Ihr Nachfolger Otto Gerdes zeichnete im Oktober 1966 für die Aufnahme von Ernst Blochs »Schelomo« im Berliner UFA-Studio verantwortlich. Er führte die von Elsa Schiller maßgeblich begründete Repertoirepolitik fort, die auch darauf ausgerichtet war, mit Hilfe der Schallplatte unbekanntere Werke einem breiten Publikum vertraut zu machen.
Die mit Fournier produzierten Cello-Werke waren - und sind - ziemlich selten im Konzertsaal zu hören - einmal abgesehen von Blochs mittlerweile recht populärem »Shelomo«. Vor dem Krieg wurde französische Musik kaum in Deutschland gespielt und Lalos und Saint-Saëns' Cellokonzerte entdeckte man erst in den fünfziger Jahren wieder neu. Ebenso zählte der sieben Jahre vor der Aufnahme verstorbene Bloch zu den Komponisten, die dem Publikum noch nicht vertraut waren. Diese Auswahl von Stücken war mutig und zeigt, daß die Deutsche Grammophon nicht allein wirtschaftlichen Interessen folgte, sondern auch ihre kulturelle Verantwortung ernst nahm, indem sie sich für eine Erweiterung der Hörgewohnheiten einsetzte und einen Beitrag leistete, nationale Grenzen sowie die Vorurteile gegen moderne Musik zu überwinden.
Mit Pierre Fournier hatte Elsa Schiller einen der bedeutendsten Cellisten der Generation nach Pablo Casals verpflichtet. Fournier wuchs in einer musikliebenden Familie auf; auch sein Bruder wurde ein bekannter Musiker. Pierre Fournier lernte zunächst Klavier, mußte aber wegen einer beginnenden Kinderlähmung das Instrument wechseln und wandte sich dem Cello zu. Bereits mit 13 Jahren wurde er in das Pariser Konservatorium aufgenommen. Er beendete sein Studium mit dem Ersten Preis. In der folgenden Zeit schlug er sich als Musiker in Paris durch, spielte zu Stummfilmen, in Musikpavillons und war Mitglied eines Ensembles, dem auch Arthur Honegger als Schlagzeuger angehörte. Doch schon 1928, er war damals erst 22 Jahre alt, begann seine internationale Karriere. Er trat unter den bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit in ganz Europa auf und setzte sich engagiert für moderne Musik ein. 1943 übernahm er von Pablo Casals den Cellopart im Trio mit Thibaud und Cortot, und ab 1947 spielte er Kammermusik mit Szigeti, Primrose und Schnabel.
Pierre Fournier in jüngeren Jahren |
Fournier wird bei den Konzerten von Lalo, Saint-Saëns und Bruchs »Kol Nidrei« vom Orchester Lamoureux unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Jean Martinon begleitet. Martinon gehört derselben Generation wie Fournier an. Er begann als Violinist und Komponist, debütierte bei Aufführungen seiner eigenen Werke als Dirigent und setzte sich in seiner nach dem Krieg beginnenden Dirigentenkarriere für zeitgenössische, insbesondere französische Musik ein. Er war zunächst Kapellmeister in Bordeaux, dirigierte die Londoner Philharmoniker und wurde von 1950-1957 Chef der Concerts Lamoureux. Zur Zeit der Einspielungen mit Fournier war er Generalmusikdirektor in Düsseldorf. Das Zusammenwirken von Fournier und Martinon ermöglichte eine stilistisch authentische Interpretation französischer Musik. Da in unserer Zeit immer mehr die Besonderheiten der Orchester und nationalen Stile vom internationalen Musikbetrieb eingeebnet werden, ist diese Aufnahme ein wertvolles Dokument für französische Interpretationskunst. Hier kann die Musik von Lalo und Saint-Saëns noch in einer Tradition gehört werden, die direkt auf die Komponisten der beiden Werke zurückgeht.
Blochs »Shelomo« wurde mit den Berliner Philharmonikern eingespielt. Alfred Wallenstein dirigierte als einfühlsamer Partner, der selbst mit dem Cello bestens vertraut war: Vor seiner Dirigentenkarriere war er einer der bedeutendsten amerikanischen Cellisten. So entstand eine Aufnahme, in der Solopart und Orchester von größter Homogenität geprägt sind.
Quelle: Franzpeter Messmer, im Booklet
TRACKLIST Pierre Fournier, Violoncello EDOUARD LALO (1823-1892) Konzert für Violoncello und Orchester d-moll [27'05] Concerto far Cello and Orchestra in D minor Concerto pour violoncelle et archestre en ré mineur (1) 1. Prelude. Lento - Allegro maestoso - Tempo I [13'11] (2) 2. Intermezzo. Andantino con motto - Allegro presto - [6'31] Andantino (Tempo I) - Allegro presto (3) 3. Introduction. Andante - Allegro vivace [7'23] CAMILLE SAINT-SAËNS (1835-1921) Konzert für Violoncello und Orchester No. 1 a-moll op. 33 [19'20] in A minor - en la mineur (4) 1. Allegro non troppo - Animato - Allegro molto - Tempo 1 [5'49] (5) 2. Allegretto con moto [5'58] (6) 3. Tempo I - Un peu moins vite - Più allegro comme le premier [7'33] mouvement - Molto allegro MAX BRUCH (1838-1920) (7) Kol Nidrei op. 47 [10'30] Adagio nach hebräischen Melodien für Violoncello und Orchester Adagio on Hebrew Melodies for Cello and Orchestra Adagio sur des mélodies hébraïques pour violoncelle et orchestre Adagio ma non troppo - Un poco più animato ERNST BLOCH (1880-1959) (9) »Schelomo« [21'56] Hebräische Rhapsodie für Violoncello und Orchester Hebrew Rhapsodie for Cello and Orchestra Rhapsodie hébraïque pour violoncelle et orchestre Lento moderato - Andante moderato - Allegro moderato - Allegro - Andante moderato TT: [79'14] PIERRE FOURNIER, Violoncello Orchestre Lamoureux, Paris - Berliner Philharmoniker (Bloch) JEAN MARTINON - ALFRED WALLENSTEIN (Bloch) LP released/veröffentlicht/paru 1961 Recording/Aufnahme/Enregistrement: Paris, Salle de la Mutualité, 5/1960 LP released/veröffentlicht/paru 1967 (Bloch) Recording/Aufnahme/Enregistrement: Berlin, Ufa-Studio, 10/1966 Executive Producer: Prof. Elsa Schiller, Otto Gerdes (Bloch) Recording Producer: Hans Ritter, Wolfgang Lohse (Bloch) Tonmeister (Balance Engineer): Harald Baudis, Klaus Scheibe (Bloch) (P) 1961/1967 © 1999
Ein Sieger ehrt den geschlagenen Feind
Diego Velazquez: Die Übergabe von Breda, 1635
Diego Velázquez: Die Übergabe von Breda oder: die Lanzen. 1635, Öl auf Leinwand, 307 x 367 cm, Museo Nacional del Prado, Madrid. |
Das Datum: 5. Juni 1625. Uhrzeit: zehn Uhr morgens. Der Kommandant der niederländischen Festung Breda übergibt dem siegreichen Feldherrn der Spanier den Schlüssel der Stadt.
Spanien war damals das »Land, in dem die Sonne nicht untergeht«, mit Besitzungen in Amerika, in Italien, in Burgund; die ganze Iberische Halbinsel gehörte dazu, einschließlich Portugals. Auch die Niederlande zählten zum spanischen Großreich; aber nur der katholische Süden hielt zum König in Madrid, der protestantische Norden rebellierte. Breda liegt an der Grenze zwischen beiden Teilen. Den Spaniern galt es als »Bollwerk Flanderns« und »Asyl der Verschwörer« .
Schon 60 Jahre zuvor hatten die Kämpfe in den Niederlanden begonnen; damals schickte Philipp II. den Herzog von Alba, um mit Blut und Folter die spanische Oberherrschaft zu sichern. Philipp III. vereinbarte einen Waffenstillstand. Philipp IV. besteigt 1621 als 16jähriger den Thron und will im Norden eine Entscheidung. Sein Oberbefehlshaber in den Niederlanden, Ambrogio Spinola, erobert Jülich. Dann will der König Breda. Sein Kriegsrat warnt: Eine Belagerung wird teuer und bringt wenig, militärisch gesehen. Der inzwischen 19jährige Herrscher aber schickt Spinola ein Billett, auf dem steht: »Nehmt Breda!« Unterschrift: »Ich, der König.«
Zwölf Monate lang belagert Spinola die zur Festung ausgebaute Stadt. Zwei Entlastungsangriffe niederländischer Truppen schlägt er zurück. Sein eigenes Heer wird durch Seuchen dezimiert. Aus abgefangenen Briefen erfährt er, daß unter den Eingeschlossenen Hungersnot herrscht; sie müssen sich ergeben. Am 2. Juni wird die Kapitulation unterschrieben. Am 5. Juni zieht die Besatzung ab. Zehn Tage dauert es dann noch, bis die Nachricht von der Übergabe in Madrid eintrifft; in allen Kirchen der Stadt wird das Tedeum angestimmt.
Spinola gewährt den Niederländern ganz außergewöhnlich ehrenhafte Kapitulationsbedingungen: Der Gouverneur und alle Offiziere und Soldaten »sollen - wie es tapferen Kriegsleuten gebührt - ausziehen mit ihrem vollen Gewehr und in guter Ordnung; das Fußvolk mit fliegenden Fahnen und Trommelschlag, Kugel im Munde (in der Muskete), mit brennenden Lunten (also kampfbereit); die Reiterei mit fliegenden Kornetten, Trompetenschall, bewaffnet und beritten wie im Feldzug«. Weiter steht in den Bedingungen, daß der Gouverneur seine Möbel mitnehmen darf und den Bewohnern Amnestie gewährt wird. Am 5. Juni erwartet Spinola vor der Stadt seinen Gegner, er »begrüßte und umarmte den Kommandanten von Nassau mit freundlichem Blick und rühmte mit noch freundlicheren Worten die Tapferkeit und die Standhaftigkeit der Verteidigung«. So steht es in einem Bericht, gedruckt 1629 in Antwerpen.
Daß gerade die Form der Übergabe die Spanier begeisterte, dafür gibt es zwei Belege - ein Schauspiel Calderóns und as Bild von Velázquez. Calderón de la Barca war damals 25 Jahre alt, sein Stück wurde 1625, also noch im Jahr der Übergabe, uraufgeführt und heißt »Die Belagerung von Breda«. In langen, kunstvollen Dialogen feiert der Dichter die Begegnung der beiden Truppenführer: »Die Tapferkeit des Besiegten ist des Siegers Ehre«, sagt der Bühnen-Spinola. Und Velázquez? Er malt nicht, wie die spanischen Truppen die Entsatzheere zurückschlagen oder in die Stadt einrücken; er malt nicht, wie das Pferd, das Spinola gerade reitet, von einer Kugel getroffen wird; er läßt auch die Festungsstadt fort (sie liegt links außerhalb des Bildes). Velázquez zeigt, wie zwei Menschen einander gegenübertreten. Der eine beugt sein Knie, der andere legt ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Ein ganz unkriegerische Szene inmitten von Waffen und Soldaten.
Krieg - ein Schachspiel mit Soldaten
Der Sieg von Breda wurde nicht durch Tapferkeit errungen, sondern durch Berechnung und Ausdauer. Vorbei war die Geusenzeit, in der die Niederländer sich in schnellen Kommando-Unternehmen mit List und Grausamkeit gegen die Spanier durchsetzten. Jetzt herrscht Stellungskrieg. Die Auseinandersetzungen ähneln einem Schachspiel. Mit vorsichtigen Zügen werden Truppenteile hin- und hergeschoben; jeder versucht, den Gegner in Positionen zu drängen, in denen er ihn mattsetzen kann.
Meister dieser wissenschaftlichen Art der Kriegsführung war bei den Niederländern Moritz von Oranien. Er hatte Breda, wohl wissend, in welch exponierter Lage sich die Stadt befand, zu einer Musterfestung ausgebaut. Kommandant der Festung ist der 66jährige Justin von Nassau. Ihm gegenüber kein Spanier, sondern ein Genuese, Ambrogio Spinola. Ein Asket, ein Mann mit kühlem Kopf und selbstverleugnender Einsatzbereitschaft. Khevenhüller, der österreichische Gesandte in Madrid, schreibt: »Mit dem Ingenieur Giovanni de' Medici hat er (Spinola) sich oftmals viele Stunden eingesperrt und ihre Rechnung, was die Belagerung koste, was für Zeit draufgehe, was für Kriegsbereitschaft vonnöten sein würde, gemacht, und alle Akzidentien, so einfallen möchten, ausgesonnen ...«
Spinola mußte einen Zweifrontenkrieg wagen, einen gegen die Besatzung der Stadt, einen gegen Entsatztruppen von außen. Um sich zu schützen, läßt er zwei Schutzwälle oder Verhaue fast um die ganze Stadt herum bauen. Im Hintergrund seines Gemäldes hat Velázquez sie abgebildet. Fünf Stunden brauchte man, um diesen doppelten Befestigungsring abzuschreiten. Zwischen den Wällen lagerte die spanische Armee. Als zusätzlichen Schutz hat Spinola Teile der Wiesen überschwemmen lassen. Auch das hat Velázquez angedeutet. Die Jungen neben dem Pferd dürften Kadetten sein, die in Breda auf einer Kriegsakademie ihr Handwerk lernen sollten. Sie kamen dorthin, heißt es, aus dem gesamten protestantischen Europa.
Der hohe Einsatz von Geld, von Gold, die Bindung der Streitmacht vor Breda, brachte, wie von den Kriegsräten vorhergesagt, den Spaniern keinen kriegsentscheidenden Vorteil; aber die Erwägung, ob ein Einsatz finanziell oder militärisch gerechtfertigt sei, war für Monarchen des 16. und 17. Jahrhunderts nie allein ausschlaggebend. Sie verstanden sich als Kämpfer der Kirche. Die Staaten der iberischen Halbinsel waren zusammengewachsen bei der Vertreibung des Islams; dieses Erbe wirkte nach. Statt der Ungläubigen wurden jetzt die Protestanten bekämpft. Schlimm genug, wenn sie im Reich selber saßen, in den durch Erbschaft an Spanien gefallenen niederländischen Provinzen. Kein König konnte sie dulden. Religionsfreiheit - undenkbar. Ein Monarch in Madrid, der sein Erbe ernst nahm, war durch Religion und Tradition gezwungen, gegen die vom katholischen Glauben Abgefallenen zu kämpfen. Egal, ob mit Aussicht auf Erfolg oder ohne.
Dem Sieger ziemt Gleichmut
Spinola stammt aus einer Genueser Kaufmannsfamilie und wurde vom spanischen König zum Marqués de los Balbases erhoben: Das war eine hohe Ehre, verliehen wegen der großen militärischen Verdienste und vielleicht auch deshalb, weil Spinola eine besondere Tugend verkörperte, die in Spanien viel galt: Sosiego.
Man könnte Sosiego mit »Gleichmut« übersetzen. Es heißt nicht zufällig von Spinola, daß dieser alle Belagerungsstrapazen »mit heiterem Gleichmut« ertragen habe. Die Eigenschaft Sosiego erinnert uns heute an die Haltung der antiken Stoiker. Nach deren Lehren wird die Welt von einer göttlichen Urkraft durchströmt. Alles, was geschieht, ist von oben gewollt und damit richtig. Der Mensch muß sein Geschick ohne Protest ertragen. Gleichmütig muß er es hinnehmen.
Calderon greift diesen Gedanken in seinem Breda-Schauspiel auf: Er läßt Justin von Nassau bei der Übergabe vom Schmerz des Augenblicks sprechen, daß die Niederlage ein Werk des Schicksals sei, das auch die stolzesten Staaten in den Staub werfen könne.
Im spanischen Sosiego steckt aber nicht nur Gleichmut, sondern durchaus auch Überlegenheitsgefühl. Die Spanier empfinden sich als mächtigste Nation Europas: Sie haben die Mauren von der Iberischen Halbinsel vertrieben und damit den Islam aus Westeuropa; sie haben Amerika »christianisiert«, ein großer Teil Europas gehört ihnen.
Die glorreiche Tradition und die (vermeintliche) Fülle von Macht machen es ihnen - und ihren Feldherren - leicht, einem Gegner großmütig zu verzeihen. Am Ende kann er ihnen ja doch nicht schaden, denn Spanien ist groß und kämpft für die einzig wahre, die christliche Religion. Der Staat befindet sich also im Einklang mit der »göttlichen Urkraft«.
Spanier wollen nicht mehr kämpfen
In Spanien heißt das Bild volkstümlich »Las Lanzas« - Lanzen beherrschen fast ein Viertel der Malfläche. Jahrhundertelang waren sie Symbol militärischer Stärke. Feuerwaffen spielten zur Zeit der Belagerung von Breda noch keine große Rolle. Die Niederländer benutzten die kürzeren Spieße. In dicht aufgeschlossenen viereckigen Formationen von mehreren hundert Lanzenträgern marschierte die spanische Infanterie ihren Feinden entgegen. Calderón vergleicht die Lanzenformation mit Ährenfeldern. Ein Franzose beschreibt sie als wandernde Türme, die Löcher im Mauerwerk sogleich wieder schließen können. Schon ihr Anblick verbreitete Furcht.
Unter Philipp II., dem Großvater des 1625 regierenden Königs, waren die spanischen Soldaten berühmt für ihre Disziplin. Als Paradebeispiel dieser militärischen Zucht galten die genau senkrecht und parallel gehaltenen Lanzen. Velázquez malt keine Parade, und die Glanzzeit dieser spanischen Disziplin ist lange vorbei. Nicht alle Lanzen stehen senkrecht. Nur noch Abenteurer und verfolgte Verbrecher lassen sich in Spanien anwerben. Ein großer Teil des Heeres besteht aus ausländischen Söldnern. Sie kämpfen mal auf dieser, mal auf jener Seite; der Sold ist überall gering, die Hoffnung auf Beute ist groß. Nach einem Feldzug werden die Landsknechte entlassen und bilden als herumziehende Marodeure eine Plage für die ländliche Bevölkerung. Während des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648) ist Mitteleuropa voll von stellungslosen Söldnern auf der Suche nach einem neuen Hauptmann. Den Nicht-Entlassenen geht es oft noch schlechter. 1629, also vier Jahre nach dem Triumph von Breda, erhält der spanische Hof einen Brief aus Flandern: »Die Soldaten sterben vor Hunger«, heißt es darin, »sie gehen halb nackt von Tür zu Tür und betteln um Almosen. Wir sind an einem äußersten Punkt von Elend.«
Velázquez malt die Lanzenträger fast gesichtslos. Im Unterschied zu den Offizieren, die der Zeremonie zuschauen, haben sie die Hüte auf dem Kopf behalten. Vielleicht beobachten sie den Auszug der niederländischen Besatzung im Hintergrund. Sie dürften darüber verbittert gewesen sein, daß sie ihre Gegner nicht haben ausplündern dürfen. Für die Sosiego-Geste im Vordergrund fehlt ihnen das Interesse. Sie entspricht nicht ihrer Realität, nicht ihren Bedürfnissen.
In Spinolas Gefolge befinden sich Italiener, Deutsche und vielleicht auch Flamen, kaum ein richtiger Spanier ist dabei. Die spanischen Adligen kämpfen nicht mehr. Sie jubeln mit dem König über dessen kriegerische Erfolge, richten ihm und sich üppige Siegesfeste aus, ziehen aber selbst nicht mehr ins Feld. Schon lange nicht mehr. Der König belegt diejenigen, die sich weigern, ins Feld zu ziehen, mit Sonderabgaben, aber ohne Erfolg. Die Adligen zahlen lieber und bleiben dafür zu Hause und genießen ihr Leben. In ihren Köpfen stellt sich Spanien immer noch als das größte und mächtigste Reich der Erde dar, und die Zugehörigkeit zu diesem Reich entbindet sie von jeder weiteren Verpflichtung. Wenn einige von ihnen überhaupt eine Stellung akzeptieren, dann die eines Gouverneurs in Südamerika, denn von dort kommt jeder reich zurück. In Europa ist wenig zu gewinnen.
Als Velázquez neun oder zehn Jahre nach dem Sieg von Breda im Auftrag des Königs die Belagerung malen sollte, fand er sich in einer schwierigen Situation. Weder hatten spektakuläre Kämpfe stattgefunden, noch hatten sich spanische Einheiten des Heeres besonders hervorgetan. Die Soldaten mußten sich in erster Linie gegen Hunger, Kälte und Krankheit wehren. Der Feldherr war kein geborener Spanier; die Kommandeure stammten meist auch nicht von der Iberischen Halbinsel, und die Strategie hatte Spinola mit italienischen Experten ausgeklügelt. Was also blieb? Sosiego - diese Haltung, die in Spanien so besonders geschätzt wurde und von der man deshalb annahm, daß sie typisch spanisch sei. Mit der Realität dieses Belagerungsfeldzuges hatte sie wenig zu tun.
Selbstbewußt im Bild: der Künstler
Der Soldat rechts am Bildrand ähnelt dem Maler; viele Kunsthistoriker halten den Kopf für ein Selbstbildnis. Bei der Übergabe von Breda war er nicht dabei. Velázquez hat das militärisch-landschaftliche Panorama wahrscheinlich nach einem Stich von Jacques Callot angelegt. Spinola lernte er bei einer Reise nach Italien kennen. Justin von Nassau kannte er nicht, der niederländische Kommandant sah mit seinen 66 Jahren wohl auch älter aus als der Mann auf dem Bild.
Velázquez malte die Übergabe für ein neuerbautes Lustschloß des Königs. Das war 1634 oder 1635, also neun oder zehn Jahre nach dem historischen Ereignis. Einer der Haupträume des neuen Schlosses war der Salón de Reinos, der Saal der Reiche. Hier wurden in zwölf großen Gemälden die militärischen Taten Spaniens unter Philipp IV. gefeiert. Die besten Maler Spaniens arbeiteten im Wettstreit. Ins Mythische überhöht wurde die Siegesserie durch die berühmten zwölf Heldentaten des Herakles, des muskelstarken Zeus-Sohnes. Sie wurden von Francisco de Zurbarán (1598 bis 1664) gemalt.
Welch ein Kontrast: Ein König, der seine Soldaten nicht mehr bezahlen kann - auch Spinola ist inzwischen auf einem italienischen Feldzug aus Geldmangel gescheitert und gestorben -, ein König, dessen Land wirtschaftlich ruiniert und nicht mehr verteidigungsfähig ist, errichtet sich ein Lustschloß mit Ruhmeshalle. Ein Kontrast, typisch für Spanien in dieser Zeit. Der Niedergang einerseits, andererseits eine kulturelle Blüte; Madrid wird zum künstlerischen Mittelpunkt Europas. Velázquez, Murillo und Zurbarán malen hier gleichzeitig, aus der vorangegangenen Generation auch noch El Greco. In der Literatur, auf dem Theater: Lope de Vega, Calderón de la Barca, Tirso de Molina, auch noch Cervantes.
Die Kraft literarischer Schöpfungen wird mitunter auch daran deutlich, ob Gestalten die Literatur verlassen und volkstümlich werden, wie zum Beispiel Don Juan oder Don Quixote. Beide stammen aus dieser Zeit. Cervantes veröffentlichte seinen Don-Quixote-Roman zwischen 1605 und 1615, Tirso de Molinas Don-Juan-Drama wurde etwa 1624 uraufgeführt. Beide Gestalten sind mit dieser Epoche spanischer Geschichte eng verbunden: Don Juan als der Adlige, der sich allen sozialen Normen und Pflichten entzieht, nur seinem Verführungs- und Vergnügungstrieb folgt. Ein Mann, der nie für ein katholisches Spanien ins Feld gezogen wäre. Don Quixote als Träumer, dessen Kopf voll ist von alter spanischer Ritter-Herrlichkeit, der die Realität nicht erkennt und gegen Windmühlenflügel ficht.
Beide Figuren haben Wichtiges gemeinsam mit dem Feldherrn Spinola, so wie Velázquez ihn darstellt. Sie verkörpern Sosiego, jeder auf seine Weise. Und sie offenbaren etwas von dieser Verachtung der Realität, die zum Sosiego dazugehört. Mit heroischem Gleichmut erträgt Don Quixote im Kampf für die alten Ritter-Tugenden alle seine Niederlagen. Mit großer Geste lädt Don Juan den steinernen Gast zu Tisch, der ihm den Tod bringen wird; ohne Reue fährt er zur Hölle. Und Spinola - wie einen Freund richtet er seinen Gegner auf und läßt seinen Feinden all jene Waffen, die diese dann weiter gegen die Spanier einsetzen werden.
Quelle: Rose-Marie und Rainer Hagen: Bildbefragungen. Alte Meister im Detail. Taschen, Köln 1994, ISBN 3-8228-9611-X, Seite 86 bis 91
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