Das äußerst umfangreiche und gehaltvolle Schaffen Ernst Kreneks steht im Zeichen des Wandels und der Wende. Liegt das an seinem Geburtsjahr 1900? Man möchte es fast glauben, zumal das OEuvre anderer um die Jahrhundertwende geborener schöpferischer Menschen ebenso Symptome öfteren Wandels aufweist, getragen von Intentionen, die keine Richtung, keine „Schule” markieren. Es sind Einzelgänger, und Krenek ist einer der hervorragendsten von ihnen. Er begann tonalitätsfrei zu komponieren (1921-1923), näherte sich dem Neoklassizismus (1924-1926), vollzog eine Wendung zur Romantik (1927-1931), erreichte dann das ihn am meisten beschäftigende und am tiefsten auf ihn einwirkende kompositorische Gerüst der Dodekaphonie (1932-1956) und arbeitete, darauf aufbauend, anschließend mit seriellen sowie postseriellen Techniken, die er nach wie vor meisterlich handhabt.
Das „Reisebuch” entstand drei Jahre nach „Jonny spielt auf“ und vier Jahre vor „Karl V.” Er schrieb es, als wieder einmal zurückgekehrter Wiener, 1929 im Verlauf von zweiundzwanzig Tagen in Wien. Es entstand also in der „romantischen Schaffensperiode”, und es wurde damals von seinem Freundeskreis als „scheinbar altväterisch”, als „gefällige oder auch ärgerliche Schrulle” abgetan. Die generationsbedingte Zwischenposition Kreneks verbietet es heute jedoch, noch daran zu glauben, das „Reisebuch” sei eine pure Idylle, angestopft mit liebreizenden Naturschilderungen. Es ist da zwar Pastellmalerei zu spüren, aus der die innige Bindung zu Heimat und Natur spricht, aber im Untergrund bohrt die pessimistische Weltsicht, das Abschiednehmen von erträumter Vergangenheit ins Gewissen und stößt schließlich, sich in einer für Krenek typischen Volte zur Ermutigung umkehrend, quer durch traditionelles Gebiet in das Grenzland der Zwölftontechnik.
Kreneks Bekenntnis, der Liederzyklus sei der „Winterreise” von Schubert nachempfunden, verstärkt den Eindruck vom nahen Abschied. Das „Reisebuch aus den österreichischen Alpen” enthält, wie der Dichterkomponist sagt, „sentimentale, ironische und philosophische Skizzen”, in welchen er die Schönheit des Heimatlandes preist und so manche seiner Probleme lyrisch diskutiert. Und so nimmt er auf die Wanderschaft durch die Alpen Gedankengepäck mit. Krenek reist aus, seine Heimat, sich selbst zu entdecken: „mit vielem begabt, doch mit Zweifeln zumeist, irren wir hin und her, suchend uns selbst und die Heimat” (No. 1). Im Augenblick glaubt er, es sei die Tonalität, aber ganz sicher ist er sich dessen nicht, sonst würde er ja nicht nachgrübeln über Sinn und Zweck seiner Fahrt. Erst rückblickend offenbart sich ihm, daß sich „innre Ruh nicht eingestellt” hat: „Wir in der Zeiten Zwiespalt haben es schwer” (No. 9). Die jedenfalls nun einzuschlagende Richtung führt von der Tonalität weg, und dieses eben erreichte Ziel wandelt sich in den Anfang einer Heimkehr zur Dodekaphonie.
Ernst Krenek in jungen Jahren |
Dem „Reisebuch”, das von der Atmosphäre der Vergänglichkeit und Resignation sanft umflort ist, gibt ein weich patinierter Es-Dur-Rahmen Kontur. Es-Dur gliedert auch den Zyklus: „Motiv”‚ „Unser Wein”, „Politik” (hier absichtlich etwas schulmeisterlich) und „Heimkehr”. Der Text wird im allgemeinen nicht sklavisch illustriert. Krenek deutet einzelne Begriffe mit den Mitteln der Hannonik, der Motivik, der Rhythmik und durch den Einsatz kleiner Figuren. Manchmal greift er auf feinsinnige Weise zur „romantischen Ironie” („Regentag” und „Unser Wein”). Sucht man nach Elementen, welche die funktionelle Harmonik fallweise aufheben, findet man sie in der Bitonalität, Ganztonakkordik, Sequenztechnik, aber auch in der Verwendung von, wenn man so sagen darf, Störtönen und parodistischen Wendungen. Der „Epilog” ist als Appendix zu betrachten, rezitativisch zerbröckelnd‚ düster, und dennoch einen neuen Beginn, ein „Immer weiter” anzeigend: Hier findet Ernst Krenek zu seiner ersten Zwölftonreihe.
Quelle: Lothar Knessl, im Booklet
Track 8: Unser Wein
Unser Wein
Von Süd und Ost belagert stürmisch unsre Alpen unser Wein. Da ist der weiße Wein von Wien und Gumpoldskirchen, der von Krems, aus der Wachau, dann die von Baden, Soos, Pfaffstätten und der rote von Vöslau, und weiter dann im Süden unsrer Steiermark das Hochgewächs von Luttenberg. Zumeist verachtet von den Fremden wie das Meiste, das wir haben, weil zu anspruchslos im Außern ist die Gabe, ist köstlich unser Wein nur dem, der ihn zu finden weiß. Nichts ist so schön als wie im frühen Sommer durch das Weingebirg zu gehn, wo auf unabsehbar schrägen Flächen emsig still und unverdrossen an den grauen Stecken grüne Männlein aufwärtsklimmen. Weiße Rebhäuschen, schmuck und zierlich unterbrechen ihre holde Pilgerfahrt, und noch ganz oben, wo schon der schwarze Nadelwald herrschen will, drängt sich ein schmaler Weinberg zwischen die Föhren, bietet sich der Sonne dar...
TRACKLIST Reisebuch aus den Österreichischen Alpen Ein Liederzyklus von Ernst Krenek, Op. 62 01. Motiv [01:41] 02. Verkehr [02:27] 03. Kloster in den Alpen [02:44] 04. Wetter [01:42] 05. Traurige Stunde [02:49] 06. Friedhof im Gebirgsdorf [04:56] 07. Regentag [01:41] 08. Unser Wein [03:11] 09. Rückblick [02:14] 10. Auf und ab [01:48] 11. Alpenbewohner [03:04] 12. Politik [04:47] 13. Gewitter [02:48] 14. Heimweh [03:49] 15. Heißer Tag am See [02:30] 16. Kleine Stadt in den südlichen Alpen [02:18] 17. Ausblick nach Süden [02:34] 18. Entscheidung [02:07] 19. Heimkehr [01:39] 20. Epilog [03:17] Gesamt: [54:13] Julius Patzak, Tenor Heinrich Schmidt, Klavier Aus dem Archiv des Österreichischen Rundfunks, Studio Wien Mono, 1950 Digital Remastered 1991
Track 11: Alpenbewohner
Alpenbewohner
(Folkloristisches Potpourri)
Die Alpen werden von wilden Nomaden bewohnt. Mit ungeheurem Lärm kommen sie hergebraust, Sommer und Winter spei’n die geduldigen Züge ihre Scharen aus. Heuschrecken gleich bedecken sie das Land. Mit unsäglicher Banalität schreien sie laut und deutlich in die Landschaft, als wollten sie den Berggeist wecken. Selten sieht man Urbewohner stumpf und mürrisch den Greu’l betrachten und im Stillen den Gewinn berechnen, den sie den Fremden aus Norden, die so seltsam sprechen, obgleich es deutsch sein soll, aus der Tasche ziehen werden. Was uns noch fehlt, sind Leute von drüben, mit schwarzen Schiffskoffern, herdenweise, rücksichtslose, furchtbare. Hätten wir “english church” und “golf de haute montagne” auch bei uns (mit achtzehn holes), sie würden lieblich sich zum Ganzen fügen. Am Samstag Abend wird das Berghotel im Handumdreh’n zum Irrenhaus, denn in dem Saale lassen, von dem Bier ermuntert, alle Eingebornen einen desperaten Cantus steigen. Auf der Veranda kräht ein altes Grammophon die neu’sten Schlager, draußen aber krachen Motorräder, wie Raketen auf dem Schlachtfeld, die von ihnen abgesessenen, schwanken drecküberkrustet, wie Vorweltungetüme in den Speisesaal, der vom Gebrüll der Barbaren dröhnt. So muß Weltuntergang sein!
Das bewohnte Tuch und das Kleid der Erde
Joachim Patinir: Ruhe auf der Flucht. Berlin, Gemäldegalerie Preußischer Kulturbesitz.
Joachim Patinir: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, 1515-24. Öl auf Holz, 62 x 78 cm, Berlin, Gemäldegalerie Preußischer Kulturbesitz. |
Jahrhundertelang stellten Maler die Flucht nach Ägypten als Reise dar, die unter heiterem Himmel von links nach rechts in die Fremde führt: Maria mit dem Kind auf dem Esel, den Josef am Halfter nach sich zieht. 1379 wurde der heiligen Emigrantenfamilie im Bild zum ersten Mal eine Rast gewährt: Vor einer angedeuteten Landschaftskulisse kniet Maria am Boden und reicht dem Knäblein die Brust: Josef, der seinen Hunger mit einem Brötchen stillt, hält ihr die Reiseflasche entgegen, während der Esel an einem Heubündel frißt. Kein Maler der Zeit schloß sich Meister Bertrams »Ruhe« an. Hundert Jahre vergingen, bis niederländische Maler das Motiv entdeckten, das zu Beginn des Jahrhunderts der Glaubensflüchtlinge nur wenige Künstler diesseits der Alpen zu schildern versäumten. In Gerard Davids Darstellungen der Ruhe auf der Flucht erscheint Josef seiner Rolle gemäß stets im Hintergrund; wenn er nicht gerade irgendwo eingeschlafen ist, klopft er am Waldrand Nüsse vom Baum, während die Jungfrau im Grünen selbstvergessen den Gottessohn stillt oder ihm lächelnd eine Weintraube reicht. In rotes oder blaues Tuch gehüllt sitzt sie auf dem blanken Boden; ihr Thron ist ein Felsvorsprung, ein Weidenkorb ihr Reisegepäck. Der Maler zeigt sie als Ganz- oder Halbfigur aus nächster Nähe in inniger Zweisamkeit mit dem Kind vor dem Waldhintergrund eines nordischen Ägypten. Madonna und Sohn nehmen ein Drittel der Bildfläche ein, den restlichen Raum teilen sich Bäume, Felsen, Gewässer, Berge und Häuser: Erst kommt die Jungfrau, dann die Landschaft; mit Joachim Patinir kehrt sich das Verhältnis um.
Meister Joachim zeigt die Welt aus nächster Ferne, seine Perspektive ist die göttliche Vogelschau, sein »Ägypten« ein kosmisches Panorama; weil aber dem »gut Landschaftmaler« die Figurendarstellung nicht gegeben war, übernahm er sie von Kollegen. »Den Meister Joachim hab ich 4 Christophel auf grau Papier verhöcht«‚ schreibt Dürer 1521 ins Tagebuch seiner Reise in die Niederlande. In der Berliner »Ruhe auf der Flucht« hat Patinirs Freund Joos van Cleve Jungfrau und Kind ins Bild gesetzt.
Aus einem Erdklumpen wurde Adam erschaffen und auch die göttliche Mutter ist nur eine irdische Frau. Demütig hat sie im klassischen Madonnengewand auf dem grünen Anger einer Anhöhe Platz genommen. Was dem Landschaftsmaler das Kleid der Erde, ist dem Figurenmaler das »bewohnte Tuch«, wo das fließende Gewebe der blauen Seidenrobe und des roten Umhangs mit dem goldbestickten Saum auf Widerstand stößt, fügt es sich in schmiegsame Falten und Knicke; rot schillern die schattigen Bereiche des olivfarbenen Seidenfutters, das am Ärmel und über dem rechten Knie der Jungfrau sichtbar wird — anscheinend haben sich, als Maria den Säugling zum Wickeln auf den Schoß hob, die Füßchen im Saum verfangen und das Innere des Kleides nach außen gestülpt; die segnende Geste des nackten Kindes mutet wie eine unbeholfene Nachahmung der mütterlichen Gebärde an — offenbar gilt sie dem Singvogel auf dem dürren Ast eines abgebrochenen Baumes, der von unten wieder grünt; das Tote sprießt, die Quelle sprudelt wie es das Wunderkind will, das wehmütige Lied der Nachtigall ist mit seinem Segen verklungen; Philomelas schluchzender Gesang wird erst mit der Passionsgeschichte wiederkehren: »Quand le rossignol a vu ses petits, il ne chante plus.«
Die lanzettblättrige Kratzdistel und die gelbe Schwertlilie am Wasser weisen auf den Leidensweg hin; das Erdenleben ist eine Pilgerschaft von der Wiege ins Grab, Christus das Vorbild des homo viator, des Pilgers, der nur im Himmel heimisch ist. Der Maler wäre jedoch kein Maler, wenn sein Weltbild in dem der Devotio moderna aufginge. Wohl sind Patinirs Weltlandschaften in jedem Detail auf das Heilsgeschehen bezogen, aber zugleich erscheint die Natur in seinen Andachtsbildern als dem Menschen wesensverwandt. »An die Naturobjekte geben wir uns nur deshalb hin, um an ihnen alle Züge zu entdecken und herauszuschälen, die unserem eigenen Sein wesensverwandt sind; die Erforschung der ›großen Welt‹ soll nur dazu dienen, uns das Bild des Mikrokosmos immer reiner zurückzustrahlen.« Gott hat den Menschen zum Auge und Spiegel seiner Schöpfung gemacht, und zwar zu einem Spiegel, »der die Bilder der Dinge nicht von außen empfängt, sondern der sie vielmehr in sich formt und bildet.« Saper vedere, Augenbildung, ist eines der Renaissance-Ideale, im Süden wie im Norden.
Dem azurblauen Gefieder an Flügel, Kopf und Schwanz verdankt die Blaumeise ihren früheren Namen »Himmelsmeise«; im Stilleben des Pilgergepäcks hat sie sich auf dem Deckel des kunstvoll ge?ochtenen Weidenkorbs niedergelassen. »Bleib ruhig sitzen und künde vom Ziel der Reise«‚ scheint die Gebärde Mariens zu sagen, während das Vögelchen auf die prallen Säcke der um Josefs Wanderstab geschlungenen Satteltasche blickt. »Betrachtet die Vögel des Himmels! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen«, und der himmlische Vater sorgt dafür, daß selbst heilige Pilger krümeln...
[…] Eine einzelne Rotbuche ragt mit ihrer Krone zur Rechten der Gottesmutter in den Himmel und erfüllt zwei Wünsche des Landschaftsmalers: Tiefenwirkung und schöne Aussicht, von keinem Ast am übernutzten Stamm verstellt.
Die Milch für die Suppe, die hinter Maria auf offenem Feuer köchelt, hat Josef aus dem Dorf geholt, dessen strohgedeckte Häuser sich im linken Mittelgrund des Bildes in eine Flußschleife ducken; in der Ferne sieht man den kleinen Mann seines Weges ziehen: einen Wanderstab in der Hand, den Esel am langen Halfter, kehrt er eben zum Marienanger zurück. Auf der gegenüberliegenden Seite der Landschaft erscheint auf einer Lichtung am Waldrand eine Hirschkuh als distanzierter Gast der marianischen Idylle.
Der Hirsch als Sinnbild Christi ist aus der antiken Vorstellung hervorgegangen, der »sanftmütige« Wiederkäuer sei ein Feind der bösen Schlange. »Auch Hirsche leben mit den Schlangen im Streit«‚ schreibt Plinius im Buch über die Landtiere, »sie spüren ihre Höhlen auf und ziehen sie, so sehr sie auch Widerstand leisten, durch das Schnauben ihrer Nasen heraus. Daher eignet sich der Geruch von verbranntem Hirschhorn auch ganz besonders zur Vertreibung von Schlangen.«
Im frühchristlichen Physiologus mutiert die Schlange zum Drachen, der Hirsch zum Herrn: »Wenn der Drache vor dem Hirsch flieht in die Spalten der Erde, geht der Hirsch hin und füllt sich die Höhle seines Bauches mit Quellwasser, und speit es aus in die Spalte der Erde, und so bringt er den Drachen heraus und schlägt ihn nieder und tötet ihn. / So hat auch unser Herr getötet den großen Drachen, den Teufel, durch die himmlischen Wasser, nämlich durch die göttlichen Heilslehren.«
Göttlich wirkt der Hirsch, gottgefällig die Hirschkuh. Während er sich im Kampf gegen das Böse bewahrt, geht sie im Dürsten und Stillen auf. »Wie die Hindin lechzt nach frischem Wasser, / so lechzt meine Seele, Gott, nach dir«‚ klagt im 42. Psalm der Levit im Exil. MENS INTENTA DEO heißt die Devise der Hirschkuh im Emblembuch des Joachim Camerarius; das Sinnbild zeigt die Hindin, wie sie durch die Landschaft streift und den fallenden Tau der Sonne trinkt. Die Legenda aurea schildert sie als mütterliches Gnadentier des heiligen Ägidius, der als Einsiedler im wilden Wald in einer Höhle mit Brunnen vor der »Gefahr des irdischen Ruhmes« Schutz suchte, »und Gott sandte ihm eine Hirschkuh, die kam alle Tage zu allen Zeiten und nährte ihn mit ihrer Milch«. Königliche Jäger verfolgten das Tier. Als der Einsiedler zu Gott betete, er möge ihm die Hindin erhalten, traf ihn der Pfeil, der ihr galt. So wurde Ägidius zum Schutzpatron der stillenden Mütter und der Tiere.
In der dörflichen Welt im Mittelgrund der Landschaftsbühne hat Patinir das zeitliche Nacheinander der Fluchtepisoden räumlich nebeneinander gestellt. Im flämischen Bethlehem hinter dem Wäldchen der Hindin erleiden die Unschuldigen das von Herodes befohlene Massaker, einen Augenblick weiter geben die Verfolger der heiligen Familie nach der wahren Auskunft des Bauern am wunderbaren Weizenfeld vor dem Dorf ihre Suche auf, während das weiterwandernde Auge auf einem Felsen über dem Haupt der Madonna das winzige Standbild eines Götzen kopfüber von einer vegetabilischen Sockelspitze à la Hieronymus Bosch stürzen sieht.
Die Leichtigkeit, mit der das Auge des Betrachters in der gemalten Landschaft herumspaziert, wurde auf wundersame Weise auch den Flüchtenden zuteil. Der Weg von der Quelle zum Götzen wurde im Nu zurückgelegt. Nach dem Pseudo-Matthäus-Evangelium löschten die Pilger an der Wunderquelle ihren Durst und wanderten weiter in der sengenden Hitze des Landes. Josef wollte am Meer entlangziehen, um in den Küstenstädten ausruhen zu können, aber das Jesuskind versprach, den Weg abzukürzen: »Was ihr in einem Zeitraum von dreißig Tagen zurückzulegen im Begriffe wart, sollt ihr an einem Tage ausführen.« Und sogleich erblickten sie die Berge und Städte Ägyptens. »Freudig und jubelnd kamen sie im Gebiet von Hermopolis an und zogen in eine ägyptische Stadt ein, die Sotinen heißt. Und da sich in ihr kein Bekannter befand, den sie um Gastfreundschaft hätten bitten können, traten sie in einen Tempel ein, der ›Kapitol Ägyptens‹ genannt wurde.«
Sotinen ist wie Silena eine Phantasiestadt. Der Name könnte von Sothis abgeleitet sein, dem Sirius oder Hundsstern der Ägypter, der der Isis geweiht war. Das Erscheinen des hellsten aller Gestirne in der Morgendämmerung des Monats Thoth kündigte mit der Nilschwelle den Jahresbeginn an. 365 Tage zahlte das ägyptische Kalenderjahr und ebensoviele Abgötter zerschellen nach Pseudo-Matthäus im Tempel. In einer anderen apokryphen Schrift ist das Wunder auf den Sturz eines einzelnen Götzen beschränkt.
Patinirs Idol hält ein Zepter in der erhobenen Rechten; unter der Lupe mutet der stürzende Torso im ärmellosen Kleid wie eine Götzin mit einem spitzen Tierkopf an.
Der Mann mit Turban und Wanderstab auf dem gewundenen Weg zur befestigten Stadt im Inneren des pittoresken Felsenmantels und die Figur mit Zipfelhaube‚ die ihm in einigem Abstand folgt, sind entweder dem einen oder dem anderen Kindheitsevangelium entsprungen. Das arabische erzählt von der Heilung des besessenen Sohnes eines Priesters von Hermopolis, während Pseudo-Matthäus vom obersten Sotinenser Affrodosius berichtet, der mit seinem Gefolge zum Tempel eilte und vor dem Scherbengericht der 365 zerschellten Abgötter die Jungfrau und das Kind anbetete.
Endlose Steinstufen führen zur Hermes-, Helios- oder Isis-Stadt mit dem runden Tempel, die nach dem Sturz der falschen Tiergötter die feste Burg des Monotheismus darstellt. Per aspera ad astra, auf steinigem Weg erreicht der Mensch das Heil. Seine Würde liegt in seiner Wandlungsfähigkeit beschlossen. »Vom Geist der Cherublm beseelt (…) werden wir in philosophischer Betrachtung über die Stufen der Leiter, das ist der Natur, von einem Endpunkt zum anderen alles durchschreiten und dabei bald hinabsteigen, das Eine wie den Osiris mit titanischer Gewalt in eine Vielheit zerstückeln, bald hinaufsteigen, die Vielfalt gleichsam als Glieder des Osiris mit phöbeischer Macht zum Einen sammelnd, bis wir endlich im Schoß des Vaters über der Leiter ruhen und durch die Glückseligkeit der Theologie zur höchsten Vollendung gelangen.«
Wie eine abgebrochene Säule des Himmels, deren Trümmer ringsum in der Landschaft verstreut sind, ragt der schroffe Fels in die Wolken. Das Vorbild der bizarren geologischen Formation haben Kunsthistoriker in Südfrankreich ausgemacht. Eine Nische in einer Felswand bei Marseille galt lange Zeit als Wüstenort Maria Magdalenas, aus der die heilige Sünderin nach dreißigjähriger Buße mit täglich siebenmaliger Ekstase gen Himmel fuhr. Als »Tsente Marie Magdalenen ter Spelonken« war der Wallfahrtsort Sainte Baume auch in Flandern bekannt. Aber so sehr sich die Felsen durch ihre umgürteten Burgen innerlich gleichen, so verschieden ist ihre äußere Gestalt. Die abgebrochene Felsensäule Patinirs hat mit dem Tafelgebirge bei Marseille nichts gemein. Einzig das um den Säulenberg und am Flußufer gestrandete Gestein scheint reale Verwandte zu haben: die Felszinnen im Maas-Tal in der Heimat des Malers, auf die man seine Neigung, groteske Felsen als Repoussoir zu nutzen, gern zurückführt.
Felsen kennzeichnen seit van Eyck, Bouts und David die Wüste der Heiligen, sie sind die Klippen, an denen der Ungläubige scheitert und die der Gläubige im Vertrauen auf die Nähe Gottes erklimmt: »Die Klippen hieß er in der Wüsten springen / und klaren Trank aus ihrer Tiefe dringen.« Mit Patinir und Bles nimmt der Fels in der Malerei immer phantastischere Formen an. Pfeiler, Kegeln, Nadeln, Zinnen, Obelisken‚ Pyramiden, Säulen, Hörner und Pilze, zerrissenes, zerklüftetes, verwittertes‚ schiefriges und zu Toren und Gewölben ausgehöhltes Gestein türmt sich, bald senkrecht, bald waagerecht geschichtet, über- und nebeneinander oder ragt vereinzelt, wie von Giganten-Macht in die Erde gerammt, aus der Landschaft hervor.
Zwar sind alle Klippen Klippen, aber Fels ist nicht gleich Fels. Der, auf den man baut, ist ein anderer als »der Stein an den man anstößt, / der Felsen an dem man zu Fall kommt«. Nur »Schlangenbrut« kann den gött- lichen Fels in der Wüste, der Jakob umhüllte und »hütete wie seinen Augenstern«, ihn nährte mit den Früchten des Feldes, ihn stillte »mit Wein aus den Felsen, / mit Öl aus Felsspalten«, mit den Glut-Breccien des Teufels verwechseln, die die Feuersbrunst von Sodom und Gomorra reflektieren.
Ob Felsmantel oder gefährliche Klippe, Mahnmal des Chaos oder Säule der Beständigkeit, vom schroffen Fels in lieblicher Landschaft geht im Guten wie im Bösen eine furchteinflößende Wirkung aus. So ungeheuerlich wie die steingewordene Macht des Teufels ist die felsenfeste Allmacht des Herrn. »Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen«, predigt Johannes der Täufer der Schlangenbrut in der Wüste. Wer die Gewässer mit der hohlen Hand, die Himmel mit der Spanne gemessen, die Berge und Hugel gewogen und den Staub der Erde in ein Maß gefaßt hat, der kann auch Steine lebendig werden lassen, Täler heben, Berge und Hügel senken, das Krumme gerade und das Hügelige eben machen, die Wüste in ein Eden und die Öde in einen Garten verwandeln. »Hört auf mich, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt«, beginnt Jesaia seine Prophezeiung der Wiederherstellung Zions, »Blickt auf den Felsen aus dem ihr gehauen seid, / auf den Schacht, aus dem ihr herausgebohrt wurdet.«
Die Vegetation auf dem schmalen Felsgrat zwischen den Abgründen des Schachtes und der Welt zeugt von der Genügsamkeit ihrer Natur: von keinem Sturm gebeugt reckt sich ein kleiner Baum in den Himmel die Wurzeln in den Fels gekrallt, trotzen Gräser und Stauden dem Wind. Schönwetterwolken bilden eine Flotte, die hoch über dem diesigen Horizont in westöstlicher Richtung am azurblauen Himmel entlangzieht. In der blauen Ferne der Welt münden die Arme eines scheldehaften Nil ins Meer; Schiffe segeln dort in den Hafen einer großen Stadt mit hohen Türmen, die, mit oder ohne Pharos ein flämisches Alexandria oder ägyptisches Antwerpen darstellt.
Quelle: Anita Albus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei. [Die Andere Bibliothek, Band 145] Eichborn, Frankfurt/Main, 2. Auflage 2005. ISBN 2-8218-4461-2. Seite 174-188
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