31. August 2015

Georg Friedrich Händel: Die komplette Kammermusik (L'Ecole d'Orphée, 1991)

Händels Stil war von Anfang an der eines Dramatikers; die gründliche kontrapunktische Schulung ist zeitlebens das selbstverständliche und virtuos behandelte Fundament, nicht das Wesentliche seiner Sprache gewesen. Die großen Kammermusikwerke sind bei Händel nicht die der kontrapunktischen Logik und der Durchformung des Details, sondern die des erfüllten melodischen Augenblicks, der großen und pathetischen, aber auch eleganten und tänzerisch-beschwingten Melodik.

Triosonaten op. 2

Die 6 Sonaten op. 2 erschienen zuerst um 1730 mit der Verlagsangabe von Jeanne Roger in Amsterdam, um 1732 in einer revidierten Fassung mit der Verlagsangabe von Walsh in London. Die Angabe der ersten Version war eine Mystifikation, wahrscheinlich von Händels »Haus-Verleger« Walsh selbst inszeniert, um einen holländischen Raubdruck vorzutäuschen und Händel so zu zwingen, einer korrekten Londoner Ausgabe zuzustimmen. Die Sonaten sind zweifellos echt, stammen aber aus verschiedenen Schaffensperioden und waren nie als Opus gedacht (Tonarten: h g B F g g). Die Nr. 2 in g-Moll ist angeblich ein Jugendwerk, vielleicht das älteste, das wir von Händel besitzen; Charles Jennens, der dem Komponisten in dessen späteren Jahren nahestand, hat auf einer Kopie vermerkt »Composed at the Age of 14«.

Triosonaten op. 5

Die 7 Sonaten op. 5 wurden 1739 von John Walsh junior veröffentlicht, sicherlich mit Zustimmung Händels, der für einige der Stücke neue Sätze komponierte oder ältere neu bearbeitete, die meisten Sätze aber aus anderen Kompositionen übernahm, vor allem den Ouvertüren zu den Chandos-Anthems (1717/18) und den Ballettmusiken der Opern und Opern-Pasticci der Spielzeit 1734/35 (»Arianna in Creta«, »Oreste«, »Ariodante«, »Aleina«, »Terpsichore«, »Il pastor fido«), dem Oratorium »Athalia« (1733) und einigen anderen Quellen. Die bunten Satzfolgen, die Zahl von 7 (statt 6 oder 12) Sonaten unter einer Opus-Nummer, vor allem der Rückgriff auf Ballett-Nummern mit ihrem natürlichen orchestralen, von der »klassischen« Triosonate weit entfernten Satz lassen die Werke eher als Trio-Auszüge bereits erprobter Erfolgsstücke denn als vollwertige Kammermusik erscheinen. Andererseits enthalten gerade diese Sonaten, eben wegen ihrer Nähe zum Ballett, eine Fülle einfacher, melodisch und rhythmisch unmittelbar wirkender, ja zündender Musik.

Die »Dresdner« Triosonaten

Die drei Werke für zwei Violinen und b.c. in F, g und E sind nur in Handschriften der Sächsischen Landesbibliothek Dresden überliefert. Die Sonate F-Dur ist ein bedeutendes Werk, das im plötzlichen Wechsel von kontabler Melodik zu eckigen Sprüngen (1.Satz), im Einschalten freier und modulierender Abschnitte und dramatischer Generalpausen (2. und 3.Satz) und in der Virtuosität des Finales einen jugendlichen Überschwang zeigt, zu dem die vorgeschlagene Datierung (Italien um 1707) gut passen würde. Alle 4 Sätze, die der klassischen Corelli-Form folgen (Andante – Allegro – Adagio – Allegro), sind später wiederverwendet worden, aber bezeichnenderweise eingreifend umkomponiert, mit einer deutlichen Tendenz zur kontrapunktischen und thematischen Konzentrationen.

Solosonaten

Die 12 Sonaten für ein Melodie-Instrument und Generalbaß, die unter dem Namen Händel publiziert wurden, brachte Walsh auf dieselbe Weise wie Händels Triosonaten auf den Markt: zuerst (um 1730) in einer Ausgabe mit der wahrscheinlich fingierten Verlagsadresse von Jeanne Roger in Amsterdam, dann etwa 2 Jahre später unter dem Namen Walsh und in revidierter Fassung – wobei die Revision hier so weit ging, daß 2 der Sonaten gegen 2 andere ausgetauscht wurden (heute gelten alle 4 als unecht).

Die echten Sonaten in der als Opus 1 bezeichneten Ausgabe sind:

Nr 1: Violinsonate d-Moll (Flötensonate e-Moll)
Grave – Allegro – Adagio – Allegro

Nr 2: Blockflötensonate g-Moll
Larghetto – Andante – Adagio – Presto

Nr 3: Violinsonate A-Dur
Andante – Allegro – Adagio – Allegro
Eine der prächtigsten Sonaten Händels und eine der wenigen, die ausgesprochen virtuose Züge haben.

Nr 4: Blockflötensonate a-Moll
Larghetto – Allegro – Adagio – Allegro

Nr 5: Oboensonate F-Dur (in op. 1 als Flötensonate bezeichnet)
Adagio – Allegro – Adagio – Bourée – Menuetto

Nr 6: Violinsonate (oder Gambensonate) g-Moll (in op. 1 als Oboensonate gedruckt)
Larghetto – Allegro – Adagio – Allegro

Nr 7: Blockflötensonate C-Dur
Larghetto – Allegro – Larghetto – A tempo di Gavotta – Allegro

Nr 8: Oboensonate c-Moll
Largo – Allegro – Adagio – Allegro (Bourée angloise)

Nr 9: Blockflötensonate (oder Violinsonate) d-moll (in op. 1 als Flötensonate in h-Moll veröffentlicht)
Largo – Vivace – Presto (Furioso) – Adagio – Alla breve – Andante – A tempo di Minuet

Nr 11: Blockflötensonate F-Dur
Larghetto – Allegro – Alla siciliana - Allegro

Die Nummern 1 und 2 flossen in die Flötensonate e-Moll ein - in den älteren Ausgaben als Sonate 1a bezeichnet - , die als Autograph (um 1727) überliefert ist.

Nur in handschriftlicher Überlieferung liegen folgende (unbezweifelbar echte) Werke vor:

Violinsonate D-Dur
Affettuso – Allegro – Larghetto – Allegro
Das Autograph ist um 1750 zu datieren; die Sonate ist damit die letzte, die wir von Händel besitzen, und zugleich die bedeutendste.

Blockflötensonate B-Dur (»1. Fitzwilliam-Sonate«)
Courante – Adagio – Allegro

Blockflötensonate d-Moll (»2. Fitzwilliam-Sonate«)
Andante – Andante – Menuett

Blockflötensonate d-Moll (»3. Fitzwilliam-Sonate«)
Largo – Vivace – Furioso – Adagio – Alla breve

Oboensonate B-Dur
Andante – Grave - Allegro

Quelle: Ludwig Finscher: Georg Friedrich Händel. In: Reclams Kammermusikführer, herausgegeben von Arnold Werner-Jensen, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 13. Auflage 2005, Seite 175 ff. (natürlich nur in Auszügen)


CD 1, Track 8: Flötensonate Op. 1 Nr. 1b in e moll

TRACKLIST

GEORG FRIDERIC HANDEL
(1685-1759)

CHAMBER MUSIC
(COMPLETE)

L'Ecole d'Orphée


CD 1                                            Total time 74'22 
      
    Flute Sonatas

01. Op. 1 No. 1a in E minor                                11'41 
    Larghetto (adagio)-andante-largo-allegro-presto 

02. Hallenser Sonata No. 1 in A minor                      10'48 
    Adagio-allegro-adagio-allegro 

03. Hallenser Sonata No. 2 in E minor                       6'49 
    Adagio-allegro-grave-minuet 

04. Hallenser Sonata No. 3 in B minor                       7'23 
    Adagio-allegro-largo-allegro 

05. Sonata in D major (HWV 378)                             7'07 
    Adagio-allegro-adagio-allegro 

06. Op. 1 No. 5 in G major                                  7'39 
    Adagio-allegro-adagio-boree-menuetto 

07. Op. 1 No. 9 in B minor                                 14'30 
    Largo-vivace-presto-adagio-alla breve-
    andante-a tempo di minuet 

08. Op. 1 No. 1b in E minor                                 6'50 
    Grave-allegro-adagio-allegro 

L'Ecole d'Orphée:
    Stephen Preston, flute 
    Susan Sheppard, cello 
    John Toll, harpsichord 
    Lucy Carolan, harpsichord 


CD 2, Track 5: Oboensonate in c moll

CD 2                                            Total time 57'42 

    Violin Sonatas - Oboe Sonatas

01. Violin Sonata in A major                                7'09 
    Andante-allegro-adagio-allegro 

02. Violin Sonata in G minor                                6'00 
    Larghetto-allegro-adagio-allegro 

03. Oboe Sonata in B flat major                             6'06 
    Andante-grave-allegro 

04. Violin Sonata in D minor                                6'56 
    Grave-allegro-adagio-allegro 

05. Oboe Sonata in C minor                                  6'11 
    Largo-allegro-bourrée angloise-allegro 

06. Violin movement in A minor                              2'01 

07. Violin movement (allegro) in C minor                    3'00

08. Oboe Sonata in F major                                  7'58 
    Adagio-allegro-adagio-bourrée angloise-menuetto 

09. Violin Sonata in D major                               ll'03 
    Affetuoso-allegro-larghetto-allegro 

L'Ecole d'Orphée:
    John Holloway, violin
    David Reichenberg, oboe
    Susan Sheppard, cello 
    Lucy Carolan, harpsichord 


CD 3, Track 6: Triosonate Op. 2 Nr 6 für 2 Violinen und bc in g moll

CD 3                                            Total time 60'21 

    Trio Sonatas Op. 2
    
01. No. 1 in B minar                                       10'44 
    for flute, violin & b.c. 
    Andante-allegro-largo-allegro 

02. No. 2 in G minor                                        9'35 
    for 2 violins & b.c. 
    Andante-allegro-largo-allegro 

03. No. 3 in B flat major                                  10'40 
    for 2 violins & b.c. 
    Andante-allegro-larghetto-allegro 

04. No. 4 in F major                                       11'20 
    for recorder, violin & b.c. 
    Larghetto-allegro-adagio-allegro-(adagio)-allegro 

05. No. 5 in G minor                                       10'07 
    for 2 violins & b.c. 
    Larghetto-allegro-adagio-allegro 

06. No. 6 in G minor                                        7'55 
    for 2 violins & b.c. 
    Andante-allegro-arioso-allegro 

L'Ecole d'Orphée:
    John Holloway, violin     Micaela Comberti, violin
    Stephen Preston, flute    Philip Pickett, recorder
    Susan Sheppard, cello     Robert Woolley, harpsichord 
    John Toll, harpsichord 

CD 4, Track 1: Triosonate Op. 5 Nr 1 in A Dur

CD 4                                            Total time 70'18 

    Trio Sonatas Op. 5
    
01. No. 1 in A major                                        7'08 
    Andante-allegro-larghetto-allegro-gavotte (allegro) 

02. No. 2 in D major                                        8'08 
    Adagio-allegro-musette (andante, allegro, andante) -
    marche-gavotte (allegro) 

03. No. 3 in E minor                                        9'36 
    Andante larghetto-allegro-sarabande (largo assai)-
    allemande (andante allegto)-rondeau-gavotte (allegro) 

04. No. 4 in G major                                       12'39 
    Allegro-A tempo ordinario (allegro non presto)-
    passacaille-gigue (presto)-menuetto (allegro moderato) 

05. No. 5 in G minor                                       10'23 
    Largo-come alla breve-Iarghetto-a tempo giusto-
    air (andante)-bouree 

06. No. 6 in F major                                       12'14 
    Largo-allegro, adagio-adagio-allegro-andante variatio 

07. No. 7 in B flat major                                   9'20 
    Larghetto-allegro ma non presto-adagio, allegro-
    gavotte (allegro)-menuet (andante allegro) 

L'Ecole d'Orphée:
    John Holloway, violin     Micaela Comberti, violin
    Susan Sheppard, cello     Lucy Carolan, harpsichord 


CD 5, Track 2: Triosonate für 2 Violinen und bc in F Dur

CD 5                                            Total time 65'41 

    Trio Sonatas for 2 violins & b.c.
    
01. Sinfonia in B flat major                               10'29 
    Allegro-adagio-allegro 

02. Trio Sonata in F major                                 10'53 
    Andante-allegro-adagio-allegro 

03. Trio Sonata in C minor  Op. 2 No. 1a                   ll'02   
    Andante-allegro-andante-allegro 

04. Trio Sonata in G minor                                 10'25 
    Andante-allegro-largo-allegro 

05. Trio Sonata in C major                                 12'18 
    Allegro-andante larghetto-allegro-allegro 

06. Trio Sonata in E major                                 10'34 
    Adagio-allegro-adagio-allegro 

L'Ecole d'Orphée:
    John Holloway, violin        Micaela Comberti, violin
    Alison Bury, violin          Susan Sheppard, cello     
    Robert Woolley, harpsichord  Lucy Carolan, harpsichord 


CD 6, Track 2: Blockflötensonate in g moll

CD 6                                            Total time 66'52 

    Recorder Sonatas
    
01. Sonata in G majot                                       4'48 
    Allegro-adagio-allegro 

02. Sonata in G minor                                       7'50 
    Larghetto-andante-adagio-presto 

03. Sonata in A minor                                      10'17 
    Larghetto-allegro-adagio-allegro 

04. Sonata in C major                                      11'37 
    Larghetto-allegro-larghetto-a tempo di gavotta-allegro 

05. Sonata in F major                                       7'16 
    Larghetto-allegro-alla siciliana-allegro 

06. Sonata in B flat major                                  5'30 
    Allegro-adagio-allegro 

07. Sonata in D minor                                      14'03 
    Largo-vivace-presto-adagio-alla breve-andante-
    a tempo di minuet 

08. Trio Sonata in F major                                 14'03 
    Allegro-grave-allegro  

L'Ecole d'Orphée:
    Philip Pickett, recorder 
    Rachel Beckett, recorder    
    Susan Sheppard, cello     
    Lucy Carolan, harpsichord 



Recording 1991 
Produced by Simon Lawman & Bob Auger 
92192 

Original-Ausgabe - nicht von dem bekannten Billig-Label:
Tracklist - Bestellen bei JPC


Robin Hood. Geschichte einer Legende


Robin Hood Denkmal, Nottingham,
 in der Nähe der Burg
Die Suche nach dem »echtem« Robin

Studenten ebenso wie interessierte Laien stellen in Bezug auf Robin Hood meist zuerst die Frage, wer er eigentlich war. Sie setzt die zwiespältige Annahme voraus, dass hinter der Legende eine fassbare realhistorische Person stehen müsse. Aber muss eine Legende überhaupt einen sogenannten »wahren Kern« haben, wie viele von uns es noch in der Schule gelernt haben? Stephen Knight, der wichtigste lebende Robin-Hood-Experte, verneint das entschieden. Für ihn ist Robin ein bloßer Mythos. Es besteht keinerlei Grund zu der Annahme, dass es wirklich einen identifizierbaren Menschen gegeben haben muss oder gar gegeben hat, der so etwas wie den Ursprung der Legende darstellt: eine Art historisches Original, auf das sich die Grundelemente der Robin-Hood-Legende irgendwie zurückführen ließen. […]

Im Zentrum aller Versuche, Robin Hood als historische Person aufzuspüren, steht aus naheliegenden Gründen immer sein Name, denn er gaukelt uns vor, dass es sich hier um einen echten Menschen handelt. Auf den ersten Blick wirkt »Robin Hood« tatsächlich wie ein normaler englischer Personenname, der typischerweise aus mindestens einem Vornamen, »Robin«, und mindestens einem Nachnamen, nämlich »Hood«, besteht. Aber da fangen die Probleme schon an: Nachnamen entwickelten sich in England im Mittelalter nur langsam. Sie entstanden ab dem 12. Jahrhundert, doch wurden sie nur für Personen mit hohem sozialen Status gebraucht. In der Zeit, in der die Historiker den »echten« Robin Hood vorzugsweise vermuteten, im 13.Jahrhundert, gab es diese Art der Benennung für Menschen einfacher Herkunft noch nicht oder kaum. Daher ist »Hood« eher ein Beiname als ein Nachname im modernen Sinne. Und er ist durchaus kein sehr exklusiver Beiname, denn er leitet sich von einem alltäglichen Kleidungsstück ab, von der Kapuze, die von allen Schichten und daher eben auch von einfachen Leuten getragen wurde.

Und »Robin«? Dieser Vorname war in England nach der Normannischen Eroberung 1066 bald sehr weit verbreitet. Er kam mit den Normannen aus Frankreich und stellte zu jener Zeit einen Herkunfts- oder Zugehörigkeitsnamen dar. »Robin« benennt männliche Personen, die von einem Robert abstammen. Zusammen mit Verkleinerungsformen von Robert in verschiedenen Varianten (»Robbe«, »Hobbe«) scheint »Robin« sogar häufiger vorgekommen zu sein als der volle Vorname »Robert«. Gemeinsam mit Henry, Richard, William sowie John und Edward bildet Robert einen der populärsten englischen Personennamen im Mittelalter. […]

Für den »echten« Robin Hood sind folgende dokumentarisch erfasste Kandidaten immer wieder herangezogen worden:

1. Robert Hood, belegt in den Jahren 1213-1216, ein zum Tode verurteilter Dienstbote des Abtes von Cirencester.

2. Robert of Wetherby, ein Gesetzloser aus Yorkshire, der im Jahre 1225 gehenkt wurde.

3. Ein ebenfalls aus Yorkshire stammender Gesetzloser namens Robert Hood, der auch als »Hobbehod« auftaucht und zwischen 1228 und 1232 in Erscheinung trat.

4. William le Fevere aus Berkshire - das heißt »William der Schmied« -, der laut einer Quelle 1261 mit den Behörden in Konflikt geriet und ein Jahr später in einer anderen Quelle als »William Robehood« bezeichnet wurde.

5. Schließlich ein Mann, der im Jahre 1354 wegen Gesetzesverstößen im Wald von Rockingham vor Gericht kam und sich selbst »Robin Hood« nannte.

Dies sind zwar durchaus nicht die einzigen Männer, die in den Quellen als »Robin Hood« oder unter einem vergleichbaren Namen in Erscheinung traten, aber sie sind alle in der einen oder anderen Weise straffällig geworden. Manche der Historiker, die versucht haben, den realhistorischen Robin Hood auf der Basis dieser Datenlage dingfest zu machen, gehen davon aus, dass es sich bei 2. und 3. um dieselbe Person gehandelt haben muss. In allen genannten Fällen ist die Faktenlage zu dünn und sind die Quellen nicht aussagekräftig genug: Wir wissen über diese Männer nur das, was in der Liste erwähnt ist. Warum nun gerade sie den Ursprung einer Legende darstellen sollten, lässt sich nicht erklären. Letztlich kann es aber nicht darum gehen, in den Quellen einen Übeltäter aufzuspüren, der zufällig »Robin Hood« genannt wird, sondern es müsste jemand gefunden werden, dessen Wirken und Umfeld ihn glaubwürdig zum Ursprung der Legende machen könnten. Und schließlich stimmen nur die unter 2. und 3. genannten Figuren im Ansatz mit dem überein, was uns die frühe Legende über Robin Hood sagt; denn diese beiden Männer sind in Yorkshire belegt, was geographisch zumindest einem Zweig der Robin-Hood-Legende entspricht. Der letzte in der Liste taucht eigentlich zu spät auf. Denn aus der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts stammen bereits die ersten Hinweise darauf, dass sich die Robin-Hood-Figur zur literarisierten und sprichwörtlich gewordenen Legende entwickelt hat. Ein echter Robin Hood kann hier sinnvollerweise gar nicht mehr existiert haben, denn er wäre in der peinlichen Lage gewesen, seiner eigenen Legende hinterherlaufen zu müssen. […]

A Gest of Robyn Hode in der
National Library of Scotland
Die Anfänge der Legende

Wenn es also unmöglich ist, einen realhistorisch »echten« Robin Hood zu identifizieren, dann müssen wir erst recht fragen: Wo kommt die Legende her? Wann und wie wird sie zuerst greifbar? Welche kulturellen Traditionen und ideologischen Strukturen prägen sie? Vor allem aber: Welche politischen Bedeutungen verbinden sich mit dem Kämpfer gegen die Obrigkeit?

Die erste Nennung Robin Hoods als legendäre, ja als literarische Figur fällt in das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts. Im Jahre 1377 erwähnt ihn der bedeutende spätmittelalterliche englische Autor William Langland in seiner monumentalen religiösen Dichtung Piers Plowman (dt. Peter der Pflüger), einem Werk, das die Irrwege des Menschen auf der Suche nach Gott allegorisch beschreibt. An der Stelle, an der er Robin einführt, kritisiert Langland faule Priester, die sich lieber mit Unterhaltungsliteratur - mit den «rymes of Robyn Hoode» - beschäftigen, als ihre seelsorgerischen Pflichten zu erfüllen. Langland will damit zeigen, wie die zeitgenössische Kirche daran scheitert, ihren heilsgeschichtlich notwendigen Aufgaben nachzukommen, und die einfachen Gläubigen im Stich lässt. Die Kritik richtet sich aber nicht grundsätzlich gegen die Robin-Hood-Gestalt, sondern bezieht sich darauf, dass Robin als Gegenstand der Unterhaltungskultur in der Kirche nichts zu suchen habe.

Nach dieser ersten Erwähnung Robins im Jahre 1377 nehmen die Hinweise auf den Gesetzlosen als legendäre oder literarische Figur schnell zu. Wir finden sie an den erstaunlichsten Stellen, so zum Beispiel in Form eines Verses, den ein gelangweilter Kanzleischreiber im Jahre 1432 in ein juristisches Schriftstück kritzelte: «Robyn Hode Inne Greenwode Stode Godeman Was He.» («Robin Hood stand im grünen Wald, er war ein guter Mann.») Mit der Erwähnung der Legende durch William Langland ist für uns klar, wann der Kult um Robin spätestens begonnen hat. Der Anfang muss um die Mitte des 14.Jahrhunderts oder kurz danach gelegen haben, sonst könnte sich ein Dichter wie Langland nicht so selbstverständlich darauf beziehen. Allerdings kann die Legende auch nicht sehr viel älter sein, sonst hätte man schon frühere Belege gefunden.

Unklar ist jedoch, was genau sich hinter den «rymes of Robin Hoode» verbirgt, die Langland erwähnt. Denn «rymes of Robin Hoode» kommen im späten Mittelalter in zwei verschiedenen kulturellen und literarischen Varianten vor, die hier beide gemeint sein könnten. Es handelt sich erstens um den Robin Hood der Spiele und populären Aufführungen und zweitens um denjenigen der Balladen. Der erste Robin ist eine Gestalt des volkstümlichen Theaters, der zweite eine der volkstümlichen Dichtung. Die beiden frühen Stränge der Legende sind in sich bereits vielgestaltig und konfliktreich. Weder in politischer und sozialer noch in kultureller und ästhetischer Hinsicht bieten sie ein einheitliches Bild. Sie unterscheiden sich stark voneinander, obwohl sie sich wahrscheinlich gegenseitig beeinflusst haben. Die Experten sind sich nicht darüber einig, welche die ältere Tradition ist. Kein Wunder also, dass auch die politisch-soziale Interpretation der frühen Robin-Hood-Legende nicht einheitlich ausfällt, sondern die Forschung, grob gesagt, in zwei große Schulen zerfällt, die man etwas vereinfacht die »radikal-demokratische« und die »konservative« nennen könnte.

A Lytell Geste of Robyn Hode (um 1450)
Robins erste Verkörperung: die Robin-Hood-Spiele

Stephen Knight hält die Robin-Hood-Spiele, die sogenannten play-games, für die älteste Variante, in der sich die Robin-Hood-Legende manifestiert. Sie sind auch die Form, in der sie bis ins frühe 16. Jahrhundert am häufigsten erwähnt wird. Den auf den ersten Blick tautologisch scheinenden Begriff des »play-game« hat die Robin-Hood-Forschung geprägt, weil diese Spiele zwei kulturelle Sphären miteinander verbinden, die man aus moderner Sicht als getrennte wahrnimmt: die Welt des Theaters und die Welt des Sports. Da man im Deutschen das Spiel mit den semantisch verwandten englischen Begriffen »play« («Spiel/Inszenierung») und »game« («Spiel/Wettbewerb») nicht nachahmen kann, ist es sinnvoll, schlicht von »Robin-Hood-Spielen« zu sprechen, auch wenn damit leider die Doppelnatur des Phänomens unsichtbar bleibt.

Die Robin Hood gewidmeten Spiele sind ab 1426 in ganz England nachweisbar und fanden gewöhnlich zu Pfingsten statt. Ablauf und Charakter dieser Veranstaltungen lassen sich nur grob rekonstruieren. Man geht davon aus, dass es sich um eine Verbindung von mindestens drei Elementen handelte: erstens einem feierlichen Einzug der Robin-Hood-Gestalt, die von den jungen Männern des Ortes begleitet wurde; zweitens einer Aufführung mit simpler, wenngleich hoch dramatischer Handlung, in der Robin und seine Gesellen im Kampf gegen den Sheriff oder einen anderen Widersacher irgendeine Heldentat vollbringen; und drittens eine Reihe sportlicher Wettkämpfe, bei denen gewöhnlich das Bogenschießen, das Steinstoßen und der Ringkampf im Vordergrund standen.

Für die Spielhandlung sind drei Skripte erhalten geblieben, die ein rudimentäres Handlungsgerüst bieten. Die wenig ausgeführte Handlung ist unter anderem damit zu erklären, dass die Aufführungen einen improvisatorischen Charakter hatten. Da diese überlieferten Handlungsverläufe denen der älteren Balladen stark ähneln, verzichte ich hier darauf, sie zu diskutieren. Weil die Handlung selbst oft einen wettkampfartigen Charakter hatte - Robin Hood misst sich zum Auftakt des Geschehens mit einem Gegner oder Freund im Bogenschießen oder Ringen, möglicherweise auch im Fechten oder Stockfechten -, ist schon hier die Nähe zum sportlichen Teil des Ereignisses gegeben. An die Wettkämpfe schloss sich gegen Abend öffentlicher Biergenuss an, und es wurde Geld für kommunale Projekte gesammelt, etwa für die Instandhaltung von Brücken und Wegen. Eine andere Variante war das sogenannte Church ale, bei der das gesammelte Geld der Kirchengemeinde zugutekam. So konnte die Robin-Hood-Gestalt als ins Harmlose gewendeter Bandit auftreten, der die Anwesenden für die gute Sache um ihr Geld erleichterte.

Robin Hood and Allen-a-Dale. Or the manner of Robin Hood's
rescuing a young Lady from an Old Knight,
and restoring her to Allen-a-Dale her former Love
Die kulturelle Bedeutung dieser Spiele ist vielschichtig. Der rituelle Einzug Robin Hoods und seiner Getreuen stellt offenbar so etwas wie eine Brücke zur unberührten Natur her. So gesehen, tritt Robin Hood hier nicht allein als legendärer Gesetzloser auf, sondern seine Gestalt nimmt Züge eines »Wilden Mannes« oder »Grünen Mannes« an. Naturfiguren dieser Art sind in der Literatur, aber auch in vielen bildlichen Darstellungen aus dem Mittelalter bekannt und waren in England besonders populär. Hinter den Bezeichnungen »Wilder« oder »Grüner Mann« verbergen sich zwei unterschiedliche, aber möglicherweise verwandte mythische Figuren. Der Wilde Mann erschien gewöhnlich als fast nackte, bärtige und oft stark behaarte Gestalt von gewaltiger Körperkraft, die mitunter einen Lendenschurz aus Laub trug. Er war mit einer riesigen Keule oder einem ausgerissenen Baum bewaffnet, jagte Hirsche, auf denen er aber auch ritt; zudem herrschte er über mythische Waldwesen, wie etwa Einhörner. Er scheint als Verkörperung von Naturkraft mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht worden zu sein und war daher Teil sowohl dynastisch-aristokratischer Symbolik als auch des Marienkultes, wo er einen Kontrast zur keuschen Fruchtbarkeit der Gottesmutter bildete. Der dynastische Zusammenhang wird in seiner häufigen Verwendung als Schildhalter in der Heraldik deutlich. Der nur aus einem menschlichen Kopf bestehende »Grüne Mann« hingegen findet sich als Abbildung besonders auf Kapitellen in Kirchen und Kathedralen. Dabei ist der Kopf gewöhnlich von Blätterwerk umgeben, das ihm Haar und Bart ersetzt und meistens aus Mund und Nase wächst. Man vermutet, dass er keltischen Ursprungs ist und eine allgemeine Naturkraft darstellt. Man hat Robin aber auch als eine Art Lord of Summer oder Summer King gesehen, als mythische Verkörperung des Sommers und seiner Fruchtbarkeit. […]

Zugleich hat der Einzug des mythisch überhöhten Robin ein karnevaleskes Element, wie es der russische Literatur- und Kulturwissenschaftler Michail Bachtin beschreibt. Mit dem Erscheinen Robins gelten die üblichen Hierarchien und Regeln für einen speziell bezeichneten Zeitraum nicht mehr. Die Natur dringt in die Zivilisation ein und mit ihr auch ein Element jugendlicher Gewaltsamkeit und Körperfreude, das dann in einer Aufführung zum Ausdruck kommt, die den Widerstand eines Gesetzlosen gegen die Obrigkeit auf derb-handfeste und manchmal auch komische Weise inszeniert und verherrlicht. Anschließend wird die Körperlichkeit der jungen Männer über athletische Wettkämpfe mit einem deutlich martialischen Zug sowohl sichtbar ausgelebt als auch rituell kanalisiert. Und schließlich wird die jugendliche Gewaltsamkeit im Akt des Geld-Sammelns für die Gemeinschaft wieder in den Rahmen eines Dienstes an der Allgemeinheit überführt. Das latent Bedrohliche der Robin-Hood-Figur sowie des Einbruchs ungebändigter Natur und ungezügelter jugendlicher Rabaukenkraft stärkt am Ende nicht allein symbolisch, sondern auch konkret finanziell genau jene zivilisatorische Gemeinschaft, gegen die sich der angeblich aus dem Wald aufgetauchte Gesetzlose eben noch aufzulehnen schien. Man spürt in diesen Robin-Hood-Spielen, bei denen die jungen Männer in das Dorf oder die Stadt einziehen und an einem jährlich stattfindenden öffentlichen Ritual kanalisierter und symbolischer Gewalt teilnehmen, auch ein Element der Initiation. […]

Robin Hoods Chace, Or,
 A merry Progress between Robin Hood and King Henry
Die Robin-Hood-Balladen

Während uns die Robin-Hood-Spiele kaum Textzeugnisse hinterlassen haben, obwohl sie eine sehr beliebte, weit verbreitete und über mehr als zwei Jahrhunderte gepflegte Volksfesttradition bildeten, ist eine verhältnismäßig große Zahl an Robin-Hood-Balladen überliefert. Balladen sind eine literarische Gattung, die sich im England des ganz späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit bei den einfachen Volksschichten großer Beliebtheit erfreute. Für den Robin-Hood-Stoff sind die Balladen so wichtig, weil wir in ihnen die ersten wirklichen Geschichten über Robin Hood finden, die über die lockeren Handlungsskizzen der play-games hinausgehen. Die Balladen geben Robin erstmals deutlichere Konturen und bieten uns deshalb so etwas wie die Basisstrukturen der Legende. Bis auf den heutigen Tag hat kein anderer Quellentypus unsere Vorstellung von Robin so sehr geformt wie sie. Insbesondere der Robin Hood, den wir aus dem modernen Film kennen, ist das Produkt gezielter Rückgriffe auf die Balladen und auf die Themen, Handlungsmuster und Stereotypen, die diese vermitteln.

Dennoch ist bei den Balladen besondere Vorsicht geboten. Manche Historiker - aber auch Literaturwissenschaftler - sind der Versuchung erlegen, von diesen Texten unmittelbar auf die Welt des späten Mittelalters und insbesondere auf die Lebensumstände Robin Hoods und seines Publikums zu schließen. Dies ist gefährlich, denn die Balladen sind literarische Texte, so simpel einige von ihnen auch sein mögen. Als solche bieten sie uns stets nur einen sehr vermittelten, literarisch geformten Blick auf die historische Welt. Nichts war wirklich so, wie es in den Balladen steht. Sie geben viel eher Aufschluss über literarische Konventionen und Stereotype oder über Wunschträume und kulturelle Phantasien als über die sozialgeschichtliche Realität. […]

Traditionell definiert sich die englische Ballade - und allein um sie geht es hier - folgendermaßen: Es handelt sich um eine Gattung kurzer Verserzählungen oft abenteuerlichen oder tragischen Inhalts. Der Stoff wird schnell und packend mit viel Handlung und Dialog, aber fast ohne Beschreibungen dargestellt. Eine Balladenstrophe besteht gewöhnlich aus vier Versen, von denen der erste und dritte Vers jeweils acht Silben zählen, der zweite und vierte je sechs. Es reimen sich nur der zweite und vierte Vers. Das Versmaß ist überwiegend, aber nicht ausschließlich jambisch. Der Jambus besteht aus zwei Silben: einer unbetonten Silbe, auf die eine betonte folgt. Von den acht Silben im ersten und dritten Vers werden folglich jeweils vier betont und von den sechs Silben im zweiten und vierten Vers jeweils drei. […]

Wie schnell diese schlichten Texte ihre dramatischen Situationen konstruieren, zeigt beispielsweise die dritte Strophe aus obin Hood and the Potter:

Bot as the god yeman stod on a day,
Among hes mery maney,
He was ware of a prowd potter,
Cam dryfyng owyr the leye.

(Aber als der gute freie Mann an einem Tag im Kreise seiner Bande stand, bemerkte er einen stolzen Töpfer, der über das offene Land fuhr.)

Die ältere Forschung vermutete noch, dass die Balladen direkter Ausdruck einer volkstümlichen Kultur seien und lange Zeit mündlich kursierten, bevor sie sehr viel später aufgezeichnet wurden. Obwohl kaum eine der Robin-Hood-Balladen vor 1500 niedergeschrieben wurde und die überdeutliche Mehrheit in Drucken und nicht in Handschriften vorliegt, glaubte man, dass uns die Balladen einen relativ unverstellten Aufschluss über die Welt des späten Mittelalters geben. Inzwischen ist man vorsichtiger geworden, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens ist der Großteil der erhaltenen Robin-Hood-Balladen eindeutig jüngeren Datums, wie Literaturwissenschaftler und Historiker auch dank sprachwissenschaftlicher Analysen festgestellt haben. Die meisten Balladen stammen aus dem späteren 16. und der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts. Doch sogar im 18.Jahrhundert entstanden noch neue Balladen. […]

Robin Hood his Rescuing Will Stutly from the Sherif and his Men
Die drei ältesten Balladen

Drei Balladen gibt es immerhin, von denen man vermutet, dass sie in der zweiten Hälfte des 15.Jahrhunderts oder um 1500 entstanden sind und daher als (spät)mittelalterlich im eigentlichen Sinne gelten können. Es lohnt sich, diese drei Balladen näher zu betrachten, denn Stephen Knight zufolge liefern sie so etwas wie die Grundbausteine der Robin-Hood-Legende.

Die drei frühen Balladen tragen die Titel Robin Hood and the Monk (nach 1450, dt. Robin Hood und der Mönch), Robin Hood and the Potter (um 1500, dt. Robin Hood und der Töpfer) und Robin Hood and Guy of Guisborne (aus dem 15.Jahrhundert). Wie auch die späteren Balladen spielen diese drei in einer historisch nicht näher benannten Zeit. Zwar wird hin und wieder ein König erwähnt, doch dieser wird schlicht »King Edward« genannt. Da zwischen 1272 und 1377 alle Könige Englands Edward hießen - Edward I. (1272-1307), Edward II. (1307-1327) und Edward III. (1327-1377) - und dann noch einmal von 1461 bis 1483 ein englischer König namens Edward auf dem Thron saß, nämlich Edward IV. aus dem Hause York (und im Jahre 1483 auch noch kurz dessen Sohn Edward V.), sagt dieser Name wenig aus. Aber vermutlich soll er das auch gar nicht: Der vage Verweis auf König Edward führt in eine »gute alte Zeit« zurück, die besser nicht zu präzise spezifiziert wird. Folglich fehlen auch weitere Verweise, mit deren Hilfe man die Texte historisch genauer verankern könnte.

Die drei Balladen spielen in einer nordenglischen Gegend zwischen Barnsdale (Yorkshire) und dem ca. 40 Meilen südlich gelegenen Nottingham, nehmen es aber trotz scheinbarer geographischer Präzision mit den eigentlichen topographischen Verhältnissen und insbesondere mit den Entfernungen und Reisezeiten zwischen den genannten Orten nicht allzu genau. Lange Zeit glaubte man, diese geographischen Angaben gäben uns wichtige Hinweise zum Ursprung der Legende. Doch scheint gerade dies nicht der Fall zu sein. Barnsdale ist ein Tal im südlichen Yorkshire, in dessen Nähe tatsächlich Straßenräuber ihr Unwesen trieben. Einen Wald aber gab und gibt es in Barnsdale weder im Mittelalter noch heute. Den findet man in der Nähe von Nottingham, den Sherwood Forest, in dem König Edward III. 1362 auf einer prachtvollen Jagdgesellschaft nicht nur den englischen Hochadel, sondern auch den in der Schlacht von Poitiers gefangenen französischen König Jean II. bewirtete. Der Sherwood Forest war so wichtig, weil England wohl schon im Mittelalter kein besonders waldreiches Land mehr war. Da es kaum Wälder gab, spielten die wenigen, die man kannte, in der Phantasie naturgemäß eine größere Rolle. […]

Eine der wichtigsten Gemeinsamkeiten der drei frühen Balladen, die wir auch in fast allen späteren finden, klingt besonders aus heutiger Perspektive sensationell und soll deshalb schon erwähnt werden, bevor wir uns mit den Texten im Einzelnen beschäftigen: Nie zeigen uns diese Texte einen Robin, der den Reichen nimmt, um den Armen zu geben. Dieses Klischee, das heutzutage fast jeder mit dem Namen Robin Hood verbindet, kommt am Anfang der Legende nicht vor und liegt auch, wie wir noch sehen werden, keineswegs in der sozialen Logik dieser frühen Texte. Um es ganz deutlich zu sagen: Der spätmittelalterliche Robin Hood bzw. der Robin Hood, der für uns an der Grenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit erstmals als Legende greifbar wird, ist kein sozialer Wohltäter im heutigen Sinn. Wenn er denn überhaupt umverteilt, dann in die eigene Tasche oder in die seiner Anhänger.

The Jolly Pinder of Wakefield, with Robin Hood, Scarlet and John
Robin Hood and the Monk wird mit einer poetischen Verherrlichung des Sommers eingeleitet und zeigt uns Robin als großen Verehrer der Jungfrau Maria. Er entschließt sich, nach Nottingham zu gehen, um die Messe zu hören. Sein Gefolgsmann Much warnt ihn vor den Gefahren einer solchen Expedition, daher kommt Little John als Begleitung mit. Unterwegs schießen die beiden Gesetzlosen mit ihren Bögen um die Wette. Little John behauptet, gewonnen zu haben, Robin widerspricht ihm vehement und weigert sich, seine Wettschuld zu bezahlen. Sie trennen sich voller Wut, und Robin zieht allein nach Nottingham weiter. Dort erkennt ihn ein Mönch, und nach einem Kampf wird Robin von den Männern des Sheriffs überwältigt. Robins Gefährten im Sherwood Forest hören von der Gefangennahme ihres Anführers; John und Much brechen auf, um ihn zu befreien. Unterwegs treffen sie auf den Mönch in Begleitung eines Pagen, der noch ein Kind ist. Der Kleriker ist mit Briefen über Robins Gefangennahme auf dem Weg zum König. Little John und Much geben sich als Opfer Robin Hoods aus und begleiten den Mönch und seinen Pagen angeblich zu deren Schutz. Dann töten sie den Mönch und seinen minderjährigen Begleiter, wobei der Text mitleidslos erklärt, dass der kleine Page sterben muss, weil er als Zeuge sonst zu gefährlich wäre. Nun tragen Little John und Much die Briefe selbst zum König, der ihnen sein Siegel aushändigt; damit der Sheriff ihm den gefangenen Gesetzlosen zusende. Nachdem sie nun die falsche Identität königlicher Boten angenommen haben, gehen John und Much nach Nottingham, wo sie mit dem Sheriff zechen. Als dieser betrunken ist, schleichen sie sich in den Kerker hinunter und machen dem Kerkermeister weis, Robin Hood sei bereits entflohen. Dann töten sie den Kerkermeister, befreien Robin und entkommen mit ihm in den Sherwood Forest. Dort erklärt Little John, dass er Robin einen guten Dienst im Austausch für einen schlechten erwiesen habe. Robin zeigt sich beschämt und bietet Little John die Führung der Bande an. Doch John verzichtet; er möchte lieber ein einfaches Bandenmitglied bleiben, ein fellow. Der Text wendet sich daraufhin dem König zu, der von der Befreiungsaktion erfährt und Little John für dessen Treue zu Robin lobt. Die Ballade endet mit einem Gebet, in dem Gott als gekrönter Herrscher bezeichnet wird.

Auch Robin Hood and the Potter bedient sich des poetischen Einstiegs über die Verherrlichung der sommerlichen Natur. Die Handlung setzt damit ein, dass Robin und seine Getreuen einen Töpfer dabei beobachten, wie er mit seinem Wagen auf den Wald zusteuert. Sie erkennen ihn als einen Mann wieder, der noch nie den Zoll des Waldes an sie entrichtet hat. Little John bemerkt dazu, dass der Töpfer ein guter Kämpfer sei, den niemand dazu zwingen könne, den Wegzoll zu zahlen. Der solchermaßen herausgeforderte Robin wettet mit John, dass ihm dies gelingen werde. Robin und der Töpfer kämpfen, Robin mit Schild und Schwert, der Töpfer lediglich mit einem Stock bewaffnet. Tatsächlich gewinnt der Töpfer den Kampf und Robin bezahlt seine Wettschuld an Little lohn. Robin und der Töpfer tauschen die Kleider und Robin begibt sich so getarnt mit den Töpfen nach Nottingham. Er stellt seinen Stand genau vor dem Hause des Sheriffs auf und verkauft die Töpfe weit unter Wert. Die letzten fünf schenkt er der Frau des Sheriffs, die ihn zum Essen einlädt. Beim Essen unterhalten sich Robin und der Sheriff über einen Wettkampf im Bogenschießen, der noch am selben Tag stattfinden soll. Robin schießt mit dem relativ schlechten Bogen des Sheriffs, gewinnt aber dennoch. Dann erzählt er dem Sheriff, dass er in seinem Wagen einen Bogen habe, den Robin Hood ihm gegeben habe. Er erklärt sich bereit, den Sheriff zu Robin Hood zu führen, damit er den Gesetzlosen festnehmen könne. Nachdem Robin am nächsten Morgen der Frau des Sheriffs einen Ring gegeben hat, brechen er und der Sheriff nach Sherwood auf. Im Wald ruft Robin mit Hilfe seines Horns seine Männer herbei. Sie nehmen dem Sheriff Pferd und Wertsachen ab und schicken ihn heim. Um ihn zu demütigen, schickt Robin der Frau des Sheriffs dessen Pferd. Nun fragt Robin den Töpfer, was seine Waren eigentlich gekostet hätten. Statt des Zwei-Drittel-Pfunds, das sie wert gewesen wären, gibt Robin dem Töpfer zehn Pfund. Die beiden schwören Freundschaft, und das Gedicht endet mit einem Gebet sowie einer Bitte an Gott, «all good yeomanry» zu schützen. […]

Die dritte der hier zu schildernden Balladen ist die gewalttätigste und rätselhafteste. Nach der üblichen Einführung, die die Natur des sommerlichen Waldes besingt, begegnen wir einem Robin, der Little John einen Albtraum anvertraut. Er träumte, dass zwei starke yeomen ihn angegriffen hätten. Robin und John machen sich auf, die Männer aus dem Traum zu finden, obwohl John nicht an die prophetische Wirkung von Träumen glaubt. Unterwegs schießen sie um die Wette und begegnen dann einem schwer bewaffneten, an einen Baum gelehnten Mann, der von Kopf bis Fuß in Pferdehaut eingekleidet ist; selbst Pferdekopf, -schweif und eine Mähne fehlen nicht. Es ist Guy of Guisborne, wie wir später erfahren. Little John will sich den Fremden vornehmen, doch sieht Robin darin eine Kränkung und behält sich die Aufgabe selbst vor. Der wütende John verlässt ihn und geht nach Barnsdale, das gerade vom Sheriff angegriffen wird. Johns Bogen bricht, er wird gefangen genommen und soll gehenkt werden. Inzwischen hat sich Robin dem furchteinflößenden Fremden genähert und von ihm erfahren, dass er eine Art Kopfgeldjäger ist, der sich auf der Jagd nach Robin Hood befindet. Robin, der seine Identität nicht preisgegeben hat, erklärt sich bereit, den Fremden zu begleiten, und fordert ihn zu einem Wettschießen auf, das Robin gewinnt. Nun gibt sich Robin als Robin Hood aus Barnsdale zu erkennen, und es folgt ein dramatischer, zweistündiger Schwertkampf, in dem Robin stolpert, getroffen wird und erst nach einem Stoßgebet an die Mutter Gottes aufspringen und seinen Feind töten kann. Robin bezeichnet den Toten als Verräter, schneidet ihm den Kopf ab und entstellt Guys Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. Er pflanzt den Kopf des Toten am oberen Ende seines Bogens auf und zieht das Pferdekostüm an. So verkleidet, geht Robin nach Barnsdale, das der Sheriff mit seinen Männern besetzt hält. Dort bläst Robin Guys Horn, woraufhin der Sheriff herbeieilt, um den vermeintlichen Guy dafür zu belohnen, dass er Robin zur Strecke gebracht hat. Als Belohnung fordert Robin das Recht, Little John hinrichten zu dürfen. Dieses Privileg wird ihm eingeräumt, doch er nutzt die Gelegenheit, um John loszuschneiden. Robin gibt John Guys Bogen und Pfeile, und John erschießt den Sheriff, als dieser zu seinem Haus flüchten will. Damit endet das Gedicht.

Diese drei Abenteuer bieten uns so etwas wie den frühesten Robin. Ihre holzschnittartige, mitunter sogar naiv erscheinende und manchmal ein wenig unlogische Handlung sollte uns jedoch nicht über die kulturelle Komplexität dieser Texte hinwegtäuschen. Einige klassische Motive der Robin-Hood-Legende sind in den knappen Inhaltsangaben schon unmittelbar erkennbar: der Wald, der als Gegensatz zur Stadt konstruiert wird; der Bogen als Waffe, mit dem um die Wette geschossen wird; der Begriff des »yeoman«, der immer wieder zitiert wird, um die soziale Identität der Gesetzlosen zu charakterisieren; der Sheriff, ein Vertreter der Ordnung, der als Robins wichtigster Gegner auftritt. Aber schon hier ist eine Einschränkung nötig: Der Sheriff, der uns in diesen frühen Balladen begegnet, spielt eine bemerkenswert vage Rolle. Zwar erfüllt er die Funktion einer feindlichen Obrigkeit, aber seine genauen Aufgaben oder Befugnisse bleiben undeutlich - sie interessieren offenbar gar nicht. Und wenn sich der Sheriff mit seiner Ehefrau und Robin an den Abendbrottisch setzt, um über sportliche Wettkämpfe zu räsonieren, verwandelt sich der Verteidiger der feudalen Macht, den wir aus den Filmen kennen, in einen bürgerlichen Hausvater, der uns als Vertreter von law-and-order gerade so viel Furcht einflößt wie Wachtmeister Alois Dimpfelmoser in Räuber Hotzenplotz.

Noch etwas anderes überrascht an den Balladen. Ein aus heutiger Sicht besonders wichtiges Element der Legende, dem so große Filmstars wie Olivia de Havilland, Audrey Hepburn, Uma Thurman und Cate Blanchett ein Gesicht gegeben haben, ist vollständig abwesend: Maid Marian. Mehr noch: Es gibt - mit Ausnahme der selbstbewussten und durch und durch bürgerlichen Frau des Sheriffs in Robin Hood and the Potter - überhaupt keine Frauen in den Robin-Hood-Balladen. Der frühe Robin tritt als Mann unter Männern auf. Nur zu einer einzigen weiblichen Figur hat er eine dauerhafte Beziehung, und das ist die Jungfrau Maria.

Quelle: Andrew James Johnston: Robin Hood. Geschichte einer Legende. C. H. Beck, München, 2013. ISBN 978 3 406 64541 9. Zitiert wurden Seiten 11 - 34 (gekürzt).

Andrew James Johnston ist Professor für Englische Philologie an der Freien Universität Berlin.

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Reposted on March 11 2019

20. August 2015

Francesco Manfredini: 12 Concerti op. 3 (Bologna, 1718)

Mit dem Komponisten Francesco Manfredini verbindet der Musikfreund gemeinhin ein einziges Werk: das mit »Pastorale per il Santissimo Natale« überschriebene »Weihnachtskonzert«, mit dem der 1718 veröffentlichte Konzertzyklus op. 3 beschlossen wird. Daß dieser »berühmten« Pastorale elf weitere Konzerte in der Sammlung voranstehen, nahm die »Musikwelt« bislang ebenso wenig wahr, wie sie auch sonst das insgesamt schmale Œuvre des Komponisten ignorierte: Zwölf »Concertini per camera« (Sonaten) op. 1 (1704), eine in einem Sammeldruck 1706 publizierte Triosonate, zwölf »Sinfonie da chiesa« op. 2 (1709), die genannten zwölf Concerti op.3, sechs handschriftlich überlieferte Oratorien (komponiert in den Jahren zwischen 1719 und 1728), drei undatierte und ungedruckte Concerti sowie die postum veröffentlichten »Six Sonatas« (Triosonaten) geben das tradierte Gesamtwerk ab - gemessen am »quantitativen Standard« seiner komponierenden Zeitgenossen und Kollegen wahrlich eine überschaubare Anzahl an Kompositionen, dennoch ist Manfredinis Œuvre so gut wie unerschlossen.

Mangelnde Werkkenntnis macht es daher schwer, den Stellenwert seines kompositorischen Schaffens zu bestimmen. Ein deutlicher Unterschied in »Habitus« und »Konstitution« seiner Konzerte zu den von venezianischen Meistern der Zeit vorgelegten fällt jedoch sofort auf: Zur Ritornellsatzform »klassischer« Ausprägung mit ihren thematisch-motivischen Verknüpfungen und Korrespondenzen auch zwischen und innerhalb der miteinander kontrastierenden Tutti- und Soloepisoden (Vivaldi hat diesen Stand der thematisch-motivischen Verarbeitung bereits 1711 in einigen Konzerten seines Zyklus »L'Estro armonico« [op. 3] beispielhaft vorgeführt) ist Manfredini nicht vorgestoßen, er blieb ein typischer Vertreter der »Bologneser Schule« und stand fest in der Tradition seiner Lehrer Giuseppe Torelli (1658-1709) und Giacomo Antonio Perti (1661-1756).

Über den Lebensweg von Francesco Onofrio Manfredini ist nur wenig bekannt: Er wurde am 22. Juni 1684 in Pistoia als Sohn eines Posaunisten getauft, studierte in Bologna bei Torelli Violine und wurde von Perti in Komposition und Kontrapunkt unterwiesen. Vermutlich weil die Kapelle an Bolognas Basilika »San Petronio« 1696 für einige Jahre aufgelöst worden war, wandte er sich noch vor 1700 nach Ferrara und bekleidete dort den Posten eines ersten Violinisten an der Kirche »Spirito Santo«, 1704 kehrte er jedoch nach Bologna zurück, trat dem wiedergegründeten Orchester bei und wurde - nachdem er sein Opus I, eine Sammlung von zwölf Kammersonaten (»Concertini per camera«), vorgelegt hatte - Mitglied der »Accademia Filarmonica«.

Im nachfolgenden Jahrzehnt pflegte Manfredini Beziehungen zum Hof in Monaco, ja es gibt Hinweise, daß er von 1711 an dem regierenden Prinzen Antoine I. als »maestro di cappella« diente (seine Verbindung zum monegassischen Hof wird auch durch die Dedikation der Concerti op. 3 an Antoine I. bestätigt). Unklar bleibt indes, wo sich Manfredini während dieser Jahre aufgehalten hat, anzunehmen ist jedoch, daß er zur Einstudierung und Aufführung seiner Oratorien »San Filippo Neri trionfante« (1719) sowie »Tommaso Moro« (1720) in Bologna anwesend war. Nachdem Manfredini bereits 1725 ein Oratorium für seine Heimatstadt Pistoia komponiert hatte, kehrte er 1727 schließlich ganz dahin zurück und übernahm an der Kathedrale »San Filippo« das Amt des »maestro di cappella« als »Lebensstellung« (er starb am 6. Oktober 1762).

Basilika San Petronio in Bologna: Baubeginn 1390,
 die Fassade ist bis heute unvollendet.
Daß gegen 1700 die neue Gattung »Instrumentalkonzert« zunächst und vor allem von in Bologna tätigen und geschulten Musikern befördert worden ist, ja den Komponisten dieser Stadt ein generelles Verdienst insbesondere bei der Herausbildung des Concerto grosso zukommt, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der glanzvollen, im Hinblick auf Prachtentfaltung nur noch mit Venedig und Rom zu vergleichenden Musikpflege an Bolognas Basilika »San Petronio«: Dankbar wurde dort die neue, von vielen Instrumentisten aufführbare Gattung aufgegriffen, mit der sich trefflich repräsentieren ließ. Den Ausgangspunkt für diese Entwicklung gab die hinlänglich erprobte Triosonaten-Struktur ab. Sie wurde dahingehend modifiziert, daß - organisiert nach dem Prinzip der »Klangregie« - die prägnanten und oft nur mäßig bewegten Abschnitte chorisch (als »Tutti«) besetzt wurden, während eine kleine Gruppe professioneller »Concertisten« die solistisch auszuführenden Episoden mit den technisch anspruchsvolleren Passagen, umspielenden Auszierungen und diffizilem Figurenwerk zu übernehmen hatte.

Diesem Bologneser »Grundverständnis« vom Wesen des Concerto fühlt sich Manfredini auch noch 1718 verpflichtet, weist er doch sein Opus III auf den Titelseiten der Stimmbücher aus als »Concerti a due Violini, e Basso continuo obligati, E due altri Violini, Viola, e Basso di rinforzo ad arbitrio …« (Konzerte für zwei Violinen und Generalbaß als zwingende Stimmen - und zwei andere [weitere] Violinen, Viola und Baß als Verstärkung nach Belieben). Und dem »Gefälligen Leser« (Cortese Lettore) wird im kurzen Vorwort signalisiert, daß man eigentlich alle sieben Stimmen spielen müsse und die zur Verstärkung bestimmten sogar verdoppeln könne, man jedoch auch glücklich wird, wenn die Stücke von nur zwei Violinen und Basso continuo ausgeführt werden. Deutlicher läßt sich das Verwobensein von Konzert und Triosonate wohl kaum zum Ausdruck bringen.

Einschränkend gilt es jedoch zu bemerken, daß die von Manfredini gebrauchte Titelformulierung den realen Besetzungsgegebenheiten in den Concerti op. 3 nur zum Teil gerecht wird. Vor allem die erste der drei Werkgruppierungen (zu je vier Konzerten) »sperrt« sich gegen die im Vorwort offerierte Aufführungsmöglichkeit mit nur zwei Violinen und Basso continuo, denn diese Concerti sind als »solofreie« »Ripieno-Konzerte« konzipiert, und beide Violino-Stimmen sind - des angestrebten »rauschenden Klangeindrucks« wegen fast durchweg unisono geführt. Die Mitwirkung der Viola - hier sogar in der Doppelfunktion einer an den motivischen Aktionen teilhabenden Gegenstimme sowie als harmoniefüllende Mittelstimme - ist daher unverzichtbar.

Die Ritornellsatzform gelangt fast ausschließlich in den Kopfsätzen der »Ripieno-Konzerte« zur Anwendung - und zwar dergestalt, daß jeweils dem modulierenden und mit zündend formulierter Concerto-Thematik ausgestatteten Eingangsritornell der nächste Ritornelleinsatz auf anderer Tonstufe unmittelbar (oder nach kurzen Zwischengliedern) ohne zwischengeschaltete Soloepisode folgt. Die Anlage der raschen Finali in diesen »Ripieno-Konzerten« ist durchweg zweigeteilt, d.h., zwei Einzelsätze von zumeist tänzerischem Charakter bilden ein zusammenhängendes, mit Reprisen ausgestattetes Satzpaar. Mit dieser Art der Satzfolge erweist der Komponist der populären Suite seine Reverenz (als Satztypen begegnen vor allem Giga und Gavotta, aber auch Minuetto und Bourrée sind anzutreffen). Einen eigenständigen langsamen Mittelsatz von gravitätisch-tänzerischem Gestus weist in den »Ripieno-Konzerten« allein das Concerto III auf, ansonsten stellen lediglich »modulierende Brücken« - den Kopfsätzen angehangene Adagio-Abschnitte - die Verbindung zur jeweiligen Finalsatzgruppe her.

Das Innere der Basilika San Petronio
Die vier Solokonzerte, notfalls mit der vom Komponisten vorgeschlagenen Mindestbesetzung realisierbar, sind ihrer »Bauweise« nach eindeutig dem Muster Torellis verpflichtet: Insonderheit die vielgestaltige (mitunter auch abrupte) und kontrastreiche Abfolge einzelner kurzer Satzabschnitte sowie vollständiger Sätze und »Sätzchen«, die diese Konzerte prägen, ist von Torelli übernommen. Ähnliches gilt auch für die konsequente thematische Differenzierung zwischen den Tutti- und Solopartien, denn wie sein Lehrer und Vorbild stattet Manfredini nur die Tuttiabschnitte mit prägnanter Thematik aus, während die - allerdings relativ kurzen - Soloepisoden fast ausschließlich aus virtuosen Passagen und spielerischem Figurenwerk gespeist sind. Dabei können die herangezogenen Solofigurationen sowohl an der Thematik des Tutti »orientiert«, als auch »athematischer Natur« sein: So war es unabdingbar, daß der Komponist die Solofiguration zum Konzertsatz »Allegro« in Concerto V aus dem Bewegungsfluß des Tutti-Themas entwickelte, denn nur so konnte der im »Gewand« einer italienischen Giga angelegte Satz in seiner Gesamtheit »wie der glattfortschiessende Strompfeil eines Bachs« (J. Mattheson, 1739) dahinziehen. Im Kontrast dazu wird im nachfolgenden »Andante« stereotype Solofiguration im Einheitsablauf ohne thematische Bindung demonstriert.

Wenn auch Manfredini grundsätzlich an der Bologneser Art der Concerto-»Konstruktion« festhielt, hat er sich keineswegs dem venezianischen Einfluß verschlossen. So lassen die durchsichtigen, im tänzerischen Dreiertakt komponierten schnellen Schlußsätze erkennen, daß er die Setzweise eines Tomaso Albinoni (1671-1751) sehr wohl reflektiert hat. Und von Antonio Vivaldi (1678-17411. dem Großmeister des Concerto schlechthin, übernahm er so manches »musiksprachliche Detail« für die Ausgestaltung seiner Konzerte - sei es auf dem Gebiet der virtuosen Figuration oder in Fragen des »Gestus« oder »Impetus« eines Konzertsatzes (ein besonders markantes Beispiel istdafür der Kopfsatz in Concerto VII).

Die vom Komponisten vorgeschlagene Variante, die Konzerte mit nur zwei Violinen und Basso continuo zu besetzen, zielt wohl insbesondere auf die Concerti IX bis XII ab, deren Ausstattung mit zwei obligaten Violinen in der Tat - auch bei Verzicht auf die »Violini di rinforzo« und die Viola (deren Part allein der harmonischen »Füllung« dient und vom Basso continuo mit übernommen werden kann) eine nahezu verlustfreie Wiedergabe der musikalischen Strukturen in Triobesetzung erlaubt. Doch werden bei Einsparung der Ripienisten zwangsläufig auch die Tutti-Solo-Kontraste verwischt, und es scheint sehr zweifelhaft, ob das klangliche »Verschlanken« gerade diesen Konzerten mit konsolidierter Ritornellsatzform gut ansteht - zählen sie doch ihrer Machart nach zu den progressivsten im gesamten Zyklus.

Besonders trifft diese Feststellung auf das Concerto IX zu, in dem alle Sätze, einschließlich dem Mittelsatz »Largo«, in Ritornellsatzform angelegt sind, wobei dem »Presto«-Eröffnungssatz eine unbegleitete, nur von den bei den Soloviolinen zu spielende »Adagio«-Introduktion im wiegenden 3/2-Takt vorangestellt ist - eine Art der Sologestaltung, die in den vier Konzerten oft zu beobachten ist, denn in den Soloepisoden treten die konzertierenden Violinen stets paarweise, dabei unbegleitet oder nur gestützt vom Basso continuo auf.

Pierfrancesco Cittadini (1616-1681): Vanitas-Stillleben mit Violine, Notenbuch, Blumenvase und Schädel, ca. 1681,
Öl auf Leinwand, 101 x 164 cm, [Quelle].
Dieser Meister hat für das CD Cover ein Werk beigesteuert, welches im Internet
in einer adäquaten Reproduktion nicht auffindbar war.
Doch auch das viersätzige Concerto X läßt aufhorchen - einerseits durch die dem »Allegro« bzw. »Presto« vorgeschalteten tanzartig-gravitätischen Sätze im Menuet- bzw. Sarabande-Charakter, andererseits durch jene schnellen Sätze selbst: So fasziniert im »Allegro« das Spiel mit den nahezu allgegenwärtigen triolisehen Figuren, die - aufgereiht wie auf einer Perlenschnur - den Satz und die Stimmen durchwandern, während das Schluß-»Presto« durch seine gediegene kontrapunktische Arbeit und harmonische Dichte besticht.

Concerto XI ist in der Ritornellgestaltung seines Eröffnungssatzes deutlich der »Sprache« Vivaldis verpflichtet, insonderheit das »gemeißelte« Kopfmotiv erinnert an die unisone »Hammerschlag-Motivik« des berühmten Venezianers und verleiht dem Satz bei Auftauchen des Ritornells einen bedrohlichen, fast »bösen« Charakterzug, der in den Soli durch die beiden Violinen nur wenig gemildert wird. Ein ernsthaftes, der Ritornellform nahestehendes »Adagio« mit offenem phrygischen Schluß stellt die Verbindung her zu einer munteren (»Presto«), aber in Moll verbleibenden Giga in Konzertsatzform, mit der das Werk schwungvoll ausklingt.

Beschlossen wird der Zyklus von dem bekannten, freundlich-strahlenden »Weihnachtskonzert«, dessen erster Satz »Largo« als Konzertsatz mit Tutti- und Soloabschnitten ausgebildet ist und die eigentliche »Pastorale per il Santissimo Natale« beinhaltet, zu deren stilistischen Merkmalen die in Terz- bzw. Sextparallelen geführten Melodielinien ebenso gehören wie ein wiegender Siciliano-Rhythmus im 12/8-Takt sowie die streckenweise ruhenden Bordunbässe, über denen das weich und fließend angelegte Oberstimmenspiel abläuft. Die hier anzutreffende lichte Stimmung wird zwar durch herbe Harmonien im darauffolgenden Satz gestört, doch die in Terzen geführten Melodien im Dreiertakt mit den dazu brummenden Bässen stellen im Schlußsatz »Allegro« den weihnachtlichen Bezug dieser Musik wieder her.

Um dem Hörer eine abwechslungsreiche Konzertfolge zu bieten, ist auf der CD die originale Reihenfolge der Stücke, so wie sie in der bei Giuseppe Antonio Silvani 1718 in Bologna publizierten Druckausgabe anzutreffen ist [vier »Ripieno-Konzerte«, vier Konzerte mit einer bzw. vier Konzerte mit zwei SoloViolinen], umgestellt worden: Je viermal folgt in strikt symmetrischer Anordnung einem »Ripieno-Konzert« ein Violin-Solokonzert sowie ein Konzert mit zwei Solo-Violinen.

Quelle: Manfred Fechner, im Booklet


Track 38: Concerto XII in C "Pastorale per il Santissimo Natale" - I. Largo


TRACKLIST

Francesco Onofrio Manfredini 
(1684-1762) 

12 Concerti op. 3 


Concerto primo in F        5'21

01 Allegro assai           2'06
02 Presto                  2'13
03 Allegro                 1'01 

Concerto quinto in d       5'43 

04 Adagio                  0'55
05 Allegro                 1'58
06 Andante                 0'55
07 Presto                  1'53

Concerto nono in D         8'13

08 Adagio-Presto           2'48
09 Largo                   3'03
10 Allegro                 2'22

Concerto secondo in a      4'44
11 Presto                  2'18 
12 Allegro I               1'21 
13 Allegro II              1'04 

Concerto sesto in D        6'19   

14 Allegro                 2'23   
15 Adagio-Presto-Adagio    1'38   
16 Allegro                 2'17

Concerto decimo in g       9'29

17 Adagio                  1'29   
18 Allegro                 2'47   
19 Largo                   2'34   
20 Presto                  2'37   

Concerto terzo in e        5'19   

21 Allegro                 1'32   
22 Largo                   1'07   
23 Presto I                1'30   
24 Presto II               1'09   

Concerto settimo in G      6'33   

25 Allegro                 2'10   
26 Adagio                  2'13   
27 Presto                  2'10   

Concerto undecimo in c     7'42

28 Allegro                 3'06   
29 Adagio                  2'28   
39 Allegro                 2'08   

Concerto quarto in B       5'11

31 Allegro                 1'22   
32 Adagio                  1'21   
33 Presto                  1'24   
34 Allegro                 1'01   

Concerto ottavo in F       6'37   

35 Grave-Allegro           2'32   
36 Adagio-Presto-Adagio    1'38   
37 Presto                  2'26   
  
Concerto duodecimo in C    7'28   
"Pastorale per il Santissimo Natale«     

38 Largo                   3'49   
39 Largo                   1'42   
40 Allegro                 1'56

                    T.T.: 78'42   

Les Amis de Philippe     
Ludger Rémy     

Les Amis de Philippe:

Violino I            Anne Schumann, Sabine Kuhlmann, Ulla Schneider 
Violino II           Almut Backhaus, Jochen Grüner, Renate Gentz 
Viola                Lothar Haass, Thordes Hohbach, Klaus Bona 
Violoncello          Monika Schwamberger, Gregor Anthony  
Violone              Harald Martens 
Continuo: 
     Theorbe         Suzanne von Os 
     Organ           Beate Röllecke 
     Virginal        Sebastian Knebel
     Harpsichord     Ludger Rémy      
Direction            Ludger Rémy     
 
Soloists: 

Concerti V-VIII:     Anne Schumann 
Concerto IX:         Ulla Schneider, Jochen Grüner 
Concerto X:          Renate Gentz, Almut Backhaus 
Concerto XI:         Sabine Kuhlmann, Anne Schumann 
Concerto XII:        Anne Schumann, Almut Backhaus 


Recording August 30 - September 4, 1998 & May 7, 1999, Sendesaal Radio Bremen
Recording Supervisor, Editing and Premastering: Renate Walter-Seevers
Recording Engineer: Klaus Schumann
Recording Assistants: Ulrike Franz-Heintzeler, Christine Potschkar
Executive Producers: Burkhard Schmilgun, Helmut Schaarschmidt
Cover Painting: Pier Francesco Cittadini, "Stilleben mit Blumen und Musikinstrumenten",Sammlung Silvano Lodi, Campione D. I. 
(P) 2000 

Vom Engelspapst zum Weltenherrscher

Lebensbilder aus dem Mittelalter

Bonifaz VIII. Marmorbüste der Grabanlage in der alten Peterskirche, ein Werk des Arnolfo di Cambio. Das Antlitz des Bonifaz, der mit 64 Jahren Papst wurde, «ist nicht eigentlich jugendlich, sondern alterslos» (Ladner). Man hat darauf hingewiesen, daß sich in den Grabstatuen jener Zeit die Auffassung ausdrückte, die Toten würden in demselben Alter wie Christus auferstehen: im Alter von rund 30 Jahren. Die Errichtung eines aufwendigen Grabmals zu Lebzeiten des Papstes traf auf mancherlei Kritik. Bekannt ist die Antwort eines Bischofs auf des Papstes Frage, was denn dem Monument an Schönheit noch fehle: «Daß Ihr noch nicht drin seid!» - Die Marmorbüste, seit 1605 in den Grotten unter der Peterskirche, hat Paul VI. in die päpstlichen Gemächer schaffen lassen.

Daß ein Papst persönlich von engelhafter Heiligkeit sein sollte, ein papa angelicus, ein Engelspapst, ist stets ein sehnsüchtiges Ideal geblieben, immer wieder beschrieben und zugleich in der Ferne einer Endzeit gesehen. Beides zu sein: heilig durchs Amt und heilig im Leben, blieb ein visionäres Ziel. 1294, in einer äußerst kritischen Situation, holte man den in der Welt unerfahrenen, aber heiligmäßig lebenden Eremiten Peter vom Berg Morrone bei Sulmona aus seiner Einsiedelei, um ihn auf den Stuhl Petri zu setzen. Er nahm den Namen Cölestin, der Himmlische, an. Der ungebildete Einsiedlerpapst Cölestin V., dessen ungepflegte äußere Erscheinung von seiner Umgebung abstach, konnte kaum Latein und hatte von kirchlicher Verwaltung keine Ahnung. Die Kurie mußte sich umstellen, jede Verhandlung in italienischer Sprache führen, wobei der Papst hilflos bald diesem, bald jenem Kardinal die Entscheidung übertrug. Ein nicht einmal bösartiger Beobachter der Szene sagte, dieser Papst regiere nicht aus der Fülle seiner Macht, sondern aus der Fülle seiner Einfalt. Er wollte die Welt einem Zeitalter des Heiligen Geistes entgegenführen und ernannte viele Mönche zu Kardinälen. Die Weltabgewandtheit ließen Chaos und Korruption aufkommen.

Cölestin V., dessen Gestalt manchem Zeitgenossen als der fleischgewordene «Engelpapst» erscheinen mochte, hat nur fünf Monate regiert. Er resignierte im selben Jahre 1294: der einzige Fall bislang [1998], daß ein Papst zurücktrat. «Am Tage der heiligen Lucia (13. Dezember) verzichtete Papst Cölestin auf sein Amt, und er tat wohl daran», notierte ein Zeitgenosse. Cölestin lebte noch anderthalb Jahre, zuletzt als Gefangener in einer engen Zelle, scharf bewacht und abgeschirmt, damit sich niemand seiner Hilflosigkeit bemächtigte. Er hinterließ eine Verwirrung, größer, als sie vor seiner Wahl bestanden hatte. Der Versuch eines «heiligen», eines «Engelpapstes», war gescheitert […].

Ein Einsiedler gibt ein Elixier einem Papst, dem ein Fuchs die Tiara vom Kopfe stößt. Mit dem Fuchs, der nach der mittelalterlichen Bibelexegese einen Ketzer anzeigt, dürfte Bonifaz VIII. gemeint sein: eine versteckte Anspielung auf das Gerücht, Bonifaz VIII. habe Cölestin V. gestürzt.

Der hilflose Cölestin hatte den juristisch gebildeten Kardinal Benedetto Gaetani gefragt, ob es möglich sei, daß ein Papst von seinem Amt zurücktrete, und der Kardinal hatte die Möglichkeit eingeräumt, zugleich aber davon abgeraten. Beim Rücktrittsverfahren selbst, das auf Vorbilder nicht zurückgreifen konnte, war der Kardinal beratend beteiligt, und als Benedetto Gaetani anschließend, an der Weihnachtsvigil des Jahres 1294, als Bonifaz VIII. den Papstthron bestieg, hat es nicht an spitzen Zungen gefehlt, die zwischen dem Verzicht Cölestins und dem Aufstieg des Bonifaz einen Zusammenhang sahen. Vor allem bei den Schwärmern, den Spiritualen, die vom gleichen Geiste wie Cölestin waren und deren Stimme beim Volke viel galt, war er in Mißkredit geraten. Nicht freiwillig habe Cölestin den Schritt vollzogen, und an der vom neuen Papst verhängten Klosterhaft sei er zugrunde gegangen, so raunte man.

Wer dem Cölestin-Nachfolger geradezu körperlich begegnen will, trete vor eine der nicht wenigen Statuen Bonifaz' VIII., denn er war der erste Papst, der angewiesen haben soll, daß an ausgezeichneten Orten Statuen seiner Person errichtet werden, und eine ganze Reihe dieser Denkmäler ist erhalten. Eins der schönsten Zeugnisse ist die Marmorbüste von St. Peter, ein zeitgenössisches Werk des größten Meisters der toskanischen Gotik und seiner Schule, des Arnolfo di Cambio: Sie zeigt ein volles, fast jugendliches Gesicht mit einem energischen Kinn und einer leicht gerümpften Nase, als nehme ihr Besitzer einen unangenehmen Geruch wahr. Etwas Überirdisches oder asketische Durchsichtigkeit strahlt die Figur nicht aus.

Der Amtsverzicht Cölestins V. (1294) ist in vielen Bildern festgehalten. Hier ein Fresko des 15. Jahrhunderts. Cölestin, schon in der Mönchskutte, hat bereits den Mantel abgelegt und fügt, am Knaufe haltend, die Tiara mit dem dreifachen Kronreif hinzu, die in dieser Gestalt freilich erst in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts aufkam. Dante hat Cölestin die «große Verweigerung» (il gran rifiuto) übelgenommen und ihn in den ersten Zirkel der Hölle versetzt. Durch Cölestins «Verweigerung» war Bonifaz VIII., Dantes Erzfeind, auf den Thron gekommen.

Unmittelbar nach seiner Wahl hatte Bonifaz VIII. befohlen, für ihn im Hauptschiff der Peterskirche ein Grabmal anzulegen. Offenbar lag ihm daran, seine Gestalt sichtbar in die Kette der Petrusnachfolger einzureihen, denn noch nie war ein Papst einem lebenden legitimen Vorgänger nachgefolgt: Der rechtlich und liturgisch enge Zusammenhang von Tod, Bestattung, Neuwahl und Krönung war gestört. Als wolle er den Gottesdienst an seinem Grabmal für die Zukunft herbeizwingen, ließ er in den Altar die Gebeine des seit dieser Zeit als heilig angesehenen Bonifaz IV. (608-615) versenken, eines wahrlich nicht bedeutenden, aber namensgleichen Vorgängers, dessen Überreste in Sankt Peter zur Hand waren. Das Papstbuch meldet als wichtigstes Ereignis seines Pontifikats, daß auf seine Bitte Kaiser Phokas 609 genehmigt habe, das heidnische Pantheon in eine der Maria und allen Märtyrern geweihte Kirche umzuwandeln. Über dem Altar in einer Nische lag auf einem mit dem Gaetaniwappen geschmückten Sarkophag Bonifaz VIII. als Gestorbener, in Marmor gehauen, ebenfalls von Arnolfo di Cambio und seiner Werkstatt. Die Büste des lebenden und die Liegefigur des toten Papstes sind beide Bestandteile des von Bonifaz VIII. angewiesenen Grabmals. Kein Papst hat für seine Verehrung so energisch gesorgt wie Bonifaz VIII., von dem der anglikanische Papsthistoriker Kelly schreibt, er sei ein höchst unsympathischer Mensch gewesen, «der außerordentliche Fähigkeiten mit Arroganz und Grausamkeit, unersättliche Habgier zugunsten seiner Familie mit empfindungsloser Verachtung für seine Mitmenschen in sich vereinte; der gefürchtet und verhaßt und zur Freundschaft unfähig war».

Papst Cölestin V. im Habit der sich auf ihn berufenden Cölestinermönche mit Heiligenschein und Palme: er ist damit als Märtyrer gekennzeichnet. In spiritualen Mönchskreisen wurde behauptet, Cölestin V. sei auf Veranlassung Bonifaz' VIII. ermordet worden, doch auch Cölestins Kerkerhaft und Tod 1295 konnten als Martyrium aufgefaßt werden. Wandgemälde der ersten Hälfte des 14.Jahrhunderts in S. Onofrio auf dem Monte Morrone in der einstigen Zelle des Petrus auf dem Berge Morrone (bei Sulmona) vor seiner Erhebung zum Papst.

Irdische Macht und himmlische Gewalt

Im Kontrast zu Cölestin V. ging es bei Bonifaz VIII. - zumindest zu Beginn des Pontifikats - recht irdisch zu. Seine Wahl verdankte er seiner Feindschaft zur römischen Familie der Colonna und zu den Franzosen, gegen die man sein Vorgehen erwartete, und die Auseinandersetzungen mit diesen nahen und fernen Feinden haben seiner Regierung die entscheidende Richtung gegeben. Wichtig schien dem neuen Papst - der sich Bonifaz nach einem seiner Vorfahren nannte, der unter diesem Namen Papst gewesen war - die materielle Fürsorge für das Papsttum und sein Geschlecht. Bonifaz hielt beides kaum auseinander. Damals deutete sich an, was man später wie eine Faustregel formulierte: eine römische oder italienische Adelsfamilie, die reich werden wolle, müsse einen Papst stellen: die Medici, die Barberini, die della Rovere, die Carafa, die Borghese usw. Das war und blieb nicht immer so, aber das Beispiel Innozenz' III. hatte es gezeigt, und Bonifaz VIII. belegte es in noch größerem Ausmaß. Kein Papst vor ihm und nach ihm hat den privaten Grundbesitz so vermehren können wie er, und das meiste davon ist bis in das 20.Jh. im Besitz der Familie Gaetani geblieben.

Über den Regierungsstil des Gaetani-Papstes berichtete der aragonesische Gesandte an seinen König: «Der neue Papst beschäftigt sich nur mit drei Dingen: lange zu leben, Geld zu verdienen und seine Familie zu bereichern ... An etwas Geistiges verliert er keinen Gedanken.» Das Urteil ist gehässig und in dieser Form zu simpel. Der erste Vorwurf des Aragonesen, Bonifaz trachte nach einem langen Leben, läßt sich allerdings reich belegen. Kaum ein Papst war um sein Leibeswohl so sehr besorgt wie Bonifaz VIII.; mindestens sieben Ärzte haben sich in dem kurzen Pontifikat von nur neun Jahren in dieser Aufgabe abgewechselt, und auf verschiedene Weise versuchte Bonifaz, sein Leben zu verlängern, mit Elixieren und mit magischen Praktiken.

Die Liegefigur Bonifaz' VIII. wie die Büste gehören zum sofort nach Pontifikatsbeginn angewiesenen Grabmal in Sankt Peter. Auch hier fällt, wie bei der Büste, die Jugendlichkeit und die Frische des über sechzigjährigen Papstes auf, dessen Antlitz «klassische und todüberwindende Gelassenheit» ausstrahle (G. Ladner). Der Hofdichter Bonaiuto von Cosentino sagt von diesem Grabmal, hier sei es dem Papst, dem «wachsamen Richter des Erdkreises», gestattet gewesen, die Zeit anzuhalten. (Sankt Peter, Vatikanische Grotten)

Die schamlose Bereicherung der eigenen Familie, der zweite Vorwurf, wurde schon von den Zeitgenossen als Skandal empfunden, und Dante, der Zeitgenosse, hat Bonifaz wegen dessen Jagd nach irdischen Gütern in die Hölle unter die Schacherer versetzt. Aber der Tadel, Bonifaz verwende an Geistiges keinen Gedanken, ist unberechtigt. Gewiß bewegten ihn keine hohen Reflexionen über Aufgaben und Stellung des Papstes: Er lebte die Idee, die er verkündete. Neue Gesetze bedürften keiner Vorberatung und keines Menschen Hilfe: denn der römische Bischof (so Bonifaz wörtlich) «hat alle Rechte im Schrein seiner Brust». Der Münchner Stiftspropst Ignaz von Döllinger, einer der Hauptgegner des päpstlichen Universalprimats von 1870, empörte sich: «Und aus diesem Schreine zieht er von Zeit zu Zeit hervor, was er den Bedürfnissen der Welt und der Kirche angemessen erachtet.»

Der Binde- und Lösegewalt verlieh der Papst besonderen Ausdruck, indem er das Jahr 1300 zum Heiligen Jahr erklärte und den Jubelablaß verkündete, d.h.: Alle Römer, die die Basiliken der beiden Apostelfürsten dreißigmal, und alle Pilger, die diese Stätten fünfzehnmal besuchten, erhielten vollkommenen Ablaß. Bonifaz hat den Rhythmus von 100 Jahren aus dem Alten Testament herausgelesen, später verkürzte man den Abstand auf 50 und 33, schließlich auf 25 Jahre; die letzten anni santi waren 1975 und 1983, letzteres anläßlich der 1950. Wiederkehr des Todesjahres Christi. Die Vorbereitungen für das Jubeljahr 2000, das besonders herausgehoben gefeiert werden soll, laufen bereits. [1998]

Das von Papst Bonifaz ausgerufene Jubeljahr 1300 machte auf die Zeitgenossen einen gewaltigen Eindruck: 2 Millionen Besucher soll die Stadt gesehen haben, und die Kleriker der beiden Titelkirchen - St. Peter und St. Paul vor den Mauern - hätten das Geld mit Rechen zusammengeharkt. Das dürfte stark übertrieben sein: Man schätzt die Wirklichkeit auf 200000 Fremde, und der in Rom gelassene Reichtum floß nicht dem Papst, sondern eben den beiden Kirchen zu. Ein urkundlicher Beleg besagt, daß die Paulskirche über 9000 Gulden bei einer päpstlichen Bank als Summe des Jubeljahres hinterlegt hat: viel, jedoch nicht überwältigend.

Dante Alighieri (1265-1321) hat Papst Bonifaz VIII. zutiefst gehaßt. Im 19. Höllengesang seiner Göttlichen Komödie reserviert er dem noch lebenden Bonifaz bereits einen Platz in der Unterwelt. Von Vergil geleitet, gelangt Dante bei seiner Höllenwanderung zur Bucht der Simonisten, der Ämterschacherer, die kopfunter eingegraben sind. Dante fragt einen Leib, wer er sei, und erhält die überraschende Antwort: «So bist du schon zur Stelle, so bist du schon zur Stelle, Bonifazio?» Denn bei dem Sünder handelt es sich um Papst Nikolaus III. (1277-1280), der bereits auf Bonifaz VIII. wartet und den fragenden Dante für diesen hält. Bei der wiedergegebenen Szene einer Sieneser Handschrift des beginnenden 15. Jahrhunderts fragt Dante gerade den mit den Beinen strampelnden Leib des Ämterschacherers, des auf Bonifaz VIII. wartenden Nikolaus III., der wie Bonifaz nachhaltig in dem Ruf stand, seine Familie mit Gütern versorgt zu haben. Der Dominikaner Tolomeo von Lucca (+ 1326/27), Zeitgenosse Dantes, schreibt in seiner Kirchengeschichte: «er liebte die Seinen zu sehr» (nimis ... amator suorum).

Bonifaz VIII. und Philipp IV von Frankreich:
Theokratie gegen modernen Staat


Die Hauptaufgabe, die Bonifaz sich gestellt hatte, war die Vernichtung des «Natterngezüchts» der Colonna und die Brechung der französischen Vorherrschaft. In Frankreich regierte seit 1285 König Philipp IV. mit dem Beinamen des Schönen; sein Herrschaftsstil zeigt moderne Züge. Die Richtlinien der Politik wurden nicht, wie bislang, von einer hochadligen Umgebung bestimmt; vielmehr zog er einen Kreis geheimer Räte heran, nahezu ausnahmslos Bürgerliche oder Angehörige des niederen Adels; sie hatten Römisches Recht studiert und waren dem König blind ergeben, durch dessen Gunst sie aufgestiegen waren. Dieser «Braintrust» des französischen Königs gab seiner Politik etwas Durchdachtes, und zudem war für jeden Schritt eine theoretische Begründung parat.

Nach einigen Plänkeleien wurde die Auseinandersetzung zwischen römischem Papsttum und französischem Königtum von 1296 an immer härter. Der König von Frankreich belegte, um die aufwendigen Kriege zu finanzieren, auch seine Kirchen mit Steuern, beanspruchte deren Zehnten. In einer Bulle verbot Bonifaz diese Steuerpraxis, aber Philipp kümmerte sich nicht darum; nicht nur daß er die Besteuerung fortführte: er sperrte dem Papst alle nach Rom gehenden Abgaben und traf damit Bonifaz an seiner empfindlichsten Stelle. Der Papst lenkte ein, aber der Kampf war nicht ausgestanden, zumal eine in jenen Jahren ausgebildete Staatstheorie dem französischen König bescheinigte, er habe keinen Höheren über sich und sei Kaiser in seinem Königreich.

Bonifaz VIII. verkündet von der Benediktionsloggia des Lateranpalastes das erste Jubeljahr 1300: so lautet die gängige Deutung. Neuerdings möchte man in dem Bild die Krönungsfeierlichkeiten Bonifaz' VIII. erkennen. (Nachzeichnung eines heute größtenteils zerstörten Freskos von der Hand Giottos, das ursprünglich in der später abgerissenen Benediktionsloggia selbst angebracht war.) - Der Stil des «Heiligen Jahres» hat sich im Laufe der Zeit verändert. Herkömmlich eröffnet der Papst das «Heilige Jahr» durch Öffnen der «Goldenen Pforte» von Sankt Peter; gleichzeitig tun dies Kardinallegaten im Lateran, in S. Maria Maggiore und St. Paul vor den Mauern. Seit 1500 wird der Jubiläumsablaß, zeitlich versetzt, auf die ganze Welt ausgedehnt.

Einem in seinem herrscherlichen Selbstbewußtsein gehobenen König Philipp von Frankreich schrieb Bonifaz im Februar 1301 folgenden Brief: «Höre, mein Sohn» - es handelt sich um den Anfang der Gehorsam fordernden Benediktregel: Ausculta fili - «Höre, mein Sohn ... Gott hat den Papst über die Könige und ihre Reiche gesetzt ... Daher kannst Du nicht sagen, o König, daß du keinen über dir hättest; auch du unterstehst dem Papst. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Narr oder ein Ungläubiger.» Aber Bonifaz hatte unterschätzt, was ein straff organisierter Staat vermag. Nicht nur daß Philipp die Publikation der echten päpstlichen Bulle verhinderte: er tauschte sie aus gegen eine gefälschte, die unter das Volk gebracht wurde, zusammen mit seiner Antwort: «Philipp an Bonifaz keinen Gruß. Deine Dummheit möge wissen, daß wir niemandem in weltlichen Dingen unterstehen ... Die anderes glauben, sind Narren. Gegeben zu Paris» usw.

In diesen Wechsel hitziger Verlautbarungen gehört die wohl berühmteste Bulle des Mittelalters: die Dekretale «Unam sanctam», wie sie üblicherweise nach den ersten Worten heißt. Es ist die umfassendste Begründung der päpstlichen Universalherrschaft und beginnt mit den Worten: «Wir sind, vom Glauben getrieben, zu bekennen und daran festzuhalten gezwungen, daß es nur eine einzige heilige katholische und apostolische Kirche gibt.» Der Text gipfelt in dem Satz: «Nun aber erklären wir, sagen wir, setzen wir fest und verkündigen wir: Es ist zum Heile für jegliches menschliche Wesen durchaus unerläßlich, dem römischen Papst unterworfen zu sein.» Lange Zeit hat man den Wortlaut und die wie aus verschiedenen Bausteinen zusammengesetzten Ansprüche für originell gehalten, aber es lassen sich viele Vorlagen ausmachen, z. B. Bernhard von Clairvaux (+ 1153) und vor allem Thomas von Aquin (+ 1274). Doch es blieb Bonifaz vorbehalten, die theoretischen Forderungen gleichsam wörtlich in die Praxis überführen zu wollen.

König Philipp IV. (1285-1314), den schon die Zeitgenossen «den Schönen» nannten. Statue von seinem Grabmal in der Kirche Saint-Denis bei Paris. Philipp, der Räte meist bürgerlicher Herkunft an den Hof zog, bedeutet für die Geschichte Frankreichs die Herausbildung eines zentralistisch und bürokratisch beherrschten Staates. Sein Verwaltungsapparat konnte den päpstlichen Einfluß abblocken. Der gefügige Papst billigte die Auflösung des Templerordens, dessen reichen Besitz Philipp übernahm.

Das Attentat von Anagni (1303)
Der Anfang vom Ende


Ein Tag - der 7. September des Jahres 1303 - hat das Leben dieses Papstes, aber auch das Papsttum im ganzen entscheidend verändert. Im Morgengrauen drang ein Trupp Bewaffneter, vorbei an der bestochenen päpstlichen Torwache, in die Stadt Anagni ein, die Geburtsstadt des Papstes, wo er, der um sein körperliches Wohlbefinden so sehr besorgt war, während der kurialen Sommerpause residierte. An der Spitze des Unternehmens standen zwei Todfeinde Bonifaz' VIII.: Sciarra Colonna, eine aufbrausende Landsknechtsnatur aus der von dem Gaetani gnadenlos verfolgten Familie, deren Stammsitz er zerstört hatte, und der einflußreichste Ratgeber des französischen Königs, Wilhelm von Nogaret, dessen Eltern als Opfer der Inquisition verbrannt worden waren. Mit dem Ruf «Frankreich und Colonna» stürmten die Eindringlinge auf die Häuser der Kardinäle und auf den Papstpalast zu. Die Kardinalsbehausungen wurden schnell genommen, die Kardinäle selbst entkamen verkleidet durch die Gänge der mannshohen Latrine; der Papstpalast war erst am Abend erobert. Die Angreifer fanden Bonifaz in vollem päpstlichen Ornat auf dem Throne sitzend, die Krone auf dem Haupt und ein Kreuz in den Händen. Sciarra Colonna soll auf ihn zugestürzt sein, und die Berichte gehen nun auseinander, ob er mit der gepanzerten Faust den Papst ins Gesicht geschlagen habe oder nicht. «Hier ist mein Nacken, hier mein Haupt», rief der Papst den Wütenden zu, bereit eher den Tod zu erleiden, als abzudanken, was von ihm verlangt wurde.

Anfang der Bulle «Unam sanctam» in den päpstlichen Originalregistern (Reg. Vat. Tom. 50). Sie gilt als klarster Ausdruck päpstlicher Weltherrschaftsvorstellungen im Mittelalter.

Sciarra Colonna hätte wohl den Mord in Kauf genommen, aber Nogaret trat dazwischen und setzte den Papst gefangen: eine Nacht, einen Tag und wieder eine Nacht. Man ließ ihn hungern, aber die Angreifer hatten zu lange in Unentschiedenheit verharrt und zudem die Stimmung der Vaterstadt des Papstes falsch eingeschätzt. Am Morgen des dritten Tages vertrieben die Bürger von Anagni die Eindringlinge, befreiten den Papst und führten ihn auf den Marktplatz. Hier soll der halbverhungerte Papst, dem man die Spuren der Mißhandlungen ansah, die umdrängende Menge um ein Stück Brot und einen Schluck Wein oder Wasser gebeten haben, und das Volk schleppte Unmengen davon herbei zu dem Papst, der plötzlich ein anderer geworden war, mit dem man - wie es in einem Bericht heißt - plötzlich sprechen konnte «wie mit einem armen Menschen».

Das Attentat von Anagni ist zunächst ein tiefer Einschnitt im Leben Bonifaz' VIII. Wohl bannte der Papst, wie es sich gehörte, König Philipp IV. von Frankreich und dessen Familie und zog nach Rom, aber Benedetto Gaetani war ein gebrochener Mann, dessen Geist zeitweise getrübt war und der in Tatenlosigkeit verharrte. Einen Monat nach dem ruchlosen Überfall ist Bonifaz VIII. gestorben, 73 Jahre alt.

Das Attentat von Anagni bedeutet aber auch einen Bruch in der Geschichte des Papsttums. Es geriet in die Abhängigkeit Frankreichs, siedelte nach Avignon über, und die Argumentation blühte auf, daß der Papst, der mit der römischen die allgemeine Kirche verkörpere, nicht unbedingt in Rom seinen Sitz haben müsse. Er könnte durchaus an einem anderen Ort und eben auch in Frankreich residieren. Schon früher war angesichts der häufigen Abwesenheit der Päpste von Rom die Idee gepflegt worden, daß dort, wo der Papst und die Kurie sich befänden, Rom anzutreffen sei. Der große Rechtslehrer Heinrich von Susa (+ 1271), genannt Hostiensis, prägte die Formel «wo der Papst ist, da ist Rom» (Ubi papa, ibi Roma), und als das Papsttum sich anschickte, in Avignon ortsfest zu werden, baute der im Kirchen- wie im Römischen Recht bewanderte Baldus de Ubaldis (+ 1400) den Gedanken aus: «Wo der Papst ist, da ist Rom, Jerusalem, Sion und das allen gemeinsame Vaterland.»

Im Papstpalast von Anagni wird dem Besucher die Sala dello schiaffo, der «Saal der Ohrfeige», gezeigt, wo Sciarra Colonna den Gaetani-Papst Bonifaz VIII. geschlagen haben soll.

Aber die Zugkraft Roms, wo die Apostelgräber liegen und wohin zu Jubeljahren Hunderttausende strömten, ließ sich auf Dauer nicht unterdrücken. Der Streit um den Papst und den rechten Standort mündete in das große abendländische Schisma, das am Ende drei gegeneinander auftretende Päpste sah. Nie mehr hat ein Papst solche Weltherrschaftstöne angeschlagen wie Bonifaz VIII., der mit seinem maßlos übersteigerten Selbstbewußtsein die weltliche Macht herausgefordert hatte. Der französische König verstand sich in der Rolle des legitimen Verteidigers irdischer Rechte gegen unersättliche papale Ansprüche. In gewisser Weise begann damals der Rückgang der weltlichen Herrschaft des Papsttums, dessen Schlußakt der 20. September 1870 war: der Verlust des letzten Zipfels vom Kirchenstaat.

Quelle: Horst Fuhrmann: Die Päpste. Von Petrus zu Johannes Paul II. C. H. Beck, beckische Reihe 1590, 1. Aufl. 2004. ISBN 3 406 51097 3. Zitiert wurden die Seiten 27-30 und 139-151.


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Giovanni Legrenzi "blieb es vorbehalten, in Bergamo die ersten Triosonaten von epochaler Bedeutung zu schreiben". Mit romantischen Bildern und Max Rychners Auslassungen über den deutschen Roman.

Giovanni (Battista) Fontana dagegen stammt (wahrscheinlich) aus Brescia, und veröffentlichte 1641 in Venedig "Sonate a uno, due, e tre". 300 Jahre später veröffentlichte E. R. Curtius eine Würdigung von T. S. Eliot.

Horst Fuhrmann hat in diesem Blog schon einmal berichtet, und zwar "vom Elend des Ritterlebens", musikalisch begleitet durch Carlo Farinas Katzen.

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