Orff wusste dank seiner jahrelangen Erfahrung im schulmusikalischen Bereich um die Wirksamkeit von einfachen Strukturen, klaren Rhythmen und welche musikalischen Hilfestellungen es brauchte, um die Hörer zu etwas «hinzuführen». Die Partitur ist ein rhythmusbetontes Musikbett und beschränkt sich auf einfache melodische und harmonische Strukturen. Interpretieren – im Sinne von «etwas daraus machen» – muss man die «Carmina Burana» sicher nicht. Die Musik verlangt dafür Präzision, Spielfreude, Authentizität und große Vorstellungskraft. Orff selbst erklärte: «Ein besonderes Stilmerkmal der Carmina Burana-Musik ist eine statische Architektonik. In ihrem strophischen Aufbau kennt sie keine Entwicklung. Eine einmal gefundene musikalische Formulierung – die Instrumentation war von Anfang an immer mit eingeschlossen – bleibt in allen ihren Wiederholungen gleich. Auf der Knappheit der Aussage beruht ihre Wiederholbarkeit und Wirkung.»
Wir haben es mit drei Themengruppen oder Bildfolgen (1. Frühling und Natur, 2. In der Schenke, 3. Liebe) zu tun, die von einem Hymnus an die Schicksalsgöttin umrahmt werden. Eine Handlung gibt es nicht – einer der zahlreichen Kniffe, mit dem sich Orff zeitlose Aufmerksamkeit sicherte.
Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660, Codex Buranus (Carmina Burana); fol. 1r mit Schicksalsrad. circa 1230 |
Es folgt «Primo vere», das mit «Ûf dem anger» gepaart, den herannahenden Frühling und seine Schönheit besingt. In «Veris leta facies» («Frühlings heiteres Gesicht») wird hymnisch das Aufblühen der Welt besungen. Der Gedanke wird solistisch in «Omnia sol temperat» («Alles macht die Sonne mild») entwickelt, die Sonne weckt Frühlingsgefühle im wörtlichen und übertragenen Sinn. Der Chor «Ecce gratum» («Sieh, der Holde») schließt mit einer Zwischenbilanz diese erste Abteilung («Primo vere») und unterstreicht abermals die Wichtigkeit des Frühlings.
«Ûf dem anger» hebt mit einem heiteren Tanz an, der weiter in die frühlingshafte Szenerie führt. «Floret silva nobilis» («Es grünt der edle Wald») ist das Lied einer Frau, die sich beim Anblick des grünenden Waldes schmerzlich des Verlusts ihres Liebhabers und ihrer Sehnsucht nach Liebe bewusst wird. Mit «Chramer, gip die varwe mir» («Kramer gib die Farbe mir») hören wir nun den ersten mittelhochdeutschen Text, der unmittelbar auf das vorangegangene Stück reagiert. Die Frau ergreift die Initiative und bereitet sich darauf vor, wieder einen Mann für sich zu gewinnen – nach allen Regeln der Minne, versteht sich.
Boccaccio, "De Casibus Virorum Illustrium" (Paris, 1467) MSS Hunter 371-372 (V.1.8-9). Image (vol. 1: folio 1r) (Glasgow University Library) |
Um kulinarische Genüsse und unbekümmerte Lebenslust geht es im folgenden Teil «In taberna» («In der Schenke»). Die Botschaft des ersten Stücks ist unmissverständlich: «Estuans interius» («Glühend in mir») tritt als erste offen zur Schau getragene Ich-Botschaft im gesamten Stück hervor. Es ist eine rotzfreche Parodie auf die christliche Beichte in Strophenform. Sprachgewaltig und satirisch geht es in «Olim lacus colueram» («Einst schwamm ich auf dem See umher») weiter, wenn der über dem Feuer bratende Schwan sein trauriges Los bejammert. Nahtlos daran schließt «Ego sum abbas» («Ich bin der Abt») an, in dem sich ein namenloser Zecher zum Abt des Schlaraffenlandes erklärt und jeden warnt, der sich mit ihm auf das Würfelspiel einlässt. «In taberna quando sumus» («Wenn wir sitzen in der Schenke») enthält liturgische Anspielungen, verunglimpft die Fürbitten zum Karfreitag und schließt den zünftigen Fress- und Saufteil der «Carmina Burana» ab.
Christine de Pizan, Folio 41r 'Wheel of Fortune' from Epitre d'Othéa; Les Sept Sacrements de l'Eglise, c. 1455 (Waddesdon Manor, National Trust) |
Handfest und gar nicht hypothetisch geht es dann aber mit «Veni, veni, venias» («Komm, komm, komm zu mir»), wenn ein Mann eine Frau anfleht, mit ihm ins Bett zu gehen. Dieser lüsterne Ausruf wird von einem Blick in das Innere der Angebeteten gefolgt, «In trutina» («Auf der Waage»). Sie überlegt nun bei sich, ob sie sich dem Mann hingeben soll oder nicht, entscheidet sich letztlich aber für die Lust. «Tempus est iocundum» («Lieblich ist die Zeit») heißt der lyrische Hymnus auf die Freuden der Liebe, in dem Männer und Frauen danach drängen, Frühlingsgefühle miteinander auszuleben. Mit dem innigen «Dulcissime» («Süßester») gibt sich nicht nur die Frau ihrem Mann endgültig hin, der amouröse Teil der «Carmina Burana» gipfelt hier in einem Höhepunkt, einer musikalisch-orgasmischen Eruption. Der Epilog mit dem Titel «Blanziflor et Helena» setzt stellvertretend für alle Liebenden den Ritter Blanziflor (eine beliebte Sagenfigur) und Helena, die schönste Frau der Antike, als Überbringer der Dankbarkeit für leibliche Freuden ein. «Ave formosissima» («Heil dir, Schönste») bejubelt in ekstatischer Verzückung die göttliche Jungfrau.
Sebastian Brant, "Das Narrenschiff", Basel 1499. Holzschnitt von Albrecht Dürer. |
Quelle: Alexander Moore, Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft, auf dem Webauftritt des Tonkünstler Orchester
Linktipps:
Ein Bericht von der Uraufführung 1937.
Carl Orff und das Dritte Reich.
Ein Versuch einer authentischen Aufführung des Manuskripts «Carmina Burana».
Gehören die Carmina Burana ins Kloster Benediktbeuren? Meinungen.
TRACKLIST Carl Orff Carmina Burana (Cantiones profanes) Fortuna Imperatrix Mundi 01 O Fortuna 2.49 02 Fortune plango vulnera 2.51 I Primo vere 03 Veris leta facies 3.53 04 Omnia sol temperat 1.43 05 Ecce gratum 2.54 Uf dem Anger 06 Tanz 1.59 07 Floret Silvia 3.31 08 Chramer, gip die varwe mir 3.36 09 Reie ... Swaz hie gat umbe ... 5.12 Chume, chum geselle min 10 Were diu werlt alle min 0.54 II In taberna 11 Estuans interius 2.24 12 Olim lacus colueram 3.24 13 Ego sum abbas 1.16 14 In taberna quando sumus 3.22 III Cours d'amour 15 Amor volat undique 3.16 16 Dies, nox et omnia 2.07 17 Stetit puella 2.01 18 Circa mea pectora 2.11 19 Si puer cum puellula 0.57 20 Veni, veni, venias 0.55 21 In trutina 2.07 22 Tempus est iocundum 2.25 23 Dulcissime 0.32 Blanziflor et Helena 24 Ave formosissima 1.43 Fortuna Imperatrix Mundi 25 O Fortuna 2.48 Gesamte Spieldauer: 60.58 Sopran: Lucia Popp Tenor: Gerhard Ungar Bariton: Raymond Wo1anksy, John Noble New Philharmonia Chorus, Leitung: Wilhelm Pitz Wandsworth School Boy's Choir, Leitung: Russel Burgess New Philharmonia Orchestra Rafael Frühbeck de Burgos (P) 1987 (C) 2003
Der Bücherwurm
Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken, und einige zuwenige kauen und verdauen.(Francis Bacon)
Das Mikroskop von Sir Robert Hooke - damit kam er dem Wurm auf die Spur. |
Die moderne Forschungsgeschichte des Bücherwurms beginnt just bei der Frankfurter Buchmesse 1608. Es ist die Zeit des Fern-Sehens: Der Holländer Hans Lippershey meldet ein Patent auf eine sensationelle Erfindung an, das Fernrohr. Nirgends anders als ausgerechnet auf der Buchmesse stellt er sein neues Instrument der staunenden Öffentlichkeit vor. Die Geschichte des Fernrohrs ist auch die Geschichte des Bücherwurms. Denn erst mit der Idee, durch mechanisch miteinander verbundene, geschliffene Linsen die Sehkraft des Menschen exponentiell zu verstärken, konnte auch so kleinen Lebewesen wie den Bücherwürmern auf die Schliche gekommen werden. […]
Die Mikroskopie, die als Nebenprodukt der Teleskopie erfunden wurde, war anfangs nur ein Hobby für Laien und diente dem Amüsement im Salon. Insecten-Belustigungen nannte der Kupferstecher und Miniaturmaler August Johann Rösel von Rosenhof sein zwischen 1740 und 1759 entstandenes Werk, das überaus erfolgreich in vier Bänden erschien. Die Erkenntnis, dass durch das Mikroskop auch dem wissenschaftlichen Fortschritt gedient werden könnte, brauchte noch eine kleine Weile. Die Erforschung des Bücherwurms hatte daran ihren Anteil.
Der »book-worm« aus Hookes Micrographia. |
Die Jagd auf den Bücherwurm war eröffnet. Denn mit Hookes Erkenntnissen fing der Streit der Fakultäten über das Wesen des Bücherwurms erst an. Besonders eine Frage durchzieht seit Hookes Veröffentlichung die bücherschwere Debatte wie die Gänge, die der Parasit durch sein Element gräbt: Handelt es sich überhaupt um einen Wurm oder ist der Bücher-»wurm« nicht vielmehr ein Insekt? […]
Es war der Berliner Schulrektor Johann Leonhard Frisch, der 1736 in einem Stück Brot die Larve eines Insekts fand, das auch Zeichnungen, Gemälde und Manuskripte angriff und selbst die dicksten Bücher durchbohrte. In seiner Beschreibung von allerley Insekten in Teutschland gibt Frisch die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Buchschädlings. Im Jahr 1774 schreibt in ihrer Not die angesehene Königliche Societät der Wissenschaften zu Göttingen eine Preisfrage aus, um endlich Antwort zu erhalten:
Ein Preis für die Wurmkunde — in diesem Magazin erschien die Preisschrift der Göttinger Akademie. |
Drei Abhandlungen haben sich als Antworten erhalten, darunter die preisgekrönte von Johann Hermann, seines Zeichens Doktor der Medizin und außerordentlicher Professor zu Straßbur. Bleibende Meriten hat die Preisschrift sich verdient, indem sie zum ersten Mal schriftlich festhielt, dass »der« Bücherwurm wahrscheinlich gar nicht nur eine Spezies sei, sondern eine Art Sammelbezeichnung, unter der sich verschiedene Tiere verbergen können. Was den Göttinger Preisrichtern vermutlich außerdem wohlgefällig angekommen sein muss und vielleicht letztlich für die Preisvergabe an den Straßburger Forscher ausschlaggebend gewesen sein könnte, war die kreative Strategie des Professors. In einer Art Ausschlussverfahren versuchte er die Unschuld all jener Tierchen zu beweisen, »die man in Verdacht haben könnte, weil sie öfters bey Büchern gefunden werden«. […]
Erst William Kirby, der mit einer Beschreibung der englischen Bienen berühmt wurde und als Gründer der Insektenkunde bezeichnet wird, war in Sacher Bücherwurmforschung vorbildlich. Auch Kirby ging davon aus, dass der Bücherwurm nicht ein einziges spezifisches Tier ist, sondern eine Sammelbezeichnung für verschiedene Schädlinge. Neben den Milbenarten Crambus pinguinalis und Acarus eruditus hatte er besonders die Holzwürmer (Anobium pertinax und Anobium striatum) in Verdacht, von den hölzernen Bücherregalen und Buchdeckeln zu den Büchern selbst migriert zu sein und dort einen Schaden angerichtet zu haben, der »das Gewicht der geschädigten Bücher in Gold aufwiegen ließe«.
Der Bücherwurm erwies sich als außerordentlich undankbares Forschungsobjekt, weil es (was ihn irgendwie sympathisch macht) nahezu ausgeschlossen ist, ihn in Gefangenschaft zu halten. Alle empirischen Untersuchungen des Tiers beschränkten sich darum auf Zufallsfunde in Bibliotheken. Erschwerend kommt hinzu, dass Insekten und besonders Käfer eine Metamorphose durchmachen und den größeren Teil ihres Daseins, oft viele Jahre, als Raupen oder Larven verbringen. In diesem Larvenzustand, der dem Geschöpf vermutlich den Namen Wurm (lat. vermis) einbrachte, ist es für den nicht insektenkundlich Versierten nahezu unmöglich, die Spezies zu bestimmen. Selbst William Kirby gesteht, er habe hinter »staubigen alten Büchern« auch die Raupen von Motten gefunden, sie aber nicht identifizieren können. Erst dem englischen Buchdrucker William Blades gelang es, eines der Tiere zu isolieren und zu beschreiben. […]
Larve des Holzwurms — ein notorischer Bücherwurm. |
Erst im dritten Anlauf gelang es, einen Bücherwurm am Leben zu halten. Blades konnte ein Exemplar 18 Monate lang beobachten, das im British Museum aus einem frisch aus Athen eingetroffenen hebräischen Kommentar gefischt worden war. Dieser »griechische Bücherwurm« war beinahe so transparent »wie dünnes Elfenbein« und hatte eine dunkle Linie quer durch den Körper, die Blades als Verdauungsorgan identifizierte. Anderthalb Jahre lebte Blades mit dem Wurm zusammen, bis dieser in einem langen Todeskampf verstarb, »tief betrauert« von seinem Besitzer und bevor die Larve sich verpuppt hatte.
Die Schwierigkeiten der Wurmzucht beruhten, so Blades, auf dem Körperbau. Im natürlichen Zustand, also eingeschlossen im Buch, können die Würmer durch Expansion und Kontraktion ihres Körpers die Mundwerkzeuge gegen die sich ihnen entgegenstemmenden Papiermassen schieben. Befreit aus dieser Umklammerung, die für die Bücherwürmer die normale Lebensbedingung ist, können sie nicht mehr richtig essen, auch wenn sie von Nahrung umgeben sind, weil ihnen der Widerstand aus dem Buch fehlt. In der Materie ganz tief drin zu stecken, ist für den Bücherwurm also lebenserhaltend.
Blades konnte noch einige andere Untersuchungen in der Bücherwurmkunde anstellen, bei denen er auf den Wurm nicht angewiesen war, sondern sich auf seine Lieblingsobjekte kaprizieren konnte, die Bücher. Er analysierte, wie weit ein Bücherwurm bei seinem schä(n)dlichen Treiben im Buch überhaupt kommt. Corpus Delicti war ein Frühdruck von Schöffer aus dem Jahr 1477. Die Würmer hatten das Buch von beiden Seiten angegriffen. Im vorderen Einband waren 212 Wurmlöcher. Deren Größe variierte von stecknadel- bis stricknadelkopfgroß. Von hier aus bewegten sich fast alle Wurmgänge im lotrechten Winkel vom Einband ins Innere des Buchblocks. Nur einige wenige hatten sich längs der Papierkante verirrt und waren auf Seite 4 steckengeblieben. Die restliche Armada von Bücherwürmern hatte sich in das wertvolle Buch hineingefressen, »als ob ein Wettrennen stattgefunden hätte«. Bis Seite 11 kamen 57 Würmer. Auf Seite 41 kamen noch 18 Würmer an. Sechs Tierchen schafften es bis Seite 51. Vier von ihnen gaben bis Seite 81 auf. Der längste Wurmkanal endete erst auf Seite 90. Eine kleine Gruppe von Würmern fing beim hinteren Deckel an und fraß sich von hinten nach vorne durchs Buch. Der hungrigste aus diesem Rudel schaffte aber nur 69 Seiten.
Die »Hamburger Gerichtstermite« verwischte ihre eigenen Spuren. |
Ein Bibliothekar der weltberühmten Stiftsbibliothek von St. Gallen in der Schweiz wiederum erzählte, welchen Nutzen Wurmlöcher haben können. Denn anhand durchgehender Kanalverbindungen kann auch bei mittelalterlichen Schriften ermittelt werden, wie Schriften einst im Regal nebeneinander oder, was früher eher die Regel war, übereinander gestapelt waren. Sogar ein veritabler Kriminalfall wurde aufgrund eines Wurmlochs gelöst. Ein Fälscher mit dem bezeichnenden Namen Hermann Kyrieleis hatte von 1894 bis 1896 Bücher mit angeblich handschriftlichen Eintragungen von Martin Luther verkauft. Um die Echtheit dieser Autographen zu unterstreichen, benutzte der Fälscher wurmstichiges Papier. Dem Philologen Max Hermann indes fiel auf, dass die Tinte am Rand solcher Wurmlöcher ausgelaufen war. Also mussten die Würmer vor den Eintragungen tätig gewesen sein.
Trotz all dieser Einsichten kam es immer noch nicht zu einer Bestimmung des Bücherwurms. Selbst William Blades, der doch so weit gekommen war, konnte nie einen »Bücherwurm« bis zum Schlüpfen und zur Ausflugphase beobachten. Letztlich blieb auch Blades darum nur die etwas nüchterne Feststellung, es gebe Würmer mit hellen Köpfen und solche mit dunklen Köpfen. Vor allem ließ sich die seiner Ansicht nach entscheidende Frage nicht lösen: Ist der Bücher-»wurm« ein Käfer oder eine Schmetterlingsart? Kurz: Sprechen wir 1.) von Nagekäfern, lateinisch Anobium mit den Unterarten a) A. pertinax, b) A. eruditus oder c) A. paniceum oder sprechen wir 2.) von Motten, lateinisch Aecophora, insbesondere der Unterart Ae. pseudospretella?
Eine Bücherlaus (Trogium pulsatorium) unter dem Mikroskop in Wellington, Neuseeland. [Quelle] |
Fausta und Piero Gallo vom römischen Istituto di Patologia del Libro haben den Vorschlag gemacht, die Bücherfeinde zu unterteilen in »gewöhnliche Gäste«, die ihren Wohnsitz in Büchern haben, und »gelegentliche Gäste«‚ die nur unregelmäßig Bücher heimsuchen. Ob das Buch allerdings ein bereitwilliger und vor allem freiwilliger Gastgeber ist, sei dahingestellt. Unter den gewöhnlichen Gästen des Buches nehmen, wie ihr Name bereits andeutet, die Tiere der Familie der Nagekäfer (Anobium) einen hervorragenden Platz ein. Besonders die Art Anobium punctatum, der Gewöhnliche Nagekäfer, steht im Ruf, ein notorischer Bücherwurm zu sein. Anobium punctatum wird auch als »der« Holzwurm bezeichnet, wobei andererseits gerne alle Arten von im Holz bohrenden Käfern so genannt werden. Der Gemeine Nagekäfer gilt als der am weitesten verbreitete Schädling in ganz Europa. Der Entomologe Günther Becker geht so weit zu behaupten, dass er in praktisch jedem Haus in Deutschland zu finden ist. Seine destruktive Wirkung ist so enorm, dass er komplette Möbelstücke (bevorzugt: Antiquitäten) und Dachstühle zerstören kann. Dass er sich auch über Bücher hermacht‚ ist eigentlich ein Missverständnis. Bis ins 18. Jahrhundert waren die Einbände von Büchern aus Holz. […]
In die Spalten des hölzernen Buchblocks legt der Käfer 30 bis 40 zitronenförmige Eier ab. Die Larven haben eine weiche, von creme-weiß bis gräulich-weiß changierende Haut. Ihr Kopf ist von gelblichem Braun, die Mandiblen (also Esswerkzeuge) sind haselnussfarben. Nach dem Schlüpfen beginnen die »Würmer« direkt mit ihrer speziellen Art der »Lektüre« und fressen sich vom Einband in den Buchblock. Da die Adoleszenz dieser Tiere bis zu drei Jahre betragen kann, ist die zerstörerische Kraft ihrer »Lektüre« enorm.
Papierfischchen ("Ctenolepisma longicaudata") |
Der Gewöhnliche Nagekäfer (es gibt übrigens auch noch den Weichen, den Gescheckten und sogar den Gekämmten Nagekäfer, allesamt sondergleichen Buchschädlinge) wird fälschlicherweise auch als »Totenuhr« bezeichnet. Durch Aufschlagen des Kopfes auf Holz verursachen Nagekäfer nämlich zur Paarungszeit ein klopfendes Geräusch, das Geschlechtspartner anlocken soll und Benutzer von Bibliotheken um jede Konzentration bringen kann. […] Der Name Totenuhr entstammt dem Volksglauben, dass es sich bei dem Klopfen um die Uhr des nahenden Sensenmanns handle. Die Totenuhr fand darum nicht nur als Insekt, sondern auch in literalem Sinne Eingang in Kunst und Literatur. Bei Hölty und Mörike‚ bei Büchner und Rückert wurde die Totenuhr besungen und besprochen. Andreas Gryphius schrieb: »Sei, wenn die Todten-Uhr wird schlagen, mein Schutzherr, Leitsmann, Weg und Licht«. Anton Bruckner soll den ersterbenden Ausklang des Kopfsatzes seiner achten Symphonie in c-Moll mit dem Klopfen der Totenuhr verglichen haben.
Zeigt uns der Bücherwurm hier die enge Verbindung von Buch und Tod und den Weg, den alles Fleischliche einst gehen muss, so mag das seinen Grund auch darin haben, dass er als Vegetarier gilt. Aber wie alle Vegetarier (auch die menschlichen) haben die pflanzenfressenden Insekten eine Reihe von gravierenden Problemen. Zu den größten Nachteilen vegetarischer Ernährung nicht nur für Bücherwürmer zählt der niedrige Eiweißgehalt pflanzlicher Nahrung wie etwa Papier, das ja nichts anderes ist als zu Blättern verfilzte Pflanzenfasern. Außerdem ist der Anteil an lebenswichtigen Vitaminen und Mineralien in Pflanzen, entgegen einem auch in Ernährungsbüchern weit verbreiteten Vorurteil, oft unzureichend. Schließlich ist pflanzliche Nahrung vollgepackt mit unverdaulichen Substanzen. So sind zum Beispiel die Moleküle, die Cellulose bilden, »in einer Weise verknüpft, dass die Enzyme der meisten Insekten (ausgenommen die der Borstenschwänze und einiger höher entwickelter Termiten und anderer Tiere sie nicht aufzuschließen vermögen«. Aus dieser Perspektive wäre es für den Bücherwurm darum praktisch‚ wenn Bücher auch Fleisch enthalten würden. Und das tun sie!
Der Weg des Buches durch den Wurm —Verdauungskanal von Larven. |
Ledereinbände sind ebenfalls, kulinarisch betrachtet, nichts anderes als fleischliche Lebensmittel. Auch Fleischfresser werden darum von Bibliotheken magisch angezogen und richten herben Schaden an. Da ist in erster Linie, wie schon sein Name nahelegt, der Speckkäfer (Dermestes lardarius) zu erwähnen. Ein wirklicher Feinschmecker ist er allerdings nicht. In Freilandhaltung ernährt er sich überwiegend von Aas. Man könnte ihn darum als biologische Tierkadaververwertung bezeichnen. In Bibliotheken ist er ebenfalls nicht sehr wählerisch: Horn, Leder, Fell, Pergament und sogar andere tote Insekten verzehrt er ohne Unterschied. Seinem Speiseplan kommt die Eigenschaft zugute, dass der Speckkäfer Keratin verdauen kann. Das ist die Hornsubstanz, aus der Federn, Wolle, Felle oder auch das Exoskelett von Insekten bestehen. Besonders in Insektensammlungen und Naturkundemuseen können die Larven des Speckkäfers darum großen Schaden anrichten. Der Bücherwurm: ein Kannibale?
Dem Brotkäfer, Stegobium paniceum, ist das tägliche Brot beileibe nicht genug. Er ist ein echter Vielfraß‚ der sich neben Backwaren auch von Gewürzen, Suppenwürfeln, Schokolade, Tiernahrung, Trockenfisch oder eben Büchern ernährt. Eine Generationenfolge dauert bei ihm nur drei Monate, weshalb er sich unter guten Bedingungen rasch vermehren kann. Als ebenso verfressen gilt der Kräuterdieb, Ptinus fur. Seine weißlichen Larven haben eine gedrungene, engerlingsartige Gestalt und sind mit mäßit gelblichen Haaren besetzt. Larven und Käfer fressen, was ihnen zwischen die Kauwerkzeuge kommt: Getreideprodukte, Tabak, Tee, Kakao, Leder, Federn, Pelze sowie geräucherte Wurst- und Fleischwaren. In Bibliotheken ist schlimmer noch als seine Fraßtätigkeit die Verunreinigung durch Kot und bandförmige Spinnfäden, mit denen sich die Puppe umgibt. Ähnlich Böses sagt man auch dem Messingkäfer, Niptus hololeucus, nach. Ganz davon abgesehen, dass er in ausgewachsenem Zustand ausgesprochen hässlich ist, da er über und über mit Runzeln und messing-gelben Haaren bedeckt ist, frisst er nicht nur Bücher ohne Ansehen der Autorenperson, sondern hinterlässt danach auch noch seine Exkremente darauf. Zu den bandenmäßigen Fleischfressern unter den Bücherwürmern zählt schließlich noch eine ganze Reihe von Lepidoptera. Das sind Schmetterlinge, die wir gemeinhin zu den sympathischsten Vertretern des Insektenreichs rechnen. Die weniger freundlichen Mitglieder dieser Art sind die Motten, insbesondere aus den Familien der Faulholzmotten und der Echten Motten. Letztere sind ausgesprochene Aasfresser, weswegen eine Diät aus Pergament ihnen sehr zupass kommt. Auch die Lepidoptera haben es auf mehr als nur eine Art ins Innere des Buches geschafft: Sie stehen für den am schwierigsten auszusprechenden Romantitel deutscher Sprache, Urs Widmers Der Kongress der Paläolepidoptereologen.
Spuren eines »Bücherwurms« [Quelle] |
Der Bücherwurm scheint, wie ein Gelehrter festgestellt hat »Sinn für Qualität« zu haben: »In erstklassig ausgestatteten Büchern sind seine Spuren leider häufiger als in Drucken auf schlechtem Papier oder mit Ersatzdruckfarben.« Andere Forschen mutmaßten, dass Bleichmittel, Sulfate und andere Chemikalien, die heute im Papier enthalten sind, dem Bücherwurm den Appetit verdürben. Moderne Literatur ist unbekömmlich? Wenn noch O’Conor feststellte, eine rein belletristische Bibliothek sei relativ sicher, weil kein echter Bücherwurm sich dazu herablasse‚ einen populären Roman zu verspeisen, rekurrierte er wohl eher auf den Umstand, dass moderne Romane aus modernem Material und darum für unseren Wurm unter Umständen nur schwer verdaulich sind. Andererseits hat der Lauf der Zeit gelehrt: Vor nichts, was büchern ist, schreckt der Bücherwurm zurück. Seine nicht-diskriminierende Art, unterschiedslos jede Art von Buch sich zum Fraß zu machen, lässt ihn auch als Musterbeispiel für Toleranz gelten. Papier, Tinte, Leinen- und Ledereinbände, ja selbst die hölzernen Regale, auf denen Bücher thronen, wurden zur Speise des Parasiten. Es wurde sogar gemutmaßt, ob der Schädling vielleicht vom Geruch des Buchbinderleims angezogen würde. Der Bücherwurm — ein Schnüffler?
Ein Buch aus der Yale Medical School Library [Quelle] |
»suche durch allerhand Mittel die Liebhaber anzulocken, so wird man unentgeldlich eine Menge Diener haben, welche die Bücher durch Umblättern vor dem Einnisten der Insekten bewahren werden. Man vermehre die Sammlung fleißig, so wird durch öfteres Umstellen und Verrücken der alten Bücher, und Einschieben der neuen, der nemliche Endzweck erhalten werden.«
Wenn es im Universum der Bücher zwei sich ausschließende Tatbestände gibt, dann Lesen und Essen. Ein Buch, das gelesen wird, ist für den Moment vor allen gefräßigen Attacken geschützt. So bemerkt auch Holbrook Jackson: »Ich für meinen Teil rate anstelle von allen möglichen Patentlösungen zu nichts als Sauberkeit, frischer Luft und Lesen.« Und er fährt fort: »Wenn ein Bücherwurm bereits in dein Buch eingedrungen ist, wirst du ihn am besten dadurch los, das du selbst ein Bücherwurm wirst.«
Quelle: Hektor Haarkötter: Der Bücherwurm. Vergnügliches für den besonderen Leser. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2010. ISBN 978-3-89678-662-3. Seite 13 bis 44 (gekürzt).
Und es hat noch mehr moderne Musik in der Kammermusikkammer:
Franz Schmidt: Das Buch mit sieben Siegeln | Baumeister und Bildhauer der Medici: Michelangelos manieristisches Meisterwerk.
Susie Ibarra Trio: Songbird Suite (2002) | Bild und Ähnlichkeit: Aus Manlio Brusatin's "Geschichte der Bilder".
Ernst Krenek: Reisebuch aus den österreichischen Alpen | Das bewohnte Tuch und das Kleid der Erde: Joachim Patinir: Ruhe auf der Flucht.
Krzysztof Penderecki: Sextett (2000) - Klarinettenquartett (1993) | "Er war einer der berühmtesten Dichter Englands." (Sagt Jay in seinen Silvae, und er meint wedér Shakespeare noch T.S.Eliot).
Heinz Holliger: Streichquartett - Die Jahreszeiten - Chaconne | Samuel Herzog: Was Kunst-Grossanlässe und Filet-Vegetarier mit einander gemein haben.
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Die selbe Aufnahme in einer anderen Pressung (vermehrt um Ravels Ohrwurm)
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