Warum die Empörung? Liszt war und ist kein deutscher Komponist. Wenn das schon politisch zutrifft (als Untertan gehörte er zur Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn), so erst recht stilistisch. Franz Liszt wurde von der französischen Romantik geformt, die grelle Kontraste, dramatische Überhöhungen und eine gehörige Portion Pathetik mit Eleganz, Erotik und Parfüm des Pariser Salons zu verbinden wußte. Keinesfalls aber darf man Liszt mit der Elle der Wiener Klassik messen. Wenn er schon eine Sonate schreibt, dann kann man sich darauf verlassen, daß es eine echte Überraschung wird - und dank seiner Genialität ein Vorstoß in absolutes Neuland. Unerhört schon der Gedanke, die üblichen vier Sätze in einen einzigen zu verdichten (wie dann auch bei seinem 2. Klavierkonzert) und sämtliche sechs (!) Themen aus einem Kernmotiv (das düstere Unisono-Motto des Anfangs) heraus zu entwickeln.
Franz Liszt, um 1860 (Fotograpie von Franz Hanfstaengl)
Diese Monothematik hat einen gewissen Vorläufer in der "idée fixe" des mit Liszt befreundeten Berlioz; und aufgreifen werden die Technik der Themenmetamorphose später Cesar Franck und Alexander Skrjabin. Liszt wußte, daß er hier seinen "Speer in die Zukunft" geschleudert hatte: "Ich kann mit wenigen Bausteinen ein musikalisches Gebäude errichten ... Andere benötigen dazu das lOOOfache Material. Ich sage, daß es in Zukunft weniger Baustoffe geben wird und daß man ein guter Meister sein muß, um damit zurechtzukommen. Nicht in der Verschwendung liegt das Wesentliche, sondern in der Einschränkung auf das Wesentlichste. Eine Idee muß vorhanden sein, nicht eine Ballung von Pseudoideen." Das zupackende Hauptthema der Exposition kann als Symbol für Energie schlechthin gelten, ein hämmerndes Teilmotiv gewinnt zunehmend dramaturgisches Gewicht.
Liszt hatte sechs Jahre zuvor das Konzertleben aufgegeben, weil es für ihn nur noch Wiederholung und Routine bedeutete: Jetzt wollte er zum Wesentlichen vordringen und Bleibendes schaffen. So ließ er sich in Weimar als Hofkapellmeister nieder und widmete seine besten Jahre dem Komponieren und dem Dirigieren. Intensiv beschäftigte er sich mit dem Orchester, mit Literatur, schrieb selbst Musikbücher und setzte sich für die Goethe-Pflege ein. Hinter dem grandiosen Klanggemälde der h-Moll-Sonate darf man in der Tat eine faustische Konzeption vermuten: durch Kämpfe und Anfechtungen hindurch vermag sich die Persönlichkeit zu behaupten und zu innerem Frieden zu gelangen. Der Zielzustand - gelöste, befreite Ruhe nach siegreicher Aktivität wird durch das kantable Seitenthema, das zentral gestellte inbrünstige Fis-Dur-Andante und die Coda repräsentiert. Von besonderer harmonischer Eleganz ist die Schlußkadenz.
Die Sonate wurde 1857 in Berlin durch Hans von Bülow uraufgeführt: auf dem ersten Flügel der bald weltberühmten Firma Bechstein.
Liszts Manuskript einer Seite aus seiner Klaviersonate Die Noten sind (im Rahmen der IMSLP) hier frei erhältlich. - Prof. Dr. Tibor Szász hat einige grundlegende Analysen des Werks verfasst.
Bénédiction de Dieu dans la solitude
Als Kind schon hatte Liszt, ausgelaugt durch die frühe Überbeanspruchung, ins Kloster gehen wollen. Periodisch kehrt diese Weltmüdigkeit, dieses Verlangen nach Abgeschiedenheit wieder. Als er des Tourneelebens "in Saus und Braus", wie er selbst formulierte, allmählich überdrüssig wurde, versenkte er sich in die Geheimnisse des Glaubens und schuf eigentümliche Meditationsstücke, die etwa auf Messiaen ein Jahrhundert später vorausweisen. Die zehn Harmonies poétiques et religieuses entstanden 1845-52 und enthalten neben liturgischen Bearbeitungen an dritter Stelle die Bénédiction de Dieu dans la solitude (Gottessegen in der Einsamkeit). Schlicht der Gesang, gleichförmig die Bewegung, diatonisch die Harmonik, klar und unkompliziert die Umkleidung der Melodie.
Zwei Konzertetüden
Im Jahre 1863 schrieb Liszt für die seinerzeit bekannte "Klavierschule" von Lebert und Stark zwei Konzertetüden, beides Bewegungsstudien von eleganter und farbiger Eigenart. Waldesrauschen ist ein subtiles Klangbild, dessen ausgefeilter Satz jedes ähnliche Genrestück der Zeitgenossen verblassen läßt. Im Gnomenreigen führt der Titel etwas in die Irre: denn hier tanzen Elfen, keine Kobolde, und man vermeint Mendelssohn zu hören.
Jean-Pierre Dantan (* 1800 Paris, + 1869 Baden-Baden): Liszt spielt Klavier, 1836, Gips, 21 cm hoch, Musée Carnavalet, Paris (Mehr über Dantan weiß die französische Wikipedia)
Vallée d'Obermann
Die schöne, kluge Gräfin Marie d'Agoult, Liszts erste Lebensgefährtin und Mutter seiner Kinder, hatte seinetwegen ihre Familie und die Pariser Gesellschaft aufgegeben, um ihm nach Genf zu folgen. Mit ihr unternahm er nun ausgedehnte Reisen durch die Schweiz und Italien, deren Eindrücke er in einer Art klingenden Tagebüchern festhielt. Zuerst entstand ein Album d'un voyageur, das fast ausnahmslos aus Schweizer Impressionen besteht. Diese finden sich dann überarbeitet in einem dreiteiligen Großzyklus wieder, den klingenden Tagebüchern Années de pèlerinage. Der "Erste Jahrgang. Schweiz" enthält neben der Kapelle des Wilhelm Tell ein weiteres literarisch assoziiertes Landschaftsgemälde: Das Vallee d'Obermann (Obermann-Tal), nach dem Helden eines empfindsamen zeitgenössischen Briefromans von Étienne de Senancour.
Quelle: Christoph Rueger, im Booklet
TRACKLIST FRANZ LISZT 1811-1886 Sonata in B minor si mineur - h-Moll 01 I Lento assai - Allegro energico - 3.19 02 II Grandioso - Recitativo - 9.26 03 III Andante sostenuto - 8.21 04 IV Allegro energico 11.09 Bénédiction de Dieu dans la solitude No.3 from Harmonies poétiques et religieuses 05 I Moderato - 8.08 06 II Andante - 2.19 07 III Più sostenuto quasi preludio - 8.40 Tempo I - Andante semplice Zwei Konzertetüden 08 Waldesrauschen 4.37 09 Gnomenreigen 3.14 10 Vallee d'Obermann 15.03 from Années de pelerinage. Première année: Suisse Total Timing 74.36 CLAUDIO ARRAU, piano Recording locations: Detmold, Germany, March 1969 (Vallee d'Obermann); Johannesstift, Berlin, March 1970 (Sonata, Béné diction, Concert Studies) (C) 2001 ADD
Claudio Arrau (1903-1991)
Claudio Arrau: Ernst war seine Kunst.
Ernst war seine Kunst. Spielte Arrau, so gab er zu denken. Ein Scherzo von Chopin, eine Ballade von Brahms - die Musik schien zu wachsen, sich selbst zu befragen. Er war nicht ein Begleiter, niemals. Aber die Aufgaben des Interpreten sollten zur Sache gehen, alles andere blieb Gefälligkeit oder Blendung. Im Alter trat eine vornehme Form von Starrsinn hinzu; ein Zögern vor jedem Ton. Der Puls stockte, die Höhepunkte wollten erkämpft, sogar erlitten sein. Dennoch wirkte dies aufregend, oft wie ein «work in progress» - bekannte Themen klangen neu, ein Stück wie Beethovens «Appassionata» hatte wieder Absicht und Kraft. Daraus war zu lernen, dass ein schöpferisches Musizieren immer Gegenwart schafft, unabhängig vom Kanon, von der Tradition.
Der Tradition blieb Arrau auf andere Weise treu. Sein Herz schlug anfangs für die selbstbewusste Pianistik des 19. Jahrhunderts. Martin Krause, der noch bei Liszt studiert hatte, unterrichtete ihn in Berlin. Damals, zur Zeit des Ersten Weltkriegs, galt Arrau als Wunderkind. Aus dem Geist der Romantik zu phrasieren - «organisch» und mit sprechender Intensität -, fiel dem Eleven nicht schwer. Schwierigstes meisterte er souverän, das Repertoire liess wenig beiseite. Der gebürtige Chilene und Sohn einer Klavierlehrerin erwarb sich schnell Wissen, Bildung, ein stupendes Gedächtnis. Als Arrau dann 1935 Bachs gesamtes Klavierwerk öffentlich aufführte - sicherlich mit unbeirrter Sorgfalt und philologischer Genauigkeit -, war er bereits ein Meister.
Der junge Maestro liebte auch die Brillanz. Frühe Schallplatten weisen Stücke vor, deren virtuose Allüre für sich selber spricht. Arrau bot Liszts «Rhapsodie espagnole» mit Ausdauer und Beweglichkeit; Busonis «Carmen-Fantasie» mit Witz und Hintersinn; Balakirews Konzertfantasie «Islamey» mit eleganter Schattierungskunst. Alfred Cortot, der Arrau 1927 anlässlich des Genfer Musikwettbewerbs hörte, war beeindruckt. «Voilà un pianiste.» Damit, nämlich mit der Rolle des glänzenden Virtuosen, hätte Arrau fortan gut leben können. Doch zog es ihn zum Höheren: zu Schumanns poetischen Innenwelten, zu den Klavierkonzerten von Brahms; besonders zu Beethoven. Nicht vor allem als Pianist wollte Arrau verblüffen, sondern als Deuter und Gestalter überzeugen.
Arrau an seinem Arbeitsplatz - Außer dem hier wiederveröffentlichten Artikel aus der NZZ fand ich im Web noch einen Spiegeltext aus dem Jahre 1965 (Nr. 15/1965 07.04.1965: "Es ist Wahnsinn"), einen Text bei Tutila, sowie Nachrufe anläßlich seines Todes (Die Zeit bzw. Der Spiegel). Ein privater Enthusiast betreibt das ArrauHouse, "the most reliable and thorough educational website about classical pianist Claudio Arrau."
Der Text wurde ihm heilig. Für die Schrift entwickelte er ein niemals nachlassendes Gewissen. Die Noten sind nicht alles - sie geben die Idee des Werks, noch nicht dessen Wirklichkeit. Aber davon ist für alles Weitere auszugehen. Der soignierte Herr, der seit den fünfziger und sechziger Jahren die Podien betrat, war kein «Romantiker» mehr. Er verkörperte, auf der Seite des Spielers, die Wahrheit. Allerdings; unter Arraus Obhut begannen die Sonaten von Beethoven, die Konzerte von Chopin, die Präludien von Debussy ihre feinsten Nuancen zu erörtern. Doch das war nicht nur richtig, korrekt, mit der Lupe gelesen; es war auf zwingende Weise verbindlich. Seriöser und beteiligter spielte damals kein anderer Klavier.
Arraus Dramaturgie war unverwechselbar. Sie nahm einerseits «alles» wahr - Stimmen, Nebenstimmen, Vorschläge, Pausen; die Dynamik und den Rhythmus; die Charaktere, die Einfälle. Anderseits wusste sie zu gewichten. Gegen die lineare Zeit, gegen das dauernde Verschwinden der Musik zeigte sie Handlung, schärfte sie Höhen und Tiefen. Den langsamen Satz von Beethovens viertem Klavierkonzert begann Arrau im schlichten Klagegesang; doch das chromatische Auf und Ab der linken Hand über der langen Trillerfigur riss er wie einen Ausruf des Erschreckens in die lyrische Textur. Kein Wunder, dass die junge Martha Argerich davon folgenreich ergriffen war.
Scharniere, Gelenkstellen der Musik bildete Arrau in seinen reifen Jahren mit Nachdruck, in seiner späten Zeit mit äusserster Sorge hervor. Chopins Nocturnes, die ihn früher auf ruhige Weise begeistert hatten, wurden ihm schliesslich zu Gebilden einer stockenden, pessimistischen Sprache. Die Balladen des jungen Brahms gab er so herb und vielstimmig, als hätte sie ein alt gewordener Melancholiker komponiert. Und für das Intermezzo in Schumanns «Faschingsschwank aus Wien» liess er die eingesprengten Dissonanzen gegen den Schwung der Melodie antworten. Arrau dachte - immer mehr, immer beharrlicher - in Perspektiven. Selten folgten daraus auch Belastungsproben. In Chopins Walzern artikulierte der alte Mann gegen die Geschmeidigkeit des Tanzes, und Mozarts Sonaten klangen ihm nun brüchig, ja gequält.
1983, 20th February: Plácido Domingo & Claudio Arrau. 80th Birthday Gala Recital, Avery Fisher Hall, Lincoln Centre, NY.
Dennoch faszinierte Arraus Spätstil auf bedeutende Weise. Der Maestro, der einst blendende Passagen zu formulieren verstand, veränderte den Anschlag zur Seite von Farbe und Gewicht. Indem er die Töne eine Spur länger hielt, gewannen sie an Substanz und Nachklang. Als Arrau kurz vor seinem Tod im Juni 1991 noch einiges von Debussy einspielte, leuchteten die Bässe im orchestralen Glanz - das Instrument hatte seine Mechanik völlig sublimiert. Lange war Arrau unterwegs gewesen, diese Präsenz des musikalischen Geschehens zu erreichen. In der Arietta von Beethovens letzter Sonate fand er sie dann, oder in den mirakulösen Gebärden von Liszts Petrarca-Sonetten.
Arrau war ein Kulturmensch. Auf altmodische Art kultiviert, wahrte er das Erbe der Kunst. Das Erbe ging für ihn mit der Moderne durchaus konform. Begeistert äusserte er sich über die Literatur des Surrealismus, überhaupt suchte er das Gespräch über Malerei, Architektur, Dichtung. Wenn er dann zum Tee bat, war man darauf vorbereitet, keinen Small Talk erwarten zu dürfen. Jede Begegnung wollte Themen und Ideen - jetzt galt es ernst. - Am 6. Februar 2003 wäre Claudio Arrau hundert Jahre alt geworden. Wir verbeugen uns.
Quelle: Martin Meyer: Ernst war seine Kunst - Zum 100. Geburtstag des Pianisten Claudio Arrau, 6. Februar 2003, Neue Zürcher Zeitung
Wolfgang Lempfrid veröffentlicht seine musikkritischen Manuskripte bei KölnKlavier. Ich habe schon einige seiner Artikel hier veröffentlicht; zu Arrau hat er leider nichts zu sagen; aber über viele andere Pianisten und Werke. Sehr empfehlenswert!
Track 01: Klaviersonate in h-Moll
Reposted on April 13, 2014
CD Info (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 26 MB
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