11. April 2016

Carl Philipp Emanuel Bach: Fünf Klaviertrios

Als Carl Philipp Emanuel Bach 1768 aus seinen Diensten als Kammercembalist am Hofe Friederichs II.von Preußen ausschied und Nachfolger Georg Philipp Telemanns, seines Taufpaten, als Musikdirektor in Hamburg wurde, ergaben sich nach fast 30 Jahren Anstellung am preußischen Hofe neue Aufgaben für ihn, die ganz den vielfältigen Bedürfnissen des bürgerlichen Hamburger Musiklebens Rechnung zu tragen hatten. Neben einer Fülle von Sakralmusik, die er als Direktor der 5 Hauptkirchen zu besorgen hatte, oblag ihm auch, die Musik zu Festtagsfeiern, Amtseinführungen, Trauerfeiern zu liefern und aufzuführen. Daneben fand Bach noch Zeit, 10 Sinfonien, 12 Cembalokonzerte und Kammermusik verschiedenster Art und Besetzung zu schreiben.

Seine Trios für Klavier, Violine und Violoncello veröffentlichte er in den Jahren 1776/77. Der erste Druck, der in london erschien (Wotq. 89), enthielt 6 Sonaten mit dem Titel: »Six Sonatas/ for the/ Harpsichord/or/ Piano Forte/ composed by/ C.P.E. Bach/ … 1776.« Im selben Jahr folgten 3 weitere Sonaten unter dem Titel: »Carl Philipp Emanuel Bachs/ Claviersonaten/ mit einer/ Violine/ und einem/ Violoncell/ zur Begleitung/ erste Sammlung/ …« (Wotq. 90), und ein Jahr später kam die zweite Sammlung (Woty. 91), die 4 Sonaten enthielt, ebenfalls in Leipzig heraus.

Bachs Klaviertrios zählen zu den frühesten Stücken ihrer Art. Vor ihm sind Jean Philippe Rameau (ca. 1741), Johann Schobert (vor 1767), Joseph Haydn (etwa ab 1760), einige Komponisten der Mannheimer Schule (etwa ab 1760) und Johann Christian Bach (1764) zu nennen, die Musik für diese Besetzung komponiert haben.

Allen diesen frühen Klaviertrios ist gemeinsam, daß dem Tasteninstrument - bis in die Zeit um 1760/70 wird nur das Cembalo genannt, danach auch das Fortepiano - die führende Rolle zufällt, der Violinpart verdoppelt oft den Klavierdiskant, das Cello hält sich noch eng an seine Basso-continuo-Funktion indem es den Klavierbaß mitspielt. Man hat diese relativ unselbständige Führung der Streichstimmen im frühen Klaviertrio mit der möglichen Absicht in Zusammenhang gebracht, daß die eng begrenzten dynamischen Möglichkeiten des Cembalos immer mehr als Mangel empfunden worden sind und daß dieser durch Hinzufügen zweier Streichinstrumente in etwa kompensiert werden konnte.

In Carl Philipp Emanuel Bachs Klaviertrios finden sich neben diesen in enger Anlehnung an das Klavier geführten Streicherstimmen auch Satzelemente, die auf eine Emanzipation vor allem der Geige vom Klavier hinzielen. Vor allem in den schnellen Ecksätzen sind solche Tendenzen nachweisbar, wohingegen in den langsamen Mittelsätzen die Streichinstrumente für die dynamisch-klagliche Abrundung des Ganzen unentbehrlich erscheinen. Dennoch verstand Bach die Streicherstimmen als ad-libitum-Zusatz zum Klavierpart, wie wir aus einem Brief von 1775 an Johann Nikolaus Forkel erfahren: »Ich habe doch endlich müssen jung thun und Sonaten fürs Clavier machen, die man allein, ohne etwas zu vermissen, und auch mit einer Violin und einem Violoncello begleitet blos spielen kann und leicht sind.«

Bis auf das C-dur-Trio (Wotq. 91 Nr. 4) sind Bachs Klaviertrios dreisätzig. Die Ecksätze folgen in formaler Hinsicht oft dem Sonatenhauptsatzschema und sind typische Beispiele für Bachs breitgefächertes musikalisches Ausdrucksvermögen, das sich in kontrastierender Motivarbeit und dynamischer Differenzierung von pianissimo bis fortissimo manifestiert.

Ungewöhnlich ist, daß Bach die Exposition, Durchführung und Reprise des 1. Satzes des F-dur-Trios (Wotq. 91 Nr. 3) mit einem zweitaktigen Andante einleitet, das motivisch dem Anfang von Mozarts Klaviersonate in Es-dur, KV 282, wahrscheinlich 1774 in Salzburg geschrieben, ähnlich ist. Wo aber Mozart im Folgenden den ruhigen und cantablen Ton beibehält, führt Bach in schroffem Stimmungswechsel (Allegro assai) den Satz weiter.

Ein Sonderfall stellt auch die C-dur-Sonate, Wotq. 91 Nr. 4, dar, ein »Arioso« überschriebener, aus Thema und 9 Variationen bestehender Satz, der in seinen motivischen, harmonischen und rhythmischen Künsten an die Bemerkung Charles Burneys denken läßt, die dieser anläßlich seines Besuches bei Bach in Hamburg 1772 in seinem »Tagebuch einer musikalischen Reise« aufgeschrieben hat: »Sein heutiges Spielen bestärkt meine Meinung, die ich von ihm aus seinen Werken gefaßt hatte, daß er nämlich nicht nur der größeste Komponist für Klavierinstrument ist, der jemals gelebt hat, sondern auch, im Punkte des Ausdrucks, der beste Spieler. Denn, andere können vielleicht eine eben so schnelle Fertigkeit haben. Indessen ist er in jedem Style ein Meister, ob er sich gleich hauptsächlich dem Ausdrucksvollen widmet.«

Quelle: Harold Hoeren, im Booklet

Track 16: Sonate C-dur Wq 91,4 "Arioso con 9 variazioni"


TRACKLIST

Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) 

Sonatas for Fortepiano, with the accompaniment of a Violin and a Violoncello 

Sonata Wq 90 No. 3 in C major               15'04   
01 Allegro di molto                          6'04   
02 Larghetto                                 2'33   
03 Allegretto                                6'27   
  
Sonata Wq 89 No. 1 in B flat major          13'22   
04 Allegretto                                5'45   
05 Larghetto                                 3'13   
06 Allegro                                   4'24   

Sonata Wq 91 No. 3 in F major               15'56   
07 Andante-Allegro assai                     5'20   
08 Adagio                                    1'44   
09 Allegretto                                3'32   

Sonata Wq 89 No. 5 in E minor                8'56   
10 Allegretto                                5'28   
11 Larghetto                                 1'36   
12 Allegro                                   1'52   
  
Sonata Wq 89 No. 6 in D major                8'13
13 Allegro                                   1'52 
14 Andantino                                 2'56
15 Allegro                                   3'25

Sonata Wq 91 No.4 in C major 
16 Arioso with nine Variations              12'54

                                      T.T.: 74'13 
Trio 1790 (on period instruments):
Harald Hoeren, Fortepiano
Matthias Fischer, Violin 
Philipp Bosbach, Cello 
  
Recording: 28. June - 2 July 1993, Sendesaal des DLF Köln
Recording Supervisor: Christoph Anselm Noll
Recording Engineer: Meinhard Schwarzer
Recording Technician: Ursula Höfer
Executive Producers: Burkhard Schmilgun, Wolf Werth
(P) 1994 


Drei Balladen aus der Geschichte der Berechenbarkeit



G. W. L. (1646-1716)

Wir kennen nicht seine Gefühle. Die Peripherie wirkt korrekt
wie bei einem perfekten Gerät. Der Staatsrock des Hofrats
ist mit Schnallen und Spitzen und Schärpen und Knöpfen bedeckt.
Hinter der Drahtperücke liegen die Schaltkreise, aufgedampft,
in sehr dichter Packung. Bewegungslose Bewegung herrscht
unter der Himschale. Es werden Daten erfaßt und codiert,
verarbeitet und gespeichert: Eintäfeln der Kenntnisse.
Monatliche Auszüge, Journal des Savants, Acta eruditorum.

Was er einer ratlosen Welt hinterläßt, ist ein Heuschober
voller Annalen, Gutachten, Aide-mémoires, Kataloge,
Miszellaneen; ein Wirrwarr von Abstracts und Abstracts
von Abstracts und Abstracts von Abstracts von Abstracts ...

(Wir von der Abwehr waren nie sehr glücklich mit L. Gewiß,
er ist ein Genie, das bestreitet niemand. Doch etwas fehlt ihm:
und zwar sind das die Fehler. Seine »menschlichen Züge«,
eine gewisse Liebe zum Geld, ein leichtes Podagra, sind Camouflage,
raffinierte Schleifen in seiner Programmstruktur, Tricks,
um uns irrezuführen. Das wäre beinah geglückt. Beweis:
Im regierenden Hause hat bislang niemand Verdacht geschöpft.
Wir aber sagen ganz offen: L. ist ein Artefakt, und vermutlich
steht er, summend, im Dienst einer fernen und fremden Macht.)

Ausgerechnet Hannover, wo die Häuser so engbrüstig sind!
Diese Vorliebe für knickrige Käffer, für Residenzen
in der deutschen Provinz, schlecht beleumundet und beleuchtet,
kurzum, für das Unauffällige, gibt zu denken. Fossile Tiere
sammelt er, und gleicht selbst einem Petrefakt. Aber rappelnd
baut er sein Netz aus, tastet ab, registriert. Trifft Spinoza
in Amsterdam, Newton in London, Kircher in Rom, in Basel
die Bernoullis. Chinesische Interessen: korrespondiert
mit Peking. Novissima Sinica: Über das binäre Zahlensystem
und das I Ching. Gespräche in Parks über Forschungsplanung,
Verhandlungen in Kanzleien. So holpert er in seiner Kutsche
und schnurrt, als eine ganze Akademie, über die Karrenwege Europas hin.

(Aus unsem Dossiers, sagt die CIA, ergibt sich folgendes Bild.
Privatleben: fehlt. Sexuelle Interessen: gleich null. Emotional
ist L. ein Kretin. Seine Beziehung zu andern ist der Diskurs
und sonst nichts. Was einen ferner schier rasend macht,
ist dieser wahnwitzige Fleiß. Unter allen Umständen, überall,
jederzeit schreibt er, liest oder rechnet. Seine kleine Maschine,
die Wurzeln zieht, hat er stets zur Hand. Die Staffelwalze rotiert.
Wie ein Automat. Wie ein Automat, der einen Automaten gebaut hat.)

Seine Programme schreibt er sich selbst. Die Algorithmen sind neu:
Infinitesimalkalkül, Wahrscheinlichkeitsrechnung. Lullischen Künsten
brütet er nach, dem totalen Trip: Characteristica universalis.
Daß die Weltmaschine zwar unbewußt doch vemünftig sei,
setzt er summend voraus. Nur darum soll es sich handeln,
ihr jene Vemunft zu entlocken. O Kombinatorik! O Köhlerglauben!
I Ching: Man pflückt ein paar Schafgarben, teilt die Stengel
und zählt, und teilt und zählt die Stengel und teilt, und gibt ein Orakel,
eine allgemeine Methode an, mit deren Hilfe sich alle Wahrheiten
der Vernunft zurückführen ließen auf eine Art von Kalkül.
Zugleich wäre damit eine Sprache oder ein Code gegeben,
der die Vernunft zu leiten, den Irrtum zu brechen vermöchte.


(Wir vermuten aber, daß es in der Natur der Automaten liegt,
den Optimismus zu optimieren. Die Harmonie ist ihre fixe Idee.
Ihr Bewußtsein, das ein glückliches ist, verrät sie unweigerlich.
Davon abgesehen frägt sich die Kommission, wie dieser L.
zweihundert Jahre zu früh an die Boolesche Algebra kam,
und sie antwortet, daß es hierfür nur eine Erklärung gibt:
L. ist ein automatischer Astronaut, eine extraterrestrische Sonde.)

Druckt eine Menge metaphysischer Sätze aus, die unzählbar ist,
und emittiert eine Wolke von Philosophemen, darin sich verhüllt
sein Herrschaftswissen von Schiffahrt, Commercien, Manufacturen:
Die Vortheile dieser Dinge fließen von Wissenschaft der Natur
und Mathematick.
Bei der Ausbeutung der Erzgewerke im Harz z. B.
tellen sich Fragen der Wasserhaltung; Kettenräder und Becher,
Göpel und Haspeln reichen nicht aus. Auch die Wetterlosung versagt.
Also entwirft er sinnreiche Fahr- und Windkünste, Grubenpumpen
und Wetterbrücken. Ferner beschäftigen ihn die Rätsel des Phosphors,
der Rübsamenanbau, die Münzreform; ferner schlägt er Sternwarten vor,
Girobanken, Farbenfabriken; ferner plant er, ohne Skrupel zu fühlen,
die Stützung des Silberkurses und die Eroberung von Ägypten.

(Das Hl. Offizium stellt fest: Wir teilen nicht die Bedenken,
die man gegen ihn erhebt; denn L. ist eine bloße Maschine,
und höhere Wesen, denen die Erde zum Wohnplatz beschieden worden,
bedienen
sich seiner. Es drängen und bewegen sich in der Welt
tausend unsichtbare Hände, die der Engel, welche die seinigen
nur statt der Handschuhe brauchen, zu Zwecken, die wir nicht ahnen.)

Die Wahrheit tritt uns sehr häufig geschminkt entgegen, geschwächt,
von blasser Gesichtsfarbe, schwachem Haarwuchs, die Hände kalt,
oder vermummt, ja verderbt und verstümmelt: bewegt sich steif
und gemessen, puppenhaft summend, zweck- und gleichmäßig fort,
was ihren Wert und Nutzen verringert. Auf meiner Zunge
spüre ich einen Eisengeschmack:
Da sagt er es endlich selbst.
Phantasie hat er nicht. Doch wenn man sie kenntlich machte
(die Wahrheit), würde man Gold aus dem Kot, aus der Grube den Diamanten,
und das Licht aus der Finsternis ziehen, und auf das deutlichste
den Fortschritt unsrer Erkenntnisse sichtbar machen.
Ach ja!
Ein Unbekannter behauptet, er habe, in seinen letzten Tagen,
sich damit befaßt, die Sprache der Engel zu dechiffrieren.



C. B. (1792-1871)

Von etwas abwegigem Charakter. Massig, jähzornig, hilflos:
ein erbitterter Junggeselle mit schmerzenden Ohren.
Mit hocherhobenem Stock verfolgt er ein Rudel
von Gassenjungen, Trompetern und Drehorgelmännern.
Vor seiner Nichte weicht er zurück: ein Stickrahmen
über blassen Kinderknien. Kein Biograph erwähnt
diese hitzigen Träume von Dampfmaschinen und goldenen Locken.

Einst, an der Hand seiner Mutter, erblickte er
in einem hell erleuchteten Haus am Hanover Square
einen Automaten von Vaucanson (Die metallische Tänzerin),
und das Räderwerk setzte sich in Bewegung. Ein Knirschen
im Kopf des Knaben, ein leises beharrliches Knirschen.
Siebzig Jahre lang stand das Getriebe nicht still.

Aufgaben: Die relative Häufigkeit diverser Gründe
für den Bruch ungewölbter Fensterscheiben zu berechnen;
die Wahrscheinlichkeit dafür anzugeben, daß ein Mensch
von den Toten aufersteht
(Lösung: 1: 1012);
zwanzigtausend wahllos in einen Kasten geworfene Nadeln
derart zu ordnen, daß ihre Spitzen sämtlich
in ein und dieselbe Richtung zeigen;
eine Methode zu finden, die es erlaubt,
von beliebigen Hervorbringungen der Natur
und des menschlichen Fleißes Facsimiles herzustellen.


Seine Reisen quer durch Europa in einer selbstentworfenen Kutsche,
in der er schlafen und Eier abkochen konnte; ihre Fächer enthielten
Konstruktionspläne, Fräcke und Teleskope, ferner eine Magenpumpe.
Seine Expedition zum Vesuv: eine Phiole mit Riechsalz,
ein in Flammen aufgehender Spazierstock: Reminiszenzen
an Spallanzanis vVanderungen, und an die Romantik.

Als aber der arme Tennyson ihm seine Verse zusandte
(Every minute dies a man / Every minute one is born),
schlug er ihm vor, in der nächsten Auflage
Ihr treffliches Werk dergestalt zu verbessern,
daß es lautet: »Täusche dich nicht, in jeder Minute
erblicken eins Komma ein sechs sieben Menschen das Licht.«


Nächstens wird er eine Maschine erfinden, die Romane schreibt,
meinte Emerson. Darauf jener: Der Saumarkt zu Padua
und die Leipziger Buchmesse - ein und dieselbe Menagerie.


Der Automat, den er stattdessen baute, warf keine Literatur,
sondern Logarithmen aus. Jedesmal, wenn das Gerät
auf eine imaginäre Wurzel stieß, gab es ein Klingelzeichen.

Achtzehnhundertvierunddreißig, im Jahr des Hessischen Landboten,
konzipierte Charles Babbage, Zwangsneurotiker, Fellow
der Royal Society, Begründer der Operatorenrechnung, die Lochkarte.

Die Herstellung einer Stecknadel teilte er in sieben Einzelvorgänge auf:
Ziehen Ausrichten Spitzen Drehen Mit einem Kopf versehen Verzinnen und Packen,
und den Lohnaufwand errechnete er bis auf einen Millionstel Penny genau.
Mehrere Steinwürfe weit vom Kamin des Herrn Babbage entfernt saß ein Kommunist
im British Museum, prüfte die Rechnung nach und befand sie für richtig.
Es war ein nebliger Abend. Aus den Mahl- und Speicherwerken der Industrie
drang ein leises, unaufhörliches Knirschen.
Die großen unvollendeten Werke: Das Kapital und die Analysis-Maschine.
Vierzig viktorianische Jahre. Der erste Digitalrechner,
ohne Vakuumröhre, ohne Transistor. Fünf Tonnen schwer,
so groß wie ein Zimmer, ein Räderwerk aus Messing,
Hartzinn und Stahl, angetrieben von Federn und von Gewichten,
jeder Rechnung fähig, imstande, Schach zu spielen,
Sonaten zu komponieren, mehr als das: jeden Prozeß zu simulieren,
der die Beziehungen zwischen beliebig vielen Elementen verändert.


Brütend über Plänen, die ein ganzes Stockwerk bedecken,
habe ich, weil die Bedingungen des Problems es erfordern,
die Unendlichkeit des Raumes in die der Zeit transformiert,
um eine endliche Maschine für Berechnungen einzurichten,
deren Ausmaß durchaus unbegrenzt ist.
In diesem Augenblick

erscheint in der Tür des Labors Lady Lovelace, verschleiert,
und sie erklärt uns den Zweck dieser Zahnräder, Schnecken,
und Nockenwellen: Er webt auf seiner Maschine
algebraische Muster, so wie der Stuhl von Jacquard
Blüten und Blätter webt.
(Sie war Byrons Tochter.)

Und sie war zum größten Theil in wunderbarer Schönheit vollendet
(die Maschine), als eine Unterbrechung in ihrem Bau eintrat.
Der Aufwand war bis auf zwanzigtausend Pfund Sterling gestiegen,
und da die vollständige Ausführung auf das Doppelte veranschlagt ward,
so ließ man die Sache liegen.


Unbewegt liegt sie seitdem, wie ein Mammut, eine Grille der Evolution,
ein Fossil aus der Zukunft, im Erdgeschoß des Museums zu Kensington.
Eine Fabrik, in der alle Fabriken enthalten sind. Eine Ruine.

Das Geheul der Leierkästen, das Mr Babbage, Fellow der Royal Society,
die Ohren durchbohrt, ist programmgesteuert. Ein Satz Lochkarten
dudelt, bestimmt den Stückakkord, und hält den Krankenstand fest.

Das Räderwerk, im Gehirn eines Achtjährigen in Gang gesetzt
durch den Anblick einer silbernen Tänzerin. Ich frage mich,
ob ich in meinem Leben auch nur einenTag lang glücklich gewesen bin.


Ein leises Knirschen, in dem jeder Schrei erstickt.


A. M. T. (1912-1954)

Fest steht, daß er nie eine Zeitung gelesen hat; daß er sich seine Handschuhe selber strickte; daß er fortwährend Koffer, Bücher, Mäntel verlor; und daß er, sofern er bei Tisch sein hartnäckiges Schweigen brach, in ein schrilles Gestotter verfiel oder krähend lachte. Seine Augen waren von einem strahlenden, anorganischen Blau, wie aus gemaltem Glas.

Also gut. Denken wir uns nun einen universellen Automaten A, der in der Lage ist, jeden beliebigen andern Automaten An zu simulieren. A ist ein schwarzer Kasten, der mit einem endlosen Papierstreifen gespeist wird; dieses Band ist die Außenwelt der Maschine. Es ist in Felder aufgeteilt, deren jedes einzelne entweder leer oder mit einem Zeichen markiert ist. Wir denken uns nun, daß A geduldig ein Feld nach dem andern abliest, den Streifen um jeweils ein Feld vor oder rückwärts bewegt und/oder ein Zeichen löscht und/oder setzt; und wir nennen dieses Gerät, nach seinem Erfinder, eine Turing-Maschine.

Wir wissen ferner, daß er sich sorgfältig isoliert hat; daß er Zerlumptes trug, im Zwischendeck reiste, in Absteigen schlief. Offenbar war er darauf bedacht, sich zu löschen. Eines Nachts hat er sich in seinem Landhaus, einer Bruchbude, wie in einem Roman von Agatha C., aus Versehen vielleicht, mit Zyankali vergiftet. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist reiner Zufall.

Weiter gilt, daß jeder spezielle Automat, möge dieser Satellitenbahnen berechnen, Mazurkas schreiben oder seinerseits Automaten erzeugen, nur ein Zustand An von A ist. Dies gilt auch für den Fall, daß An doppelt so groß oder x-mal so kompliziert wie A ist.

Zahnräder schnitt er sich selber, an einer Drehbank in seinem Kartoffelkeller. Aus Überdruß an öffentlichen Verkehrsmitteln lief er oft meilenweit über Land. Radios und andere Geräte pflegte er mit Bindfäden zu reparieren. Der Geheimdienst schätzte ihn, weil er jeden Code brechen konnte. Allerdings wurde er leicht ohnmächtig, auch ohne ersichtlichen Grund.

Wir sind uns darüber im klaren, daß es unmöglich ist, von vornherein lückenlos anzugeben, welche Lösungen der Automat auswerfen kann und welche nicht. In jedem geschlossenen System von genügender Reichhaltigkeit gibt es unentscheidbare Sätze. Es mag komisch klingen, aber Tatsache ist, daß der Beweis nur durch den Beweis erbracht werden kann. Im übrigen halten wir fest, daß der universelle Automat unendlich träge, und daß er niemals gebaut worden ist.

Davon abgesehen, pflegte er durch den Regen zu radeln; dabei fand er es praktisch, sich einen Küchenwecker an den Gürtel zu schnallen und eine Gasmaske aufzusetzen; jenes, um immer pünktlich zu sein, dieses aus Furcht vor dem Heuschnupfen, denn er litt an Asthma; immerhin ist das ein menschlicher Zug, der beruhigend wirkt. Warum er es stets vermied, die Haut anderer Personen, einerlei welchen Geschlechts, zu berühren, darüber wissen wir nichts.

Was aber die Turing-Maschine betrifft, so schlagen wir einen Versuch vor. Einer von uns - wir wollen ihn B nennen - tritt mit ihr in Verbindung (über Datensichtgerät oder Fernschreiber). C, ein Zensor, soll das Zwiegespräch überwachen. A simuliert einen Menschen, desgleichen B; und nun soll C entscheiden, wer von den beiden der Mensch, und wer die Maschine ist. Diese Versuchsanordnung wollen wir, nach ihrem Erfinder, ein Turing-Spiel nennen.

Man kann in der Automaten-Kunst Meisterwerke vollbringen, ohne daß man auch nur eine einzige Maschine ausgeführt oder betrieben hätte, so wie man Methoden ersinnen kann, um die Bahn eines Gestirns zu berechnen, das man niemals erblickt hat. (Condorcet.)

Jedesmal nun, wenn die Maschine sich verrät (sei es, indem sie einen Fehler, oder sei es im Gegenteil, indem sie keinen Fehler macht), verbessert sie ihr Programm. Sie lernt und lernt. Es erhebt sich die Frage, wie die Partie enden wird. Wir beantworten diese Frage nicht, halten jedoch fest, daß das Spiel sehr lange dauern kann, und daß es niemals gespielt worden ist.

Jedenfalls will das Gerücht nicht verstummen, man könne ihn, oder sein Simulacrum, zuweilen, an feuchten Oktobertagen besonders, in der Umgebung von Cambridge, auf abgemähten Stoppelfeldern, unberechenbar Haken schlagend, im Nebel querfeldein laufen sehen.


Quelle: Hans Magnus Enzensberger: Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1975. Seiten 24-27, 62-65, 113-115


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C.P.E. Bach ist uns hier bisher erst einmal begegnet, und zwar in Begleitung seines Magnificats (Wq. 215). Beigelegt ist Rimbauds Bateau Ivre in Celans kongenialer Übertragung.

Apropos Paul Celan: Das von ihm selbst gelesene Hörbuch Ich hörte sagen ist nach wie vor ein vielgelesener und heißgeliebter Post.

Klaviertrios von Johannes Brahms. Gedanken des Übersetzers Wolfgang Schlüter. Der gekreuzigte Erlöser auf Werken des Duecento.


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Reposted on June 09, 2019

1. April 2016

Heifetz: reDiscovered (Unveröffentlichte Violinsonaten)

Anmerkungen des Executive Producer

Vor einigen Jahren machte mir ein irregeführter Marketing-Kollege Vorwürfe, weil ich die Heifetz-Aufnahme von Prokofjews Violinkonzert Nr. 2 nicht mit seiner großartigen Interpretation des ersten Violinkonzerts des Komponisten kombiniert hätte. Ich räumte ein, dass es sehr attraktiv wäre, diese beiden Konzerte auf einer CD zu vereinen, wies ihn aber sehr freundlich darauf hin, dass es sich leider um ein unmögliches Projekt handle, da Heifetz das frühere Werk nie aufgenommen habe. "Aber ich dachte, Heifetz hat alles aufgenommen", lautete die treffende Reaktion.

So erschien es uns nämlich, als wir Anfang der neunziger Jahre für RCA Red Seal die Heifetz Collection mit ihren 65 CDs zusammenstellten. Doch es gab durchaus Werke, denen der große Künstler im Konzertsaal oder im Aufnahmestudio oder an beiden Orten auswich. Jeder Heifetz-Verehrer hat seinen eigenen Wunschzettel mit Werken, die ihm noch fehlen - bei mir gehören Vivaldis "Vier Jahreszeiten" sowie Konzerte von Paganini, Bartók und Berg dazu. (Immerhin kaufte er die Noten von Bartóks Konzert Nr. 2 - angeblich sogar drei Mal -, konnte sich aber nie überwinden, es zu spielen.)

Vor einigen Jahren legte mir Jon M. Samuels, unser Neuausgaben-Producer, eine Liste mit Heifetz-Aufnahmen vor, die sich in unserem Lager befanden, aber nie veröffentlicht wurden. Als die "Rediscovered"-Serie von Red Seal entwickelt wurde, dachte ich an die anderen Wunschzettel-Kandidaten, und plötzlich stellte sich diese Liste als ausgesprochen nützlich heraus. Die meisten Einträge waren ausgemusterte Aufnahmen von $tücken, die später noch einmal erfolgreich eingespielt wurden, manchmal nach ein paar Tagen, manchmal erst nach Jahren. Aber es kam doch auch immer wieder vor, dass ein Werk aufgelistet war, das in den Hunderten von Heifetz gebilligten und veröffentlichten Aufnahmen nie wieder auftauchte.

"Heifetz Rediscovered" ist eine CD mit eben solchen Raritäten - und in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Nicht nur sind sämtliche Aufnahmen hier Erstveröffentlichungen - fast jedes der Stücke ist auch eine Neuheit in der Heifetzschen Diskographie.

Selbst die Ausnahmen sind außergewöhnlich. Heifetz nahm 1928 nur den zweiten Satz der Grieg-Sonate auf, allerdings in verkürzter Form; das heißt, in seiner Gesamtheit sowie im Kontext des ganzen Werkes ist er eine legitime Ergänzung des überlieferten Erbes. Bei Zapateado liegt der Fall wieder etwas anders: Heifetz veröffentlichte drei verschiedene Versionen, die 1918, 1926 und 1946 aufgenommen wurden. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, noch eine weitere Version herauszubringen -bis ich diese Aufnahme hörte. Sie ist einerseits weit genug von den früheren und späteren Versionen entfernt, um einfach als alternative Interpretation gehört zu werden, andererseits krönt sie aber auch das Programm als spektakuläre Zugabe zu den Zugaben.

Warum wurden diese Aufnahmen nie veröffentlicht? Wenn man sich überlegt, wie kritisch Heifetz mit seiner Arbeit umging, erscheint es fast wie ein Sakrileg, sie jetzt herauszubringen, ohne einen Beweis dafür zu haben, dass sie vom Künstler abgesegnet wurden. Der verstorbene John Pfeiffer, sein langjähriger Producer bei RCA, versuchte in späteren Jahren gelegentlich, Heifetz dazu zu bringen, sich die Aufnahmen noch einmal anzuhören, jedoch ohne Erfolg.

Wir wissen nicht, warum Heifetz die Aufnahmen abgelehnt hat. Wir können nur genau hinhören, den Blick auf seine gesamte Karriere gerichtet, und zu dem Schluss kommen, dass sie alle in musikalischer Hinsicht den Standards genügen, die durch seine anderen Aufnahmen aufgestellt wurden. Nicht nur das - sein Spiel geht von inspiriert über atemberaubend zu transzendent. In einer Zeit, in der Tonbänder als Aufnahmematerial noch nicht zur Verfügung stand, bedeuteten Retakes, dass man noch einmal ganz von vorn beginnen musste, eine teure und zeitaufwendige Angelegenheit. Es war keineswegs unüblich, dass man gelegentlich einen ausgerutschten Finger oder eine nicht ganz präzise Intonation durchgehen ließ und nicht als Argument gegen eine Veröffentlichung verwendete, selbst bei einem technisch so perfektionistischen Künstler wie Jascha Heifetz. Daher ist eher anzunehmen, dass er dachte, er könnte das Stück noch besser spielen, aber nie dazu kam.

Die neueste dieser Interpretationen wurde vor mehr als 65 Jahren aufgenommen. Da unsere Vorläufer auf diesem Gebiet weder schneiden noch zusammenkleben konnten, haben wir der Versuchung widerstanden, beim Vorhandensein mehrerer Aufnahmen eine Version zusammenzuschneiden, wie sie der Künster selbst niemals spielte. Aus künstlerischen und technischen Gründen mussten wir jedoch zwei kleine Ausnahmen machen, und zwar bei falschen Noten im ersten Satz der Brahms-Sonate. Die für diese Ära typischen Einschränkungen der Klangqualität waren unvermeidlich. Wir haben die Hintergrundgeräusche weitestmöglich minimiert, ohne eines der musikalischen Signale zu opfern. Wie bei allen großen Künstlern aller Epochen schafft Heifetz es mit seiner hingebungsvollen Musikalität, die Aufmerksamkeit immer dahin zu lenken, wohin sie gehört.

Quelle: Daniel Guss, im Booklet

Jascha Heifetz

Jascha Heifetz (1901-1987) ist und bleibt der wichtigste Einfluss auf die Kunst des Geigenspiels seit Paganini. Seine Klangpalette war enorm, und die ungeheure Intensität seines Tons war unverwechselbar. In Bezug auf technische Brillanz war Heifetz unübertroffen, und vom Beginn seiner Laufbahn an war sein Name gleichbedeutend mit violinistischer Perfektion. Fritz Kreisler gestand ein, die Technik seines jüngeren Kollegen "beginnt da, wo ich aufhöre"; und nachdem er sein Londoner Debüt gehört hatte, schrieb George Bernard Shaw dem jungen Heifetz einen Brief und gab ihm den Rat, er solle jeden Abend eine falsche Note spielen, statt sein Gebet zu sprechen.

Heifetz wurde in Vilnius, damals in Rußland, geboren und begann mit drei Jahren, Geige zu spielen. Später ging er nach St. Petersburg, wo er Leopold Auers Starschüler wurde. Mit elf wurde er in ganz Europa berühmt, indem er mit Artur Nikisch und den Berliner Philharmonikern Tschaikowskys Violinkonzert spielte, und durch seinen Erfolg in Nordamerika wurde er unwiderruflich einer der bedeutendsten Geiger seiner Zeit. Begleitet von vielen Presseberichten reiste seine Familie von Russland über Sibirien, Japan und Kalifornien nach New York, wo der junge Heifetz im Sommer 1917 eintraf. Sein erster Auftritt in der Carnegie Hall übertraf alle Erwartungen. Die Kritiken überschlugen sich vor Begeisterung, und der berühmte Musikrezensent Herbert F. Peyser erklärte: "Kreisler ist der König, Heifetz ist der Prophet."

Der Vergleich mit Kreisler kommt nicht von ungefähr. Als Kreisler den elfjährigen Heifetz 1912 in Berlin spielen hörte, klagte er gegenüber seinen Kollegen: "Wir können unsere Geigen gleich zu Kleinholz machen!" Und in der Tat hatte Heifetz schon fünf Jahre später beim amerikanischen Publikum Kreisler an Beliebtheit überrundet. Das hatte allerdings mehr mit dem politischen Klima der Zeit zu tun als mit den jeweiligen Verdiensten der beiden Violinisten. Kreisler hatte als Offizier in der österreichischen Armee gedient und wurde ein Opfer der Kriegshysterie, nachdem die Vereinigten Staaten 1917 in den Krieg eingetreten waren. Viele seiner Konzerte wurden boykottiert, und er zog sich schließlich ganz von der amerikanischen Konzertbühne zurück. Heifetz' sensationelles Debüt in der Carnegie Hall kam sozusagen genau im richtigen Augenblick, und sein Aufstieg auf der Beliebtheitsskala verhielt sich umgekehrt proportional zu Kreislers Abstieg. Als der Krieg zu Ende ging und Kreislers Ruf wieder hergestellt war, hatte sich Heifetz, noch keine zwanzig Jahre alt, zum bestbezahlten Geiger der Welt entwickelt. Außerdem hatte er einen Exklusivvertrag mit der Victor Talking Machine Company (später RCA Victor) unterzeichnet. Diese Verbindung sollte länger als ein halbes Jahrhundert halten und wurde eine der dauerhaftesten zwischen einem Solisten und einer Plattenfirma.

Am Beginn seiner Karriere bestanden Heifetz' Plattenaufnahmen ausschließlich aus kurzen Stücken. Da auf einer 78-rpm-Schallplatte nur eine sehr begrenzte Zeitspanne zur Verfügung stand, war das für einen Künstler seines Rangs nichts Ungewöhnliches, doch in den dreißiger Jahren begannen die Plattenfirmen, auch längere Werke einzuspielen. Nachdem Heifetz in London schon eine Reihe von Konzerten aufgenommen hatte, begann er 1936 eine ehrgeizige Serie von Sonatenaufnahmen mit dem Pianisten Emanuel Bay (1891-1967). Bay, Sohn eines Kantors aus der polnischen Stadt Lodz, hatte am Konservatorium in St. Petersburg studiert und dort 1913 mit dem ersten Preis die Abschlussprüfung gemacht. Danach studierte er in Wien bei Leopold Godowsky. Mit Heifetz spielte er das erste Mal 1935 und blieb dann bis 1954 sein wichtigster Begleiter. Heifetz und Bay nahmen im Januar und Februar 1936 zehn Platten mit Duo-Sonaten auf, darunter Werke von Mozart, Beethoven, Brahms, Grieg und Fauré.

Bei diesen Terminen nahm Heifetz zwei der jeweils drei Violinsonaten von Brahms und von Grieg auf, aber von beiden Komponisten wurde nur die zweite Sonate veröffentlicht. Auf dieser CD nun werden nach mehr als 65 Jahren die Aufnahmen von Brahms' Sonate Nr. 1 in G-Dur und Griegs Sonate Nr. 3 in c-Moll, die Heifetz 1936 gemacht hatte, das erste Mal veröffentlicht. Die Einspielungen stammen aus Heifetz' Blütezeit, und er hat diese Werke auch später nie wieder aufgenommen.

RCA Victor hatte Mitte der dreißiger Jahre geplant, neue Aufnahmen aller drei Violinsonaten von Brahms herauszubringen. Da der junge Yehudi Menuhin (jetzt der dritte der drei Starviolinisten der RCA Victor) dafür vorgesehen war, Brahms' Sonate Nr. 3 für HMV, RCAs Schwesterunternehmen in England, aufzunehmen, wurden die erste und zweite Sonate Heifetz zugewiesen. Die nicht veröffentlichte Heifetz-Aufnahme der Sonate Nr. 1 zeigt deutlich die makellose Technik und den leuchtenden Ton des Künstlers. Heifetz' Klangkunst beherrscht fugenlos alle Register, und sein intensives, sparsames Vibrato unterstreicht die fehlerfreie Intonation. Immer wieder bringt er üppige Portamenti, und die gesamte Interpretation vermittelt schmelzende Intimität und Zärtlichkeit.

Die Heifetz-Aufnahme von Griegs Sonate Nr. 2 war im Vorkriegskatalog der RCA Victor eine Neuheit. Heifetz' unveröffentlichte Aufnahme der Sonate Nr. 3 sollte jedoch eine zeitgemäße Variante der 1928 von Kreisler und Rachmaninoff eingespielten Aufnahme werden. Seine Darbietung der dritten Sonate strotzt vor Energie und Kraft. Das schnelle Vibrato passt wunderbar zu der kräftigen Bogenführung, und das Rubato ist bemerkenswert frei. Er spielt atemberaubende Accelerandi in der Koda sowohl des ersten wie auch des dritten Satzes, kann aber bei der Gestaltung der raumgreifenden Melodien auch eine konzentrierte Intensität aufrechthalten, wie etwa beim zweiten Thema des letzten Satzes auf der G-Saite. Heifetz führte einen neuen Stil des Geigenspiels ein, und dieser moderne Ansatz ist ganz klar erkennbar, wenn man diese vorwärtstreibende, unveröffentlichte Version von 1936 mit Kreislers Aufnahme aus dem Jahr 1928 vergleicht. Kreisler beschwört die Wärme eines Herdfeuers, wohingegen die sengende Intensität eines Heifetz mit der weißen Hitze eines Laserstrahls verglichen werden kann.

Neben den beiden großen romantischen Sonaten enthält diese CD fünf kurze Kompositionen für Violine, die vor der Ankunft der elektrischen Aufnahme entstanden. Die Künstler mussten in einen großen Schalltrichter spielen, der die Tonschwingungen direkt auf die Wachsmatrize übertrug. Trotz der scheinbar recht primitiven Methode konnte diese Aufnahmetechnik die Obertöne der Violine sehr überzeugend einfangen. Die kurzen Stücke waren ein perfektes Vehikel, um Heifetz' technisches Können und seinen hochkonzentrierten Ausdruck vorzuführen.

Die früheste Aufnahme stammt von 1922. Es handelt sich um Leopold Auers Transkription für Violine und Klavier von Lenskys Arie "Kuda, kuda, kuda vi udalilis" aus dem zweiten Akt von Tschaikowskys Oper Eugen Onegin. Das einfallsreiche Arrangement, das Heifetz' Technik perfekt entspricht, bringt gegen Ende eine Serie höchst ausdrucksvoller Doppelgriffe. Heifetz wird von dem Pianisten Samuel Chotzinoff (1889-1964) begleitet, der später sein Schwager werden sollte. Chotzinoff war in Russland geboren und begann seine Musikerlaufbahn als Begleiter, ehe er Musikkritiker und später Musikdirektor von NBC wurde.

Die vier anderen Kompositionen für Geige auf dieser CD stammen aus dem Jahr 1924, dem letzten Jahr des akustischen Aufnahmeverfahrens. Am Klavier begleitet Isidor Achron (1892-1948). Achron war ein hochbegabter Komponist und Pianist und wurde Heifetz' Begleiter, nachdem Chotzinoff nicht mehr auftrat.

Ursprünglich war Tambourin eines der Solostücke für Tasteninstrument aus Rameaus Pièces de clavecin, doch die Komposition wurde später vom Komponisten selbst in seine Ballettoper Les Fêtes d'Hébé (1739) eingefügt. Rameaus eingängige Melodie wurde Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sehr populär, sowohl durch Godowskys Arrangement für Klavier als auch durch Kreislers Transkription für Violine und Klavier. Das exotische Arrangement für Violine und Klavier auf dieser CD stammt allerdings von Joseph Achron, dem älteren Bruder des Pianisten Isidor. Joseph Achron (1886-1943), eine wichtige Figur in der Gesellschaft für jüdische Volksmusik, begann seine musikalische Laufbahn als Geigenwunderkind. 1925 wanderte Achron in die Vereinigten Staaten aus und ließ sich in Hollywood nieder. Er komponierte zwar weiterhin, verdiente sich aber seinen Lebensunterhalt vorrangig als Geiger für die Filmstudios.

Die übrigen Stücke für Violine stammen aus Heifetz' letzten akustischen Studioaufnahmen im Dezember 1924. Die Sicilienne in c-Moll ist eine Transkription von Auer: der einprägsame mittlere Satz aus Bachs Flötensonate in Es-Dur, BWV 1031, und die Caprice-Saltarella - die fünfte von zehn Studien aus Wieniawskis École moderne - wurde adaptiert für Konzertaufführungen, indem eine Klavierbegleitung von Kreisler hinzugefügt wurde.

Zapateado, von dem genialen spanischen Geigenvirtuosen Pablo de Sarasate, ist eine von Heifetz' Spezialitäten. Diese bisher nicht veröffentlichte Darbietung ist von einer unwiderstehlichen Leidenschaft und sicherlich spannender als die drei veröffentlichten Aufnahmen, die Heifetz von diesem hinreißenden Paradestück machte.

Als besonderen Bonus bringt uns diese CD, die dem Violinisten Heifetz gewidmet ist, als Nr. 11 auch Heifetz, den Pianisten. Zusammen mit seinem Begleiter Isidor Achron spielt er ein vierhändiges Arrangement des spanischen Liedes Valencia. Jose Padilla (1889-1960) schrieb eine große Zahl von Liedern, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts sehr populär waren, und Valencia wurde oft bei Revuen im berühmten Pariser Club Moulin Rouge eingesetzt. Mehrere renommierte Sänger, unter ihnen Tito Schipa und Mario Lanza, nahmen das Lied auf Platte auf, aber das Arrangement hier, dessen Urheber nicht genannt wird, war nie für ein allgemeines Publikum gedacht. Es entstand am Ende einer ernsthaften Aufnahme und schließt ein "Toreador"-Zitat aus Bizets Carmen ein, was mit Sicherheit improvisiert war. Obwohl er sich dem Musikpublikum als sehr eindrucksvolle Gestalt präsentierte, besaß Heifetz einen trockenen Sinn für Humor und eine schauspielerische Begabung, die er allerdings nur im engsten Freundeskreis auslebte. Diese spontane Aufführung hier zeigt uns für einen kurzen Moment einen aufgeräumten Heifetz, der zu seinem eigenen Vergnügen spielt.

Quelle: Eric Wen, im Booklet

Track 8: Tschaikowski: Lensky's Aria (aus Eugene Onegin)


TRACKLIST

HEIFETZ reDISCOVERD
Violin Sonatas

EDVARD GRIEG (1843-1907) 

Sonata No. 3 in C Minor, Op. 45 
01 Allegro molto ed appassionato                8:39 
02 Allegretto espressivo alla romanza; 
   allegro molto; Tempo 1                       6:07 
03 Allegro animato                              7:21 
(Recorded February 3, 1936, at Studio 3, 
RCA Studios, New York City) 

JOHANNES BRAHMS (1833-1897
Sonata No. 1 in G, Op. 78 
04 Vivace ma non troppo                         8:58 
05 Adagio                                       7:59 
06 Allegro molto moderato                       7:41 
(Recorded February 13, 1936, at Studio 3, 
RCA Studios, New York City) 

HENRI WIENIAWSKI (1835-1880) / Arr. FRIIZ KREISLER 
07 Etude Op. 10 No, 5 in E-Flat, 
Caprice "alla saltarella"                       1:41 
(Recorded December 19, 1924, at Victor Studios, 
Camden, New Jersey) 

PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKI (1840-1893) / Arr. LEOPOLD AUER 
08 Lensky's Aria (trom Eugene Onegin)           4:28
(Recorded October 19, 1922, at Victor Studios, 
Camden, New Jersey) 

JEAN-PHILIPPE RAMEAU (1683-1764) / Arr. JOSEPH ACHRON 
09 Tambourin (from Pièces de clavecin)          2:05
(Recorded September 24, 1924, at Victor Studios, 
Camden, New Jersey) 

JOHANN SEBASTIAN BACH (1685-1750) / Arr. AUER 
10 Sicilienne (from Sonata for Flute and 
Harpsichord in E-Flat, BWV 1031)                3:36 
(Recorded December 18, 1924, at Victor Studios, 
Camden, New Jersey) 

JOSÉ PADILLA (1889-1960) 
11 Valencia                                     2:59 
(Recorded May 8, 1928, at RCA Studios, New York City)  

PABLO DE SARASATE (1844-1908) 
12 Zapateado, Op. 23 No. 2                      3:26
(Recorded December 19, 1924, at Victor Studios, 
Camden, New Jersey) 
                           Total Playing Time: 65:38

Violin (Track 11, Piano): JASCHA HEIFETZ 
Accompanying Pianists: 
1-6     Emanuel Bay 
7, 9-12 Isidor Achron 
8       Samuel Chotzinoff 

Produced for CD by Jon M. Samuels - Disc to tape transfers: Jon M. Samuels 
Mastering Engineer: Paul Zinman - Executive Producer: Daniel Guss 
ADD/mono
(C) 2002 

Track 11: Padilla: Valencia (Jascha Heifetz am Klavier)


Amedeo Modigliani: Die frühen Porträts


Sitzender weiblicher Akt, 1917, 100 x 62 cm, Privatbesitz.
Mensch und Modell

Modigliani malte Menschen. Auf diesen kurzen, lakonischen Satz läßt sich das Gesamtwerk dieses so überaus reich geschilderten Künstlers zusammendrängen. Amedeo Modigliani, der ›peintre maudit‹, Modi oder Dedo genannt, der Liebhaber und Trinkkumpan, der Raufbold und Draufgänger, der Einsame und Kranke. Noch lange nicht sind alle Geschichten über den Italiener in Paris geschrieben und alle Legenden bis ins letzte Detail ausgeschmückt worden. Und doch läßt sich all das, was Modigliani malte und was von seiner Kunst übrigblieb, auf diesen einen Satz reduzieren: Modigliani malte Menschen.

Kein anderer der modernen Künstler hat so konsequent den Menschen in den Mittelpunkt seiner Arbeit gestellt wie er. Ob es sich um ein Bildnis oder eine Aktdarstellung, eine Studie oder ein ausgeführtes Werk handelt, ob er mit Bleistift, Kohle oder mit Pinsel arbeitete - es war der Mensch, der Modigliani interessierte. Selbst während der Jahre als Bildhauer blieb Modigliani der Darstellung des Menschen treu. Alle anderen Sujets fallen kaum oder gar nicht ins Gewicht. Aus seinen Lehrjahren und der Zeit kurz vor seinem Tod sind wenige Landschaften erhalten. Stilleben oder Interieurszenen können gar nicht nachgewiesen werden. Und nur bei den vor 1914 entstandenen Variete- und Zirkuszeichnungen und den manierierten Darstellungen einfacher Leute in den letzten Lebensjahren hat Modigliani seine Modelle mit spärlichen Hinweisen auf ihr soziales Umfeld versehen.

Bildnis Paul Alexandre, 1911/12, 92 x 60 cm,
 Sammlung Mme Jeanne Brefort.
In seinen Bildern hielt Modigliani in bemerkenswerter Weise und außergewöhnlich für das Paris am Anfang des Jahrhunderts konsequent an dem intakten Menschenbild fest. Weder die Zersplitterung der Kubisten noch die Verfremdung der Fauves konnten bei ihm eine nachhaltige Wirkung auslösen. Auch die Arbeitsweise der Collage oder die radikalen Forderungen der Futuristen beeinflußten ihn nicht. Dafür finden sich in den Porträts wie den Aktgemälden Anspielungen auf die italienische Kunst der Renaissance, auf Tizian und Giorgione. Ähnlich griff er auch auf repräsentative Herrscherbildnisse des 18. Jahrhunderts oder berühmte Akte von Francisco de Goya oder Jean-Auguste-Dominique Ingres zurück. Alle diese Traditionen verband Modigliani mit den zeitgenössischen Stilbewegungen und den Formprinzipien afrikanischer und asiatischer Kunst zu seinem eigenen unverwechselbaren Stil. Modigliani - das bedeutet langgezogene Gesichter, blinde Augen - und natürlich provozierend offene Aktdarstellungen.

Darf man den Schilderungen der Zeitgenossen Glauben schenken, dann war Modigliani ein äußerst kommunikativer Mensch, der gern mit anderen zusammensaß und trank. Seiner Auffassung nach war der Künstler ein Außenseiter ohne Bindung an die Moral der bürgerlichen Gesellschaft. Unter den Freunden brillierte Modigliani mit seiner literarischen Bildung. Er rezitierte Dante und Petrarca, kannte die Werke von Gabriele d'Annunzio und Oscar Wilde und trug Lautréamonts ›Les Chants de Maldoror‹ mit sich herum. Zu der Literatur, die die Schriftsteller unter seinen Freunden schufen, äußerte er sich aber im allgemeinen nicht. Und von den Bühnenaktivitäten anderer Künstler hielt er sich, bei aller Liebe zum Theater und Varieté, fern, wenn es darum ging, Bühnenbilder oder Kostüme zu entwerfen. Modigliani war ein Mensch, der die Gemeinschaft suchte, aus ihr Kraft schöpfte und sie wie eine Droge brauchte. Doch um die Ideen aus seinem Kopf zu lösen und sie auf die Leinwand zu bringen, bedurfte er der Abgeschiedenheit seines Ateliers. Die alkoholischen Exzesse in den Bars und die nächtlichen Ausschreitungen auf der Straße scheinen in krassem Widerspruch zur manischen Isolation während seiner Arbeitsphasen gestanden zu haben.

Bildnis Chaim Soutine, 1915, Öl auf Holz,
36 x 27,5 cm, Staatsgalerie Stuttgart.
Denn ganz im Gegensatz zu dem vom Chaos gezeichneten Leben ist Modiglianis Malerei, egal ob Bildnis oder Akt, klar gegliedert und strukturiert. Zwei wesentlich sich voneinander unterscheidende Herangehensweisen lassen sich ausmachen. Zum einen beschäftigte den Künstler ein malerisch-formales Problem. Denn die Suche nach der vollendeten Gestaltung läßt sich in allen Bereichen von den Zeichnungen über die bildhauerischen Werke bis zu den Ölgemälden verfolgen. Modigliani interessierte am Menschen allein der Typus, an dem die Geometrisierung oder die vollendete Harmonie verwirklicht wird. Alle, ausnahmslos alle Aktdarstellungen gehören in diese Gruppe. Kein Akt ist mehr als ein Modell, niemals geht es hier um Charakter oder Persönlichkeit. Mag der Maler auch eine kurze Liaison mit der Frau vor der Staffelei gehabt haben, so spielt das bei der Darstellung keine Rolle. Zu diesem Teil des Œuvre sind auch die anderen Bildnisse zu zählen, die anonyme Typen zeigen.

Umgekehrt kann man in der Regel davon ausgehen, daß Modigliani bei der Darstellung einer bestimmten Person auch den Charakter einzufangen suchte. Unabhängig davon, ob das Modell nur einmal oder mehrfach gemalt wurde, bemühte sich der Künstler immer um einen differenzierten Eindruck der Persönlichkeit. Dabei gab er auch seinem eigenen Verhältnis zu seinem Gegenüber Ausdruck und hielt seine Zu- oder Abneigung mit kritischem oder verehrendem Blick fest. Bei diesen Werken finden sich Freunde und Freundinnen, Mäzene, Händler und Kollegen, Geliebte und Vertraute. Auch das Fehlen bedeutender Personen in der Riege dieser Bildnisse ist ein wichtiger Indikator. Es wundert nicht, daß von Pablo Picasso oder Guillaume Apollinaire keine bedeutsamen Bilder entstanden. Weiß man doch, daß Modigliani mit beiden kaum Kontakt hatte und die beiden ihrerseits wenig mit Modigliani anzufangen wußten.

Bildnis Moise Kisling, 1915, 37 x 28 cm,
 Pinacoteca di Brera, Mailand.
Anfänge in Paris

Auf den ersten Blick erscheinen die Bildnisse Modiglianis gleichförmig und monoton. Schon nach wenigen Beispielen glaubt man die langgezogenen Gesichter mit den leeren mandelförmigen Augen zu kennen. Die fast ausnahmslos durchgehaltene Frontalität der Modelle und die strenge horizontale und vertikale Gliederung scheinen niemals variiert zu werden. Erst die genauere Untersuchung macht die eingangs eingeführte Unterteilung in Modellstudien und Charakterschilderungen deutlich und erklärt die stringente stilistische Entwicklung.

Zu den psychologisierenden Porträts gehören die Bildnisse vom Arzt Paul Alexandre. Alexandre verstand sich als Förderer und Dilettant der Kunst und hatte zu diesem Zweck in einem Haus auf dem Montmartre Künstlern wie Constantin Brancusi und Albert Gleizes Ateliers und Wohnungen zur Verfügung gestellt. Modigliani arbeitete nicht nur häufig dort, sondern freundete sich auch so eng mit Alexandre an, daß er ihm Gemälde und Zeichnungen überließ oder verkaufte. Damit sicherte Alexandre dem Künstler bald nach dessen Ankunft in Paris ein gewisses finanzielles Einkommen. Modigliani erhielt zwar von der Familie in Livorno Unterstützung, doch reichte das unregelmäßige Salär zu seinem Lebensunterhalt nicht aus. Nicht unbedeutend war für ihn auch die medizinische Kompetenz Alexandres, der den kränkelnden Maler ständig unter Beobachtung hatte. Denn seit seiner Kindheit litt Modigliani wiederholt an Lungenerkrankungen, die von Zeit zu Zeit Behandlungen und Kuraufenthalte in klimatisch zuträglichen Gegenden erforderlich machten.

Bildnis Moise Kisling, 1916, 81 x 46 cm,
Musée d'Art Moderne, Villeneuve d'Ascq,
 Donation Genevieve et Jean Masurel.
Mindestens fünf Gemälde und eine Vielzahl von Zeichnungen fertigte der Künstler von seinem Freund und Mäzen an. Die Chronologie der ausgeführten Werke gibt Aufschluß über die stilistische Entwicklung dieser Zeit. Zugleich sind diese Porträts auch als Keimzelle seiner künstlerischen Prinzipien, der Frontalität und Strenge, der Geometrie und Vertikalität der Kompositionen, zu verstehen. Höhepunkt der Folge ist das 1911/12 entstandene Bildnis, das den Arzt in ruhiger aufrechter Haltung zeigt. Die Vertikalität der Figur, die durch das Ornamentband rechts betont wird, verleiht der Person besondere Autorität und Kraft. Gerade im Vergleich mit früheren Beispielen wird hier die hieratische Statuarik deutlich. So wirkt das Bildnis vor grünem Hintergrund von 1909 durch die leicht gedrehte Haltung des Arztes, die Wiederaufnahme dieser Bewegung im Vorhang und durch die Hand an der Hüfte viel dynamischer und bewegter. Auch die Einbeziehung eines Bildes im Hintergrund und vor allem die Farbkontraste in Grün/Rot und Schwarz/Weiß bis in das Kolorit des Gesichtes hinein lassen das frühere Bildnis geradezu ungestüm bewegt erscheinen. Um wieviel gesetzter und zugleich entschiedener - befreit von allen Anspielungen auf Cezanne, den Modigliani sehr verehrte und dessen Farbigkeit und Kompositionsstil er adaptierte - erscheint da Paul Alexandre mit den gekreuzten Händen. Hier ist die einheitliche Farbgebung in Braun-Umbra-Schwarz bestimmend, die durch wenige, sparsam dosierte Lichter aufgelockert ist.

Die Arbeit von 1911/12 ist aber wiederum weit von dem 1913 gemalten Alexandre-Bildnis entfernt. Gegen Ende von Modiglianis Bildhauertätigkeit entstanden, zeigt es bereits das neue, in den folgenden Jahren maßgebende Formprinzip einer kubistisch-futuristischen Zersplitterung in strikter Horizontal-Vertikal-Gliederung. Das Beispiel erscheint trotz seiner klaren Struktur unruhig und unentschieden. Es ist jedoch bereits ein Hinweis auf die Meisterschaft der Werke, die Modigliani in den kommenden Jahren schaffen sollte. […]

Bildnis Juan Gris, um 1915, 54,9 x 38,1 cm,
The Metropolitan Museum of Art, New York,
 Bequest of Miss Adelaide Milton de Groot, 1967.
Das unmittelbare Gegenüber

1915 beschäftigte sich Modigliani in einer Serie kleinformatiger Darstellungen mit dem Typus des Brustbildnisses. Gemeinsames Merkmal ist die entwaffnende Unmittelbarkeit in der Schilderung der Charaktere. Zu der Folge gehören unter anderen die Porträts von Chaim Soutine, Moise Kisling und Juan Gris. Es handelt sich um Personen, die Modigliani gut kannte und die er fast täglich in den Cafes und Ateliers traf. In den Darstellungen sind Nähe und Vertrautheit zu spüren, und jedes Beispiel gibt Auskunft über das individuelle Verhältnis des Malers zu seinem Gegenüber. Die Reduktion des Ausschnitts auf Kopf und Hals bringt die Person ganz nah an den Betrachter heran. Für ablenkendes oder ergänzendes Beiwerk bleibt kaum Raum. Jedes dieser Werke ist somit ein Zeugnis unmittelbarer Intimität und direkter Auseinandersetzung.

Wie bei späteren Werken allgemein üblich, beschriftete Modigliani die Bilder mit den Namen des Dargestellten. Die durch den Pinselduktus ungelenk wirkenden Buchstaben unterscheiden sich in der Typographie bewußt von der Signatur. Formal lehnte sich Modigliani an venezianische Vorbilder des 16. Jahrhunderts an. Der Einsatz von Namen, Abkürzungen und Inschriften bei Bildnissen von Giorgione oder Tizian diente neben der bloßen Identifizierung häufig einer Mitteilung über geheime Bruderschaften, denen der Dargestellte angehörte. Modigliani mag mit diesem formalen Zitat auch auf eine ähnliche innere Verwandtschaft mit den Freunden auf seinen Bildnissen angespielt haben. Die Schriften erinnern aber gleichermaßen an Beispiele bei den Kubisten. Es ist sogar wahrscheinlich, daß Modigliani in Anlehnung an die Kollegen derartige Schriftzüge in seine Kompositionen aufnahm. Allerdings haben sie bei ihm nicht mehr die Funktion, die niedere Alltagswelt in die hohe Kunst der Tafelmalerei einzuführen und die beiden unterschiedlichen Niveaus einander anzunähern. Unabhängig von der Funktion, die dargestellte Person zu identifizieren, nutzte Modigliani die Schriften zur Auflockerung der Bildstruktur.

Antonia, 1915, 82 x 46 cm,
Musée de l'Orangerie, Collection
Jean Walter - Paul Guillaurne, Paris.
Das früheste der drei genannten Brustbildnisse mag das des Malerkollegen und engen Freundes Soutine sein. Chaim Soutine war 1911 aus Rußland nach Paris gekommen und galt unter seinen Bekannten als ungehobelter und unzivilisierter Kerl. Modigliani empfand für ihn große Sympathie und machte es sich zur Aufgabe, seinem Kollegen bürgerliche Manieren und literarische Bildung zu vermitteln. Aus diesem Verhältnis erwuchs eine innige Freundschaft, und Soutine urteilte über Modigliani mit den Worten: »Es war Modigliani, der mir Selbstvertrauen gab.«

In wild getupftem Pinselduktus - besonders gut in Partien an den Schultern erkennbar - erinnert Modiglianis Werk stark an die zuvor entstandenen Porträts von Rivera und Haviland. Nach der fauvistischen Phase hinsichtlich der Verwendung reiner, ungemischter Farben scheint der Künstler hier auf den Expressionlsmus zu reagieren.

Der bewegte Stil kommt zudem der Natur der dargestellten Person entgegen. Denn das Porträt zeigt den Freund noch in der wilden Ungezähmtheit, in der er in Paris anfangs gelebt hatte. Die Haare sind unregelmäßig geschnitten und ungekämmt. Der geöffnete Mund läßt den Blick auf die Zähne frei und verleiht dem Bildnis den Charakter einer Momentaufnahme. Ungewöhnlich für Modigliani sind die Lichter in den Pupillen, die das Aktive und Impulsive unterstreichen. Gerade der Vergleich mit dem Dreiviertelporträt, das Modigliani ein Jahr später von Soutine malte, zeigt, daß der Maler 1915 besonderen Wert auf das Ungestüme legte. In dem späteren Bildnis strahlt der Freund Ruhe und Besonnenheit, ja fast Trägheit aus.

Wird die Komposition durch die schwarze kontrastierende Kontur gegliedert, sind ansonsten weiche und harmonische Formen dominant. Eckige und geometrisch bestimmte Linien treten dagegen in dem fast zurückhaltend wirkenden Bildnis von Moise Kisling hervor. Wie beim Bildnis von Soutine rhythmisierte Modigliani auch hier den Hintergrund durch eine vertikale farbliche Teilung, die Malweise ist jedoch viel glatter und von geradezu lasierendem Auftrag. Modigliani stellt den polnischen Maler fast wie ein Kind dar. Die glatte Haut, seine engstehenden Augen und vor allem der kleine, zusammengezogene, leuchtend rote Mund mit den übertrieben geschwungenen Lippen machen zusammen mit der ordentlich geknoteten Krawatte - den etwa 24 Jahre alten Mann zum braven Konfirmanden.

Braut und Bräutigam, 1915, 55,2 x 46,3 cm,
The Museum of Modern Art, New York,
Gift of Frederic Clay Bartlett, 1942.
Einen ähnlichen Eindruck vermitteln auch die anderen Bildnisse, die Modigliani von Kisling später malte. Zwei Dreiviertelporträts zeigen den Polen in der gleichen ungelenken Haltung auf einem Stuhl oder Hocker sitzend, so daß sich der Betrachter eher an ein dickliches Kind denn an einen ausgewachsenen Mann erinnert fühlt.

Ganz im Gegensatz zu dem netten, aber etwas unbedarften Kisling ist die Darstellung zu sehen, die Modigliani von Juan Gris gibt. Der vergleichsweise große Bildausschnitt - überhaupt ist das gesamte Porträt etwas größer als die zuvor besprochenen Gemälde - und der nach hinten gekippte Kopf bewirken eine Sicht von unten. Das Gesicht mit den dunklen Augen ist schwarz konturiert und kantig verfremdet. Auf diese Weise erscheint Gris abgründig und unnahbar, aus der Distanz abwartend und herablassend. Die dunkle Farbigkeit - grün und schwarz - im Hintergrund, in den Haaren und dem Jackett unterstreicht die arrogante und abgehobene Wirkung.

Im gleichen Jahr, in dem die Brustbildnisse von Soutine, Kisling und Gris entstanden, experimentierte Modigliani bei Halbfigurenporträts mit der Umsetzung der Ergebnisse, die er während der bildhauerischen Phase gewonnen hatte. Die Antonia von 1915 erinnert stark an die Skulpturen mit langen Hälsen, auf deren Ende ein stilisierter Kopf ruht. Trotz der Namensbezeichnung ist Antonia zu den Modellstudien zu zählen, denn Modiglianis Interesse konzentrierte sich auf die formalen Probleme der Bildgestaltung. Das Bildnis zeigt eine freundliche, offene Frau, doch bleibt die Schilderung unverbindlich. Modigliani versuchte die Strenge der Komposition, die von der bei ihm üblichen Frontalität ausgelöst wird, durch die leicht diagonale Haltung der Figur aufzulockern. Nach dem gleichen Prinzip hatte auch Cezanne seinen Bildnissen Dynamik verliehen. Die Besonderheit der Arbeit liegt in der nuancierten Verwendung der schwarzen Farbe, gegen die das helle Inkarnat des Gesichtes wirkungsvoll strahlt. […]

Mehr Wert auf die Struktur der Formen und die Komposition der verschiedenen kleinen und großen Flächen legte Modigliani in dem Bildnis von Braut und Bräutigam. Die Arbeit wirkt durch die unterschiedlichen Farbfelder wie ein kubistisches Vexierspiel. Die Signatur des Künstlers erscheint hier in einer Weise dominant, daß man versucht ist, den Dargestellten mit Modigliani zu identifizieren. Die Frau müßte dann, entsprechend dem Entstehungsjahr des Werkes 1915, die damalige Freundin Beatrice Hastings sein. Doch die Physiognomie des Mannes mit silbergrauem Oberlippenbart verbietet derartige Schlußfolgerungen. Der Versuch, Heiratspläne zu unterstellen, läuft in die Irre. Vielmehr scheint es sich hier um eine Variante des Themas vom ungleichen Paar, also des Greises mit der (zu) jungen Frau zu handeln - ein Beispiel für Modiglianis gern verwendeten Rückgriff auf traditionelle Sujets.

Bildnis Henri Laurens, 1915, 115,8 x 88,3 cm,
Privatbesitz, Schweiz
(Courtesy Galerie Rosengart, Luzern).
Charaktere aus der Distanz

1915 malte Modigliani auch das Bildnis Henri Laurens. Laurens war etwa gleich alt wie Modigliani. Er arbeitete als Bildhauer und gehörte zu den Künstlern, die sich fast täglich über ihre künstlerische Tätigkeit miteinander austauschten. Im Bildnis gab Modigliani den Freund entsprechend seiner kubistischen Stilphase in einer Kombination selbst erarbeiteter Formprinzipien wieder. Das heißt, daß in dem Porträt die Kräfte gegeneinander arbeiten, aber auch nach ständigem Ausgleich streben. In der Wahl der Farben bezog sich Modigliani direkt auf sein Gegenüber, indem er mit zurückhaltendem Grün-Blau, vor allem aber mit Grau- und Brauntönen an die Steine erinnerte, mit denen Laurens sich beschäftigte.

Im Bildnis Juan Gris zeigte Modigliani noch Augen mit Pupillen. Doch schon im Porträt Henri Laurens vermied er die einheitliche Wiedergabe der Augen und brachte das eine durch schwarze Einfärbung zum Erblinden. Dadurch erreichte Modigliani, daß der Dargestellte wirkt, als schaue er auf ein inneres Wesen und erkenne Wahrheiten, die den Sehenden verborgen bleiben. Es war aber nicht Modiglianis Erfindung, die Augen, die für die Charakterisierung von besonderer Bedeutung sind, derartig zu entfremden. Die kubistischen Künstler, zu denen auch Laurens gehörte, hatten im Rahmen der Zergliederung und Zersplitterung der anthropomorphen Gestalt vergleichbares vorgenommen. Auch Giorgio de Chirico operierte mit leeren Augenhöhlen. Im allgemeinen wirken sie bei Werken der genannten Künstler nicht so befremdend, weil sie in die formale Gestaltung der Komposition eingebunden sind. Bei Modigliani stechen die leeren Augen aus dem sonst organisch weitgehend intakten Porträt heraus. Sie sind daher zu einem Markenzeichen seiner Malerei geworden.

Bildnis Jean Cocteau, 1916, 100 x 81 cm,
Henry and Rose Pearlman Foundation, Inc.
Es ist unklar, ob Modigliani das Laurens-Bildnis nie fertigsteIlte oder ihm bewußt den Charakter des non finito als Stilmittel beließ. Aufgrund des unfertigen Zustandes ist es möglich, die übliche Vorgehensweise des Künstlers nachzuvollziehen. Nachdem die Komposition im Umriß mit dunklen Strichen angelegt wurde, begann Modigliani, die entstandenen Flächen mit Farbe zu füllen. Häufig ließ er dabei die Konturlinien erkennbar stehen, so daß der Eindruck des rein Flächigen vorherrscht.

Das Bildnis Henri Laurens gehört zu den wenigen Beispielen, die für Modiglianis Kunst ein ungewohnt reiches Ambiente bieten. Man sieht den Bildhauer an einem kleinen Café-Tisch sitzend, auf dem sein Tabaksbeutel und seine Pfeife liegen. Der Hintergrund wird durch verschiedene hochformatige Farbflächen nur vage angedeutet.

Ebenfalls in einem Bildnis bis zum Knie erscheint der Maler, Schriftsteller und Regisseur Jean Cocteau. Die Haltung und die Physiognomie drücken aus, in welch distanziertem Verhältnis Modigliani zu dem snobistisch wirkenden Cocteau stand. Modigliani akzentuierte die Affektiertheit der Person, indem er die Senkrechte der hochaufragenden Gestalt, die einen figurbetonenden Anzug trägt, durch die Lehne des Sitzmöbels verstärkte. Die weiteren Vertikalen, die die Figur und den Hintergrund betonen, unterstreichen das Gezierte und Spitzwinkelige der Gestalt.

Bildnis Paul Guillaume - Nova Pilota, 1915,
Öl auf Karton, auf Sperrholz aufgezogen, 105 x 75 cm,
Musée de l'Orangerie,
Collection Jean Walter - Paul Guillaume, Paris.
Die bisher besprochenen Bildnisse zeigen Menschen, die Modigliani entweder förderten wie Paul Alexandre, gute Freunde von ihm waren wie Rivera, Soutine und Kisling oder zu seinem weiteren Bekanntenkreis gehörten wie Haviland, Gris, Laurens und Cocteau. Keiner der Dargestellten hatte Modigliani um ein Bildnis gebeten oder ihn gar dafür bezahlt. Es ist bekannt, daß der Künstler in Cafés ohne Auftrag oder Bitte Skizzen von den Anwesenden anfertigte und versuchte, für ein paar von diesen Werken ein Mittagessen oder ein paar Gläser Wein im Tausch zu erhalten. Finanziell stand Modigliani nämlich nach wie vor schlecht da. Verkäufe seiner Werke kamen nur selten und zu einem geringen Preis zustande. Auch gehörte Modigliani nicht zu denen, die sich ihr Geld einteilten.

Eine Änderung der Situation erhoffte sich der Künstler durch Paul Guillaume, den er um 1915 kennengelernt hatte. Guillaume war ein Kunsthändler, der sich mit afrikanischer Plastik und gleichzeitig mit Künstlern wie Matisse, Picasso und André Derain beschäftigte. Er erkannte bald, daß mit Modiglianis Arbeiten Geld zu verdienen war, sofern der Italiener ein wenig marktgerechter produzierte. Daher begann er, Modigliani zu fördern und mietete ihm ein Atelier. Als Dank für einen derartigen Vertrauensbeweis widmete Modigliani dem Kunsthändler zwei Porträts, die unbestrittene Höhepunkte im Œuvre sind. Das erste der beiden Bildnisse entstand 1915 und trägt die Inschrift NOVO PILOTA. Der Italiener sah in Guillaume eine neue Leitfigur seines Lebens. Er zeigt ihn als eleganten jungen Mann in dunklem Anzug mit Hut. Die leichte Sicht von unten unterstreicht die weltmännische Lässigkeit, die vor allem in der schrägen Haltung des Kopfes und der im Handschuh steckenden Hand mit Zigarette zum Ausdruck kommt. Krönung der Darstellung ist der affektierte Oberlippenbart.

Bildnis Paul Guillaume, 1916, 81 x 54 cm,
Civico Museo d'Arte Contemporaneo, Mailand.
Von sehr viel größerer Distanz, mit der sich eine deutlich negative Aussage verbindet, zeugt das im Jahr darauf entstandene Bildnis Paul Guillaumes. Hier ist jede Spur von sympathisierend-freundlicher Ironie, die die frühere Arbeit charakterisiert hatte, aufgegeben. Modigliani verzichtete auf eine programmatische Aussage wie bei dem ersten Bildnis und beließ es bei der üblichen Namensinschrift. Diese ist nun nicht mehr schwungvoll ornamental im Halbrund gegeben, sondern befindet sich nur zum Teil sichtbar in gerader Linie links neben der Figur. Die sitzende Haltung mit aufgestütztem Arm, vor allem aber die Sicht von unten auf den erhobenen Kopf vermitteln Überheblichkeit und distanzierte Hochnäsigkeit. Der Künstler hatte das geschäftsorientierte, nur auf Gewinn ausgerichtete Gebaren des Händlers durchschaut und wollte sich nicht länger für dessen Zwecke benutzen lassen.

Quelle: Anette Kruszynski: Amedeo Modigliani. Akte und Porträts. Prestel, München, 1996. (Pegasus-Bibliothek) ISBN 3-7913-1649-4. Seiten 6-12 und 34-50


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