10. August 2015

Der Glanz (????) der menschlichen Stimme

Nur ganz wenige Künstler haben jemals ihrem Publikum einen so uneingeschränkten Genuß bereitet wie Florence Foster Jenkins, aber trotzdem war diese außergewöhnliche Sopranistin auch klug genug, ihre Stimme zu einem relativ seltenen Ereignis zu machen.

Sie weigerte sich entschieden, öfter als einmal im Jahr in New York aufzutreten, und auch nur ganz selten anderswo - höchstens in Städten wie Washington und Newport. Durch viele Jahre war ihr alljährlicher Vortragsabend im Ritz-Carlton eine Art privater Zeremonie für ein kleines ausgesuchtes Publikum - ihren unerschütterlichen Anhängerkreis von Klub-Damen und einige unternehmungslustige Kenner. Und wenn die letzteren auch manchmal einen nicht ganz formvollendeten Überschwang an den Tag legten, so waren sie doch ebenfalls ein treues Gefolge.

Die Musikkritiker berichteten über das jährliche Ereignis im selben gewundenen englischen Stil, mit dem sie so oft - wenn auch vielleicht weniger beabsichtigt - eine perplexe Leserschaft darüber nachdenken lassen, was nun eigentlich wirklich am vorigen Abend vor sich gegangen war. Aber dann begann sich der Ruhm der Sängerin herumzusprechen. Eintrittskarten für ihre Abende waren schwerer zu bekommen wie die für das Baseball-Finale. Und schließlich, am 25. Oktober 1944, unternahm Madame Jenkins den großen Schritt: die brokatgeschmückte Atmosphäre eleganter Ballsäle hinter sich lassend, stellte sie sich einem Riesenpublikum in der Carnegie Hall. Es gibt Leute, die behaupten, daß der Tod der Sängerin einen Monat und einen Tag nach diesem Abend das Ergebnis eines gebrochenen Herzens war - eine ebenso unwahrscheinliche Geschichte wie die, daß ihre ganze Karriere ein einziger großer Witz auf Kosten des Publikums war - ein recht kostspieliger Witz nebenbei, da die Carnegie Hall schon Wochen vorher völlig ausverkauft war, mit Kartenverkäufen um rund 6.000 Dollar. Und wie der verstorbene Robert Bagar im New Yorker World-Telegram schrieb: »Sie war außergewöhnlich glücklich mit ihrer Tätigkeit. Schade, daß nur so wenige Künstler das sind. Und dieses Glücksgefühl teilte sich wie durch Zauberei auch ihren Zuhörern mit …«

Nein - Madame Jenkins starb in reifem Alter, mit 76 Jahren, um genau zu sein, und man darf sicher sagen, auch mit einem glücklichen Herzen.

Weder ihre Eltern noch ihr Ehemann hatten ihre musikalischen Ambitionen in irgendeiner Weise unterstützt, aber nach ihrer Scheidung, und mit dem Geld, das sie von ihrem Vater geerbt hatte - er war Bankier in Wilkes-Barre und ein Anwalt, der im Staatsdienst von Pennsylvania tätig war -stand es ihr frei, sich New York zuzuwenden. 1912, als Vorsitzende der Tableaux vivants des Euterpe-Clubs, wurde sogar etwas von ihr gedruckt und sie war gerne bereit für die alljährlichen Feierlichkeiten ihres Verdi-Clubs aufzukommen, deren prunkvolle Ausstattung dem Titel der Veranstaltung entsprach - »Der Ball der silbernen Lerchen«.

All dies gab ihrem Flair für Kostümentwurf freie Hand, womit sie sich als fast ebenso erstaunlich erweisen sollte wie mit ihren stimmlichen Abenteuern. Kein Gesangsabend von Madame Jenkins ging ohne wenigstens drei Kostümwechsel vor sich. Als »Engel der Inspiration« schwebte ihre sehr gewichtige, matronenhafte Gestalt durch die Topfpalmen auf die Kurve des großen Konzertflügels zu, komplett mit Schwingen und Flitter und Tüll. Kein Wunder, daß Helen Hokinson eine begeisterte Jenkins-Verehrerin war.

Einzigartig war auch ihre Methode der Eintrittskartenverteilung - ein Musterbeispiel für unverblümte Geschäftstüchtigkeit. In den Händen von Schwarzhändlern hätten diese begehrten Karten das Zehnfache gekostet - es muß jedoch bezweifelt werden, daß dies der Grund dafür war, daß Madame Jenkins auf dem persönlichen Besuch der Kartenkäufer in dem eleganten Stadthotel bestand, in dem sie eine Suite gemietet hatte. Mit spielerischer Hand die Karten bewegend wie etwa Rosina ihren Fächer, stellte sie Fragen wie:

»Mr. Gilkey; sind Sie vielleicht ein-ein Zeitungsreporter?«

»Nein, Madame Jenkins,«, erwiderte der Bewerber nüchtern, »ich bin ein Musikfreund.«.

»Wunderbar,« strahlte die Diva. »Zwei fünfzig pro Karte, bitte. Möchten Sie jetzt vielleicht ein Glas Sherry?«

Und ob er das wollte - wer würde nicht gern ein freundliches Glas mit diesem musikalischen Phänomen des Zeitalters trinken?

Es ist ewig schade, daß sie nie ihre beliebteste Zugabenummer, Clavelitos, aufgenommen hat, ein Stück, das sie unweigerlich stets wiederholen mußte. Einem zeitgenössischen Bericht zufolge erschien Madame Jenkins dabei in einer spanischen Mantilla, mit einem juwelenbesetzten Kamm und - wie Carmen - einer roten Blume im Haar. Sie unterstrich die rhythmischen Kadenzen des Liedes damit, daß sie aus ihrem hübschen Körbchen kleine rote Blümlein in die begeisterte Menge schleuderte -einmal folgte in einem Augenblick der Verwirrung auch das Körbchen selbst nach, das aber ebenso begeistert aufgenommen wurde.

Ehe sie dann ihr Encore wiederholte, mußte ihr ohnehin schon überstrapazierter Begleiter unter dem jubelnden Publikum die Blümchen und das Körbchen wieder einsammeln. Der Enthusiasmus der Menge erreichte an diesem Punkt ein geradezu unglaubliches Ausmaß.

Nach einem Autounfall in einem Taxi im Jahre 1943 entdeckte Madame Jenkins, daß sie plötzlich »ein höheres F als je zuvor« singen konnte. Anstatt einer Klage gegen die schuldige Taxifirma übersendete sie dem Fahrer eine Kiste kostspieliger Zigarren.

Obwohl hohe Koloratur ihr Spezialgebiet war, betätigte sie sich auch auf dem stilleren Gebiet von Liedern. 1934 begann sie ihr Programm mit Brahms' Die Mainacht. Unter dem Titel stand ein Zitat:

Oh Sänger, wenn du nicht träumen kannst,
Laß dieses Lied ungesungen.

Niemand wird jemals behaupten, daß Florence Foster Jenkins nicht träumen konnte.

Schon seit langer Zeit herrschte große Nachfrage nach einer Neuauflage dieser Florence Foster Jenkins-Platte, doch meinte man, eine zusätzliche Attraktion zu der Sopranistin finden zu müssen.

Wenn es unmöglich ist den Blitzstrahl des Genies vorauszusagen, wie kann man dann gar den Drang nach künstlerischem Tun voraussagen. Ohne vorherige Warnung kamen eines Tages Jenny Williams und Thomas Burns in die Schallplattenherstellung von RCA Victor. Sie wollten Platten für den eigenen Gebrauch anfertigen lassen, doch erklärten sie sich schließlich bereit, das auf dieser Platte jetzt vorliegende Material zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Die englischen Ubersetzungen stammen von ihnen und sprechen für sich selbst, aber auch für die Sache von Opern in englischer Sprache.

So wie Madame Jenkins ihren Weg vom Konzertpodium ins Plattenstudio gefunden hat so werden vielleicht Miss Williams und Mr. Burns eines Tages dank der Chance, die sie mit dieser Schallplatte zweifellos erhalten haben, jene Lücke zu füllen versuchen, die durch den Abgang von Madame Jenkins von der Musikszene entstanden ist.

Quelle: Francis Robinson, Assistant Manager der Metropolitan Opera (1952-76) und Verfasser von Caruso: His Life in Pictures, im Booklet


Track 1: Mozart: Die Zauberflöte: Der Hölle Rache (Arie der Königin der Nacht)


TRACKLIST

Florence Foster Jenkins:
The Glory (????) of the Human Voice

[01] Mozart - Die Zauberflöte / La flûte enchantée:              3:37   
     Der Hölle Rache (Queen of the Night Aria /     
     Air de la reine de la nuit)     

[02] Liadoff - The Musical Snuff-Box /                           2:25   
     Die Musikdose / Une tabatière à musique     
     (English version by Adele Epstein)     

[03] McMoon - Like a Bird                                        1:19   
     (Words by Mme. Jenkins)     

[04] Delibes - Lakme:                                            4:39   
     Ou va la jeune Hindoue? (Bell Song /     
     Glöckchenarie / Air des clochettes)
     
[05] McMoon - Serenata mexicano                                  2:10   

[06] David - La Perle du Brésil: Charmant oiseau                 6:02   
     (with flute and piano)     

[07] Bach-Pavlovich - Biassy                                     3:35   
     (Words by Pushkin; based on Bach Prelude XVI)
     
[08] Johann Strauss, Jr. - Die Fledermaus / La Chauve-souris:    3:49   
     Adele's Laughing Song / Air d'Adèle / "Mein Herr Marquis"     
     (English version by Lorraine Noel Finley)     

Florence Foster Jenkins, soprano     
Cosme McMoon at the piano     

Gounod - A Faust Travesty / Parodie de Faust 
(sung in English / chante en anglais): 

[09] Valentine's Aria / Invocation de Valentin                   3:15
     (Ere I leave my native land / Avant de quitter les lieux) 

[10] Jewel Song / Air des bijoux                                 6:00
     (0 heavenly jewels) 

[11] Salut, demeure chaste et pure                               4:45
     (Emotions strange / Cavatine du Faust) 

[12] Final Trio (sung as a duet / chanté en due)                10:40
     (My heart is overcome with terror) 

Jenny Williams, soprano 
Thomas Bums, baritone 
with piano accompaniment 
                                            Total Playing Time: 53.16

Originally recorded for 78-rpm records, digital remastered
ADD Mono (P)+(C) 1992 

Giovanni Segantini (1858-1899)


Giovanni Segantini: Alpenlandschaft mit Frau am Brunnen (um 1893). Öl auf Leinwand, 71,5 x 121,5 cm.
Museum Stiftung Oskar Reinhart, Winterthur.
Zu Lebzeiten berühmt und in den Museen Europas gewichtig vertreten, wurde Giovanni Segantini eine geradezu hymnische Verehrung zuteil. Der Gipfeltod in der Bergeinsamkeit - 41jährig starb der Maler an einer Bauchfellentzündung - verklärte ihn vollends zum genialisch-naturhaften Propheten der Zivilisationsskepsis. Man sah Segantini nietzscheanisch, rechnete ihn dem »Bekennertum von Munch, van Gogh, Ensor zu; Kandinsky reihte ihn unter die Wegbereiter des 'Geistigen in der Kunst' ein«, der italienischen Moderne, insbesondere den nachmaligen Futuristen, war er heroisches Vorbild. Heute gilt Segantini als bedeutende Erscheinung der Jahrhundertwende und als Hauptvertreter des Divisionismus, der italienischen Spielart des Neoimpressionismus.

1858 im damals österreichischen Arco am Gardasee geboren, verbrachte Segantini eine entbehrungsreiche, leidvolle Kindheit und Jugend. Dem frühen Verlust der Mutter, der ihn zeitlebens beschäftigt und die Thematik seines Werks mitgeprägt hat, und dem Tod des Vaters folgten wechselweise Aufenthalte bei Verwandten, in Waisenhäusern und Besserungsanstalten im großstädtischen Mailand. 1875 begann er Abendkurse an der Akademie Brera zu besuchen, tagsüber arbeitete er bei einem Dekorationsmaler, bis ihm 1878 das reguläre Tagesstudium ermöglicht wurde. Das Bild »Chor von Sant' Antonio« (Privatbesitz) trug Segantini an der Nationalen Ausstellung der Brera 1879 den 1. Preis ein und markierte den Abschluß seiner Ausbildung. Erste Aufträge für Porträts und Stillleben sowie die Unterstützung der Galerie Grubicy, die ihn später exklusiv unter Vertrag nahm, erlaubten 1881 die Übersiedlung in die am Comer See gelegene Brianza.

Giovanni Segantini: Kühe an der Tränke (1888). Öl auf Leinwand, 83 x 139 cm,
Kunstmuseum Basel, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung 1904.
In dieser noch unberührten Landschaft entdeckte Segantini, gemeinsam mit dem Malerkollegen Emilio Longoni, die intakte Kultur der Bauern und ihrer Tiere, eine Erfahrung, die für seine Motivwelt bestimmend bleiben sollte. In dunkeltonigen Szenen erscheint der bäuerliche Alltag - man spürt die von den Brüdern Grubicy vermittelte Kenntnis Millets - traumhaft-bukolisch überhöht. »Ave Maria bei der Überfahrt«, eine seiner einprägsamsten Bildfindungen überhaupt, erhielt an der Weltausstellung 1883 in Amsterdam eine Goldmedaille zugesprochen. Anfang 1886 verließ Segantini die Hügel der Brianza, wo er zuletzt seine monumentale Harmonievision des Landlebens, das Bild »An der Stange« (Rom, Galleria Nazionale d'Arte Moderna), gemalt hatte. Nach einem Mailand-Aufenthalt und einer Erkundungsreise durch verschiedene Alpentäler zog er im August desselben Jahres in die Schweiz: Die Familie - der Künstler und seine Lebensgefährtin Bice Bugatti, eine Schwester des bekannten Möbelentwerfers, sowie vier Kinder - ließ sich im Bündner Dorf Savognin am Fuß des Julierpasses nieder. Fortan bildeten die Berge und ihre Bewohner das Hauptmotiv in Segantinis Werk. Von Vittore Grubicy, selbst Maler und weitgereister Kritiker, angeregte Versuche mit dem Farbteilungsverfahren führten zur Entwicklung des charakteristischen fadenförmigen Auftrags und zur Entstehung des Divisionismus.

Alpenlandschaft mit Frau am Brunnen

Den Savogniner Jahren, nach den Etappen Mailand und Brianza die dritte Schaffensphase des Künstlers, entstammt die vorliegende frühsommerliche Gebirgslandschaft. Eine ausgeprägte Horizontalität, vorgegeben bereits im stark querrechteckigen Format, bestimmt die Komposition: Der intensiv hellblaue Himmel, die sonnenbeschienenen Berge und Wiesen sowie der beschattete Vordergrund gliedern die Bildfläche in drei parallele Zonen. Die waagerechte Ausrichtung - verhaltene vertikale Akzente setzen einzig links die sich vorneigende Frauenfigur und rechts der höchste Gipfel - betonen zudem der aus einem Stamm gehöhlte Brunnentrog, die verschneite Bergkette und die langgestreckten Wolken. Das Fehlen perspektivischer Fluchtlinien und die Vermeidung jedes dynamischen Tiefeneffekts verleihen der Darstellung statische Ruhe und unermeßliche Weiträumigkeit.

Giovanni Segantini: Mittag in den Alpen (1891). Öl auf Leinwand,
77,5 x 71,5 cm, Segantini Museum St. Moritz,
Dauerleihgabe der Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung.
Obwohl zu Lebzeiten des Künstlers ausgestellt, ist das unsigniert gebliebene Gemälde offenbar nicht ganz vollendet: Darauf deuten der lediglich untermalte Inkarnatston der Figur sowie einige nur grob strukturierte Wolkenpartien. Den maltechnischen Ablauf erläuternd, berichtet Segantini, daß er die Leinwand zuerst mit einer »möglichst leuchtenden Farbe von Terra rossa« bedecke und nach Festlegung der wesentlichen Linien mit der »Kolorierung« fortfahre: »Dazu benutze ich dünne, möglichst lange Pinsel, und ich beginne auf meiner Leinwand loszuarbeiten mit feinen dünnen und pastosen Pinselstrichen, indem ich stets zwischen jedem Pinselstrich einen Zwischenraum lasse, den ich mit den Komplementärfarben ausfülle [...]. Das Mischen der Farben auf der Palette führt dem Dunkeln entgegen; je reiner die Farben sind [...], um so besser führen wir unser Gemälde dem Licht, der Luft und der Wirklichkeit entgegen.« Zur Steigerung der Leuchtkraft hat der Maler überdies zuweilen Gold- oder Silberstaub appliziert, eine Methode, die hier bei der den Gipfeln vorgelagerten Bergschulter rechts Anwendung fand.

Nicht nur die durchsichtige Klarheit der Gebirgsatmosphäre erfährt in Segantinis divisionistischem Farbauftrag eine prägnante Umsetzung, sondern auch die dem Künstler eigene pantheistische Weltsicht. Die lineare Struktur, die Himmel, Erde und Mensch wie ein Lebensnerv durchzieht, wird zum Ausdruck der inneren Zusammengehörigkeit äußerlich verschiedener Erscheinungen: »Zwischen dem Menschen und dem Baum gibt es nur einen Unterschied: Der Mensch bewegt sich auf der Erde. Der Baum wurzelt in der Mutter Erde und bleibt dort fest gebannt in Erwartung seines Schicksals und seines Endes. So und nicht anders geht es uns auch [...].«

Im Kontext dieser IdeenweIt muß wohl auch die aus der hölzernen Leitung trinkende Frauenfigur gedeutet werden: Das Wasser, Symbol des ewigen Kreislaufs, sammelt sich im Brunnen, der seinerseits für die lebenspendende Kraft der Natur steht. Das Motiv des Trinkens bzw. des Wasserholens schließlich - seit der Brianza-Periode ein Leitthema im Schaffen Segantinis - versinnbildlicht das Einbezogensein der Kreatur in die zyklischen Abläufe der Schöpfung. Wie ein Motto zu unserem Bild liest sich ein Tagebucheintrag des Künstlers vom 1. Januar 1890: »Am meisten liebe ich die Sonne, nach der Sonne den Frühling, dann die Quellen, die in den Alpen kristallklar aus den Felsen sprudeln, die in den Adern der Erde rieseln und fließen, wie das Blut in unseren eigenen Adern [...].«

Giovanni Segantini: Ave Maria bei der Überfahrt (1886).
 Öl auf Leinwand,120 x 93 cm, Segantini Museum
St. Moritz, Dauerleihgabe der Otto Fischbacher
Giovanni Segantini Stiftung.
Ikonographisch und kompositionell nahe steht das Winterthurer Gemälde dem 1888 entstandenen Bild »An der Tränke« (Basel, Kunstmuseum), wo jedoch im Hintergrund, über dem dominierenden Kuhgespann, Häuser und Kirche von Savognin sichtbar werden. Den gleichen Landschaftsausschnitt - in Hochformat und entsprechend gedrängteren Proportionen - zeigt der »Mittag über den Alpen« (1891; St. Gallen, Kunstmuseum). Eine bildmäßige Zeichnung schließlich, »Ave Maria in den Bergen«, ist bei veränderter Figur in Motiv und Anlage nahezu identisch mit der vorliegenden Darstellung.

Der von Segantinis Sohn Gottardo gegebene Titel »Landschaft aus Savognino« bestätigt sich erst im Vergleich mit einigen Werken, die zweifellos dieselbe Gebirgsformation sowie überdies die Gebäude des Dorfes zeigen. Als Vorlage können so die nordwestlich von Savognin gelegenen Piz Curver und - in der rechten Bildhälfte - Piz Toissa identifiziert werden. Eigentlich zwei mehrgipflige Berge mit längeren Graten, erscheinen sie hier als gestreckte Kette, wobei auch die Höhenverhältnisse nicht der realen Topographie entsprechen. Zudem sind die kräftig ansteigenden Hänge zu einer ebenen, weitläufigen Schafweide umgestaltet. Die auf Betonung der Horizontalen zielende Abwandlung des Naturvorbildes ergibt - verbunden mit dem Breitformat - eine panoramahafte Wirkung. Dieser liegt aber nicht die Idee der freien Rundsicht, sondern ein kosmischer Ganzheitsbegriff zugrunde. In dessen Sinn erfuhr auch das von Segantini bis dahin genremäßig als Mutter-Kind-Beziehung bei Mensch und Tier behandelte Motiv der Mutterschaft eine Transzendierung zum umfassenden Daseinsprinzip: Die Kreatur in all ihren Lebensäußerungen, in diesem Beispiel die Frau am Brunnen, ist aufgehoben in der Ordnung der »Mutter Erde«.

1894, mit dem Umzug nach Maloja im Engadin, »wo sich damals die Stadtmüden und Entnervten, die nach reiner Höhenluft, nach reiner Natur Süchtigen« in kosmopolitischen Hotels versammelten, literarische Zirkel bildeten, Golf spielten und die Berge erklommen, trat Segantini ins Rampenlicht der Kunst- und Geisteswelt des Fin de siècle. Er korrespondierte mit Dichtern und Malern, knüpfte Kontakte zu Kritikern und Händlern und stand in enger Verbindung mit den europäischen Sezessionsbewegungen. Seine Bilder erlebten einen Triumphzug durch die Museen, und Segantini empfing Kunden und Gäste aus aller Welt, so z. B. Max Liebermann und Graf Robert de Montesquiou, Ästhet und »Prinz der Dekadenz« aus Paris. Doch trotz Ehrungen, Verkäufen und riesiger Nachfrage blieb die materielle Situation prekär, denn Segantini, der teuerste Landschaftsmaler seiner Zeit, pflegte einen großbürgerlichen Lebensstil und malte an einem Bild oft monatelang.

Das Alpentriptychon La Vita - La Natura - La Morte
 im Kuppelsaal des Segantini Museums, St. Moritz [Quelle]
In seinem letzten, unvollendet gebliebenen Werk, dem »Triptychon der Natur«: »Werden«, »Sein«, »Vergehen« (St. Moritz, Segantini Museum), fand die Sehnsucht nach der zyklischen Ganzheit des Seins, in die alles Lebendige - Natur, Tier, Mensch - und alles Zeitliche - Erblühen, Reifen,,Vergehen - eingebunden ist, abschließend die programmatische Gestaltung zum Harmonie-Ideal. Während der Arbeit am Mittelbild, auf dem Schafberg bei Pontresina, ist der Künstler im September 1899 gestorben.

Das Vorgehen Segantinis, dem eigenen Umkreis entnommene Motive frei zu kombinieren, hat die Alpenmalerei aus der Abhängigkeit des topographischen Bezugs gelöst. Anders als sein Zeitgenosse Hodler, der diesen Bezug stets respektiert und die Berge in menschenleerer Erhabenheit verewigt hat, schuf Segantini, obwohl auch er draußen zu malen pflegte, belebte »paysages composés« gemäß dem inneren Bild seiner Vorstellung.

Quelle: Matthias Wohlgemuth: In: Museum Stiftung Oskar Reinhart Winterthur. Deutsche, österreichische und schweizer Malerei aus dem 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert, Insel Verlag, Frankfurt/Leipzig 1993, Seiten 250-251

Wem dieser Post gefallen hat, dem gefielen auch folgende:

Musikalische Scherze von Mozart, Haydn, Schröder, Ochs, Pillney, Reizenstein (In diesen Fällen ist die Erheiterung der Zuhörer gewollt).

Im Recital I for Cathy müht sich die Sopranistin mit einem Kammerorchester durch ihr Repertoire, da ihr Pianist nicht erschienen ist. Dabei läßt sie ihr Publikum an einem inneren Monolog teilhaben, der von Samuel Beckett stammen könnte. (Mit einem Text von WMS.Nemo über Blasphemie.)

Der Musiker in Wuth: Georg Christoph Lichtenberg bespricht William Hogarths Stich. Begleitet wird er von Mozarts Klarinettenklängen.

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