27. August 2019

Weltliche Musik im christlichen und jüdischen Spanien 1490-1650 (Hespèrion XX, Jordi Savall, Montserrat Figueras)

Die Polyphonie erlebte in Spanien eine frühe Blüte, eine Entwicklung, die sich durch die engen musikalischen Beziehungen, die Spanien im 15. Jahrhundert mit dem übrigen Europa unterhielt, vor allem während der Regierungszeit von Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien‚ noch weiter verstärkte. Es läßt sich vermuten, daß die Liedersammlung Cancionero de Palacio, die von einer etablierten spanischen Schule voller Vitalität zeugt, am Hof von König Ferdinand zusammengestellt worden ist.

Die meisten Stücke in dieser Sammlung sind villancicos und kommentieren volkstümliche Themen in stilisierter Sprache. Kennzeichnend für die villancicos ist ihre klare Gliederung, der homophone Stil und der Gegensatz zwischen Refrain (estribillo) und Strophe (mudanza). Die anderen hier vertretenen Stücke sind romances, lange, einfache Gedichte erzählenden Inhalts mit syllabischem Versbau und Verzierungen während des Vortrags, wie man sie zum Beispiel in den recercadas von Diego Ortiz findet.

Der Cancionero de la Colombina, eines der ältesten Manuskripte spanischer Polyphonie, gehörte Ferdinand Columbus, dem Sohn des Entdeckers, und bezeugt den französischen und italienischen Einfluß auf die Musik der iberischen Halbinsel. Der Cancionero de Uppsala, der 1556 in Venedig im Druck erschien und in der Universitätsbibliothek Uppsala aufbewahrt wird, zeigt die Weiterentwicklung der Villancico-Tradition.

Die Juden wurden 1492 aus Spanien und 1506 aus Portugal vertrieben. Trotzdem hat ihr sefarad, ihr „spanischer“ Gesang eine ungewöhnlich weite Verbreitung gefunden, und die Séfardim, d.h. die Juden Spaniens und Portugals, haben viele Elemente der spanischen Kultur des Mittelalters im Rahmen ihrer religiösen und weltlichen Traditionen weitergegeben. Die Aktivitäten jüdischer Musiker im weltlichen Leben in Spanien sind schon früh vor ihrer Vertreibung bezeugt. Der Romancero, der spanische Romanzen enthält, weist auch zahlreiche altertümliche Texte auf, deren Melodien ebenso reichhaltig wie vielgestaltig sind.

Quelle: Adélaide de Place (Übersetzung Gudrun Meier), im Booklet.

Montserrat Figueras (1942-2011)

TRACKLIST

CD 1                                                  57:20

Court Music and Songs

Villancicos
from Cancionero de la Colombina (end of the 15th century)

01. Niña y viña   anon.                               01:36
02. Propiñan de melyor   anon.                        01:42
03. Como no le andaré yo?   anon.                     02:22
04. Recercada   anon.                                 01:38
05. Fantasia    Luys Milan (c.1500-after 1561)        02:15
06. Pavana      Luys Milan (c.1500-after 1561)        01:54

Villancicos
from Cancionero de Palacio 1490-1530
07. Al alva venid, buen amigo    anon.                03:49
08. Perdí la mi rrueca    anon.                       02:22
09. A los baños del amor    anon.                     01:35
10. Fantasia    anon.                                 01:39
11. Romanesca    anon.                                01:15
12. Pues bien para esta    Garcimuñós                 03:19
13. Si avéis dicho, marido    anon.                   01:59

Romances
from Cancionero de Palacio 1490-1530
14, Si d'amor pena sentís    anon.                    05:12
15. O voy    Roman                                    01:58
16. Qu'es de ti, desconsolado?    
    Juan de Encina (1468-1529)                        05:32

Recercadas sobre tenores
17. Recercada 4 Diego Ortiz (1525-?)        01:41
18. Recercada 5 Diego Ortiz (1525-?)        02:20
19. Recercada 6 Diego Ortiz (1525-?)        01:18

Villancicos
from Cancionero de Uppsala 1500-1550
20. Yo me soy la morenica    anon.        01:11
21. Si la noche haze escura    anon.        03:47
22. Soleta só jo aci    anon.         01:33
23. Con qué la lavaré?    anon.         03:53
24. Soy serranica    anon.         01:17

CD 2                                                  51:05

Sephardic Romances (anon.)

01. Pregoneros vay y vienen                           05:10
02. El rey de Fancia tres hijas tenía                 05:13
03. Una matica de Ruda                                02:52
04. Palestina hermoza                                 01:32
05. Nani, nani                                        06:06
06. El rey que tanto madruga                          03:08
07. Por qué llorax blanca niña                        07:32
08. Moricos los mis moricos                           02:59
09. Lavava y suspirava                                05:37
10. Paxarico tu te llamas                             01:52
11. La reina xerifa mora                              05:56
12. Por allí pasó un cavallero                        03:02


HESPÈRION XX

Montserrat Figueras - soprano
Jordi Savall - tenor and bass viola da gamba, bowed Saracen chitarra
Hopkinson Smith - Renaissance lutc, Saracen chitarra
Lorenzo Alpert - recorder, percussion
Arianne Maurette - viola da gamba
Pere Ros - viola da gamba
Pilar Figueras - bagpipe
Gabriel Garrido - percussion
Jordi Savall - direction

Recording: Münstermuseum, Basel, 4-10 November 1975
Producer: Gerd Berg
Balance engineer: Johann-Nikolaus Matthes
(P) 1976 (C) 1999



Ein Mensch ist kein Stilleben


Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus

Abb. 1 Oskar Kokoschka, Karl Kraus I, 1909, Öl auf Leinwand, 100 x 74,5 cm, zerstört.
„Wenn ich Portraits male", schreibt Oskar Kokoschka 1971 in der Autobiographie Mein Leben, „geht es mir nicht darum, das Äußerliche eines Menschen den Rang oder Attribute seiner geistlichen oder weltlichen Prominenz oder bürgerlichen Provenienz festzuhalten. Es gehört ins Gebiet der Historie, Dokumente der Nachwelt zu überliefern. Was die Gesellschaft früher an meinen Portraits schockierte, war das, was ich in einem Gesicht im Mienenspiel, in Gebärden zu erraten suchte, um dies in meiner Bildersprache als Summe eines Lebewesens in einem Gedächtnisbild wiederzugeben. Ein Mensch ist kein Stilleben.”

In dieser knappen, für Kokoschka ungewöhnlich klaren Aussage ist die Fülle dessen, was diesen Maler über die Portraitisten seiner Zeit hinausragen läßt, eindrücklich offengelegt. Es ist die Summe eines Lebewesens, die er in seltener Weise blitzartig erfaßt zu haben scheint. Eine außergewöhnliche Begabung, eine angeborene Fertigkeit, die Adolf Loos, Kokoschkas erster Förderer, staunend als hellsichtig apostrophierte. Kokoschka selbst führt die Fähigkeit des blitzschnellen Festhaltens eines inneren Ausdrucks auf die Bewegungsstudien seiner Lehrjahre zurück. Er mußte damals seine — wie er schreibt — Modelle, oder Opfer, wie er sie auch nannte, so gut unterhalten, daß sie vergaßen, daß sie gemalt wurden und die Posen in natürliche Bewegungen wandelten. So bedürfe es auch seiner langen Erfahrung im Umgang mit Menschen, meinte er, eine oft in Konvention verschlossene Persönlichkeit wie mit einem „Büchsenöffner” ans Licht zu bringen. […]

Ernst H. Gombrich teilt dazu eine interessante Facette mit: „Ein Kunsthistoriker ist selten in der Lage für eine solch allgemeine Hypothese direkte Beweise zu liefern; aber zufällig genoß ich das Privileg, Kokoschka einmal zuhören zu können, als er über einen besonders schwierigen Portraitauftrag sprach, den er einige Zeit zuvor erhalten hatte. Als er von dem Modell erzählte, dessen Gesicht er so schwer zu enträtseln fand, zog er automatisch eine Grimasse von undurchdringlicher Starrheit. Bei ihm nahm das Verstehen der Physiognomie einer anderen Person seinen Weg deutlich über die eigenen Muskelerlebnisse.“ Kokoschka war in seiner erstaunlichen Naivität als sehr begabter Schüler Bertold Löfflers an der Kunstgewerbeschule in diversesten Tätigkeiten u. a. als Postkartenmaler seit 1907 in der Wiener Werkstätte tätig, hatte das wunderbare Märchen „Die träumenden Knaben" erfunden und illustriert (bezeichnenderweise Gustav Klimt gewidmet), als Adolf Loos ihn in der Kunstschau 1908 entdeckte und ihn aus dieser Idylle riß und — das Genie erkennend oder besser gesagt, die Energie dieses eigentümlichen Träumers ahnend — mit Portraitaufträgen interessanter Persönlichkeiten überhäufte, von denen erwartet wurde, daß sie die Bilder erwerben konnten.

Kokoschka dazu: „Meistens waren es Juden, die mir als Modell dienten, weil sie viel unsicherer als der übrige Teil der im gesellschaftlichen Rahmen fest verankerten Wiener und daher für alles Neue aufgeschlossener waren, viel empfindlicher auch für die Spannungen und den Druck infolge des Verfalls der alten Ordnung in Österreich. Dank ihrer geschichtlichen Erfahrungen urteilten sie weitsichtiger über Politik und auch über Kultur.” Das erste Bildnis von Karl Kraus (Abb. 1) ist Ende September, Anfang Oktober 1909 entstanden und laut Johann Winkler und Katharina Erlings Monographie über Kokoschka von 1995 mit großer Sicherheit im Wallraf-Richartz-Museum in Köln durch Kriegseinwirkung zerstört worden.

Abb. 2 Oskar Kokoschka, Karl Kraus I, 1909,
Feder und Pinsel in Tusche auf Papier,
29,7 x 20,6 cm, Privatbesitz.
Es ist daher nur in einer Schwarz-Weiß-Aufnahme erhalten. Der Hintergrund wird als gelb überliefert. Leo A. Lensing vermutet, daß Kokoschka Karl Kraus aus seiner neuesten Publikation „Die chinesische Mauer” (Juli 1909) lesen gesehen haben könnte, in der die Farbe gelb die Hintergrundfolie bildete: „Der Mund der Welt steht offen und aus den Augen starrt die Ahnung, daß sich das Größte begeben hat. Ringsum ist alles gelb." Lensing weist darauf hin, daß auch noch Edith Hoffmann (London 1947) die vorherrschende Farbe in dem Portrait ein „vivid yellow” nenne und J. P. Hodin dem „aufregenden Gelb“ einen symbolischen Eigenwert zuschreibe.

Kokoschka erinnert sich an das erste Portrait von Karl Kraus als eines seiner frühesten: „Das Portrait von Karl Kraus, dem Herausgeber der in Wien gefürchteten Zeitschrift Die Fackel, war nicht seine Entlarvung, wie die Kritik sagte, sondern die der Wiener Gesellschaft, in der seine Schriften und Vorträge wie Vitriolattentate im Lande der Phäaken wirkten.”

In der Internationalen Kunstschau 1909, der Nachfolgeausstellung der Kunstschau 1908, sah Kokoschka, wie er behauptet, wie auch Loos und Kraus zum erstenmal, daß es moderne Malerei gab und er empfindet sie in der Rückschau als Beginn einer Laufbahn, die er nicht voraussehen habe können.

Loos erbot sich dazu, die Bilder, die die Portraitierten nicht käuflich erwerben wollten, selber zu erwerben oder an Museen oder andere Interessenten weiterzuverkaufen. (Er soll in kurzer Zeit nach und nach 29 Portraits besessen haben). Dabei deutet er selbst an, daß es unerträglich sei, Kokoschkas Portraits in der Wohnung hängen zu haben, ja daß Kritiker, die Kokoschka ablehnen, vielleicht die sensibelsten Menschen seien. Nur die Zeichnungen seien erträglich.

Alice Strobl stellt in ihrer erhellenden Arbeit über die frühen Zeichnungen Kokoschkas anhand des Œuvrekatalogs von Johann Winkler und Katharina Erling fest, daß er deshalb die zeichnerische Produktion vernachlässigen mußte, da er bis Februar 1910 nicht weniger als 33 Gemälde (31 Bildnisse, ein Stilleben und eine Landschaft) auszuführen hatte. Neben diesen Portraits in Öl seien nur zwei selbständige Bildniszeichnungen entstanden, jene von Adolf Loos und Karl Kraus (Abb. 2). Beide können nicht als Vorzeichnungen gelten. „Das gänzliche Fehlen von Bildnisstudien, die sich unmittelbar auf die Anlage eines Gemäldes beziehen, läßt darauf schließen, daß Kokoschka die Vorzeichnung unmittelbar auf die Leinwand setzte” (was durch Erica Tietze-Conrat eindeutig bezeugt wird). „Der Vergleich des Gemäldes mit der Bildniszeichnung von Karl Kraus zeigt, daß es sich hierbei um zwei völlig getrennte künstlerische Bereiche handelt.” […]

Werner J. Schweiger publizierte 1983 die Kritiken der Wiener Hagenbundausstellung 1911, in der Kokoschka wie in der Kunstschau 1908 das auffallendste und anstößigste Phänomen war. Unter diesen sei die von tiefem Verständnis zeugende Kritik Hans Tietzes erwähnt, von der er später schreibt, daß sie ihn zum Schriftsteller moderner Kunst werden ließ. Anhand des Portraits Janikowsky versucht er zu zeigen, was Kokoschka will:

Abb. 3 Karl Kraus am Vorlesetisch, um 1921, Photographie,
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.
„Aber zuerst versuchen Sie einmal dem Portrait v. J. eine Minute lang in die Augen zu schauen, versuchen Sie sich dem Grauen zu entziehen, das aus diesem glanzlosen Blick eines zerstörten Intellekts spricht, der fürchterlichen Anklage gegen Gott und die Welt zu entrinnen, die Ihnen entgegentönt. Wenn Sie dann noch sagen können, daß es Kokoschka nicht bitter ernst mit seiner Kunst ist ..." Vor allem aber scheint Tietze von den Portraits Karl Kraus und Adolf Loos fasziniert gewesen zu sein: „In anderen Bildnissen ist dieselbe schonungslose Schärfe in den Dienst eines erstaunlichen psychologischen Scharfblicks gestellt. Vergleicht man die nebeneinander hängenden Bilder [Kraus und Loos] so versteht man diese Absicht, eine seelische Eigenschaft als die beherrschende herauszuhören, ihr alle anderen zu unterwerfen und von der körperlichen Erscheinung nur das Wesentliche festzuhalten. Bei dem einen Bild die kalten ganz nach außen schauenden Blicke des unerbittlichen Intellekts, bei dem anderen die einwärts blickenden, fanatischen Augen des Künstlers.”

Ganz anders äußert sich der „Kollege“ und etablierte Kunsthistoriker Josef Strzygowski: „Mit diesen Koko-Strahlen seiner Psyche durchleuchtet er auch die Personen, die das Unglück haben, unter seinen Pinsel zu geraten. Welcher faule Geruch geht von dem Bilde der Frau Dr. L. Fr. aus! Welch ekelhafte Pestbeule präsentiert uns der Maler in diesem Karl Kraus! Peter Altenberg und Adolf Loos samt Frau sind Waisenknaben gegen die Abgründe geheimer Laster, die Kokoschka in diesen beiden Portraits visionär zu öffnen versteht ..."

Die oben erwähnte Lotte Franzos hat sich auch über die mangelnde Ähnlichkeit ihres Portraits beklagt, wurde aber durch einen Brief Oskar Kokoschkas besänftigt: "... Ihr Gesichtsportrait hat Sie gerissen, das habe ich gesehen. Glauben Sie, daß der Mensch, so wie er mich beeinflußt, beim Hals aufhört? Haare, Hände, Kleid, Bewegungen sind mir mindestens so wichtig. Bitte, gnädige Frau, das wirklich ernst zu nehmen, gerade in dem Fall, sonst hat das Bild flecken, die es zerfressen. Ich male keine anatomischen Präparate, oder ich nehme es zurück und verbrenne es.“ Die Dargestellte zählt zu den wenigen, die ihr Bild behielten. Es ist ganz auf den Kontrast Gelb-Blau aufgebaut und eine der einfühlsamsten und zartesten Frauendarstellungen Kokoschkas überhaupt, ähnlich wie die von Erica Tietze-Conrat.

Besonders beleidigend und unwissend gibt sich Arthur Rössler in der Wiener Arbeiter-Zeitung: „Um eines Trumpfes sicher zu sein, luden die Jüngsten Oskar Kokoschka zu Gaste. Er kam und füllte zwei Säle mit seinen aus einer Brühe von molkigem Eiter, Blutgerinnsel und salbig verdicktem Schweiß gezogenen Lemuren ..."

Geradezu aggressiv wird Karl Schreder im Deutschen Volksblatt, Wien: „Wenn sie uns künstlerische Keulenschläge versetzen, müssen wir endlich einmal kräftig zurückhauen, und zwar unnachsichtlich. In erster Linie sollen die Schläge auf Kokoschka niederprasseln, denn er ist der entsetzlichste von allen. Er macht „Portraits", darunter solche stadtbekannter Persönlichkeiten. Wie aus Tollhäusern oder aus mephitischen Grüften emporgestiegen, erscheinen diese grauenvollen Bildnisse, deren Antlitze entweder die Entstellungen zerstörender Krankheiten oder eines zersetzenden Verwesungsprozesses zu tragen scheinen. Und wie grausig sind nur die durchwegs verkrüppelten Hände, teils angeschwollen, teils halb verfault, als hätte die Lepra ihre entsetzlichen Verwüstungen begonnen. u.v.a.m."

Abb. 4 Karl Kraus im Alter von etwa vier Jahren,
um 1878, Photographie,
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.
Dagegen erscheinen in der Fackel würdigende, profunde Arbeiten von Ludwig Erik Tesar (der sich scharf gegen Strzygowski wendet, den er ironisch als „Kunstprofessor" seinen Katheder auf dem Franzensring verlassen und sich in die Redaktionsstube auf dem Schottenring begeben läßt) und von einem der besten Freunde von Karl Kraus, dem Kunsthistoriker Franz Grüner.

Kraus selber, der sich oft photographieren ließ (Abb. 3) und die Photos zur spöttischen Häme seiner Feinde als (Reklame-)Postkarten verbreitete bzw. verteilte und verschenkte, hatte offenbar auch Probleme mit der Ähnlichkeit, war aber, wohl durch Loosens Begeisterung für die Intention des Künstlers, anfangs durchaus positiv gestimmt. Am 23. September 1909 schreibt Kraus an Herwarth Walden, den Berliner Herausgeber des „Sturm", der wichtigsten expressionistischen Zeitschrift in Deutschland, daß Peter Altenberg endgültig explodieren würde, wenn er höre, daß Oskar Kokoschka ihn male, und am 27. September: „Ich werde jetzt von Kokoschka gemalt, ich glaube, die Sache wird ganz bedeutend" und bereits am 11. Oktober: „Seit gestern hängt bei mir das Kokoschka-Portrait.”

Kokoschka berichtet in seiner Autobiographie: „lch malte Karl Kraus in seiner Wohnung. Seine Augen funkelten fiebrig hinter der Nachtlampe. Er wirkte jugendlich, verschanzt hinter seinen großen Augengläsern wie hinter einem schwarzen Vorhang, lebhaft mit den nervösen, feinknochigen Händen gestikulierend.” Diese Erinnerung paßt eigentlich besser auf die kurz nachher entstandene Rohrfederzeichnung (Abb. 2) als auf das zerstörte Gemälde und vor allem die Darstellung mit Brillen und mit den nervös gestikulierenden Händen betrifft, was bei des Malers blühender Erinnerung nicht weiter verwundert.

Im Juni 1910 war das Portrait im Salon Cassirer in Berlin zum erstenmal ausgestellt und wurde, wie die ganze Ausstellung, kaum beachtet, ausser naturgemäß im eigenen Organ. Else Lasker-Schüler, die erste Frau Herwarth Waldens, die Karl Kraus als einzige Frau als Dichterin gelten ließ (hauptsächlich wegen des ihm gewidmeten Gedichtes vom Tibetteppich, das er öfters erwähnt) und deren Kunstkritiken er außerdem schätzte, schreibt im Sturm über das erste Kraus-Portrait: „Das Gerippe der männlichen Hand ist ein zeitloses Blatt, seine gewaltige Blume ist des Dalai Lamas Haupt.“

Kurt Hiller, Kunstkritiker im „Sturm" erwähnt das Portrait ebenfalls: „Auch Karl Kraus schaut mich an; er sitzt ruhig und gefährlich, mit schmaler, intellektueller Hand und spitzem Mündchen und unglaublichen Aquamarin-Augen; der Stoff des zu zerspottenden Universums strömt auf ihn ein; er sitzt zierlich und amüsiert-lächelnd da, irgendwie von hinten still auf dem Sprung; aber um sein Haupt tanzen blitzgelbe Tupfen."

Das Foto des zerstörten Portraits (Abb. 1) zeigt einen jüngeren, scheuen, eher verletzlichen Menschen, wie ihn die Frauen schildern, denen er ein einfühlsamer Zuhörer und Vertrauter war. Der wesentlich jüngere Kokoschka hat offenbar den privaten, freundlichen Jüngling gesehen, den Dichter. Erica Tietze-Conrat erinnert sich in ihrer Autobiographie, wie sie Arnold Schönberg und Alexander von Zemlinsky, die gesellschaftlich in der Familie Conrat verkehrten, einsetzte, um Karl Kraus kennenzulernen:

Abb. 5 Karl Kraus mit Schwester, um 1882, Photographie,
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.
„Sie stellten die Vermittlung her und eines Nachmittags kam Karl Kraus zu uns. Ich empfing ihn allein ... Karl Kraus war etwa acht Jahre älter als ich, aber ein so schüchterner Mensch, daß er mir gleichaltrig erschien. Er hatte auch Stowasser als Lehrer gehabt und wir fanden sogleich Berührungspunkte. Es entwickelte sich daraus eine Freundschaft, die eigentlich bis zu meiner Verheiratung dauerte." Leo A. Lensing, der sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen Kokoschka und Karl Kraus auseinandergesetzt hat, vermutet, daß Karl Kraus nicht einseitig nur Kokoschka beeinflußt habe, sondern daß Karl Kraus die Begegnung mit seinem Selbst, „wie es Kokoschka in den beiden ersten Bildnissen dargestellt hat, zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit der künstlerischen Eigenart des Malers" veranlaßt habe. In der Fackel erschienen jedoch Aphorismen von Karl Kraus, die die anfängliche Zustimmung mehr und mehr abschwächen und trotz ihrer gesuchten und offenbar freudig gefundenen Wortspiele wie „erkennen-kennen” u. ä. nicht so sehr das Interesse an der künstlerischen Eigenart des Malers als viel mehr das Unbehagen an dieser durchblicken lassen: „Kokoschka hat ein Portrait von mir gemacht. Schon möglich, daß mich die nicht erkennen werden, die mich kennen. Aber sicher werden mich die erkennen, die mich nicht kennen." Er scheint sich selber, wie fast jeder und jede Portraitierte, anders gesehen zu haben, vor allem wahrscheinlich bedeutender, dämonischer, weniger jugendlich. „Der rechte Portraitmaler benützt sein Modell nicht anders, als der schlechte Portraitmaler die Photographie seines Modells. Eine kleine Hilfe braucht man."

Ob Kraus die Ähnlichkeit mit seinem Jugendphoto aufgefallen ist, kann nicht entschieden werden, aber möglich wäre es. „Oskar Kokoschka malt unähnlich. Man hat keines seiner Portraits erkannt, aber sämtliche Originale." „An einem wahren Portrait muß man erkennen, welchen Maler es vorstellt." Später in der Fackel 360, 1912, 23: „Oskar Kokoschka malt bis ins dritte und vierte Geschlecht. Er macht Fleisch zum Gallert, er verhilft dort, wo Gemüt ist, dem Schlangendreck zu seinem Rechte.” Die Ambivalenz dem Maler und der Malerei gegenüber scheint bereits ins Pejorative zu tendieren. Am auffallendsten am Kraus-Portrait sind die Jugendlichkeit und die Hände. Beides „stimmt" aber auf bemerkenswerte Weise. Kokoschka selbst stellt die Jugendlichkeit ebenso fest wie Erica Tietze-Conrat.

Kokoschka scheint darauf auch ganz besonderen Wert gelegt zu haben. Er schreibt selber, wie erwähnt, daß er den Dichter in seiner Wohnung portraitiert habe. Dort kann er, hinter dem Schreibtisch im Arbeitszimmer, die Kinderphotos von Kraus und seiner Schwester gesehen haben, wie sie auf dem Photo der Wohnung aus dem Jahre 1936 zu sehen sind. Die Wohnung zeigt sehr schön den, bei aller Originalität und Unabhängigkeit in moralischen und gesellschaftlichen Fragen soliden großbürgerlich-konservativen Geschmack der Gründerzeit. Das Photo des Vierjährigen im Oval (Abb. 4) bringt schon die charakteristische, eigenartige Mundstellung, und im Photo mit der Schwester (Abb. 5) ist die Ähnlichkeit mit der Kokoschka-Darstellung frappant: der Blick, die Augenstellung, ganz im Gegensatz zur Beschreibung des Malers als hinter dunklen Brillen verschwindend, ganz klar und hell (Hillers Aquamarinblau suggerierend) und vollends die Hände!

Abb. 6 Oskar Kokoschka, Karin Michaelis, 1911,
Feder in Tusche, Deckweiß auf Papier, 36 x 23 cm,
 Museum Stiftung Oskar Reinhart, Winterthur.
Diese unwahrscheinliche, skelettartige, hängende Hand, wie sie befremdlich empfunden wurde, resultiert ganz natürlich aus der Stellung des Ellenbogens auf der Schulter der sitzenden Schwester, wodurch die Hand locker senkrecht herunterhängt, wobei sie noch „expressionistisch" knochig verlängert wird; sogar die rechte hat dem Maler als Vorbild gedient, rund und kindlich. Offenbar wollte der Maler die Zwiespältigkeit im Wesen dieses sanften Jünglings und Satirikers durch den Gegensatz des Kindlichen der Form und der unerhörten Aggressivität der Farbigkeit - in kräftigem Gelb - ausdrücken. Schick macht eindrücklich auf diese Ambivalenz im Wesen von Kraus aufmerksam. „Im persönlichen Umgang zog er die Unmittelbarkeit vor und hatte nie Allüren des großen Mannes (vertrug aber keine Respektlosigkeit). Er, der immer Sätze voll Antithesen schrieb, die zum Nachdenken zwangen, war im Gespräch liebenswürdig, einfach und immer bemüht, dem Partner das Verstehen zu erleichtem. Er lachte immer darüber, wenn Leute, die seine Bekanntschaft machten, enttäuscht waren, daß er keine Fackelsätze spräche.“

Die damals sehr berühmte dänische Schriftstellerin Karin Michaelis schildert ihr erstes Erlebnis einer Karl Kraus-Lesung am 6. November 1911. Sie hatte gerade „Das gefährliche Alter" geschrieben und mit diesem ihrem Buch über die erotische Krise der Frau von 40 Jahren einen Welterfolg errungen. Josef Strzygowski nennt sie in der zitierten Hagenbund-Kritik verächtlich im gleichen Atem mit den von ihm gleichfalls zutiefst verabscheuten Schönberg, Richard Strauß und Strindberg. Nicht einmal diese vier Protagonisten seien fähig, die Charakteristik einer ekeligen Psyche so wie Kokoschka der Zeit als Spiegel vor Augen zu halten.

Kokoschka, immer auf der Suche nach Berühmtheiten, hat sie im Hause der Familie Schwarzwald, einem der wichtigsten Wiener Schnittpunkte zwischen Pädagogik, Literatur, Musik und Architektur, bildender Kunst und sozialer Fürsorge, alles in allem das Vorbild des Hauses Tuzzi in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, aufgestöbert und sehr zu ihrem Mißvergnügen kurz vor der Abreise (1911) portraitiert (Abb. 6): „lch packte und er zeichnete. Wenn ich mich bückte, kroch er auf dem Fußboden herum, um das Gesicht nicht aus den Augen zu verlieren! Das Bild war in zwanzig Minuten fertig — aber was für ein Bild! Drei Monate Gefängnis wären nicht zuviel gewesen für die Schädigung an gutem Namen und Ruf, die er an mir dadurch verursachte. Die Zeichnung wurde nämlich im Sturm publiziert ... ich befreundete mich mit Kokoschka, konnte ihm aber schwer das Sturm-Verbrechen verzeihen, nicht zum mindesten‚ weil er dauernd behauptete, mein inneres Gesicht sei glänzend getroffen.” Nun die beeindruckende Schilderung ihres ersten Kraus-Erlebnises: „Fast tausend Hörer strömten herbei, um zweieinhalb Stunden dem nervösen Stakkato einer einzigen Stimme zu folgen ... Der Saal ist bis zum letzten Platz voll. Die Jugend hat ihn gefüllt. Eine gährende, schöne Jugend. Nie habe ich auf einem Fleck so viele herrliche Jünglingsgesichter und so viele dunkelglühende fanatisch hingerissene junge Frauen gesehen Alle Lichter sind verlöscht. Nur da oben auf dem grünbekleideten Tisch leuchten zwei vereinzelte Kerzen. Sie funkeln unheimlich. Nun kommt Kraus. Jung (!) mit langen unbeherrschten Gliedern, scheu wie eine Fledermaus eilt er an den Tisch, verschanzt sich bang hinter ihm, kreuzt die Beine, streicht sich über die Stirn, putzt sich die Nase, sammelt sich wie ein Raubtier zum Sprunge, lauscht, wartet, öffnet den Mund wie zum Biß, klappt ihn wieder zu, wartet ...

Abb. 7 Oskar Kokoschka, Karl Kraus II, 1912,
Schwarze Kreide auf Papier, 45,2 x 30 cm, Privatbesitz.
Ein unendlich sanftes, unendlich trauriges Lächeln bebt über sein Gesicht. Eine flüchtige, vornehme, scheue Freude schmilzt alle Strenge in diesem jungen, geistvollen, verbitterten Antlitz. Seine nervösen Hände fahren über die mitgebrachten Arbeiten. Er fängt an, hart, nachdrücklich, energisch, bezwingend, durch Überzeugung bezwingend. Hätte er chinesisch oder persisch gesprochen, man wäre mit der gleichen Spannung gefolgt. Seine eigene innere Glut wirkt wie der Funke der vorbeirasenden Lokomotive auf die sommerdürre Prärie umher: alles flammt auf, während er spricht. Aber mit Beängstigung begriff ich, daß alle diese jungen Seelen viel mehr von Kraus als von seinem tiefen, selbstverzehrenden Zorn ergriffen waren. Waren sie zu jung? Oder waren sie zu sehr Wiener?" […]

Noch in Berlin 1928 staunt der damals begeisterte Kraus-Anhänger Elias Canetti über die Liebenswürdigkeit des Satirikers: „Ich war erdrückt von der Vorstellung, am Tisch eines Gottes zu sitzen Er war ganz anders, als ich ihn von den Vorlesungen her kannte. Er schleuderte keine Blitze, er verdammte niemand ... Wie ungezwungen er lächeln konnte, mir war zumute als ob er sich verstelle. Von unzähligen Rollen, in denen ich ihn gehört hatte, wußte ich, wie leicht es ihm fiel, sich zu verstellen, doch war die, in der ich ihn jetzt erlebte, die eine, die ich nie erwartet hätte, und er hielt sie durch, während einer Stunde oder länger blieb sie dieselbe. Ich erwartete Ungeheures von ihm, und es kamen Artigkeiten. Jeden am Tische behandelte er mit Zartgefühl — aber mit Liebe, als wäre er sein Sohn, behandelte er Brecht, das junge Genie — sein erwählter Sohn.” […]

Der Vergleich mit den Photos verdeutlicht den merkwürdigen Blick Kokoschkas, der nicht das gleichzeitige Aussehen, sondern das Charakteristische eines Lebewesens erfaßte, das in der Jugend oder im Alter besonders deutlich zum Ausdruck kommen kann — die meisten Portraitierten wie etwa die Tietzes wachsen allmählich in das Portrait hinein. Karl Kraus zeigt als Knabe als Charakteristikum die Sanftheit des Lyrikers am deutlichsten, die Kokoschka wohl inspiriert durch das Kinderphoto als Vision aus der Leinwand heraustauchen sah und für das erste Kraus-Portrait und vielleicht noch für die zweite Zeichnung festhalten konnte (Abb. 7). […]

Ganz anders ist Karl Kraus auf den meisten Photos „getroffen", die er offiziell verbreiten ließ, von denen er eines — das im Jahr 1908 von Madame d‘ Ora aufgenommene — wohl dem Maler Max Oppenheimer zur Verfügung gestellt hatte, der ihn 1908, ein Jahr vor Kokoschka, gemalt hat. Konventionell und bis zur disziplinierten Haltung seiner Hände dem Photo entsprechend, scheint es Kokoschka in seiner Ansicht recht zu geben, daß Mopp, wie Oppenheimer sich nannte, erst durch sein, Kokoschkas, Beispiel, „modern" zu malen, begonnen habe und ihn unverschämt nachahme, was seine Freunde Loos, Kraus, Walden, Else Lasker-Schüler usw. bewog, Mopp grausam zu verfolgen, was in der Fackel und im Sturm Niederschlag fand.

1903/04 hatte Walden in seinem „Verein für Kunst“ Vortragsabende und Konzerte zu organisieren begonnen. Er scheint großen, respektfordernden Eindruck, besonders was Kunsturteile betraf, auf Adolf Loos, Karl Kraus und Kokoschka gemacht zu haben. Er war Musiker gewesen, bevor er sich der Malerei der Avantgarde und der Zeitschrift des Expressionismus „Der Sturm” widmete. […] Herwarth Walden war seit 1909 in enger Verbindung mit Kraus und Loos. Kraus hielt im Jänner 1910 drei Lesungen in Berlin, Walden wurde im Februar 1910 von Loos in Wien mit Kokoschka und seinen Zeichnungen bekanntgemacht (Abb. 8). Die erste Nummer des Sturm erschien am 3. März 1910 und brachte schon damals Beiträge von Kraus und Loos. Im Sturm konnte Walden noch nicht eingeführte Literatur und die Kunstrichtungen vertreten, die als Expressionismus, Futurismus, Kubismus etc. seiner Propaganda bedurften.

Abb. 8 Oskar Kokoschka, Herwarth Walden, 1910,
Feder in Tusche auf Papier, 28,8 x 22,5 cm,
 Harvard University Art Museum.
Dabei war Kraus eigentlich ein dezidierter Gegner aller dieser Modernismen, als Klassiker geradezu ein Antimodernist, besonders was die Sprache betraf: „Ich bin nur einer von den Epigonen,/ die in dem alten Haus der Sprache wohnen ...". Deshalb funktionierte die Zusammenarbeit nicht lange. lm Bezug auf die Malerei und im Speziellen auf Kokoschka ließ er sich noch etwas länger von Adolf Loos beeinflussen. Dieser hatte schon im Oktober 1909 an Walden geschrieben: „Maler Oskar Kokoschka will in Berlin eine Ausstellung veranstalten, ich bürge für einen sensationellen Erfolg. Wäre bei Cassirer Platz? Kommen Sie nach Wien? Können Sie sich hier ein paar Tage aufhalten, damit Ihr Portrait auch in die Kollektion kommt?“ Kokoschka hingegen fragte bei Walden an, ob Cassirer wohl sehe, daß seine Sachen die besten auf der Welt seien. Kokoschka, der 1910 engster Sturm-Mitarbeiter in Berlin war und auch bei Walden gewohnt hat, erlebte trotz der vielen Zeichnungen, die erstmals im Sturm gedruckt erschienen, ein Hungerjahr, da auch Walden, außer einer kleinen Subvention von Karl Kraus, kein Geld hatte.

Noch in Wien hatte er die genannte Rohrfederzeichnung von Kraus angefertigt (Abb. 2), nach Alice Strobl Ende Oktober, Anfang November 1909, mit reich bewegten Strukturen und ständig wechselnder Strichbreite. Die auffallend expressive Gestaltung der Hände des „Vorlesers" mit zarter Brille und etwas verhaltenem Gesichtsausdruck wie vor dem Losbruch, lassen an Kokoschkas Schilderung der nächtlichen Portraitsitzungen denken. ln ihrer Expressivität ist sie deutlich auf die Verwendung im Sturm zugeschnitten. Als Kokoschka sie an Walden schickte, fügte Karl Kraus seinem Brief als Postskriptum die positivste Bemerkung hinzu, die er — wohlgemerkt im Beisein des Künstlers — sich abringen konnte: „Ein Meisterwerk“.

Noch einmal hat sich Kraus zumindest teilweise positiv über Kokoschka als Maler geäußert: „lch bin stolz auf das Zeugnis eines Kokoschka, weil die Wahrheit des entstellenden Genies über der Anatomie steht und weil vor der Kunst die Wirklichkeit nur eine optische Täuschung ist.“ (Fackel 374, 1913, 32)

Im Juli 1912 hatte Kokoschka eine zweite Portraitzeichnung, die wie die erste ein völlig selbständiges Werk darstellt und nicht als Vorzeichnung für ein Portrait gelten kann, vollendet (Abb. 7). Sie gilt in der Kokoschka-Forschung als Höhepunkt der Simultandarstellung, die er zu dieser Zeit zur Anwendung brachte, angeregt wohl durch romanische Fresken, beispielsweise die Profil-En face Darstellungen der Zuschauer in der Prokulus-Szene in Naturns, die er noch für das Selbstportrait-Plakat von 1923 verwendet hat. […]

Am 1. April 1916 berichtet Kraus voll Abscheu, daß Karin Michaelis, die er als neutrale Allerweltsfreundin apostrophiert, Kokoschka in verschiedene Häuser in Wien einführe: „Das Ganze beruht auf der bekannten Idee, Krieg, Spitalspflege und Maleraufträge zu verknüpfen. Diese letzten dürften kaum gefördert werden, aber wer zum ,Gesellschaftsmaler' zu gut ist, ist leider nicht zu gut, um auf Jours herumgereicht zu werden. Mir ist das alles grenzenlos zuwider, und es ist mir ganz rätselhaft, wie der gute Loos so andächtig meinen Forderungen lauschen und so unbefangen das Gegentheil thun kann.“

Abb. 9 Oskar Kokoschka, Karl Kraus II, 1925, Öl auf Leinwand, 65 x 100 cm,
Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien.
Was sich hier ankündigt, die ethische Verdammung des Malers, sollte in noch viel schärferer Form über den Dichter Kokoschka kommen. Am 29./ 30. 5. 1916 folgt der Bericht über die endgültige Verurteilung des schon durch das Gedicht Allos Makar (anders als glücklich, in anagrammatischer Umstellung der Namen Alma und Oskar) unliebsam aufgefallenen Delinquenten. Nach dem Bericht einiger Schmeicheleien, die ihm Loos kolportiert habe, kommt der Zornausbruch in merkwürdiger, der Harmlosigkeit des Anlasses inadäquat anmutender Heftigkeit: „aber mich selbst können sie nicht soweit blenden, daß ich von den Gedichten des Kokoschka, die jetzt in einer Zeitschrift erschienen sind, etwas hielte. Loos — es war zum Sterben — zeigte mir diese Gedichte, dazu Zeichnungen. Von diesen verstehe ich jedoch nichts, glaube aber, daß sie ein Irrthum des Loos sind, der sie übrigens zum Theil selbst preisgab. Aber von dem, was man mit der Sprache erleben oder nicht erleben kann, davon weiß ich etwas. Loos versucht, mich zur Anerkennung dieser Verse zu bringen. Es stellt sich heraus, daß er kein Wort davon versteht, sich alle möglichen Erklärungen hineinschreiben ließ, die er wieder nicht versteht. Noch wankt er nicht. Da beweise ich ihm Satz für Satz, Wort für Wort, Beistrich für Beistrich, daß er den ja nicht unsympathischen Mangel, sich nicht handwerkerlich geschickt ausdrücken zu können, für ein schöpferisches Merkmal gehalten hat. Daß es der lächerlichste Dilettantismus ist und nur dort, wo es verständlich wird, lyrischer GemeinpIatz‚ ganz banales‚ tausendmal vorhandenes Zeug. Plötzlich gehen dem guten Loos, den sicher das schlechte Gehör so vieles überschätzen läßt, die Augen über und er stimmt mir so sehr zu, daß er mich bittet, alles dem Kokoschka zu sagen, wozu ich mich natürlich bereit erklärte. Ich bewies ihm, daß er die Unbewußtheit des künstlerischen Schöpfers, der natürlich von dem weisesten Plan behütet ist, mit den Bewußtseinsstörungen des Kokoschka verwechselt hat ... Er freute sich ordentlich, daß ihm die Illusion genommen sei, daß ich sie nun auch dem Kokoschka selbst nehmen wolle, und gab zu, daß er mit seiner Propaganda das Heraufkommen des ärgsten Mistes verschulde und diesen beglaubige ..."

Es sei die „nackte Sprachschande". Am 31./1. VI. 1916 berichtet er weiter. „Heute brachte Loos den Kokoschka und die Gedichte. Ich sagte ihm alles mit der äußersten Schärfe und nahm ihm das Versprechen ab, so etwas nicht mehr zu thun. Gieng es Wort für Wort mit ihm durch, dichtete es um, und der lauschende Loos mußte erfahren, daß alles, was ihm gefallen hatte, entweder wertlos oder Druckfehler waren! Alle Einwände aber imponierten dem Dichter sehr.“ Ein Brief allerdings des so behandelten armen Dichters an Albert Ehrenstein vom 13. 6. 1916 zeigt die — zumindest vorübergehende — Wirkung: „Mein lieber alter Ehrensteindoktor ... Ich bin neugierig, wann der Zeitpunkt eintritt, da ich an Leib und Seele ganz bankrott sein werde. K. Kraus hat mein Gedicht furchtbar verrissen und mir entschieden vorn Dichten abgeraten ..." Kraus forderte, daß Sidonie Nadherny die Gedichte und Zeichnungen selber begutachten müsse, da ja über die prinzipielle Möglichkeit der Portraitierung beschlossen werden solle. Ein Kokoschka-Portrait von Sidonie de Nadherny scheitert offenbar an Karl Kraus’ Widerstand.

Umso seltsamer mutet es an, daß sich Karl Kraus 1925, offenbar als Ersatz für das nie zurückgestellte erste Portrait, von Adolf Loos überreden ließ, noch einmal für ein Portrait zu sitzen, noch dazu seltsamerweise entgegen Kokoschkas Gewohnheit im Heim des Künstlers im Liebhartstal bei Wien (Abb. 9).

Abb. 10 Oskar Kokoschka: Ein Selbstbildnis des Künstlers ohne Haare
 für "Der Sturm".
Oskar Kokoschka berichtet in seiner Autobiographie (1971): „Er (Kraus) hat sich meiner Mutter gegenüber außerordentlich liebenswürdig entschuldigt, als fremder Eindringling zu stören ... Bei der letzten Sitzung — vielleicht eine Woche lang war er jeden Tag mit Loos in einem Fiaker zu uns hinausgefahren — war der Stuhl zusammengebrochen‚ weil er mit Loos zu heftig diskutierte. Ich notierte dies auf der Rückseite des Gemäldes mit den Worten: ‚Pro domo et mundo' (Titel der Aphorismensammlung von Kraus in der die früher in der Fackel erschienenen 5 Kokoschka-Aphorismen zusammengefaßt waren). ‚Der Sessel, auf dem Karl Kraus für das Bild gesessen ist, ist nach der letzten Sitzung zusammengefallen am 7. Feb. 25 und mußte der Tischler gerufen werden. Aus dem Schiffbruch der Welt jener, die mit Brettern oder Barrikaden vor der Stirn geboren sind, hast Du eine Planke zu einem Schreibtisch geborgen. OK’ Das hat ihm gut gefallen." Oskar Kokoschka erinnert sich: „Seine Stimme war schneidend. Loos, dessen Gehör damals schon schlechter geworden war, verstand jedes Wort. Kraus‘ Wesen war vollkommen zwingend. Im Sprung wie eine Wildkatze eines der roten Fackelhefte ergreifend, riß er einen Satz heraus wie ein Stück Fleisch, um Loos von der Treffsicherheit des Ausdrucks zu überzeugen. Beide vergaßen, daß ich malte ..." Der Diskutierende, der Vorleser ist ganz offensichtlich in aller „Lebendigkeit” dargestellt, das rote Fackelheft zwischen den gestikulierenden Händen. Die Stimmung ist nächtlich, Gesicht und Hände bleich mit violetten und weißen Höhungen, der Ausdruck des Gesichtes von tiefer Melancholie überzogen, der Saturn-geborene Künstler ist gemeint, das Vergänglichkeitssymbol des Schmetterlings wie von Pisanello im Portrait der Ginevra d’ Este beschwörend, jedoch bei der trüben Beleuchtung der Nachtlampe, wie er selber es im neunten Band der Worte in Versen (1930) imaginiert, wohl der Mahnung Kierkegaards bewußt: „Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur ausdrücken, daß sie untergeht" […]

Scheinbar hat Kokoschka die Ablehnung von Karl Kraus unterschätzt oder nie so ernst genommen, da er ihm von Angesicht zu Angesicht wieder freundlich begegnete. Dabei wäre Kraus sogar einverstanden gewesen, seinen bösen Verriß des Dramatikers Kokoschka über sein Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen" in der Zeitschrift Tribunal 1920 zu veröffentlichen. Er war gebeten worden, Kokoschka gegen eine schlechte Kritik seines Dramas „Hiob" in der Frankfurter Zeitung zu verteidigen, was das ungebrochene Vertrauen Kokoschkas beweist, trotz der Verachtung, die Kraus seiner Dichtung entgegengebracht hatte. Als Verlag der Schriften von Karl Kraus antwortet Kraus selbst: „Darum möchte er [Kraus] Ihnen, ob Sie nun seine Ansicht veröffentlichen wollen oder nicht, keineswegs verhehlen, daß er den Dramatiker Kokoschka zwar nicht aus dem Drama Hiob, wohl aber aus dem Schauspiel Mörder, Hoffnung der Frauen kennt und dieses, wie die ihm bekannten Verse des Dichters für einen Schmarren hält und zwar so ziemlich für den sprachlich untiefsten, den der neue Dilettantismus hervorgebracht hat. Sie mögen aber überzeugt sein, daß diese Meinung an seinen persönlichen Sympathien für Herrn Kokoschka nichts zu ändern vermocht hat, wenngleich sie ihm die Identität des Dichters mit dem gleichnamigen Maler, von dem er zwar nichts versteht, dessen hohe Anerkennung durch Fachleute ihm aber einleuchtet, zu einem psychologischen Rätsel macht. […]" Diese Stellungnahme wurde natürlich nicht gedruckt und Kokoschka hat wohl nie den Wortlaut erfahren, ebensowenig wie die Ablehnung von Karl Kraus, etwas über die Malerei Kokoschkas zu publizieren.

Abb. 11 Oskar Kokoschka mit kahlrasiertem Kopf,
Wien 1909, Fotographie von Wenzel Weiss.
In einer Anfrage an die „Portraitierten" für den Katalog einer Kokoschka-Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle, die der renommierte Direktor Gustav Hartlaub 1931 veranstaltete, sollte die Frage beantwortet werden „Was Ihnen Kokoschka bedeutet". Karl Kraus schreibt, wieder als Verlag nach hartnäckigem Drängen Hartlaubs zurück: „Herr Karl Kraus würde, selbst wenn er zu einer Äußerung über Dinge der bildenden Kunst befugt wäre, es grundsätzlich ablehnen, ein Urteil auf Wunsch zu formulieren und sich an der Beantwortung einer Rundfrage zu beteiligen." Auf Hartlaubs Anfrage nach einer Möglichkeit der Vermittlung an Hans Tietze antwortet dieser: „Kraus antwortet niemals, ich weiß nicht, was man da machen könnte.”

Karl Kraus hat offenbar endgültig sein Urteil über den Maler dem über den Dichter angeglichen. Noch vor seiner Bekanntschaft mit Loos hatte er sich ja schon gegen die Fakultätsbilder von Gustav Klimt und besonders dessen Frauendarstellungen ausgesprochen — während Befürworter Klimts wie der Kraus-Gegner Felix Salten die „schöne jüdische Jourdame" in der wunderbar zarten verführerischen erotischen aber grausamen „Judith" preist, in der Nike Wagner und neuerdings zahlreiche Journalisten die junge Adele Bloch-Bauer vermuten, deren Züge Klimt verwendet zu haben scheint. Nike Wagner sieht Karl Kraus schon von Anfang an der Moderne wenig geneigt: „Im allgemeinen ist Kraus Anmerkungen zum Secessionsgeschehen zu entnehmen, daß die malerische Moderne ihm genauso wenig zusagte wie die literarische.” So steht er auch Herwarth Walden von Anfang an skeptisch gegenüber und auch Adolf Loos, mit dem er in der grundsätzlichen Haltung zu ethischen Fragen zutiefst übereinstimmt, traut er im Bezug auf die Begeisterung für den Expressionismus kein gültiges Urteil zu. Auch Gerald Stieg erwähnt diese Entwicklung: „Obwohl Kraus zu den Entdeckern und Förderern der expressionistischen Literatur und Malerei (z.B. Kokoschka) zählte, distanzierte er sich später aus formalen und ideologischen Gründen völlig von der ‚Literaturrevolution'. Er ironisierte in der Attitude des poetischen Schulmeisters die Form- und Zuchtlosigkeit der neuen, expressionistischen Dichterschule /in der Fackel 18, 544-545, 20-21/, er zweifelte aber auch das Ethos und Pathos der revolutionären Menschheitsverbrüderungspose an.“

In einigen guten Aufnahmen von J. Scherb ist die Wohnung von Karl Kraus zur Zeit seines Todes in verschiedenen Ansichten erhalten. Neben beiden Zeichnungen Kokoschkas (Reproduktionen) sind einige Aufnahmen von Portraits zu sehen (Janikowski, Karl Kraus I, Loos) und vor allem unzählige Fotos, mehrere als Kind, mit Familie und Freunden usw. Die vielen Photos, die Rahmen der Großphotos, die offensichtlich zeitgemäßer empfunden wurden als Ölgemälde, die Luster, Möbel, Stoffe, Vorhänge zeigen das Ambiente eines anspruchslosen Schreibtischarbeiters, der an der „Kunst" gar nicht interessiert ist, weil er sie nicht braucht, weder um sich auszuzeichnen noch um sich abzuheben, diese Funktionen erfüllte ausreichend die Fackel. So erscheint die Affaire Kokoschka als Mißverständnis, dem aber vier der interessantesten Portraits des Meisters zu verdanken sind.

Quelle: Almut Krapf-Weiler: Ein Mensch ist kein Stilleben. Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. 12. Jahrgang, Heft 1/2006. ISNN 1025-2223. Seite 46 bis 65 (gekürzt).


Und es hat noch mehr alte Musik in der Kammermusikkammer:

La Frottola - eine fast vergessene Kunstgattung des 15. und 16. Jh. | Das Fest des Fleisches: Rubens und Helene Fourment.

Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob.


Das Lochamer Liederbuch (Nürnberg, 1452) | Pablo Picasso: Die Frau mit dem Haarnetz (La femme à la résille), 1949.

Sumer is icumen in (England, 13./14. Jahrhundert) | Otto Pächt: Zur deutschen Bildauffassung der Spätgotik und Renaissance.

Giovanni Legrenzi: Sonate a due e tre Opus 2 (Venedig 1655) | Max Rychner: Vom deutschen Roman. Illustriert von den Präraffaeliten.

Marc-Antoine Charpentier: Leçons de Ténèbres du Jeudy Sainct | Vom Doppeladler zum Bindenschild. Eine Lektion in Heraldik.



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