Zeitlichkeit der Legende eingetreten. Die Szenen der Erzählung erinnern wirklich ein wenig an die Phantastik mittelalterlicher Hagiographie, aber durchaus nicht im Stile des Jacobus de Voragine, sondern etwa so, wie sie Vittore Carpaccio vom gesicherten Boden der Renaissance aus wiederbelebte.
Es liegt auf der Hand, daß Ausdrucksformen dieser Art, deren Reiz in der Fülle der durch sie geweckten Erinnerungen liegt, charakteristisch für Zeiten der Überreife und des Umbruchs sind. Indem Juon für sein letztes großes Kammermusikwerk diese vielschichtige und komplexe Form wählt, faßt er noch einmal die Summe seines musikalischen Erbes in beeindruckender und berührender Weise zusammen.
Suite, C-Dur, op. 89
Auf die äußerste Konzentration der beiden großen Tondichtungen mußte zwangsläufig spielerische Entspannung folgen. Und so hat Juon 1932, zwei Jahre nach der Legende und kurz vor seiner „Heimkehr" in die Schweiz, noch ein letztes Werk für Klaviertrio geschrieben, das der großräumigen und dichten Form der vorangegangenen Werke eine lockere Folge pointiert formulierter und mit leichter Hand skizzierter Miniaturen gegenüberstellt. Juon hat den Zyklus dem aus Lemberg stammenden Pianisten Bronislaw von Pozniak und seinem Trio gewidmet. Man könnte in dieser Suite auch eine Huldigung an den kosmopolitischen Geist der Metropole sehen, die dem Komponisten über fast die ganze Dauer seines schöpferischen Lebensweges Heimat war. So findet sich in diesen fünf Stücken, neben vielen anderen Reminiszenzen, die dem Kulissenfonds eines Varietètheaters entnommen scheinen, auch etwas von dem russischen und skandinavischen Kolorit, das Berlin bis zum Zusammenbruch der Weimarer Republik bewahrte, und zu dem letztlich ja auch die Figur Paul Juons selbst gehörte. Und damit wir auch nicht vergessen. daß dies auch die Stadt von George Grosz war, mischt sich immer wieder der schrille und fiebrige Klang einer Jazzband in den vielstimmigen Großstadtlärm.
Quelle: Claus-Christian Schuster, im Booklet. [Gekürzt]
Die in den Text eingestreuten Bilder stammen zum Teil aus der Homepage der »Internationalen Juon Gesellschaft«.
TRACKLIST Paul Juon (1872-1940) The Piano Trios CD 1 71'22 Trio for piano, violin and violoncello Op. 17 01 Allegro 9'09 02 Adagio non troppo 6‘54 03 Rondo (Allegro) 6’23 Trio-Caprice for piano, violin and violoncello Op. 39 04 Moderato non troppo l0’l9 05 Andante 3’47 06 Scherzo (Vivace) 4‘27 07 Risoluto 8'52 Trio for piano, violin and violoncello Op. 60 08 Moderato assai 8’l0 09 Andante cantabile 6’48 10 Risoluto, ma non troppo allegro 6'l3 CD 2 56'23 01 Litaniae for piano, violin and violoncello Op. 70 18'20 02 Legend for piano, violin and violoncello Op. 83 24‘44 Suite for piano, violin and violoncello Op. 89 03 Moderato 2‘16 04 Giocoso 2’13 05 Andantino 2’44 06 Allegretto 3‘20 07 Allegro giusto 2‘33 Altenberg Trio Wien: Claus-Christian Schuster (piano) Amiram Ganz (violin) Martin Hornstein (violoncello) Recording: July 1996, Kunsthaus, Mürzzuschlag, Austria. Recording producer: Christine Pedaring. Editing: Michael Renner. A + R Production: Marcel Schopman (P) + (C) 1996
Die Erfassung des Raumes
Am Beispiel der Admonter Riesenbibel
Abb. 1 Admonter Riesenbibel, Moses empfängt die Gesetze. |
Beim Versuch, den Schauplatz des Geschehens zu beschreiben, geraten wir sofort in größte Schwierigkeiten. Jedes der Bildfelder zerfällt in drei Hauptzonen. Zuunterst vor Goldgrund links ein Baum mit Vögeln und Tieren, rechts eine Menschengruppe. In der Mitte eine buntfarbige Menge amboßhafter Gebilde, die Moses als Podeste dienen und offenbar gebirgiges Terrain vorstellen sollen. Darüber hebt sich vom Goldgrund die Gestalt Mosis ab, ferner ist jeweils in der linken oberen Ecke ein Segment mit der Büste des Herrn ausgespart, das durch ein rotes, weißgerandetes Band begrenzt wird. In der ersten Szene überschneidet noch ein rot-weiß-grün gestreiftes, schrägliegendes Wellenband die Gestalt Mosis unterhalb der Knie.
Sie werden bemerken, daß ich, wo es nicht ganz außer Zweifel ist, es vermeide, gegenständlich deutend zu beschreiben. Aber freilich ist dies eine etwas künstliche Zurückhaltung. In Wahrheit reagieren unsere Augen nicht so, sondern, vom Wissen um das Thema verleitet, sehen sie, was sie erwarten zu sehen. Nicht nur Figuren, sondern auch Felsen und Wolken. Und darum ist es gut, zur Kontrolle manchmal mit gegenstandsblindem Schauen zu experimentieren. Vielleicht wäre es eine adäquatere Beschreibung unseres Eindrucks, wenn wir sagten, wir sehen ein Übereinander von Zonen, in denen menschliche Figuren und Formen organischer wie anorganischer Natur den Goldgrund unterbrechen. Zumal vor dem linken Bild könnte man fast an durchbrochene Metallarbeit erinnert werden (Abb. 2).
Abb. 2 Kremsmünsterer Scheibenkreuz (Detail). |
Sofort bieten sich zum Vergleich früh- und mittelbyzantinische Darstellungen an, was bei Werken der mit italo-byzantinischer Malerei saturierten Salzburger Malerei der Romanik nicht verwundern kann. Am nächsten kommt die Version der byzantinischen Oktateuche (Abb. 4), denn hier finden wir das Motiv des mit abgewandtem Kopf die Gesetzestafeln empfangenden und nicht wie sonst in Byzanz den beim Empfang der Gesetzestafeln der Hand Gottes sich entgegenstreckenden Moses. Allerdings ist der Moses der Oktateuche jugendlich und erscheint auch in der zweiten Szene (Abb. 3), wie es im griechischen Bereich selbstverständlich ist, nicht gehörnt, sondern mit richtig strahlendem Antlitz. Auch sieht man den Herrn nicht selber die Gebote schreiben, die Stimme des Herrn ist wie von eh und je in der christlichen Kunst des Ostens durch die im Wolkensegment erscheinende Hand Gottes versinnbildlicht. In den Abweichungen in den paar Punkten treten also westlich-mittelalterliche Züge der Salzburger Buchmalereien zu Tage.
Abb. 3 Smyrna-Oktateuch, Moses am Berg Sinai. |
Einen Baum zu Füßen des Berges Sinai wie den, mit dem die linke Szene anhebt‚ wird es auch in den östlichen Vorbildern gegeben haben, aber nur als gleichsam zum Lokalkolorit gehöriges Detail, nicht als eigenständiges Individuum wie hier als pars pro toto die Natur vertretend. Und dieser von Vierfüßlern und Vögeln belebte Baum, der aus einem mittelalterlichen Bestiar genommen sein könnte (Abb. 6), kann uns als Fingerzeig dienen, der uns mahnt, nach jener zweiten, unklassischen, nordisch-barbarischen Bildtradition Ausschau zu halten, die eines der konstituierenden Elemente jeder künstlerischen Schöpfung des Mittelalters ist.
Abb. 4 Smyrna-Oktateuch, Moscs empfängt die Gesetze. |
Hat unser Blick, mit dem Baum vom Grund sich emporhebend, die Berghöhe erreicht, so fällt er auf eine Staffelung von zwei Reihen buntgefärbter Felsblöcke, zwischen denen eine erdfarbene Schollenlage durchgezogen ist. Hier hätten wir eine wenn auch begrenzte Hintereinanderschichtung von Formen — allein die Farbverteilung sorgt dafür, daß die Tiefenwirkung neutralisiert wird. In rhythmischer Alternierung dringt das Rot oder Grün und Blau bald vor, bald zieht es sich zurück. Und das Braun der Schollen dazwischen erscheint dann noch im Bilde nebenan in der vordersten Reihe an Felsblöcken. So ist die Bildfläche der Ort des Ausgleichs des Farbgeflechts.
Abb. 5 Ravenna, S. Vitale, Moses empfängt die Gesetze. |
Ich sagte vorhin, daß jede wissenschaftliche These, also auch jede Stilerklärung oder Bildinterpretation, zunächst nur eine Hypothese ist und auf ihre wissenschaftliche Haltbarkeit überprüft werden muß. Eines der ersten Gebote der Selbstdisziplin eines Kunsthistorikers müßte es sein, sich selbst am allerwenigsten zu glauben und die eigenen Ansichten anderen erst dann zu unterbreiten, wenn sie verschiedene Bewährungsproben bestanden haben. Bei Struktur- und Kompositionsanalysen von Einzelkunstwerken wie die eben versuchte, ist, was man die immanente Bewährung nennen könnte, die unmittelbarste Kontrolle. Man hat zu prüfen, ob die vorgeschlagene Lesung wirklich das leistet, was man von ihr erwartet oder behauptet, nämlich ein Maximum von bisher unverständlichen oder widersinnigen Einzeltatsachen von gewissen zentralen Gestaltungsprinzipien her als notwendig und sinnvoll erscheinen zu lassen. Daß in unserem Fall wir zwischen der Formbildung und dem Farbcharakter einen inneren Nexus entdecken konnten, wage ich u. a. als Anzeichen des Gelingens unseres Aufschlüsselungsverfahrens hinzustellen.
Abb. 6 Bestiar, Perindeus-Baum. |
Denn da die griechische bildliche Phantasie so funktionierte, daß, wenn sie eine Flußlandschaft wiedergeben sollte, sie sich eine Personifikation, einen Flußgott vorstellte, der aus einer Urne Wasser ausgoß, bekommen wir bei der Josuaepisode im Hintergrund die Figur des Flußgottes zu sehen, aus dessen Urne ein schmaler Wasserlauf hervorkommt, ohne aber dem Zug im Vordergrund irgendwie in die Nähe zu kommen. Um die Darstellung, so naturalistisch sie sich gibt, zu verstehen, müssen wir die Geschichte wissen; wahrzunehmen ist das Wunder, daß die Wasser beim Durchzug sich stauten, nicht. — In den altchristlichen Mosaiken von Sta. Maria Maggiore (Abb. 10) sind zwei in gleichgerichteter Bewegung befindliche Figurenmassen zu sehen, die durch einen in Aufsicht gegebenen Flußlauf getrennt sind. In der rückwärtigen Gruppe des Zuges befinden sich die Träger der Bundeslade, die Überquerung selbst, das Sichstauen des Wassers, ist nicht veranschaulicht, wieder kann man das Wunder nur ahnen, wenn man den Text kennt.
Abb. 7 Schatz von Sutton-Hoo, Fibel. |
Wir kehren noch einmal zu den Mosesbildem der Admonter Riesenbibel (Abb. 1) zurück, um noch eine weitere Bewährungsprobe vorzunehmen. Wir haben vorhin bei unseren Analysen das zweite Mosesbild etwas vernachlässigt. Geben wir den Grund dafür nun unumwunden zu, an ihm läßt sich das Gestaltungsprinzip des Formverflechtens viel weniger gut aufzeigen als am ersten. Heißt das, daß unser Erklärungsversuch immer noch unzureichend ist, daß wir doch noch nicht wirklich in die Sprache dieser Bilder eingedrungen sind? Die Antwort dürfte sein, daß unsere Einstellung zu ihnen solange noch nicht die richtige ist, solange wir jedes der beiden Bilder isoliert wie in sich geschlossene Tafelbilder anschauen und nicht als Teile des Organismus der Buchseite.
Abb. 8 Walthersbibel, Israeliten mit der Bundeslade durchqueren den Jordan. |
Abb. 9 Josuarolle, Israeliten mit der Bundeslade durchqueren den Jordan. |
Ein Kunstwerk, namentlich ein Bild, ist uns oft in einem Augenblick gegeben. Und doch braucht das wirkliche Erfassen, wenn es sich nicht um Kunstwerke handelt, die unseren Sehgewohnheiten sehr nahe stehen, fast ebenso lange wie die Lektüre eines Textes oder das Anhören einer musikalischen Komposition. Es scheint eine gewisse Spannung zu bestehen zwischen dem momentanen Erleben und dem im wissenschaftlichen Sinn Beobachteten, sukzessiv Erfaßten, Erlernten. Dieser Gegensatz zwischen momentanem Erleben und wissenschaftlichem Beobachten erwies sich am Schluß unserer Untersuchung doch als ein bloß theoretischer, insofern als was man durch die Analyse des Kunstwerks gelernt hat, dann im blickhaften kurzen Erleben schon mitenthalten ist.
Abb. 10 Rom, Sta. Maria Maggiore, Israeliten mit der Bundeslade durchqueren den Jordan. |
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