4. Oktober 2016

Beethoven: Missa Solemnis op. 123, Karl Böhm, 1975 – Messe C-Dur op. 86, Karl Richter, 1970

„Mein größtes Werk ist eine große Messe“

Beethovens „solenne“ Messe steht neben Bachs Messe in h-moll und Mozarts Fragment gebliebener c-moll-Messe als Monolith in jener weiten kirchenmusikalischen Landschaft, die durch die Legion der Vertonungen des Mess-Ordinariums seit Guillaume de Machauts Messe de Nostre Dame geformt wurde. Ähnlich wie Bachs Missa, so sprengt auch Beethovens „größtes Werk“ den liturgischen Rahmen und ist für eine gottesdienstliche Verwendung kaum nutzbar.

Folgt man E.T.A. Hoffmanns Einschätzung in seinem Aufsatz „Alte und neue Kirchenmusik“, so ist das im Grunde auch überhaupt nicht nötig, denn „diese Musik ist ja der Kultus selbst, und daher eine Missa im Konzert, eine Predigt im Theater.“

Doch was ist das Thema der Predigt? Liest man die von Sven Hiemke gründlich aufgearbeiteten Zeugnisse, so ist die Missa nicht als Beethovensches Bekenntnis zum Katholizismus zu verstehen, denn zwar war Beethoven seit der Kindheit mit den katholischen Konventionen aufs engste vertraut, der erwachsene Komponist jedoch machte seiner Abneigung gegen den institutionalisierten katholischen Glauben keinen Hehl: „Ein Kirchgänger war Beethoven nie. Keine organisierte Religion. Kaum noch der bloßen Form genügen.“ (Hiemke, 21) Doch war er auch mitnichten ein, wie Haydn einmal bissig bemerkte, „Atheist“, denn die „Existenz Gottes als solche zu hinterfragen war Beethovens Sache nicht.“ (Hiemke, 22)

Vielmehr war auch Beethovens Glaubensverständnis vom freiheitlichen Denken der Aufklärung bestimmt. Besonders die „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres“ aus der Feder des protestantischen Theologen Christoph Christian Sturm hatten es Beethoven angetan, deren wesentliche These es ist, dass es „für ein unmittelbares Verhältnis zwischen Mensch und Gott durchaus keiner Intervention von Klerus bedurfte.“ (Hiemke, 24). So erklärt sich beispielsweise auch die Einfügung des emphatischen „o“ im Abschnitt Qui tollis peccata mundi, miserere nobis, denn dieses entspricht nicht mehr dem ritualisierten Text, es geht über ihn hinaus und lässt ihn zu einem individuellen Flehen werden. Der rein institutionelle Charakter des Ordinarium Missae löst sich auf, das Individuum tritt aus dem Ritus heraus und kommuniziert direkt mit dem Göttlichen.

Karl Böhm
Doch worauf zielt das Flehen des sich nun in der Messe selbst wahrnehmenden Individuums?

Man geht zum einen davon aus, dass wir es hier bis zu einem gewissen Grad mit dem Flehen des Individuums Beethoven zu tun haben, ein Flehen das Ausduck seiner Suche nach Gott zu sein scheint:

„Dem aber standen Phasen einer verstärkten Suche nach Gott gegenüber. Religiöse Fragen beschäftigten Beethoven, je älter er wurde, mit zunehmender Intensität. [...] Menschliches Leid – der Verlust des Gehörs, wirtschaftliche Nöte, die aufreibende Auseinandersetzung um die Vormundschaft für den Neffen, die Beethoven nach der Entsagung von der ‚unsterblichen Geliebten’ fast zwanghaft als Kampf um eine zwischenmenschliche Beziehung betrieb: all das gehört zum biographischen Hintergrund dieser Jahre.“ (Reiber, 14)

Hinzu tritt aber auch eine überpersönliche Komponente:

„Auch in Beethovens Umfeld trat damals eine Phase der Neuorientierung ein: Die Umwälzungen der Französischen Revolution und der Befreiungskriege hatten das aufklärerische Menschenbild bedenklich ins Wanken gebracht. Wo war die idealistische Emphase der Emanzipation geblieben? Wohin hatte der ‚Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit’, den das 18. Jahrhundert so siegessicher proklamierte, tatsächlich geführt? In der Gestalt Napoleons trat dem zu Ende gehenden Zeitalter das Zerrbild seiner hochgesteckten Ideale entgegen: eine Figur, die den Anspruch auf menschliche Autonomie erschreckend in Hybris verkeht hatte. Orientierung tat not.“ (Reiber, 14)

Lück sieht vor diesem Hintergrund in der Missa solemnis im Wesentlichen den Appell an den Menschen, das Göttliche im Diesseits durch die aktive Gestaltung einer menschlichen Welt zu verwirklichen.

„Wo die Neunte Sinfonie ein musikalisches Weltbild entwirft und ihren großen Appell ‚Alle Menschen werden Brüder ... Diesen Kuss der ganzen Welt’ formuliert, da äußert Beethoven in seiner Missa solemnis den einzig subjektiv bestimmten Glauben, den persönlichen, direkten Bezug zu einem wie auch immer vorgestellten himmlischen Vater, dem Lob, Preis und Verehrung gebührt, aber immer aus der Situation heraus, in einer gebrechlichen, bedrohten Welt zu leben, deren Verhältnisse erheblicher Anstrengungen bedürfen, um menschenwürdig zu werden. Diese Anstrengung ist gleichsam die inhärente Bedingung des Glaubens: Gott wird verehrt, wenn er für ein menschenwürdiges Dasein im Diesseits steht. [...] Man gewinnt in einzelnen Passagen der Missa solemnis den Eindruck, dass Beethoven um diesen Glauben immer wieder kämpft, dass er in den Wiederholungen von Worten oder musikalischen Figuren gleichsam gegen seine eigenen Zweifel ankomponiert, sich selbst überredet; zwar formuliert er in den überlieferten, standardisierten Worten Kyrie eleison (‚Herr, erbarme Dich unser’) oder Gloria in excelsis Deo (‚Ehre sei Gott in der Höhe’) die innige Bitte um das Erbarmen ebenso wie die hymnische Preisung, aber seine Musik gewinnt erst ihre richtige expressive Tiefe, wenn es um die Situation auf der Erde selbst geht, um das Leben der Menschen [...].“ (Lück, 63)

Doch das Leben der Menschen ist ein angstvolles, von innerem und äußeren Unfrieden geprägtes. Darum auch der Verweis darauf, dass das Dona nobis als eine „Bitte um inneren und äußeren Frieden“ zu verstehen sei, darum die Militärmusik, die die Unmöglichkeit der Erreichung dieses Zustandes zum gegenwärtigen Zeitpunkt betont, es sei denn – und mir scheint, dass man hier die Widmung „Von Herzen – möge es zu Herzen gehen“ mitdenken muss –, der Mensch erkennt mit Beethoven über das Gefühl die unbedingte Notwendigkeit einer Auflösung des von Augustinus formulierten Gegensatzes von civitas dei und civitas terrana: Die Welt muss gereinigt werden von der Tyrannei der weltlichen Ordung zugunsten der Erschaffung einer gottgefälligen, ja göttlichen Welt voller freier Menschen und freier Geister.

Quelle: Agravain: „Mein größtes Werk ist eine große Messe“, Betrag zum Capriccio Kulturforum vom 5. Juni 2010

Weitere Kommentare zur Missa Solemnis findet man hier und hier.

Karl Richter
Eine humanistische Messe?

"Was haben Sie denn da wieder gemacht?" war der Kommentar des Auftraggebers, Fürst Esterhazy, nach der Aufführung der C-Dur Messe op. 86 im Jahre 1807. Und es ist ja nicht ganz unberechtigt, fällt doch diese Messe in Tonfall und Ausdruck schon aus dem Rahmen dessen, was man auf Esterhazy von Haydn bis dato gewohnt war an geistlichen Klängen. […]

Zauberhaft schon der Anfang des Kyrie: über dem tiefen C der Bässe steigt der Chor ganz zart auf, eine wunderbare Stelle, die sich am Ende des Agnus Dei zu den Worten "Dona nobis pacem" wiederholt. Auffällig das Maß an motivischer Arbeit, das diesen feierlichen Satz durchdringt: neben blockhaften Deklamationen des "Christe" durch das Solistenquartett gibt es immer wieder polyphone Bildungen, geht es durch viele Stimmungen bis ins Forte mit Posaunen, aber niemals hört man das Pauken-gestärkte Auftrumpfen, das man von Mozart und Haydn doch gewöhnt ist.

Auf den ersten Blick konventionell kommt das dann im Gloria. Und klingt doch anders: das a der Soprane "in excelsis" klingt fast hysterisch, umso menschlicher, sanfter der Chor "et in terra pax" - es fällt mir schwer, zu beschreiben, was eigentlich hier so anders klingt, die altvertrauten Worte wie aus einer anderen Perspektive gesungen.

Sicherlich an Haydn geschult das Wechselspiel zwischen Tenorsolo und Chor: "Gratias", bis mit "Domine Deus" der Chor ganz übernimmt. "Qui Tollis" gehört dann Altsolo in anderem Rhythmus (ich höre einen 3er-takt), in den die anderen Solostimmen einstimmen, bis mit "Qui Sedes" der Chor erst laut Unisono, dann flehend unter Bläserseufzern übernimmt, in leisem "miserere" ins Dur leitet und den wieder im 4erTakt Unisono herausposaunten Chor "Quoniam", der sich zu einer veritablen Fuge auswächst, ins "cum sancto spirito" übergehend. Diese Fuge läßt schon in ihrer von homophonen Abschnitten durchbrochenen Form die späten Fugen der "Missa Solemnis" ahnen.

Das Credo setzt in diesem Ton fort, in schnellem 3/4-Takt fängt es leise an, steigert sich immer wieder zu, nun ja, auf mich hysterisch wirkenden Ausbrüchen. Auffällig die immer wieder auftretenden Unisoni - teils im Wechsel von Frauen und Männern - "Deus de Deo" - "lumen de Lumine" - ist es dieser dramatische Stil, der dem Herrn Esterhazy unpassend vorkam? und der heute noch so modern, so menschlich, so wenig geistlich anmutet? Im steten Wechsel von lautem "descendit" und leisem "per nostram salutem" geht es ins "et incarnatus est" des Solistenquartetts, das dramatische Tenorsolo "et homo factus est", der Chor "Cruzifixus", "Passus" der Solostimmen, dramatischer, ernster, opernhafter auch, als von Mozart und Haydn gewohnt, aber schon im "sepultus est" tröstlich gewendet.

Ich will nicht weiter im Detail verfolgen, wie Beethoven irgendwie ernster, strenger am Text entlang als seine Vorgänger seine ausdrucksvolle Musik gestaltet. Das nacheinander von ariosen und symphonischen Partien erinnert an manche Salzburger Messe Mozarts, aber erheblich dramatisiert, auch in Bewegung und Klang durchbrochener.

Einer meiner Lieblingssätze seit sehr langem ist das Sanctus, von Bläserakkorden eingeleitet, die dann vom Chor wiederholt ihre ganze deklamatorische Kraft entfalten, aber, und das ist auch ein Charakteristikum dieses Werks für mich, im Piano. Das Stammeln des Chores, immer wieder aufgefangen in den warmen Farben der Klarinetten, leitet direkt in das "Pleni sunt coeli" und "Osanna".

Mit dem Benedictus kann ich persönlich nicht so viel anfangen, für mich stehen sich die 4 Solostimmen allzuoft gegenseitig im Wege, trotz vieler ausdrucksvoller Wendungen. Schön durchaus der Wechsel von Chor und Soli in der Mitte. Typisch Beethoven für mich, daß es nie "in sich ruhend" klingt, sondern natürlich in eine Steigerung mit Pauken und Trompeten führen muss. Typisch für dieses Werk die auch hier wieder auftretenden Bläsergänge hinter relativ ruhenden Chorakkorden, die einen Teil der charakteristischen Klangfarbe ausmachen.

Im schnellen 6/4(?)Takt mit klopfenden Pauken und Bläsern hebt das Agnus Dei an, für mich eindrucksvoll sprechend die Deklamation - das ist für mich wirklich eine neue Qualität von Menschlichkeit in geistlicher Musik. Die in dieser Messe so präsenten Klarinetten rufen den Chor wach zum optimistischen "dona nobis pacem", natürlich nochmal unterbrochen vom diesmal dramatisch deklamierten "Miserere", bevor die Klarinetten wieder ins Dur leiten. Es klingt schon nach Schluß, dann kommt noch einmal der Aufstieg aus dem Kyrie, endet das Werk mit zarten Rufen von Fagott und Flöte vor den letzten Piano-Akkorden. […]

Quelle: Philmus: „Eine humanistische Messe?“, Beitrag zum Capriccio Kulturforum vom 25. Juli 2014

Weitere Kommentare zur C-Dur Messe findet man hier und hier.


TRACKLIST

LUDWIG VAN BEETHOVEN
(1770-1827)


CD 1

Missa solemnis op.123 
für 4 Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel 

(1) 1. Kyrie: Assai sostenuto (Mit Andacht)           12:18      
(2) 2. Gloria: Allegro vivace                         18:36 
(3) 3. Credo: Allegro ma non troppo                   21:44 
(4) 4. Sanctus: Adagio (Mit Andacht) -                18:17 
    Praeludium: Sostenuto ma non troppo - 
    Benedictus: Andante molto cantabile e non troppo mosso 

CD 2

(1) 5. Agnus Dei: Adagio                              17:18

Margaret Price, Sopran 
Christa Ludwig, Alt 
Wieslaw Ochman, Tenor 
Martti Talvela, Bass 
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor 
Peter Planyavsky, Orgel 
Gerhart Hetzel, Solovioline (Benedictus) 
Wiener Philharmoniker 
Karl Böhm 
® 1975 


Messe C-dur op.86 

(2) 1. Kyrie: Andante con moto assai vivace,           4:15 
    quasi Allegretto, ma non troppo 
(3) 2. Gloria: Allegro con brio - Andante mosso -     10:29
    Allegro, ma non troppo 
(4) 3. Credo: Allegro con brio - Adagio -             10:59
    Allegro, ma non troppo - Vivace 
(5) 4. Sanctus: Adagio - Allegro -                    12:12 
    Allegretto, ma non troppo - Allegro 
(6) 5. Agnus Dei: Poco Andante - Allegro ma non        8:13 
    troppo - Andante con moto 

Gundula Janowitz, Sopran 
Julia Hamari, Alt 
Horst R. Laubenthal, Tenor 
Ernst Gerold Schramm, Bass 
Elmar Schloter, Orgel 
Münchener Bach-Chor 
Münchener Bach-Orchester 
Karl Richter 
® 1970 

Gesamtspielzeit: 134:21 


Nachschrift zum »Namen der Rose«


Natürlich, das Mittelalter

Ich habe einen Roman geschrieben, weil ich Lust dazu hatte. Ich halte das für einen hinreichenden Grund, sich ans Erzählen zu machen. Der Mensch ist von Natur aus ein animal fabulator. Begonnen habe ich im März 1978, getrieben von einer vagen Idee: Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften. Ich glaube, Romane entstehen aus solchen Ideen-Keimen, der Rest ist Fruchtfleisch, das man nach und nach ansetzt. Es muß eine alte Idee gewesen sein: Ich fand später ein Notizheft aus dem Jahr 1975, in welchem ich mir eine Liste von Mönchen eines unbestimmten Klosters angelegt hatte. Nichts weiter. Als erstes machte ich mich daran, den Traité des poisons von Orfila zu studieren - den ich zwanzig Jahre zuvor bei einem Bouquinisten am Seineufer erstanden hatte, aus reiner Treue zu Huysmans (Là-bas). Da keins der behandelten Gifte mich befriedigte, bat ich einen befreundeten Biologen, mir ein Pharmakon mit bestimmten Eigenschaften (Absorbierbarkeit über die Haut bei Berührung von zweckmäßig präparierten Gegenständen) zu empfehlen. Seinen Antwortbrief, in dem er mir schrieb, er kenne leider kein Gift, das meinen Wünschen entspreche, habe ich unverzüglich vernichtet: Schriftstücke solcher Art bringen ihren Besitzer, liest man sie in einem anderen Kontext, leicht an den Galgen.

Ursprünglich sollten meine Mönche in einem zeitgenössischen Kloster leben (ich dachte an einen Mönchs-Detektiv, der Il Manifesto las). Aber da Klöster oder Abteien noch immer von allerlei mittelalterlichen Erinnerungen zehren, stöberte ich in meinen Archiven aus mediävistischen Studientagen (1956 ein Buch über die mittelalterliche Ästhetik, 1959 weitere hundert Seiten zum Thema, ein paar Aufsätze hier und da, 1962 erneute Rückkehr zur mittelalterlichen Tradition für meine Arbeiten über Joyce, 1972 dann eine längere Studie über die Apokalypse und über die Miniaturen des Kommentars von Beatus Liébanensis - ich war also nie ganz aus der Übung gekommen). Mir fiel ein breitgefächertes. Material in die Hände: Textauszüge, Fotokopien, Notizen, die sich seit 1952 angesammelt hatten, um anderen gänzlich vagen Zwecken zu dienen - einer Geschichte der Monster, einer Studie über die mittelalterlichen Enzyklopädien, einer Theorie der Aufzählung ...

Nach einer Weile sagte ich mir, wenn das Mittelalter ohnehin mein tägliches Imaginarium ist, könnte ich ebensogut auch einen Roman schreiben, der unmittelbar in jener Epoche spielt. Denn wie ich einmal in einem Interview sagte, die Gegenwart kenne ich nur aus dem Fernsehen, über das Mittelalter habe ich Kenntnis aus erster Hand. Bei einem Familienausflug, als wir einmal ein Feuer im Freien machten, warf meine Frau mir vor, ich hätte gar keinen Blick für die Funken, die zwischen den Bäumen aufflogen und als Leuchtstreifen durch die Abendluft segelten. Als sie dann das Kapitel über den Brand der Abtei las, rief sie erstaunt: »Also hast du doch die Funken gesehen!« Worauf ich erwiderte: »Nein, aber ich wußte, wie ein mittelalterlicher Mönch sie gesehen hätte.«

Vor zehn Jahren, in einem Brief an den Verleger Franco Maria Ricci, geschrieben als Nachwort zu meinem Kommentar über den Apokalypsenkommentar des Abtes Beatus von Liébana, gestand ich: »Wie man's auch dreht und wendet, ich gelangte zur Forschung, indem ich symbolische Wälder durchstreifte, darinnen es Greife und Einhörner gab, indem ich die spitzzinnigen und quadratischen Bauformen der Kathedralen mit den exegetischen Spitzfindigkeiten in den Vierkantformeln der Summulae verglich, indem ich zwischen Notre Dame und zisterziensischen Kirchen vagabundierte, freundlich plaudernd mit gebildeten und gespreizten Cluniazensermönchen, beargwöhnt von einem schwerfälligen und rationalistischen Aquinaten, in Versuchung geführt von Honorius Augustoduniensis mit seinen phantastischen Geographien, aus denen man nicht nur erfährt, quare in pueritia coitus non contingat, sondern auch, wie man zur Verlorenen Insel gelangt und wie man einen Basilisken fängt, ausgerüstet nur mit einem Taschenspiegel und einem unerschütterlichen Glauben an das Bestiarium ...

Templum apertum - Ubi bestia descendet de abisso:
Das Tier aus dem Abgrund, darüber der Tempel mit der
Bundeslade(Apokalypse 11, 7 und 19) -
»Das Tier geht um in der Abtei ... Das große Tier, das aus
dem Meer steigt ..., der Antichrist ... Er wird bald kommen.
Das Jahrtausend ist um, wir erwarten ihn ... « (Alinardus
von Grottaferrata in »Der Name der Rose«, S. 200-202) .
Illustration zum Apokalypsenkommentar des Beatus von
Liébana, angefertigt um 1047 von dem Miniaturenmaler
Facundus, Blatt 184 v. der Beatus-Handschrift
San Isidoro de León, jetzt Madrid, Bibl. Nat. Vitr. 14-2
Diese Vorlieben und Leidenschaften haben mich nie verlassen, auch nicht, als ich später aus geistigen und materiellen Gründen andere Wege beschritt (wer Mediävistik betreiben will, muß oft beträchtliche Mittel aufwenden, um in ferne Bibliotheken reisen und seltene Handschriften mikrofilmen zu können). So ist das Mittelalter zwar nicht mein Beruf, wohl aber mein Hobby geblieben - und meine stete Versuchung, denn ich sehe es überall durchscheinen in den Dingen, mit denen ich mich beschäftige, die nicht mittelalterlich erscheinen und es doch sind ... Heimliche Ferien unter den Säulen und Rundbögen von Autun, wo heute der Abt Grivot Manuale über den Teufel schreibt mit schwefelgetränktem Einband, sommerliche Ekstasen vor den Portalen von Conques und Moissac, betört von den vierundzwanzig Greisen der Apokalypse oder von Teufeln, welche die armen verdammten Seelen in kochende Kessel pferchen; zugleich Regenerationen des Geistes durch Lektüre des Aufklärer-Mönches Beda, Tröstungen der Vernunft durch das Studium Ockhams, um die Geheimnisse der Zeichen auch dort zu verstehen, wo Saussure noch dunkel geblieben ist. Und so weiter, mit fortdauernder Nostalgie nach der Peregrinatio Sancti Brendani, mit Überprüfungen unseres Denkens am altirischen Book of Kells, mit Borges, wiedergefunden in den keltischen Kenningar, mit Kontrolluntersuchungen zum Verhältnis von überredeten Massen und Macht anhand der Tagebücher des Abt-Bischofs Suger ...«

Die Maske

In Wahrheit beschloß ich nicht nur, vom Mittelalter zu erzählen, sondern im Mittelalter, nämlich durch den Mund eines mittelalterlichen Chronisten. Ich war als Erzähler Debütant, ich hatte bisher die Erzähler stets nur von außen betrachtet, von der anderen Seite der Barrikade. Ich schämte mich zu erzählen. Ich kam mir vor wie ein Theaterkritiker, der sich plötzlich im Rampenlicht exponiert, auf offener Bühne vor den Augen all derer, mit denen er bisher komplizenhaft im Parkett gehockt hatte.

Kann einer, der erzählen will, heute noch sagen: »Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen gegen Ende November«, ohne sich dabei wie Snoopy zu fühlen? Was aber, wenn ich Snoopy das sagen ließe? Wenn also die Worte »Es war ein klarer spätherbstlicher Morgen ...« jemand sagte, der dazu berechtigt war, weil man zu seiner Zeit noch so anheben konnte? Eine Maske, das war's, was ich brauchte.

Ich setzte mich also hin und las (erneut) die mittelalterlichen Chronisten, um mir den Rhythmus und die Unschuld ihrer Erzählweise anzueignen. Sie sollten für mich sprechen, dann war ich frei von jedem Verdacht. Von jedem Verdacht, aber nicht vom Gewicht der Vergangenheit, von den Echos der Intertextualität. Denn nun entdeckte ich, was die Dichter seit jeher wußten (und schon so oft gesagt haben): Alle Bücher sprechen immer von anderen Büchern, und jede Geschichte erzählt eine längst schon erzählte Geschichte. Das wußte Homer, das wußte Ariost, zu schweigen von Rabelais und Cervantes ... Ergo konnte meine Geschichte nur mit der wiedergefundenen Handschrift beginnen, und auch das wäre dann (natürlich) nur ein Zitat. So schrieb ich zunächst das Vorwort, indem ich meine Erzählung, verpackt in drei andere Erzählungen, in den vierten Grad der Verpuppung setzte: Ich sage, daß Vallet sagte, daß Mabillon sagte, daß Adson sagte ...

Nun war ich von allen Ängsten frei. Und an diesem Punkt hörte ich wieder auf zu schreiben. Ich hörte auf für ein ganzes Jahr, weil ich noch etwas anderes entdeckte, was ich zwar schon wußte (alle wußten es), aber erst beim Arbeiten richtig verstand.

Ich entdeckte nämlich, daß ein Roman zunächst einmal gar nichts mit Worten und Sprache zu tun hat. Das »Schreiben« eines Romans ist ein kosmologischer Akt - wie der, von welchem die Genesis handelt (irgendein Vorbild muß man sich schließlich nehmen, sagte Woody Allen).

»Auf dem Tisch neben dem glimmenden Fäßchen lag aufgeschlagen ein
großes farbig bemaltes Buch. Ich trat näher und entdeckte vier Streifen
von verschiedener Farbe: gelb, zinnober, türkis und hellbraun. Darauf
ein schrecklich anzusehendes Untier, ein Drache mit zehn Köpfen, der mit
dem Schweif die Sterne am Himmel erfaßte und niederwarf auf die Erde.
Und plötzlich vervielfachte sich der Drache ...« (Adson von Melk in
»Der Name der Rose«, S. 221).
Illustration zu Apokalypse 12,1-6 (Das sonnenbekleidete Weib und der
Drache) nach Beatus von Liébana, Doppelblatt 186 v. bis 187
der gen. Handschrift San Isidoro de León
Der Roman als kosmologischer Akt

Wer erzählen will, muß sich zunächst eine Welt erschaffen, eine möglichst reich ausstaffierte bis hin zu den letzten Details. Angenommen, ich schaffe mir einen Fluß, zwei Ufer, auf deren linkes ich einen Angler setze, ausgestattet mit einem jähzornigen Charakter und einem nicht nicht ganz sauberen Strafregister, so könnte ich schon zu schreiben beginnen, indem ich in Worte fasse, was unvermeidlich geschehen muß. Was tut ein Angler? Er angelt (schon habe ich eine Reihe von mehr oder minder unausweichlichen Begriffen, Gesten, Bewegungen). Und was geschieht dann? Entweder gibt es in meinem fluß Fische, die anbeißen, oder es gibt keine. Gibt es welche, so wird sie der Angler angeln und zufrieden nach Hause gehen. Gibt es keine, so wird er, jähzornig wie er ist, vielleicht wütend werden und seine Angelrute zerbrechen. Nicht eben viel, aber schon ein Ansatz.

Nun gibt es jedoch ein indianisches Sprichwort, das heißt: »Setz dich ans Ufer des Flusses und warte, bald wird deines Feindes Leiche vorbeischwimmen.« Was, wenn nun eine Leiche den Fluß heruntergeschwommen käme (ist doch die Möglichkeit einer Wasserleiche dem intertextuellen Bezugsfeld des Flusses prinzipiell inhärent)? Vergessen wir nicht, daß mein Angler ein nicht ganz sauberes Strafregister hat. Wird er die Polizei holen und riskieren, daß er Ärger bekommt? Wird er davonlaufen? Wird er so tun, als ob er die Leiche nicht sieht? Wird er vor Angst vergehen, weil die Leiche am Ende tatsächlich die seines Feindes ist? Wird er vor lauter Wut platzen, weil er die langersehnte Rache nun nicht mehr vollziehen kann? Wie man sieht, genügt es, die eigene Welt mit wenigem auszustaffieren, und schon hat man den Ansatz zu einer Geschichte. Auch schon den Ansatz zu einem Stil, denn ein Angler, der angelt, verlangt von meiner Erzählung einen ruhigen, fließenden Rhythmus, skandiert nach dem Muster seiner Erwartung, die geduldig sein muß, aber auch nach dem Muster seiner jähen Wutausbrüche. Das Problem ist, die Welt zu errichten, die Worte kommen dann fast wie von selbst. Rem tene, verba sequentur. Das Gegenteil dessen, was, glaube ich, in der Lyrik geschieht: Verba fene, res sequentur.

Das erste Jahr der Arbeit an meinem Roman verging mit dem Aufbau der Welt. Lange Listen der Bücher, die in einer mittelalterlichen Bibliothek stehen konnten. Namen- und Datenregister für viele Personen, viele mehr, als am Ende in die Geschichte hineinkamen. Denn ich mußte ja schließlich auch wissen, wer die anderen Mönche waren, die nicht im Buch auftreten; es war nicht nötig, daß der Leser ihre Bekanntschaft machte, aber ich mußte sie kennen. Wer hat gesagt, die Epik müsse dem Einwohnermeldeamt Konkurrenz machen? Aber vielleicht muß sie auch dem Bauamt Konkurrenz machen. Also ausgedehnte architektonische Studien, anhand von Bildern, Fotos und Grundrissen in der Enzyklopädie der Architektur, um den Plan der Abtei festzulegen, die Entfernungen, ja selbst die Anzahl der Stufen einer Wendeltreppe. Marco Ferreri hat mir später gesagt, daß meine Dialoge filmgerecht seien, da sie die richtige Länge hätten. Kein Wunder: Wenn zwei meiner Personen miteinander redeten, während sie vom Refektorium zum Kapitelsaal gingen, schrieb ich mit dem Plan der Abtei vor Augen, und wenn sie angelangt waren, hörten sie auf zu reden.

Um frei erfinden zu können, muß man sich Beschränkungen auferlegen. In der Lyrik kann die Beschränkung durch das Versmaß gegeben sein, durch den Reim oder auch durch das, was Zeitgenossen den Atem nach dem Gehör genannt haben. In der Epik wird die Beschränkung durch die zugrundeliegende Welt gegeben. Das ist keine Frage des Realismus (obwohl es sogar den Realismus erklärt): Man kann sich auch eine ganz irreale Welt errichten, in der die Esel fliegen und die Prinzessinnen durch einen Kuß geweckt werden, aber auch diese rein phantastische und »bloß mögliche« Welt muß nach Regeln existieren, die vorher festgelegt worden sind (zum Beispiel muß man wissen, ob es eine Welt ist, in der Prinzessinnen nur durch den Kuß von Prinzen geweckt werden können oder auch durch den Kuß einer Hexe, und ob der Kuß einer Prinzessin nur Kröten in Prinzen zurückverwandelt oder auch, sagen wir, Gürteltiere).

Zu meiner Welt gehörte auch die Realgeschichte, und darum studierte ich so viele Chroniken der Epoche; und während ich sie studierte, wurde mir klar, daß in meinen Roman auch Dinge eingehen mußten, an die ich anfangs nicht einmal im Traum gedacht hätte, wie der Armutsstreit oder die Verfolgung der Fratizellen.

Ubi mons magnus ardens missus est in mare:
»Und der andere Engel posaunte: und es fuhr wie ein großer Berg mit
Feuer brennend ins Meer; und der dritte Teil des Meeres ward Blut.«
(Apokalypse 8, 8) - »Starb nicht der zweite Junge in einem Meer
von Blut; Paß auf, wenn die dritte Posaune ertönt! «
(Alinardus von Grottaferrata in »Der Name der Rose«, S. 202).
Illustration zu Apokalypse 8,8-9, Blatt 166 der gen. Hs.
Ein Beispiel: Wie sind die Fratizellen des 14. Jahrhunderts in mein Buch gekommen? Eigentlich hätte ich, wenn ich nun schon eine mittelalterliche Geschichte erzählen sollte, sie lieber im 13. oder 12. Jahrhundert angesiedelt, wo ich viel besser zu Hause war. Aber ich brauchte einen Detektiv, nach Möglichkeit einen Engländer (intertextuelles Zitat), der eine gute Beobachtungsgabe und einen ausgeprägten Sinn für die Interpretation von Indizien haben mußte. Und diese Eigenschaften fanden sich, wenn überhaupt, nur im Umkreis der Franziskaner nach Roger Bacon; außerdem gab es eine entwickelte Zeichentheorie erst bei den Ockhamisten, beziehungsweise es gab sie auch vorher schon, aber vor Ockham wurden die Zeichen entweder symbolisch gedeutet, oder man sah in ihnen vorwiegend die Ideen und Universalien. Erst zwischen Bacon und Ockham wurden die Zeichen als Mittel zur Erkenntnis der Individuen benutzt. Folglich mußte ich meine Geschichte ins 14. Jahrhundert verlegen, zu meiner großen Irritation, weil ich mich dort viel schlechter auskannte. Also erneute Studien - und die Entdeckung, daß ein Franziskaner im 14. Jahrhundert, auch ein englischer, unmöglich den Armutsstreit ignorieren konnte, zumal wenn er ein Freund oder Anhänger oder Kenner Ockhams war (nebenbei: ursprünglich sollte Ockham selber mein Detektiv sein, aber dann habe ich darauf verzichtet, denn als Mensch ist mir der Inceptor Venerabilis nicht besonders sympathisch).

Warum spielt nun das Ganze ausgerechnet Ende November 1327? Weil im Dezember Michael von Cesena bereits in Avignon ist (und dies eben heißt in einem historischen Roman eine Welt ausstaffieren: einige Elemente, wie die Anzahl der Stufen, beruhen auf einer Entscheidung des Autors; andere, wie die Bewegungen Michaels von Cesena, sind abhängig von der wirklichen Welt, die in dieser Art von Romanen zufällig mit der möglichen Welt der Erzählung koinzidiert) .

November war aber eigentlich noch zu früh. Denn ich mußte ja auch ein Schwein schlachten. Warum? Ganz einfach: um eine Leiche kopfüber in einen Schweineblutbottich stürzen zu können. Und warum das? Weil die zweite Posaune der Apokalypse verkündet ... Und die Apokalypse konnte ich schließlich nicht ändern, sie gehörte zu meiner Welt. Nun trifft es sich aber (ich habe mich informiert), daß Schweine erst bei Kälte geschlachtet werden, und dafür konnte November noch zu früh sein, jedenfalls in Italien. Es sei denn, ich versetzte meine Abtei in die Berge, um so bereits ersten Schnee zu haben ... Andernfalls hätte sich meine Geschichte durchaus in der Ebene abspielen können, in Pomposa oder in Congues.

Wie es dann weitergeht, sagt uns die einmal geschaffene Welt. Alle fragen mich immer, warum mein Jorge in seinem Namen an Borges erinnert und warum denn Borges so böse ist. Ich weiß es nicht. Ich wollte einen Blinden als Hüter der Bibliothek (das hielt ich für eine gute erzählerische Idee), und Bibliothek plus Blinder ergibt eben zwangsläufig Borges, auch weil die Schulden bezahlt werden müssen. Außerdem waren es spanische Kommentare und Miniaturen, durch welche die Apokalypse das ganze Mittelalter beeinflußt hatte. Doch als ich Jorge in die Bibliothek setzte, wußte ich noch nicht, daß er der Mörder war. Er hat das Ganze sozusagen auf eigene Faust getan. Und man halte das nicht für einen »Idealismus« wie die Behauptung, Romanpersonen hätten ein Eigenleben und der Autor lasse sich, wie in Trance, ihr Handeln von ihnen eingeben. Dummheiten für Abituraufsatzthemen. Nein, die Personen sind gezwungen, nach den Gesetzen der Welt zu handeln, in der sie leben. Anders gesagt, der Erzähler ist der Gefangene seiner eigenen Prämissen.

Eine andere schöne Geschichte war auch die Sache mit dem Labyrinth. Sämtliche Labyrlnthe, die ich kannte (und ich hatte die schöne Untersuchung von Santarcangeli durchgesehen), waren Labyrinthe im Freien. Sie konnten sehr kompliziert sein, voller verschlungener Windungen. Aber ich brauchte ein geschlossenes Labyrinth (hat man je eine Bibliothek im Freien gesehen?), und wenn es zu kompliziert wurde, mit zu vielen Gängen und Innenräumen, hätte es Schwierigkeiten mit der Belüftung gegeben. Eine gute Belüftung war aber nötig, um den Brand zu entfachen (und dieser Punkt, daß mein Aedificium am Ende in Flammen aufgehen mußte, war mir von Anfang an klar gewesen, aber auch diesmal aus kosmologisch-historischen Gründen, denn im Mittelalter brannten Kathedralen und Klöster wie Zunder ab, und eine mittelalterliche Geschichte ohne Feuersbrunst wäre geradezu wie ein Kriegsfilm aus dem Pazifik ohne brennend vom Himmel stürzende Flugzeuge). So bastelte ich denn zwei bis drei Monate lang an der Konstruktion eines passenden Labyrinths, und am Ende mußte ich es mit Mauerschlitzen versehen, sonst wäre noch immer zu wenig Luftzug gewesen.

Hec locustae ubi angelus perdictionis super eas
imperat - Ubi locustae ledunt homines:

Die fünfte Posaune ertönt, und aus dem Brunnen des
Abgrunds kommen Heuschrecken, »und die Heu-
schrecken sind gleich den Rossen, die zum Kriege
bereitet sind ... und hatten Schwänze gleich den
Skorpionen, und es waren Stachel an ihren Schwänzen;
und ihre Macht war, zu beschädigen die Menschen
fünf Monate lang ...« (Apokalypse 9, 1-11) -
»Er hatte mich gewarnt ... es hatte wirklich ... die Kraft
von tausend Skorpionen ...« (Malachias von
Hildesheim in »Der Name der Rose«, S. 527).
Illustration zu Apokalypse 9,7-12,
Blatt 171 v. der gen. Hs.
Die Paralipse

Ich hätte die ganze Geschichte in einem Mittelalter ansiedeln können, in welchem alle Beteiligten immer wußten, wovon die Rede war. Wie in einer Geschichte von heute: Wenn in einer Geschichte von heute jemand sagt, daß der Vatikan seine Scheidung nicht billigen würde, braucht er nicht groß zu erklären, was der Vatikan ist und warum er die Scheidung nicht billigt. In einem historischen Roman, also einer Geschichte aus ferner Vergangenheit, kann man so nicht verfahren, denn man erzählt sie ja auch, um uns Heutigen besser begreiflich zu machen, was damals geschehen ist und inwiefern das damals Geschehene uns noch heute betrifft.

Die Gefahr ist dabei der »Salgarismus«: Salgaris Personen fliehen, gehetzt von Feinden, in einen tropischen Urwald, stolpern über eine Baobabwurzel - und schon suspendiert der Autor die Handlung, um uns einen Vortrag über Affenbrotbäume zu halten. Heute ist diese Methode zum Stereotyp geworden, liebenswert wie die Schwächen derer, die wir sehr lieben, aber kaum nachahmenswert.

Ich habe Hunderte von Seiten umgeschrieben, um dieser Gefahr zu entgehen, aber ich kann mich nicht entsinnen, mir jemals beim Schreiben bewußt geworden zu sein, wie ich das Problem im Einzelfall löste. Erst zwei Jahre später bin ich darauf gekommen, und zwar genau als ich mir zu erklären versuchte, warum das Buch auch von Leuten gelesen wird, die eigentlich derart »anspruchsvolle« Bücher kaum mögen können. Adsons Erzählstil beruht unter anderem auf jener Denkfigur, die in der Rhetorik Paralipse oder Präterition (»Auslassung«) genannt wird. Illustres Beispiel: »Ich schweige davon, daß Cäsar an allen Gestaden ...« Man sagt, man wolle von etwas nicht weiter sprechen, und tut es dann doch (wodurch es sich um so besser einprägt). Dies ungefahr ist Adsons Methode, wenn er auf Personen oder Ereignisse anspielt, als ob sie dem Leser bestens bekannt wären, und sie dennoch erklärt. Anderes, was seinem Leser (als einem Deutschen am Ende des 14. Jahrhunderts) nicht so bekannt sein konnte, weil es zu Anfang des Jahrhunderts in Italien geschehen ist, erklärt er dagegen ungehemmt, und zwar in belehrendem Ton, denn dies war der Stil des mittelalterlichen Chronisten, der enzyklopädische Kenntnisse einbringen wollte, wann immer er etwas benannte.

Nach der Lektüre des Buches sagte mir eine Freundin, sie hätte sich über den »journalistischen« Ton der Erzählung gewundert, der weniger einem Roman entspreche als einer Reportage, einem Espresso-Artikel. Ich war zunächst betroffen, dann ging mir allmählich auf, was sie erfaßt hatte, ohne es zu begreifen: So nämlich erzählten die Chronisten jener Epoche, und daß wir heute bei Reportagen noch gern von Chroniken sprechen, liegt daran, daß man damals so viele Chroniken schrieb.

Der Atem

Die langen erläuternden Einschübe hatten indessen noch einen anderen Grund. Nach der Lektüre des Manuskriptes meinten die Freunde im Verlag, ich sollte die ersten hundert Seiten ein wenig kürzen, sie seien zu anspruchsvoll und ermüdend. Ich hatte keinerlei Zweifel, ich lehnte ab mit dem Argument: Wer die Abtei betreten und darin sieben Tage verbringen will, muß ihren Rhythmus akzeptieren. Wenn ihm das nicht gelingt, wird er niemals imstande sein, das Buch bis zu Ende zu lesen. Die ersten hundert Seiten haben daher die Funktion einer Abbuße oder Initiation, und wer sie nicht mag, hat Pech gehabt und bleibt draußen, zu Füßen des Berges.

Der Eintritt in einen Roman ist wie der Aufbruch zu einer Bergtour: Man muß sich an einen Atem gewöhnen, an eine bestimmte Gangart, sonst kommt man bald aus der Puste und bleibt zurück. Das gleiche geschieht in der Poesie. Man denke nur an die Unerträglichkeit jener Gedichtvorträge von Schauspielern, die, um zu »interpretieren«, das Metrum mißachten, mit rezitativen enjambements die Versenden überspringen, als ob sie Prosa vortrügen, und den Inhalt wichtiger nehmen als den Rhythmus. Wer ein Gedicht in elfsilbigen Terzinen vortragen will, muß den singenden Rhythmus annehmen, den der Dichter gewollt hat. Lieber Dante aufsagen, als ob es Kinderreime von Annodazumal wären, als auf Biegen und Brechen hinter dem Sinn herlaufen.

»So höre nun, was die Stimme sagt, bevor der siebente Engel posaunt:
›Versiegle, was die sieben Donner gesprochen haben, schreib es nicht auf!
Nimm das Buch und verschling es, es wird dich im Bauche grimmen,
aber in deinem Munde wird's süß sein wie Honig!‹ Siehst du,
William? Ich versiegle, was dem Willen des Herrn zufolge nicht
aufgeschrieben werden sollte, ich begrabe es in dem Grab,
das ich werde!« (Jorge von Burgos in »Der Name der Rose«, S. 611).
Illustration zu Apokalypse 10,8-11 (Johannes verschlingt das
Buch; man beachte die zweifache Darstellung, wie in einem
Comic: erst ist es ihm süß im Munde, dann grimmt's ihn im Bauch),
Prachthandschrift der Königin Eleonore, um 1240 angefertigt,
heute im Trinity College, Cambridge, Blatt 10 v.
In Prosaerzählungen wird der Atem nicht den Satzgliedern anvertraut, sondern größeren Einheiten, Szenen oder Ereignissequenzen. Manche Romane atmen wie Gazellen, andere wie Wale oder Elefanten. Die Harmonie liegt nicht in der Länge der Atemzüge, sondern in ihrem Gleichmaß; auch weil und damit dann - wenn der Atem an einem bestimmten Punkt (aber nicht zu oft) stockt und ein Abschnitt oder Kapitel endet, bevor ganz »ausgeatmet« worden ist - dies eine wichtige Rolle in der Ökonomie des Erzählens gewinnen, einen Abbruch oder Szenenwechsel markieren kann. So jedenfalls sehen wir es bei den Großen: Ein Satz wie »la sventurata rispose« - Punkt und Neubeginn - hat nicht den gleichen Rhythmus wie ein »Addio monti«, aber wenn er kommt, ist es, als würde der schöne lombardische Himmel blutrot. Ein großer Roman ist einer, in dem der Autor stets weiß, wann er beschleunigen und wann er bremsen muß und wie er diese Pedaltritte bei konstantem Grundrhythmus zu dosieren hat. Auch in der Musik gibt es solche Pedaltritte, man kann die Tempi »raffen« (rubare), doch wer zuviel rafft, wird einer von jenen schlechten Pianisten, die meinen, um Chopin zu spielen, genüge ein exzessives Rubato. Ich spreche hier nicht davon, wie ich meine Probleme gelöst habe, sondern wie ich sie mir gestellt habe. Und wenn ich sagen würde, ich hätte sie mir bewußt gestellt, wäre das eine Lüge. Es gibt ein kompositorisches Denken, das auch durch den Rhythmus der Finger auf den Tasten der Schreibmaschine denkt.

Ein Beispiel mag zeigen, wie das Erzählen ein Denken mit den Fingern sein kann. Es ist klar, daß die Szene mit Adsons Liebeserlebnis in der nächtlichen Küche aus lauter religiösen Zitaten zusammenmontiert ist, vom Lied der Lieder bis zu Bernhard von Clairvaux, Jean de Fecamp und Hildegard von Bingen. Auch wer keine Erfahrung mit hochmittelalterlicher Mystik hat, aber ein bißchen Ohr, wird das gemerkt haben. Doch wenn ich heute gefragt werde, von wem die Zitate im einzelnen sind und wo das eine aufhört und das andere beginnt, kann ich es nicht mehr sagen.

Ich hatte mir nämlich Dutzende von Zetteln mit Auszügen aus allen möglichen Texten, mehrere Bücher und einen Haufen Fotokopien bereitgelegt, viel mehr als ich dann wirklich benutzte. Aber als ich ans Schreiben ging, schrieb ich die Szene in einem Zug nieder (erst später habe ich sie gefeilt und gleichsam mit einer Glasur überzogen, um die Nahtstellen noch etwas besser zu tarnen). Und während ich schrieb, die Texte kunterbunt um mich her, fuhr ich mit den Augen ständig von einem zum anderen, holte mir da ein Zitat und dort ein Zitat und verschweißte jedes sofort mit dem nächsten. Kein anderes Kapitel des Buches habe ich in der ersten Fassung so rasch heruntergeschrieben wie dieses. Später begriff ich, daß ich versucht hatte, mit den Fingern dem Rhythmus des Liebesaktes zu folgen, weshalb ich nicht anhalten konnte, um mir das »richtige« Zitat herauszusuchen. Was ein Zitat an einer gegebenen Stelle richtig machte, war der Rhythmus, in dem ich es einmontierte, ich schied mit den Augen aus, was den Rhythmus der Finger gestört hätte ...

Es wäre zuviel gesagt, wenn ich behaupten würde, daß die Niederschrift des Geschehens nicht länger gedauert hatte als das Geschehen selbst (obwohl es ja Liebesakte von beträchtlicher Dauer gibt), aber ich war bestrebt, die Differenz zwischen der Dauer des Aktes und der des Schreibens so weit wie möglich zu verringern. Und ich meine hier nicht das Schreiben im Barthesschen Sinne der écriture, sondern im praktischen Sinne dessen, der tippt, ich spreche vom Schreiben als einem materiellen, physischen Akt. Und ich spreche von Rhythmen des Körpers, nicht von Emotionen. Die Emotion, längst gefiltert, war vorher gewesen, in der Entscheidung zur Assimilation von mystischer und erotischer Ekstase, als ich die zu benutzenden Texte gelesen und ausgewählt hatte. Danach war keinerlei Emotion mehr im Spiel, Adson war es, der Liebe machte, nicht ich, und mir blieb nur noch die Aufgabe, seine Emotion in ein Augen- und Fingerspiel umzusetzen, als wollte ich eine Liebesgeschichte nicht mit Worten auf dem Papier erzählen, sondern mit Schlägen auf einer Trommel.

Quelle: Umberto Eco: Nachschrift zum »Namen der Rose«. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1986, ISBN 3-446-14037-9, Seite 21-37 und 44-52


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Ein Frühwerk Beethovens aus der frühen Zeit dieses Blogs: Die Klavierquartette WoO36. Mit einer Würdigung Jean-Baptiste Camille Corots.

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Umberto Eco begutachtet die Erfolgsaussichten von Werken der Weltliteratur (vor deren Veröffentlichung!). Die Autoren sind "obskure, unbekannte Persönlichkeiten", wie auch der Komponist Jean-Baptiste Senallié le Fils. (Premier Livre de Sonates, 1710).


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