27. November 2017

Schumann: Humoreske op. 20 – Novelletten op. 21 – Klaviersonate f-Moll op. 14 – Nachtstück Nr. 4 (András Schiff, 1999)

Als Robert Schumann zur Kenntnis nehmen konnte, wie der junge Frédéric Chopin komponierte, war er beeindruckt. Auch hier schien ein Meister am Werk, dessen »romantische« Intelligenz ausser Frage stand und dem es gelang, mit der Form der Miniatur das strukturelle Geschehen in eine emotionale Botschaft überzuführen. Aber anders als die Deutschen verzichtete Chopin offenbar auf die literarische Assoziation: seine Musik sollte ohne Metaphern und Erinnerungen auskommen, sie blieb auf überraschende Weise unberührt von bildhaften und sprachlichen Gedanken, wie sie die Epoche um 1830 oft leidenschaftlich diskutierte. Sogar Chopins »Nocturnes«, die sich nun allerdings leicht dafür geeignet hätten, spezifische »Bedeutungen« mitzutragen, verweigerten sich ihrer aussermusikalischen Lesart — Tonart, Rhythmus und Tempo mussten genügen, einen ersten Eindruck vom Charakter des Stücks zu erzeugen.

Schumann selbst wäre geradezu der Antipode von Chopin gewesen, so viel war ihm sogleich klar, und es mag durchaus sein, dass ihm auch deshalb seine Generosität leicht fiel. Denn im Kosmos seines Œuvres für das Klavier erschien alles und gar noch die feinste Wendung erfüllt von Dichtung und Idee, von Anspielung und Hintersinn. Die revolutionär gesinnten Davidsbündler gegen die missmutigen Philister bürgerlicher Couleur, die imaginären Leitgestalten Florestan und Eusebius als Seelenkräfte zwischen Aufschwung und lyrischer Versenkung, überhaupt die Masken, Figurinen und Prototypen sonder Zahl, deren Wesen eine doch irgendwie programmatische Spur in den Klaviersatz legt — hier durfte schon der gebildete Zeitgenosse vermuten, dass die Musik unterwegs war zum Gesamtkunstwerk. »Die Welt muss romantisirt werden.« So hatte es in seinen universalpoetischen Fragmenten der philosophisch empfindsame Novalis gefordert, und Schumann wäre der Letzte gewesen, ihm darin zu widersprechen.

Vorstellungskraft, das war das Stichwort. Diese sollte sich des Daseins bemächtigen — einerseits im Inneren, in den Regungen des Herzens, das sich als ein abenteuerliches und bekenntnishaftes Herz begreifen sollte. Insofern wirkte Rousseau noch immer als der Ur- und Übervater jeder reflektierten Romantik. Anderseits nach aussen, nach der Richtung von Politik und Zeitgeschehen: zumal für die deutsche Avantgarde der Epoche blieb Metternichs Restauration der Stachel im Fleisch möglicher Emanzipation. Als Schumann deshalb seinem »Faschingsschwank aus Wien« im ersten Satz das Thema der »Marseillaise« einschrieb, duldete dieses Signal keine nur musikalische Hörart; es war ein Aufruf, ein machtvoller Stoss, selbst in der politischen Vergeblichkeit. Der Wiener Karneval war allerdings nicht dazu angetan, solche Sprengkraft wirklich wahrzunehmen.

Man könnte es auch auf andere Weise resümieren. Schumann dachte und fühlte im besonderen Mass »mehrstimmig«. Selbst seinen frühesten Kompositionen eignet das Merkmal des Gesprächs. Wer denn etwa sogar für die blendend virtuose »Toccata« op. 7 bloss eine stete Verdichtung des Satzes erwartet hätte, wäre durch ihren weiteren Verlauf getäuscht worden: im zweiten Teil, in der »Exposition«, verzweigt sich die Bewegung unmerklich in fugato—artige Wirbel, die eine melodische Linie darf nicht sein. Noch viel prägnanter weisen die anderen Stücke — von den »Papillons« über die »Kreisleriana« und die »Humoreske« bis zu den »Nachtstücken« — solche Entwicklungen vor. Das heisst, sozusagen mit der philosophischen Argumentation: es gibt keine Welt ohne Einwand und Widerstand, ohne die subtile Ergänzung oder den leisen Zuspruch einer Nebenstimme. Gewiss, diese Welt muss romantisiert werden. Aber dem stolzen Unternehmen wächst der Verdacht hinzu, dass dies in der Wirklichkeit nicht gelingen könnte — daher das zerfallende Pathos, das unterschwellige Murmeln und Ruminieren, die brüchigen, später verzweifelten Harmonien. In den letzten Stücken dann, die beängstigend den Wahnsinn aufklingen lassen, herrscht eine gelegentlich würgende Simplizität, als wären die Energien endgültig aufgezehrt.

Kein ernsthafter Interpret könnte denn an solchen Gegebenheiten und spezifischen Bedingungen vorbeihören. Wenn also András Schiff, der eminente Deuter des Klavierwerks von Bach und Schubert, auch zu Robert Schumann findet, sind Prozesse der literarischen Reflexion wie des pianistischen Feinschliffs in die Arbeit am Text längst eingegangen. Schumann will zur spontanen Geste, zum »work in progress« durchaus einladen, schliesslich entspräche es seinem eigenen Temperament. Aber ebenso fordert er das gedankliche Kalkül, die überlegte und überlegen disponierende Hand. Bereits im August 1998, anlässlich der Salzburger Festspiele, hatte Schiff einen Zyklus von drei Abenden im Mozarteum unter das Motto »Schumann‚ der Dichter« gebracht. Als Solist spielte er damals Stücke, deren poetische Faktur ausser Frage steht — die »Nachtstücke«‚ die »Davidsbündlertänze« oder die acht »Novelletten«. Als Begleiter präsentierte er Lieder und Liederzyklen wie den Liederkreis op. 24, »Dichterliebe« op. 48 oder »Frauenliebe und —leben« op. 42.

Was damals verblüffte und doch wiederum kaum überraschte: die Leichtigkeit, mit der Schiff den Finger auf die Gelenkstellen der Musik legte — nicht mit didaktischer Insistenz, sondern mit jener seherischen Gabe, die den Pianisten seit langem zum ausserordentlichen Anwalt von Bachs Œuvre bestimmt. Während ein Gewitter mit Blitz und rollendem Donner über der Salzburger Landschaft niederging, zog András Schiff die forte-Akkorde der ersten Novellette aus dem Flügel, und nach wenigen Takten war jedem Kenner klar, dass er alles würde hören können, was der Komponist hier angelegt hatte: das Marschmässige, aber auch die kühne Wanderung durch die Harmonien, das innig ausgesungene Seitenthema und zugleich ein etwas unheimliches Stossen und Drängen. Schumann liess sich hier in seiner Komplexität erkennen. Andere hätten vielleicht robuster und unbedenklicher formuliert, wären erst nach und nach in die erzählerischen Perspektiven der Novelletten eingestiegen. Schiff wusste von Anfang an, worauf es ankommt — nicht nur auf die Hauptmotive, sondern auch auf jenes komplexe Material, das sie unterhöhlt.

Im Frühsommer darauf, am 30. Mai 1999, kam Andras Schiff nach Zürich, wo er den »Dichter« abermals vorstellte, nun mit einem reinen Soloprogramm. Zu den acht »Novelletten« gesellten sich an dem Abend, den der vorliegende Live—Mitschnitt dokumentiert, zu Beginn die »Humoreske« op. 20 und zum Beschluss die grosse, zerklüftete Sonate in f-Moll op. 14. Die musikalischen Koordinaten waren inzwischen gegeben, das Konzept, wie im Grossen und mit den vielen reichen Details zu Verfahren sei, stand fest. Aber selbst ein Interpret von untrüglichem Gedächtnis und souveräner Gestaltungskraft bedarf noch des glücklichen Augenblicks; einer ihm teils vertrauten, teils herbeigesehnten Euphorie, die sich um das Geschehen legt. Davon profitierten jetzt sowohl der Künstler als auch sein Publikum.

Was Schiffs Bemühen um Schumann auszeichnet, hat zuvorderst zu tun mit einer staunenswerten Empathie. Natürlich brachte das 20. Jahrhundert einige grosse Schumann-Spieler hervor: etwa den erfinderisch begabten Alfred Cortot, dessen Erläuterungen zu den »Kinderszenen« unvergessen bleiben; später Wilhelm Kempff oder Vladimir Horowitz; dann Svjatoslav Richter, der sich oft mit ungeheurer Anspannung in die Stücke legte. Bei András Schiff indessen klingt vieles plötzlich noch sublimierter; jedenfalls natürlicher, wenn der empathische Ton meint, dass der interpretatorische Zugriff zurücktritt vor dem musikalischen Ausdruck. Die Musik scheint sich selbst zu erzählen, das ist es.

Doch ist es freilich nichts Einfaches, das problemlos aufzuspüren wäre. Anders als zumeist bei Chopin laufen die Melodien bei Schumann selten auf sicherem Weg. Und anders als bei Liszt oder Brahms ist hier die rhythmische Struktur auf manchmal bedrängende Weise instabil. Es gibt Mittelstimmen, die man nicht hören soll, die aber dennoch das Klangbild in die Tiefe ziehen, und es gibt Gegenrhythmen, die man gerade noch hören soll, damit dem Erleben der Zeit etwas Queres und Fragendes zufliesst. — Solche Merkmale des Stils, ja der poetischen Eigenart machte András Schiff vollkommen transparent, als er seinen Zürcher Abend mit der »Humoreske<< op. 20 begann. »Einfach« ist das erste Stück überschrieben, und unmanieriert einfach klingt es, wenn Schiff die ersten lyrischen Bögen über die Begleitung der fallenden Achtel spannt. Doch schon der Mittelteil, »sehr rasch und leicht«‚ lässt Unruhe aufkommen: zumal da, wo dann die Bässe auffahren und mit kräftigen Akzenten das Profil verschärfen. Nicht mehr eine Stimmung, überhaupt eine Grundstimmung herrscht mehr, in der Folge spalten sich die thematischen Einfälle — und sie kehren doch wieder als Reminiszenzen zurück, als wandlungsfähige Zitate, als Variationen auf den Beginn: beinah wie die Motive eines Romans, in dem nichts völlig erledigt und verloren sein soll.

Deshalb entscheidet erst die organisch reagierende Phrasierung über ein mögliches Gelingen. Gegenüber den deutlich fassbaren Charakteren etwa des »Carnaval« dominieren in der »Humoreske« die Übergänge. Aber András Schiff, das offenbarten schon seine Salzburger Konzerte, ist auch für Schumanns vertracktere Gebilde ein Meister der transitorischen Bewegung. Spielt er dann etwa das scheinbar statisch geklärte »Einfach und zart«, so kommt zu Anfang noch keinerlei Hintersinn auf. Die im Pedal gehaltenen Viertel verbreitern den Klang nicht über Gebühr, selbst da, wo das Thema in die Oktaven aufsteigt, ist alles noch Musse und Mass. Man bewundert, wie selbstverständlich die Ritardandi das Tempo nur gerade ein wenig stauen, und in den liegenden Noten macht sich nichts Schweres breit. Das »Intermezzo« allerdings durchbricht diese romantische Seligkeit mit forschem Humor.

Tatsächlich ist da die pianistisch anspruchsvollste Stelle der »Humoreske« erreicht. Zuerst läuft die Sechzehntel-Phrase nur im Terzenschritt nach unten — und ein bisschen erinnert sie an die Fugato-Partie im zweitletzten Stück der »Kreisleriana«. Dann aber geht sie, weiterhin forte zu spielen, in die Oktavlage über, während ihr in der linken Hand ein markierter Achtel—Aufstieg entgegendrängt. Svjatoslav Richter hat dafür die bisher unerreichte Formel beherzter Virtuosität gefunden. Schiff indessen, auch keineswegs ängstlich, liefert die musikalisch vollendete Passung im Zusammenhang, bis das Rauschen »immer leiser nach und nach« wird und in einem riesigen Ritardando verklingt, worauf das zärtlich einfache Thema wiederkehrt: erst jetzt mit einem Flehen und Seufzen, das allein aus den Turbulenzen des Mittelteils legitimerweise erwachen konnte.

Es irrte indes, wer meinte, dass András Schiff vorwiegend im Bezirk kammermusikalischer Intimitäten recherchieren würde. Schon als Schiff die Präludien und Fugen, die Partiten und Suiten von Bach öffentlich aufführte, war neben dem glänzend gestalteten Filigran und neben dem Sinn für die Polyphonien noch etwas anderes wahrzunehmen. Schiff konnte, wo es nottat, durchaus auffahren; kräftig, energisch, unbedenklich agieren; die dynamischen und rhythmischen Höhepunkte entschieden auffalten. Für Schumann hat dieses Vermögen nun gleichsam grösseres Format erreicht. Der Komponist der metaphernreichen Assoziationen, der Alchemist des innigsten Zwiegesprächs war auch ein Mann der grossen, der sich zerreissenden Leidenschaften, und etwas beklommen darf man sein, wenn András Schiff auch dies ohne Abstriche an der Brillanz des instrumentalen Idioms demonstriert.

In der »Humoreske« sind es die »lebhaften« und zur Stretta gesteigerten Partien, die zum Marsch geleiten; in der f—Moll—Sonate wären es die Ecksätze — wo Schiff ungemein extrovertiert ausspricht, was ohne Wenn und Aber so gemeint war. Und in den »Novelletten« sind es alle Ideen der Erregung, denen der Pianist nichts an Deutlichkeit schuldig bleibt. Für die zweite Novellette in D-Dur, »äusserst rasch und mit Bravour« zu spielen, scheinen die Dinge ohnehin klar: das schnelle Auf und Ab der gebrochenen Akkorde, darunter und dazwischen die markierten Arpeggi. Nur gelingt es András Schiff, selbst da die Tupfer einer Nebenstimme aufzuspüren, die der dramatischen Anlage zusätzlich Akzente geben.

Nicht alle der acht Stücke halten ein vergleichbares musikalisches Format, und selbst ein so hingebungsvoll vermittelnder Interpret wie Schiff erreicht gelegentlich Grenzen, die vom Text her gesetzt sind. Die vierte Novellette, von Schumann für den Pianisten mit »ballmässig« charakterisiert, kommt im Walzerschritt daher, aber das Material der Einfälle scheint schliesslich zu ermüden, die Wiederholung erwirkt hier keine neuen Perspektiven. Die achte Novellette, umgekehrt, krönt den Zyklus einerseits durch die Weite ihrer Anlage, anderseits durch die Vielfalt der Temperamente: András Schiff spielt sie vom ersten Thema, das sich schon eindrucksvoll sogleich behauptet, über das Trio, wo nun allerdings ganz dichterisch die »Stimme aus der Ferne« vernehmbar wird, bis in den akkordisch vorangetriebenen Schluss mit fabelhafter Emphase — im Ziehen und Sehren des Sechzehntel—Satzes brillant und virtuos, in den leisen und leisesten Durchgängen des Mittelteils nachdenklich, im Finale ohne Zaudern.


Am Ende des offiziellen Programms des Abends stand dann die Sonate in f—Moll op. 14. Ein schwieriges Werk in emotionaler wie in technischer Hinsicht — verfasst vor allem im Sommer 1836 und damals, wie Schumann seinem Tagebuch anvertraute, ohne den Beistand der Geliebten; der Komponist sei »von Clara völlig getrennt« gewesen. Man meint es zu hören, wenn Schiff den Auftakt der Bassoktaven anreisst und sich dann in die Sechzehntel—Kaskaden des Diskants begibt; wenn er mit allen Mitteln moderner Pianistik die melodischen Linien und Leitpunkte herauspräpariert; wenn er das Seitenthema vor den Erschütterungen des umliegenden Geschehens zu schützen versucht — und dabei doch nicht verleugnen will, wie fragil die Ausdruckswelten gerade dieser Sonate sind.

Als »Concert sans Orchestre« war das Werk ursprünglich gedacht gewesen. Die Erstausgabe von 1836 präsentierte die Sonate noch ohne das Scherzo, das erst für die Edition von 1853 hinzutrat. András Schiff hält sich an letztere, spielt jedoch den ersten Satz in der Urschrift. Aber auf philologische Divergenzen kommt es letztlich nicht an: worum es geht, wäre diesseits von gewissen Änderungen in der Textur sogleich zu begreifen. Hier umfassender und generöser als anderswo zielte Schumann auf grossräumige Passionen‚ auf die Beschwörungsformeln der Liebe und ihrer Angst, auf die Konflikte auch, die sich musikalisch durchaus darstellen lassen als Prozesse zwischen Festhalten und Entgleiten. Der zerfahrenen Hast des Kopfsatzes folgt das gemächlich schreitende Scherzo, dessen thematische Allusion auf den ersten Takt des Werks kaum wahrnehmbar wird: die Atmosphäre scheint eine gänzlich andere zu sein. Aber in den Wiederholungen sowohl des Hauptthemas wie der seitlichen Einlagen changiert die Stimmung zusehends ins Phantastische. Dem langsamen Variationensatz auf ein Andantino von Clara Wieck ist gleichfalls keine Zuversicht beschieden: wie sonst liessen sich die lange liegenden f-Moll-Akkorde des Schlusses verantworten? Das Finale schliesslich, ein »passionato« vorzutragendes »Prestissimo possibile«. Doch welcher »Ort« wäre da nun noch vorzuziehen? Die ungebärdig schroffe Geste der Sforzato-Bewegung — oder die letztlich fahle und nach der viermaligen Wiederholung fast zur Karikatur gewordene Girlande des Seitenthemas?

»Der Dichter spricht.« So hatte es Robert Schumann selbst ins Wort gebracht für die letzte, ganz nach innen gekehrte Nummer seiner »Kinderszenen«. Gewiss, er spricht — und in der romantisch—literarischen Diktion wie kein anderer Komponist seiner Zeit. Der Leser von Jean Paul und E.T. A. Hoffmann, der Gefährte der Brüder Schlegel redet mit und zwischen den Noten, zitierenderweise oder sich selbst zitierend oder mit dem schuldlosen Eifer des freimütigsten Bekenners. Als Musiker aber war er doch auch dem überragenden und deshalb ein wenig fernen Vorbild des grossen Johann Sebastian Bach zugetan: wovon bis zuletzt sein polyphones Schreiben zeugte. Auch deshalb wäre András Schiff ein kongenialer Interpret seiner Welten, souverän verknüpft er die Stimmen der Gewebe mit Schumanns eigensten Stimmungen.

Quelle: Martin Meyer: »Schumanns poetische Vision. András Schiff, der Interpret der Zwischentöne.« Im Booklet

András Schiff in concert


CD 1, Track 4: Novelletten op. 21 - III. Leicht und mit Humor



TRACKLIST

András Schiff in Concert: Robert Schumann


Robert Schumann (1810-1856)

CD 1                                             47:26

01 Humoreske op. 20                              27:34

   Novelletten op. 21

02 I.   Markiert und kräftig                      5:05
03 II.  Äusserst rasch und mit Bravour            6:14
04 III. Leicht und mit Humor                      4:29
05 IV.  Ballmässig. Sehr munter                   3:57

CD 2                                             59:57

   Novelletten op. 21

01 V.    Rauschend und festlich                   9:58
02 VI.   Sehr lebhaft mit vielem Humor            4:07
03 VII.  Äusserst rasch                           3:32
04 VIII. Sehr lebhaft                            10:44

   Klaviersonate f-Moll op. 14

05 I. Allegro brillante (Fassung 1836)            6:52
06 II. Scherzo. Molto comodo                      6:29
07 III. Quasi variazioni.Andantino de Clara Wieck 6:29
08 IV. Prestissimo possibile                      7:18

   Nachtstücke op. 23
09 IV. Ad libitum - Einfach                       4:14


András Schiff, piano

Recorded at Tonhalle Zürich, May 30,1999
Tonmeister: Stephan Schellmann
Produced by Manfred Eicher
(P) + (C) 2002 


CD 2, Track 7: Klaviersonate in f-Moll op. 14 - III. Quasi variazioni. Andantino de Clara Wieck



Die »Dämonen« Messerschmidt's

Neue Erkenntnisse zu den Charakterköpfen
 
Abb. 1 Franz Xaver Messerschmidt, Ein schmerzhaft
 stark Verwundeter, nach 1770, Gipsabguß, Höhe: 44 cm,
Österreichische Galerie Belvedere, Wien.
Als Vorbereitung für ein Kunstgespräch, welches im Zuge des Rahmenprogramms für das Publikum während der Ausstellung „Franz Xaver Messerschmidt" im Barockmuseum der Österreichischen Galerie Belvedere mit dem Titel „Zur Steinbearbeitung in der Kunst — Formen, Methoden und Techniken der Steinbildhauerei am Beispiel der Werke Messerschmidt‘s am 22. Jänner 2003 stattfand, sollte doch eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Schaffen dieses Meisters vorangehen.

Der Verfasser hatte dankenswerterweise freien Zutritt zur Ausstellung und einen Katalog zur Verfügung. Nach intensivem Studium war die Begeisterung ob der Messerschmidt'schen Präzision der Linienführung, der unerhörten Gleichheit der Gesichtshälften seiner Charakterköpfe sehr groß.

Messerschmidts Beobachtungsgabe, die Umsetzung des Gesehenen vom Modell zur grandiosen Ausführung, ebenso die geduldige, minutiös ausgeführte Schleif- und Polierarbeit ist äußerst beeindruckend, doch gerade diese Glanzpunkte der polierten Kinnpartien einzelner Charakterköpfe irritierten mich und zogen meine Aufmerksamkeit vor allem auf sich.

Waren hier in den grimassierten Kinnmuskelpartien eigentümliche, groteske, tierkopf- bzw. maskaronähnliche Formgebungen integriert? Diesen ersten erstaunlichen Beobachtungen kritisch nachgehend, erfolgten analysierende, vergleichende Studien‚ zu denen eigens selbst angefertigte Zeichnungen den Blick schärften.

Die Richtigkeit dieser anfänglichen Vermutungen konnte außerdem mittels einer Taschenlampe bei entsprechender Ausleuchtung unter veränderten Streiflichtwinkeln erkenntnishaft bestätigt werden.

Abb. 2 Detail von Abb. 1.
Es handelt sich demnach um homo- und zoomorphe Mischwesen in sich gegenseitig durchdringenden Kombinationen, wie sie zumindest seit der mittelalterlichen Kunstübung überliefert sind.

Bei einigen dieser Mischwesen scheint die Beschreibung klar, jedoch durch die vielen Variationen und die unterschiedliche Phantasie der Betrachter ist eine sichere Interpretation nicht eindeutig möglich.

Eine deutliche Sichtbarmachung jener maskaronenartigen Partien in den publizierten Photographien ist in manchen Fällen sehr schwer und bleibt letztendliche Informationen schuldig. Die Ursache dafür liegt oft in den mangelhaften Abgüssen.

Eine Auswahl der signifikantesten Beispiele sei nun hier getroffen:

Vorzugsweise in jenem Charakterkopf — bekannt unter dem Titel „Ein schmerzhaft stark Verwundeter“ mit der sogenannten ägyptischen Kopfbedeckung — ist im Kinn unverkennbar deutlich eine Mischform aus Stier (Bukranion), Löwe und einem kleinen menschlichen Kopf zu erkennen.

lm Charakterkopf „Der unfähige Fagottist” stellt die stark aufgeblähte Unterlippe die Stirnpartie einer konsolkopfartigen Tiermaske dar, die knapp darunterliegenden Augen treten hier besonders bei anderen Lichtpositionierungen hervor.

Abb. 3 Franz Xaver Messerschmidt, Der unfähige Fagottist,
nach 1770, Zinn, Höhe: 44 cm, Wien Museum, Karlsplatz.
Die Oberlippenbacken dieser Tiermaske sind deutlich abgegrenzt, auf der Schnauze ist ein an einen Totenkopf gemahnendes Element eingebunden.

Bei der Büste „Der widerwärtige Geruch” im Bereich der Unterlippe ergeben kleine Vertiefungen die Augen einer Tiermaske, die an einen Wasserbüffel erinnert. Im Zentrum der Schnauze ist ganz unverkennbar ein Totenkopf plaziert.

Unter der vorgestülpten Unterlippe des Charakterkopfes „Ein Hipochondrist“ lugt aus der Kinnmitte ein kleiner menschlicher Kopf, der als Nase dieses Maskarons angelegt und unterhalb von tierischen Oberlippenbacken umrahmt ist.

Auch bei dem halslosen Charakterkopf „Ein mit Verstopfung Behafteter” ist das Lippenband scharf abgegrenzt, jedoch schmäler. Hier dominiert vor allem ein „Maskaron-Püsterich" mit aufgeblasenen Backen in der Kinnmuskulatur.

„Der Missmuthige” ist eine Büste mit einem breiten, scharf abgegrenzten Lippenband, die im Kinn einen doggenartigen Tierkopf mit einer großen Schnauze zeigt.

Die beobachteten Physiognomien, ihre scheinbar willkürliche Kombination, wie auch die Integration in Detailbereichen der Messerschmidt’-schen Charakterköpfe haben in der Kunstgeschichte eine sehr weit zurückreichende Tradition sowie jeweils ihre spezifischen Ursachen.

Abb. 4 Detail von Abb. 3.
Sie reichen, was die Kombination von unterschiedlichen Gesichtsmotiven und Gesichtstypen betrifft - sicher in vorgeschichtlichen Zeiten wurzelnd — bis ins alte Ägypten zurück, wo natürlich in erster Linie symbolische Gründe die Ursache sind, da es dort unter den heidnischen Gottheiten viele Mischwesen von menschlichen Körpern mit tierischen Köpfen gibt.

Funktionsbedingte Zierformen, wie beispielsweise Wasserspeier an griechischen Tempeln oder die apotropäischen Gorgonenhäupter in Giebeln, weisen schon grimassierende Gesichtszüge auf. Auch das frühe Mittelalter kennt sie bereits in Emailarbeiten und vor allem auf den sogenannten „Teppichseiten" in irischen Handschriften, wo durchgehende, endlose Bänderungen an den Blatträndern meist zoomorphe, stark stilisierte Kopfdarstellungen enthalten.

Ebenso die in der Normandie in der Romanik entstandenen Handschriften enthalten in der Art der „belebten Initiale" von Phantasiegebilden durchsetzte physiognomisierende Schmuckformen und sogar einbezogene figurale Szenen. Diese Gepflogenheit setzt sich in der Gotik vielfach fort und findet ein individuell weiterentwickeltes Eigenleben in karikierenden, grotesken, menschlichen Grimassen, die neuerlich mehrere Gesichter in Profilansicht verbindend in den ausladenden Schlingen von Buchstabendekorationen integriert worden sind.

In der Bauplastik finden sich beispielsweise als Wasserspeier an der Kathetrale von Reims aus der Mitte des 13. Jahrhunderts fratzenhafte bzw. groteske Physiognomien oft in Verbindung mit Blattwerk. Sie sind ebenso am Mailänder Dom häufig anzutreffen und führen von dort abgewandelt direkt zu Borrominis Versionen im Stuckdekor für „San Carlo alle quattro Fontane" und „San Ivo alla Sapienza" in Rom.

Abb. 5 Franz Xaver Messerschmidt, Der widerwärtige Geruch,
 nach 1770, Gipsabguß, Höhe: 47 cm,
Österreichische Galerie Belvedere, Wien.
Die „parlerischen" Konsolen am Hochturm des Wiener Stephansdomes (und ebenso am großen Turm des Prager Veitsdomes) wären in diesem Zusammenhang gesondert zu erwähnen, da sie Messerschmidt bekannt gewesen sein müßten.

Als nämlich Messerschmidt 1768 für die Liechtensteinkapelle im Wiener Stephansdom — besser bekannt unter dem Namen „Prinz Eugen — Kapelle" — zwei Statuen aus Marmor in der Oberflächengestaltung nach Vorlage von entsprechenden Modellen überarbeitete, ist anzunehmen, daß er den Dom mit seiner ihm wohlvertrauten mittelalterlichen Symbolwelt bei dieser Gelegenheit studierte.

Nicht nur die großartigen Meisterwerke wie das Grabmal von Kaiser Friedrich III.‚ die Kanzel oder das phantastische Schnitzwerk des Rollinger'schen Chorgestühls erfreuten bestimmt das geschulte Künstlerauge, auch Wasserspeierchimären, Blattmasken, Konsolköpfe und „Kleinkunstwerke" könnten naheliegenderweise prägende Eindrücke hinterlassen haben.

So bestehen bei den maskaronenartigen Kinnpartien der Charakterköpfe gewisse morphologische Ähnlichkeiten zu den „parlerischen" Tierkonsolen des Stephansturmes.

An dieser Stelle soll der heute viel zu wenig beachtete Hofbaumeister Nikolaus Pacassi (1716- 1790) erwähnt werden, der im Jahr 1756 am Stephansturm einige bautechnische Sanierungen durchführte, übrigens auch am Veitsdom in Prag.

Abb. 6 Detail von Abb. 5.
In der ausklingenden Spätgotik wurden auch vereinzelt derartige Einfälle in der Bauplastik in den Bereich von Kehlungen von Rippensträngen integriert, beispielsweise im „Wladislaw-Saal" des Benedikt Ried auf der Prager Burg (1499 vollendet), wo groteske Köpfe an den Schnittstellen der Schlingrippen eingebunden sind.

Die Bukranien, die in einigen Kinnpartien der Messerschmidt'schen Charakterköpfe abgewandelt vorzufinden sind, erinnern auffallend an die Bauplastiken zwischen den Triglyphen des „Schweizertores" (1552) der Hofburg und an jene der ehemals einseitig offenen Arkaden des „Neugebäudes" (ab 1569) — einer prunkvollen Spätrenaissance-Anlage Kaiser Maximilian II. auf der Simmeringer Haide (eine Bukranie ist noch in situ).

Die übrigen Bukranien und viele andere Architekturelemente wurden 1775 in der „Gloriette" von Schönbrunn nach einem Entwurf von Johann Ferdinand Hetzendorf(er) von Hohenberg und 1778 in der „Römischen Ruine" von Johann Henrici und Franz Zächerle zweitverwendet.

Aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts datieren beispielsweise die Konsolen am Hauptgesimse vom „Schloß Esterhazy" in Eisenstadt, wo fratzenhafte Physiognomien in großer Zahl und in phantasievoller Ausführung vorzufinden sind, die sich an „Türkenköpfen" orientieren. Derartige Gesichter kehren vielfach als verzerrte „Türkenköpfe" wieder‚ z. B. bei Eisengittern in abermals variierter Form. Rahmungen und Gestühlwangen im frühbarocken Knorpelwerk-Schmuck weisen sogar mehrfach kombinierte Gesichtsdarstellungen auf.

Abb. 7 Franz Xaver Messerschmidt, Ein Hypochondrist,
nach 1770, Gipsabguß, Höhe: 42 cm,
Österreichische Galerie Belvedere, Wien.
Viele Gesichtspartien, die zusammen mit der ornamentalen Bänderung und den höhlenartigen Zwischenräumen wieder homomorphen, physiognomischen Charakter haben, finden sich am „Epitaph des Johannes Rudolph Graf von Puchheim" (Herr in Göllersdorf und Krumbach) aus dem Jahre 1657 aus dem ehemaligen Kreuzgang der Wiener Minoritenkirche — heute im Arkadengang längs der Südseite der Minoritenkirche — und in stark verwandter Form am „Epitaph der Katharina Spieß" von 1670 an der Westfassade des Wiener Stephansdomes.

Eine verwandte Spielart bei Monumentalbauten des reifen Hochbarocks ist beispielsweise am „Stadtpalais" des Fürsten Liechtenstein von Domenico Martinelli in Wien gegeben, wo in den Voluten der jonisierenden Kapitäle und im Dekor der üppigen Fensterrahmungen ebenfalls stilisierte Phantasiephysiognomien integriert sind.

Hier begegnen wir einer späten Variante aus dem figürlichen, bauplastischen und architektonischen Schaffen Michelangelos.

Die Fensterumrahmungen der oberen Fensterzone des Mittelrisalites im „Unteren Belvedere" des Johann Lukas von Hildebrandt in Wien ergeben zusammen mit den Voluten und dem bereichernden Dekor als formales Resultat grimassierende Gesichter von diversen Fabelwesen mit weitgeöffneten Mäulern, wobei für diese die Fensteröffnungen stellvertretend wirken.

Abb. 8 Detail von Abb. 7.
Sie erinnern an Vorbilder aus dem Manierismus (der Übergangsphase von der Spätrenaissance zum Barock) wie z.B. in den meist mit tierischen Fratzen versehenen hausartigen Grottenbauten (z.B. Höllenmaul des Fürsten Vicino Orsini im „Parco dei Mostri" in Bomarzo nördlich von Rom), wahrscheinlich beeinflußt durch Buontalenti.

Beim barocken „Stadtpalais Neupauer-Breuner" (1715/16) in der Singerstraße der Wiener Innenstadt, ist in die Rahmung der Wappenkartusche, die das Fensterüber dem Portal bekrönt, im unteren Rollwerkbereich deutlich jene physiognomisierende Andeutung gegeben, die umgeprägt in den Kinnpartien der Charakterköpfe Messerschmidt's vorkommt.

Am „Stadtpalais Daun-Kinsky" in Wien, das 1713-1716 von Johann Lukas von Hildebrandt errichtet wurde, finden sich über den Maskaronen der Fensterstürze im Fries der Fenstersohlbänke des nächsten Geschosses in der Mitte der bandartigen Voluten kleine Maskaronen versteckt.

Um von diesen „möglichen" Fällen die „günstigen" im Sinne der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu unterscheiden, und damit auf die Bereiche, aus denen Messerschmidt seine Anregungen empfangen haben mag, zu schließen und ein möglichst verläßliches Resultat zur Festigung der dargelegten Beobachtungen zu finden, ist eine Recherche nach den für Franz Xaver Messerschmidt erreichbaren Quellen nötig.

Es gilt in erster Linie, die zeitlich naheliegenden Vergleichsmotive als mögliche Anregungsfaktoren abzuwägen.

Abb. 9 Franz Xaver Messerschmidt, Ein mit Verstopfung
Behafteter, nach 1770, Blei, Höhe: 30,5 cm,
Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg.
Wo die jüngste Messerschmidt-Ausstellung im „Unteren Belvedere" in Wien stattfand und auch der „Groteskensaal" miteinbezogen war, wurde kaum beachtet, daß hier inmitten der Groteskendekoration physiognomisch angelegte Formationen vorkommen und die Fensterumrahmungen am Mittelrisalit in ihrer physiognomisierenden Struktur nicht weiter bemerkt worden sind.

Gerade diese finden sich in herausragender Weise in Ornamentstichwerken vorbereitet, die auf von Buontalenti entwickelten bauplastischen Schmuckformen fußen und wie im Fall von Jacques Callot prominente bildende Künstler zu eigenwilligen Formulierungen anregten.

Die Rahmung zur Skizze eines Fächers von 1619 („L'Eventail"), oder die Kartusche in einem Titelblatt zu den „Misere de la guerre", Paris 1639. Sie waren in gestochener Version durch die Reproduktionsgraphik allerorts leicht zugänglich und erfreuten sich großer Verbreitung, zeigen im Rollwerk Gestaltungen, die an Gesichter erinnern und sogar tatsächlich Gesichtsmotive verarbeiten.

Im ersten Fall sind diese als tierische Fratzen mit menschlich orientierten Gesichtsformen bzw. mit grotesk verzerrten, wie ledrig wirkendem Be- schlagwerkornament verbunden. lm zweiten Fall ist die erfaßte Physiognomik fast an der Art von Arcimboldos grotesken Köpfen, die aus vegetabilischen Motiven (Charakteristika der Jahreszeiten) zusammengesetzt wurden, orientiert, jedoch aus abstrahierten Ornamentbändern zusammengesetzt.

Die mittels Reproduktionsgraphik festgehaltenen erfindungsreichen Rahmenformen, die speziell in Büchern als Titelblätter Verwendung fanden, waren eben das geeignetste Medium der Vermittlung dieser phantasievollen Kombinationen von Ornamentform und grotesk verzerrter Physiognomie — wie sie Jacques Callot als Zeichner z.B. für Tafelgeräte entworfen hatte.

Abb. 10 Detail von Abb. 9.
Die traditionelle Kombination einer gerahmten Wappenkartusche mit einem Löwenkopf, der plötzlich seine majestätische Größe verliert und so zum anekdotischen Zwischenglied schrumpft, findet sich ebenfalls auf einem Titelblatt nach Callots Entwurf.

Dieses, wie auch das Titelblatt zu einem Kostümbuch des Herzogtums von Lothringen, das unter der Habsburgisch-Lothringischen Herrschaft schon allein deswegen als für Messerschmidt leicht erreichbar vorausgesetzt werden kann, enthält in einer brunnenartigen Sockelform einen zoomorphen Maskaron mit homomorphen Gesichtsausdruck, der ganz offensichtlich einer Teufelsfratze ähnelt.

Es darf angenommen werden, daß einem damaligen Absolventen der Wiener Kunstakademie Vorgenanntes sicher bekannt war.

Von den dargelegten Anregungsmöglichkeiten halten sich diejenigen, die an repräsentativen Barockbauten in Wien selbst wahrgenommen wurden und die Beispiele aus dem Bereich der Reproduktionsgraphik die Waage, sodaß dabei auf ein grundlegendes Reservoir an prägenden Inspirationsquellen für Messerschmidt geschlossen werden konnte.

Das gestalterische Spiel der Oberflächenbewältigung beim bildhauerischen Darstellen einer Physiognomie und der damit verbundene schillernde Effekt des Lichtes, besonders am polierten Metall, könnte Messerschmidt dazu bewogen haben, seine Charakterköpfe so phantasievoll zu bereichern.

Abb. 11 Franz Xaver Messerschmidt, Der Missmuthige,
 nach 1770, Blei, Höhe: 38 cm, Wien Museum, Karlsplatz.
Das bot ihm die Möglichkeit, in sein Bemühen um eine gesetzmäßige Stereometrie der Kopfform im Sinne einer aufklärerisch-klassizierenden Ästhetik, eine spielerische Darstellungskomponente — originell kaschiert — als Überraschung zu integrieren.

So hat der phantasievolle Künstler mit sicherer Hand und technischer Perfektion die möglicherweise zuerst zufällig im Kinnmuskelspiel bemerkten Fratzen durch kleine Veränderungen gezielt zu seinen „Dämonen" modelliert. Ist dies der „Geist der Proportion” dessen „Geheimnis der Verhältnisse" („Maße der menschlichen Proportion") Franz Xaver Messerschmidt gelüftet glaubte, der ihn deswegen plagte, den er fürchtete und schließlich doch besiegte?

Quelle: Philipp Stastny: Die »Dämonen« Messerschmidt's. Neue Erkenntnisse zu den Charakterköpfen. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. Heft 2/2003, Seite 48-59

Philipp Stastny ist seit 1972 im Steinmetz- und Steinbildhauergewerbe tätig, ab 1980 Steinbildhauermeister. Seit 1981 ist er Bildhauer der Dombauhütte zu St. Stephanin Wien. Der Arbeitsbereich umfaßt die ergänzende Restaurierung, die Rekonstruktion wie auch das Kopieren von Originalen gotischer Plastik und des Ornamentes.

Abb. 12 Detail von Abb. 11.


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17. November 2017

Schumann: Symphonische Etüden op.13 – Bunte Blätter op. 99 – Fantasiestücke Nr. 5 & 7 (Sviatoslav Richter, 1971)

Im September 1834 komponierte Schumann einige – wie er sie nannte – „pathetische“ Variationen über ein „Thema quasi marcia funebre“ in cis-moll. Dabei wollte er sich bemühen, „das Pathetische, wenn etwas davon [im Thema] drinnen ist, in verschiedene Farben zu bringen“. Ignaz Ferdinand Freiherr von Fricken aus Asch in Böhmen war der Schöpfer dieses zunächst für Flöte gedachten Themas, das er mitsamt einigen eigenen Variationen Schumann zur Beurteilung geschickt hatte. Er konnte freilich nicht ahnen, was Schumann schließlich daraus entwickelte. Der Freiherr war selbst ein Flötist und galt als großer Musikliebhaber und -kenner. Seine Adoptivtochter, Ernestine von Fricken, genoss gemeinsam mit Schumann den Klavierunterricht Friedrich Wiecks in Leipzig. Heimlich hatten sich die beiden jungen Leute im Spätsommer 1834 verlobt. Schon im folgenden Jahr löste Schumann das Verlöbnis wieder auf, nachdem er erfahren hatte, dass seine Braut kein leibliches Kind des Barons war. Dieser von Schumann angegebene Grund muss allerdings als Ausrede betrachtet werden, denn wesentlich stärker trug zu seinem Entschluss bei, dass er sich seiner wachsenden Liebe zu Clara Wieck, der hoch begabten Tochter des gemeinsamen Klavierlehrers, bewusst wurde.

Über das Thema seines „Beinahe-Schwiegervaters“ Fricken komponierte Schumann insgesamt 18 vollständige Variationen sowie eine unvollständige und mehrere Variationen-Incipits. „Mit meinen Variationen steh' ich noch am Finale“, erklärte er dem Freiherrn einige Wochen später. „Ich möchte gern den Trauermarsch nach und nach zu einem recht stolzen Siegeszug steigern u. überdies einiges dramatisches Interesse hineinbringen, komme aber nicht aus dem Moll, u. mit der 'Absicht' beim Schaffen trifft man oft fehl und wird zu materiell.“ Bereits hier wird nicht nur die besondere Stellung des letzten Stückes betont, sondern es deutet sich auch eine zyklische Intention an, der die einzelnen Stücke folgen sollten. Der Kompositionsprozess der Symphonischen Etüden vollzog sich in einer Phase des schumannschen Schaffens, in der er sich formal und strukturell um eine Großform in seinen Klavierwerken bemühte. Stärker als in allen vorherigen Variationenwerken versuchte er daher gerade hier, die Grenzen der Gattung aufzubrechen. Nicht zuletzt erklären sich dadurch auch die unterschiedlichen Bezeichnungen, die er im Laufe der Zeit seinen Stücken gab: „Variations“, „Etudes“, „Fantaisies“. Im selben Zusammenhang steht das mehrfach erfolgte Umordnen von deren Reihenfolge.

Schließlich wählte Schumann zwölf der Stücke aus und ließ sie 1837 drucken. Bereits im Mai des vorausgehenden Jahres hatte der Verleger Haslinger aus Wien die Sammlung 1836 als X Etuden im Orchestercharakter für das Pfte. von Florestan und Eusebius angekündigt. Wie so häufig in seinen frühen Klavierwerken, hatte Schumann selbst die imaginären Figuren Florestan und Eusebius als Urheber angegeben. Diese beiden Gestalten symbolisierten in seinem Denken die kontrastierenden Seiten seines eigenen Charakters. Florestan steht dabei für die trotzige, leidenschaftliche, stürmische und kämpferische Komponente, Eusebius für die lyrische, verträumte, kontemplative und sanftmütige. Vorbilder dieser Gestalten fand Schumann in den Brüdern Walt und Vult aus Jean Pauls 1805 erschienenem Roman Flegeljahre. Nicht nur vom Werk Jean Pauls im allgemeinen, sondern ganz besonders von dessen Hang zu Doppelnatur- bzw. Doppelgänger-Konstellationen war Schumann so fasziniert, dass er lange Zeit selbst damit experimentierte und zahlreiche Fantasienamen für Personen seines Umfelds erfand.

Swjatoslaw Teofilowitsch Richter (1915-1997).
Der Pianist, der aus der Kälte kam.
Die letztlich von ihm zum Druck frei gegebene, erweiterte Version seiner Variationen nannte Schumann XII Etudes Symphoniques pour le Piano-Forte und wies ihnen die Opuszahl 13 zu. Nicht zuletzt die Wahl dieser Benennung zeigt, dass Schumann stärker als in allen zuvor komponierten Klavier-Sammlungen hier seine Vorstellungen der großformalen Anlage sowie einer zyklischen Verbundenheit der Einzelstücke realisieren konnte. Sinfonie, Etüde und Variation werden zusammenfasst, da keines alleine den Ansprüchen der Komposition und des Komponisten gerecht geworden wäre. Zwar entspricht der Begriff der Variation dem zu Grunde liegenden kompositionstechnischen Verfahren, erfasst aber nicht den sinfonischen Charakter der durchführungsartigen Verarbeitung, die weit über das Aneinanderreihen einzelnen Variationen hinausgeht. Als letztes tritt der etüdenhafte Aspekt durch die spezifische Geschlossenheit eines jeden Stückes hinzu, indem jeweils eine andere spieltechnische Fertigkeit im Vordergrund steht.

Das schlichte, auf den Freiherrn von Fricken zurückgehende Thema in cis-moll schreitet ganz feierlich und würdevoll einher. Aber schon bald entwickeln sich starke dynamische Steigerungen, die durch hohe pianistische Virtuosität umgesetzt werden. Ab der siebten Etüde weichen die Variationen immer mehr von dem zweimal acht Takte umfassenden Grundriss des Themas ab. Die Klangwirkung des Klaviers nimmt durch die große Akkordfülle tatsächlich orchestralen Charakter an. Einem wirklich sinfonischen Anspruch wird schließlich das ebenso glanzvolle wie dramatische Finale gerecht, in dem sich nur noch entfernte Verwandtschaft zum Thema ausmachen lässt. Gerade diesem Stück hatte Schumann von Anfang an die meiste Aufmerksamkeit gewidmet, um es aus der gesamten Komposition herauszuheben: Bildet es doch keine eigentliche Schluss-Variation, sondern kann als veritabler Finalsatz gelten. Nicht zuletzt zeichnet sich das Finale auch dadurch aus, dass es mit einem völlig neuen Thema in Des-Dur beginnt, bei dem es sich um das Zitat der Romanze „Du stolzes England, freue dich“ aus Heinrich Marschners Oper Der Templer und die Jüdin handelt. Lange Zeit hielt man dies für einen Gruß an die Nationalität des Widmungsträgers von op. 13, William Sterndale Bennett. Dieser junge englische Pianist, Komponist und Dirigent traf im Oktober 1836 zu einem längeren Aufenthalt in Leipzig ein, wo er bald zum schumannschen Freundeskreis gehörte. Erst da entschloss sich Schumann zur Dedikation, komponierte den Finalsatz aber vermutlich früher.

Während die erste, 1837 bei Haslinger in Wien erschienene Ausgabe dem Thema zwölf Etüden folgen lässt, kürzte Schumann sein op. 13 um zwei Etüden für deren zweite, von ihm revidierte Fassung, die er 1852 bei Schuberth & Co. in Hamburg unter dem Titel Etudes en formes de variations veröffentlicht. Die ehemaligen Etüden III und IX fehlen jetzt, möglicherweise aufgrund ihrer enormen technischen Schwierigkeiten. Eine dritte Ausgabe erschien posthum 1861 bei Schuberth & Co mit dem Titel Etudes en forme de Variation (XII Etudes Symphoniques pour le Piano-Forte). Hierin sind die Etüden III und IX sowie die „Varianten der vorhergehenden Ausgaben und nicht herausgegebenen Korrekturen des Autors“ aufgenommen. Schließlich wurden weitere fünf, von Schumann selbst nicht publizierte, aber dennoch sehr reizvolle Variationen 1873 durch Johannes Brahms bei Simrock in Berlin veröffentlicht.

Schumann setzte mit den Symphonischen Etüden einen Meilenstein auf seinem Weg zu den späteren großen Instrumentalwerken in zyklischer Form. Darüber hinaus führte kurioserweise ausgerechnet diese, mit seiner ersten Braut Ernestine von Fricken verbundene Komposition, indirekt zur heimlichen Verlobung mit Clara Wieck. Sie bestritt bei einem öffentlichen Konzert am 13. August 1837 in der Leipziger Buchhändlerbörse die Erstaufführung der Symphonischen Etüden in ihrer ersten Fassung und vermittelte Schumann dadurch nach langer, schmerzlicher Trennung ein deutliches Zeichen ihrer Zuneigung. Anschließend ließ Clara ihm noch einen Brief zukommen, der wohl den entscheidenden Anschub zur Aussprechung der Verlobung zwischen den jungen Leuten gab.

Quelle: Irmgard Knechtges-Obrecht im Robert Schumann Portal


Track 18: Etudes Symphoniques Op. 13 - XII. Finale. Allegro brillante


TRACKLIST


SCHUMANN Piano Works

Sviatoslav Richter

Etudes Symphoniques, Op. 13
with the variations "Anhang zu Op. 13 aus dem Nachlasse"

01 Theme                                1:32
02 No.1 poco piu vivo                   1:05
03 Etude No.2                           2:36
04 No.3 vivace                          1:09
05 Etude No.4                           1:00
06 Etude No.5                           1:04
07 Variation I                          1:37
08 Variation II                         2:08
09 Variation III                        1:30
10 Variation IV                         2:42
11 Variation VI                         2:39
12 No.6 agitato                         0:53
13 No.7 allegro molto                   1:11
14 No.8 andante                         2:27
15 No.9 presto possibile                0:49
16 No.10 allegro                        1:09
17 No.11 andante con espressione        2:21
18 No.12 Finale. Allegro brillante      6:06

Bunte Blätter, Op. 99

19 I    Nicht zu schnell mit Feurigkeit 1:51
20 II   Sehr rasch                      0:49
21 III  Frisch                          0:56
22 IV   Ziemlich langsam                2:11
23 V    Schnell                         0:36
24 VI Ziemlich langsam, sehr gesangvoll 2:11
25 VII  Sehr langsam, sehr gesangvoll   2:04
26 VIII Langsam                         1:26
27 IX   Novelette (Lebhaft)             2:27
28 X    Praeludium (Energisch)          1:10
29 XI   Marsch (sehr getragen)          8:54
30 XII  Abendmusik (Menuett-Tempo)      3:41
31 XIII Scherzo (Lebhaft)               4:11
32 XIV  Geschwindmarsch (sehr markiert) 3:00

Fantasiestücke Op. 12 (live)

33 No.5 In der Nacht                    4:06
34 No.7 Traumes-Wirren                  2:38

                            Total time 76:35

Etudes and Bunte Blatter: Recorded Sept 1971 
Fantasiestucke: Recorded 24 February 1979 at NKH Hall, Tokyo. 
Producer Tomoo Nojima; Engineer: Takashi Watanabe
Re-mastered by Paul Arden-Taylor

Track 33: Fantasiestücke Op. 12 - Nr. 5 In der Nacht



Griechische Tafelmalerei

Malerin im Heiligtum. Pompejanisches Wandbild. (Neapel)
Ruhm und Wirkung

Wie in der abendländischen Kunst hat die Malerei auch in der Antike ihre Schwesterkünste Architektur und Bildhauerei an Popularität weit übertroffen. Das geht nicht nur aus der verhältnismäßig hohen Anzahl überlieferter Schriftzeugnisse hervor, sondern wird von manchen Autoren, etwa von Plutarch, auch explizit festgestellt. Als eine „stumme Poesie“, wie Simonides sie im Gegensatz zur „sprechenden Malerei“ der Dichtung nennt, vermochte die Malkunst in den Farben des Lebens Geschichten zu erzählen und die Phantasie des Betrachters auf besondere Weise anzuregen. Philostrat schwärmt von ihr, sie sei eine „Erfindung der Götter, sowohl wegen der Farbenpracht auf Erden wie wegen der Erscheinungen am Himmel“. Ganz im Gegensatz zur Bildhauerei vermöge sie Licht und Schatten wiederzugeben und „den Blick eines Menschen, der beim Rasenden anders ist als beim Leidenden und Frohen“. Ausdruck, Vielfalt der Erzählung und die Nachahmung der farbigen Wirklichkeit hatte die Malerei der Skulptur, selbst der Reliefkunst, voraus.

Es gab Tafelbilder der Antike, die so berühmt waren wie im Abendland Werke von Leonardo, Raffael oder Rembrandt, etwa das Aphroditebild‚ das Apelles für die Stadt Kos gemalt hatte, oder das große Gemälde des Protogenes, das Jalysos, den Gründungsheros von Rhodos, darstellte. Griechische Gemälde verblüfften zwar zuweilen auch durch thematische Einfälle der Maler, vor allem aber durch die Kunst der Darstellung, an der man die Lebensnähe rühmte. Allerdings wurden in der gesamten Antike nicht die illusionistischen Effekte erreicht, die die abendländische Malerei seit der Renaissance erzielte, und der mit solchen Effekten Vertraute würde wohl die zu ihrer Zeit so bewunderten griechischen Gemälde als vergleichsweise schlicht empfunden haben. Nicht der Grad der Illusion, deren Steigerung grundsätzlich denkbar wäre, entschied über die Wirkung, sondern die Tatsache, daß es optische Täuschungen in der Malerei bis dahin gar nicht gegeben hatte. Man hat sich zu vergegenwärtigen, daß in der archaischen Kunst, die der altorientalisch-ägyptischen Tradition verpflichtet war, noch eine „vorstellige“, an die Fläche gebundene Darstellungsweise bis zur Stilwende um 500 v. Chr. üblich war, mithin die danach rasch fortschreitende plastisch-räumliche Wirkung im Bild als etwas unerhört Neuartiges erlebt worden sein muß.

Opferzug. Tempera auf Holz. Korinthisch, um 540 v. Chr. (Athen)
Der Ruhm dieser verlorenen Kunst spiegelt sich in zahlreichen Phänomenen wider, die literarisch bezeugt sind, in Nachrichten über das Staunen der Zeitgenossen, über Kunstraub und Verschleppung von Bildern, über hohe Gemäldepreise, erste Theorien der Kunstbetrachtung. Auch zahlreiche Künstleranekdoten bezeugen die damalige Popularität der griechischen Tafelmalerei. Da uns keines der berühmten Gemälde mehr im Original vorliegt, sind wir auf solche Re?exe und die bewundernden Kommentare der römischen Kaiserzeit zunächst angewiesen, ohne die über die griechische Tafelmalerei heute kaum noch etwas bekannt wäre. […]

Von der Bewunderung griechischer Gemälde im Altertum geben die Maleranekdoten eine erste, wenn auch legendär gefärbte Vorstellung. Zahlreicher sind die literarischen Quellen, die historische Fakten überliefem und Hinweise zur Wertschätzung der Bilder, auf ihre Besitzer, die Preise und den späteren Verbleib der Gemälde geben. Die Texte beziehen sich in erster Linie auf die Tafelmalerei. Plinius stellt ausdrücklich fest, daß ein Maler nur zu Ruhm gelangen konnte, wenn er nicht auf Wände, sondern „auf Tafeln“ malte (35,118). Als transportable Gegenstände verbreiteten die tabulae (griech. pinakes) den Ruhm ihrer Schöpfer rascher als die an einen Ort fixierten Wandgemälde, die zudem in ihrer ausschmückenden Funktion oft weniger sorgfältig gemalt waren. […]

Je kostbarer ein Gemälde war, um so mehr war man darum bemüht, es zu schützen und zu erhalten. Haltbarkeit strebten bereits die Maler selbst an. Dabei ging es zunächst um die richtige Auswahl des Holzes für die Tafeln, um deren gute Zusammenfügung und feste Rahmung, dann beim Malen um die Wahl geeigneter Pigmente und Bindemittel. Protogenes soll das große Heroenbild des Jalysos‚ das wahrscheinlich im Freien an der Stadtmauer von Rhodos seinen Platz fand, durch einen vierfachen Farbauftrag haltbar gemacht haben (Plinius 35,102; 7,126). Auch in den Heiligtümern waren viele Gemälde unter freiem Himmel der Witterung ausgesetzt; von einem Heroenbild des Parrhasios, das Perseus, Herakles und Meleager darstellte, erzählte man, daß es dreimal vom Blitz getroffen worden sei, ohne jemals Schaden zu nehmen (Plinius 35,69). Die Malschicht der Tafelbilder schützte man gewöhnlich durch Vorhänge oder Klapptüren gegen Lichtstrahlen und Witterungseinflüsse. […]

Mumienbildnis eines Mannes.
Enkaustik auf Holz. 2. Jh. n. Chr. (Berlin)
Malerei auf Holz und die Enkaustik

Erst mit der Technik der Staffelei- bzw. Tafelmalerei befinden wir uns im zentralen Bereich der Malkunst. Wie […] betont, ist keines der von den antiken Autoren erwälmten Werke erhalten. Diese Zerstörung konnte auch nicht dadurch verhindert werden, daß die Tafeln aus besonders dauerhaftem Holz gefertigt waren. Man bevorzugte in der Antike das Holz des Buchsbaumes, ein dichtes, helles, sehr widerstandsfähiges Holz, das Plinius als Material der Tafelmalerei dort, wo er von ihrer Bedeutung spricht (35,77), ausdrücklich erwähnt. Ferner bot die Ulme ein festes, auch im Freien beständiges Holz, das an Stärke aber noch von dem des ägyptischen Maulbeerbaumes, der Sykomore, übertroffen wurde. Während man letzteres seiner Haltbarkeit wegen bevorzugt im Schiffsbau verwendete, wird in der Tafelmalerei wie auch bei der Herstellung von Schreibtafeln außer Buchs noch das Holz von Lärchen, Zypressen, Tannen und Linden erwähnt. Um ein späteres Reißen oder Verziehen der Tafeln zu vermeiden, ließ man das Holz vor der Verarbeitung gut austrocknen. Kleinere Bilder bestanden aus einem einzigen Brett, größere fügte man aus mehreren Teilen zusammen, indem man sie gut verdübelte, verleimte und vielleicht auch bereits, wie in der Neuzeit üblich, mit querlaufenden Einschubleisten versah.

Das Gemälde selbst schützte man durch einen Vorhang oder Teppich, und viele Bilder waren außerdem durch Klapptüren verschließbar. Die Klapptürbilder hatten in der Regel ein kleines Format, und ihre Türen dienten im Gegensatz zu jenen der großen christlichen Flügelaltäre nicht als zusätzliche Bildträger. Freilich gab es neben solchen, meist querformatigen pinakes tethyromenoi, wie man sie nannte, auch andere Bild- und Rahmenformen. Durchgehend findet sich beispielsweise die Naiskos- bzw. Ädikulaform mit oberem Giebelabschluß, und in späterer Zeit wurde bei annähernd quadratischen Bildern der Achtendrahmen beliebt, bei dem die Rahmenleisten an den Ecken überstehen und sich kreuzen.

Sehr große Tafelbilder, sanides genannt, dienten zur Verkleidung von Wänden, zumindest findet sich bei einem späten Autor diese Bezeichnung für die großen Wandgemälde des Polygnot in der Bunten Halle von Athen. Solche Bilder ließen sich bereits in der Werkstatt mit Sorgfalt malen, und gewiß war dies eine anspruchsvollere Art der Wanddekoration als die Frescomalerei. Auch die Attika der Fassade des „Prinzengrabes“ von Vergina war mit einem Gemälde auf Holz verkleidet, wie geringe Reste und Einlaßspuren noch erkennen ließen, ohne allerdings vom Gemälde selbst noch etwas zu zeigen. Auf entsprechende Spuren ist vielleicht bislang nicht ausreichend geachtet worden, jedenfalls ist mit dieser Art von Wandmalerei in größerem Umfang zu rechnen, als archäologische Indizien heute noch vermuten lassen.

Malgeräte. Beigaben eines römischen Malergrabes bei Fontenay-le-Comte.
Originalgemälde auf Holz, die sich zufällig konserviert haben, sind nur noch in ganz vereinzelten Fällen auf uns gekommen. Besonderes Aufsehen erregte seinerzeit der Fund von Pitsà in der nördlichen Peloponnes. Bei diesem nahe Sikyon gelegenen Dörfchen wurde 1934 in einer Höhle eine Kultstätte mit zahlreichen Weihgaben entdeckt, darunter kleine Votivfiguren, eine Öllampe und Münzen, vor allem aber die Reste von vier kleinen Pinakes aus Zypressenholz, die sich auf dem Grund der Höhle im Schlamm relativ gut konserviert hatten. Das am besten erhaltene Exemplar mit einer Opferszene trägt zusätzlich eine Weihinschrift an die Nymphen. Ein anderes, ebenfalls ganz erhaltenes Täfelchen weist leider nur noch geringe Spuren der Malschicht auf; von den restlichen Pinakes liegen zwar nur Fragmente vor, doch zeigt die noch sichbare Malerei gut konservierte Farben.

Dem Faltenstil der Gewänder ist zu entnehmen, daß das älteste Fragment der Serie, drei Frauen in einem Mantel zeigend, noch vor der Mitte des 6. Jahrhunderts entstanden ist, die Opferszene etwa um 540 v. Chr. und das andere Fragment mit bereits „räumlich“ gestaffeltem Faltensaum um 510 v. Chr. Die übrigen Weihgeschenke der Grotte entstammen wesentlich späterer Zeit; vielleicht hat man den Brauch, solche Pinakes zu weihen, später aufgegeben. Die Malerei ist in Temperatechnik auf eine gelblich-weiße Kreidegrundierung aufgebracht. Von ihr heben sich die Gestalten der Opferszene in ihren hellblauen Chitonen und roten Mänteln prägnant ab. Durchwegs sind die Farbflächen dunkel konturiert‚ lediglich für die Umrißlinien des helleren Fraueninkarnats ist ein rötlicher Ton gewählt. Im Gesamtkolorit dominiert der Blau-Rot-Kontrast, dies gilt auch für die beiden Fragmente. Sehr sparsam werden dagegen außer Schwarz ein blasses Gelb-Grün und ein dunkles Violett-Rot verwendet.

Mehr als zwei Jahrhunderte jünger ist das 18,4 cm hohe Fragment einer Holztafel mit einer thronenden Frau, das 1970-71 von britischen Forschern im ägyptischen Sakkara gefunden wurde. Auch auf dieser Tafel dient die grauweiße Grundierung zugleich als neutraler Bildhintergrund. Der elfenbeinfarbene Thron ist mit roten Palmetten und Rosetten verziert, und über dem Sitz liegt ein Tuch vom gleichen Rot. Der durchsichtige, blaßblaue Chiton der Frau ist mit Goldstickerei versehen, an dem weißen Mantel hat sich dagegen keine Binnenzeichnung erhalten. Die schwach getönten Hautpartien weisen Abschattierungen, aber auch noch schwarze Konturlinien auf. In flotter Manier ist das schwarze Haupthaar mit seinen üppigen Schulterlocken dargestellt. Die eher handwerkliche Qualität des Pinax entspricht der Malweise auf gleichzeitigen frühhellenistischen Grabstelen.

Familie des Kaisers Septimius Severus,
Tempera auf Holz, frühes 3. Jh. n. Chr. (Berlin)
Ebenfalls in Ägypten, nämlich in der Nekropole der Oase Fayum, haben sich schließlich in großer Zahl kaiserzeitliche, bemalte Holztafeln erhalten, die als Mumienbildnisse dienten. Obwohl in sehr viel späterer Zeit entstanden, können sie hier nicht übergangen werden, da sie maltechnisch die griechische Tradition fortsetzen und vom Aussehen der antiken Tafelmalerei eine farbige Vorstellung vermitteln. Die Bildnisse geben die individuellen Gesichtszüge des Verstorbenen oft in frappierender Lebendigkeit wieder. Das Gesicht des Leichnams bedeckend, waren sie in die Mumie eingebunden. Viele Exemplare sind in einfacher Temperatechnik gemalt, für die eine matte Oberfläche charakteristisch ist, wobei die Buntwerte ihre Intensität aber nicht verlieren. Auch heben sich die Farben meist von einer weißen Kreide- oder Gipsgrundierung ab, nur gelegentlich sind sie unmittelbar auf das Holz gesetzt.

An einem unvollendeten Beispiel in Berkeley haben sich die Vorzeichnungen erhalten, dazu inschriftliche Angaben zur noch nicht ausgeführten Farbgebung. Wenn an den betreffenden Stellen vermerkt wird, daß die Dargestellte „ein grünes Kettchen" trug, am Gewand ein Purpurstreifen verlaufen solle oder welche Augenfarbe zu beachten sei, so wird damit ein Einblick in die Entstehung solcher Tafeln gewährt. Offenbar ließ man die Bildnisse vorsorglich anfertigen und bewahrte sie bis zum Todesfall auf. Der Notizen hätte es wohl nicht bedurft, wenn der Maler nicht das Gemälde in der eigenen Werkstatt hätte fertigstellen wollen. Bei der Tafel in Berkeley kam es aber aus uns unbekannten Gründen nicht mehr dazu.

Spuren der Wiederverwendung eines Tafelbildes
 des Apelles. Rom, Augustusforum.
Brillanter als die Temperabildnisse wirken die enkaustisch gemalten Mumienporträts; sie zeichnet allgemein ein leuchtendes, sehr differenziertes Kolorit aus. Wie man am pointillistisch wirkenden Farbauftrag erkennt, wurden meist nur die Gesichtszüge in dieser feineren Technik ausgeführt, während an den Gewandpartien ein breiterer Pinselstrich die flüchtigere Malweise verrät. Die oft ungeglättete Oberfläche der Inkarnatpartien rührt von der Arbeit mit dem Cauterium her, einem schmalen Bronzelöffelchen, mit dem man die Farbe auftrug. Als Bindemittel diente eine Emulsion aus Bienenwachs, das mit dem Pigment vermischt vor dem Auftragen erhitzt wurde. Die Cauterium-Enkaustik forderte vom Maler Sorgfalt und Geduld, da jeweils nur sehr kleine Farbmengen verarbeitet werden konnten, die, nebeneinander gesetzt, sich erst allmählich zur gewünschten Gesamtwirkung zusammenfügten. Aber diese Technik verlieh dem Gemälde Glanz und besondere Tiefe. In der als „Wachstempera“ bezeichneten Mischtechnik konnte durch Anwendung eines besonders flüssigen Wachses die Masse mit dem Pinsel, also rascher als mit dem Cauterium verteilt werden. Solche Bilder erwiesen sich jedoch als weniger haltbar. Mithin hat man den Gesichtern der Mumienbildnisse durch die Cauteriumtechnik nicht nur eine intensivere Farbwirkung, sondern auch bessere Haltbarkeit verliehen.

Was diese wenigen Originale antiker Tafelmalerei auf Holz zu unserer Kenntnis beitragen, verlangt eine Ergänzung durch die Hinweise des Plinius, die sich unmittelbar auf die Technik der verlorenen Meisterwerke beziehen. In seinem Malerkatalog geht er in einem gesonderten Teil auf diejenigen Maler ein, die sich in der Enkaustik einen Namen gemacht haben (35,53 ff.). Zu ihnen gehörten Euphranor, Nikias, Pausias und Athenion (35,122). Die Mehrzahl der Maler arbeitete aber in der von Plinius nicht eigens beschriebenen, weil als üblich betrachteten Temperatechnik. Die Wachsmalerei galt als die vornehmere und effektvollere Kunst. Die Frage nach den Anfängen der Enkaustik vermag Plinius nicht zu beantworten, sicher scheint aber, daß die Technik, Bilder mit heißem Wachs „einzubrennen“, im 4. Jahrhundert einen hohen Stand erreicht hatte und damals erst mit der Temperamalerei zu konkurrieren begann. Angesprochen wird auch das Zeitraubende der Technik und das gewöhnlich daraus resultierende kleine Format enkaustischer Bilder.

Klapptürbilder auf einem Gesims. Wandgemälde in Pompeji, um 30 v. Chr.
Im übrigen sind verschiedene enkaustische Techniken bekannt gewesen: „In alter Zeit hat es zwei Arten, enkaustisch zu malen, gegeben, die mit Wachs und die auf Elfenbein mit dem Cestrum (Brenngriffel), bis angefangen wurde, die Kriegsschiffe zu bemalen. So kam die dritte Art hinzu, heißflüssige Wachsfarben mit dem Pinsel aufzutragen, eine Malerei, die an den Schiffen weder durch die Sonne noch durch das Salzwasser oder durch Winde verdorben wird“ (35,149 ff.). Gemeinsam ist diesen Techniken nach Plinius offenbar das Einsetzen von Wärme. Seine Unterteilung bezieht sich auf die jeweils verwendeten Malgeräte, wobei allerdings das cauterium (griech. rhabdion) nicht nochmals eigens genannt ist.

Die Schiffsmalerei spielte in Griechenland eine wichtige Rolle, auch sie hatte gewiß als einfacher Handwerkszweig eine alte Tradition, und Plinius erwähnt sie als letzte in seiner chronologischen Abfolge, weil sie wohl seit dem 4. Jahrhundert reichere Formen annahm (vgl. Plinius 35,101; 135). Selbstverständlich wurde hier angesichts der großen Flächen mit einem gröberen Werkzeug, dem Borstenpinsel, gearbeitet.

Plinius liefert auch einige Informationen zu den in der Antike verwendeten Bindemitteln. Wachs mußte zu einer Emulsion aufbereitet werden, um die Farbe verstreichbar zu machen. Man vermutet, daß es sich dabei vorwiegend um das häufig erwähnte punische Wachs handelte, dessen Herstellungsrezept Plinius an anderer Stelle beschreibt (21,84). Von Interesse sind ferner verstreute Angaben zu den in der Temperatechnik üblich gewesenen Bindemitteln. Danach ist die Eitempera ebenso bezeugt wie die Verwendung von Gummi und von Leim, den man aus Stierohren oder Stierhoden kochte.

Frauenprozession. Klapptürbild in hellenistischem Stil
Unter den Malgeräten der Temperatechnik ist außer dem Pinsel aus feinen Haaren, dem penicillum (gr. grapheion oder graphis) auch der Schwamm zu nennen. Man hatte ihn nicht nur zur Reinigung und zum Auswischen mißlungener Teile stets zur Hand, sondern konnte mit kleineren Stücken, die an einem Griffel befestigt waren, auch Farbe auftragen (Plinius 9‚148). Es muß offen bleiben, welche Form des Schwamms man sich vorzustellen hat, als Protogenes bzw. Nealkes damit den Effekt des Schaumes vor dem Maul des Tieres erzeugte. Möglicherweise ist in den Anekdoten das Malgerät selbst gemeint.

Zusätzliche Informationen lassen sich schließlich aus den Beigaben römischer Malergräber und bildlichen Darstellungen von Malerwerkstätten gewinnen. Das Grab von St. Médard-des-Prés bei Fontenay-le-Comte enthielt neben zahlreichen Farbnäpfchen und einem Mörser aus Alabaster ein Bronzekästchen mit Schiebedeckel, das in vier mit einem Silberrost oben abgedeckte Behälter unterteilt ist, ferner ein Etui mit zwei Bronzelöffelchen, zwei kleine Schaufeln aus Bergkristall und zwei 12 cm lange Pinselstiele aus Bein. Bei den Löffelchen handelt es sich offenbar um Cauteria; am einen Ende zeigen sie den sehr schmalen Löffel, am anderen eine Verdickung zum Verstreichen oder Festdrücken der Farbe. In dem Kästchen fanden sich auch Farbreste, und man vermutet, daß es zum wechselweisen Erhitzen der Cauteria diente. Bildliche Darstellungen römischer Zeit weisen dagegen Kästchen auf, in denen Farbnäpfe stecken; wahrscheinlich handelt es sich um die von Varro erwähnte arculae loculatae. Die Bilder zeigen außerdem, daß der Maler noch keine Palette der heutigen Form verwendete, sondern in der linken Hand die Farben in einer Schale oder Muschel bereit hielt. Die Holzgestelle, die als Staffelei dienten, ähneln dagegen verblüffend den heute noch verwendeten Formen. […]

Quelle: Ingebog Scheibler: Griechische Malerei der Antike. München, Beck, 1994, ISBN 3-406-38492-7. Zitiert wurde aus den Seiten 9-10, 14, 21-22, 94-100.

Götterpaar. Tafelbild aus dem Fayum, Tempera auf Holz, 3. Jh. n. Chr.



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