Fanny Mendelssohn wurde 1805 geboren, Clara Schumann — geborene Wieck —1819. In den Jahren dazwischen erblickten keine Geringeren als Fannys Bruder Felix Mendelssohn (1809), Frédéric Chopin und Robert Schumann (beide 1810), Franz Liszt (1811), Richard Wagner und Giuseppe Verdi (beide 1813) das Licht der Welt. Dies war jedoch eine Zeit, in der Frauen als Berufsmusiker wenig galten, weshalb Fanny Mendelssohn, die ein beschütztes Leben in Komfort und Wohlstand führte, Trost im Erfolg ihres brillanten Bruders Felix fand. Dagegen wurde aus Clara Schumann zunächst nur dank der Bemühungen ihres Vaters Friedrich Wieck, eines Mannes von erheblichem Ehrgeiz, der fest entschlossen war, seiner Tochter zum Erfolg zu verhelfen, eine Pianistin von internationalem Ruf. Außerdem war es Clara bestimmt, später die liebende Gattin eines siechen Genies zu werden, die Mutter von acht Kindern und eine Komponistin von beachtlicher Schaffenskraft.
Psychologen spekulieren seit langem über das Verhältnis dieser beiden Frauen zu Männern, die nicht ihre Ehegatten waren. Obwohl weder bei der einen noch bei der anderen konkrete Beweise vorliegen, wird kaum bestritten, daß Fannys Liebe zu ihrem Bruder Felix eine Kraft war, die ihm selbst durchaus bewußt war und mit der er gelegentlich ein gefährliches Spiel trieb, bis ihm schließlich (glücklicherweise) klar wurde, daß Ermutigung jeglicher Art zu einer unheilvolleren, weniger normalen Anhänglichkeit hätte führen können. Bei Clara war es ihre emotionale Bindung an den jungen Johannes Brahms, die Spekulationen auslöste, und auch hier hat es den Anschein, als hätten beide Beteiligten davon abgesehen, ihre gegenseitige Zuneigung über eine rein platonische Beziehung hinausgehen zu lassen.
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Fanny Mendelssohn im Alter von 16 Jahren. |
Ein seltsamer Zufall will es, daß der Altersunterschied zwischen Fanny und Felix Mendelssohn genau der gleiche war wie der zwischen Wolfgang Amadeus Mozart und seiner Schwester Nannerl. Während jedoch Vater Mozart die öffentlichen Auftritte seiner Tochter entschieden förderte, war es bei Abraham Mendelssohn genau umgekehrt. „Nur das Weibliche ziert die Frauen", erklärte er. Überraschenderweise teilte Felix Mendelssohn teilweise diese Ansicht, obwohl er sich der überaus hohen Begabung seiner Schwester eindeutig bewußt war - so bewußt, daß er sich mit Fanny häufig über neue Stücke beriet, an denen er arbeitete. Dieser Zwiespalt drückt sich ferner darin aus, daß Felix zwar die Kompositionen seiner Schwester bewunderte, aber nicht damit einverstanden war, daß sie ihre Lieder veröffentlichen ließ. Zugleich hielt er einige davon für gut genug, um sie unter seinem eigenen Namen herauszugeben. Es ist ihm hoch anzurechnen, daß er sich, als sie erfolgreich waren, dazu bekannte, von wem sie tatsächlich stammten.
Die Beziehung zwischen Felix und Fanny hätte sich hinsichtlich ihrer und seiner Chancen, einen Ehepartner zu finden, als verhängnisvoll erweisen können, doch Fanny heiratete 1829 mit vierundzwanzig Jahren und nach langem Gewissenskampf den Maler Wilhelm Hensel. Die beiden waren damals seit sechs Jahren miteinander bekannt, nur hatte Leah Mendelssohn Hensel zunächst als ungeeignete Partie für ihre Tochter betrachtet. Aber die Ehe war trotz der restriktiven Bedingungen der damaligen Zeit ein Erfolg und führte keineswegs dazu, daß Fanny ihre musikalische Betätigung einschränken mußte. Vielmehr wurde sie ermutigt, sie zu verstärken. 1838 durfte sie endlich öffentlich als Pianistin auftreten, und zwar bei einem Wohltätigkeitskonzert, wo sie das Klavierkonzert in g-Moll ihres Bruders spielte.
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Felix Mendelssohn im Alter von 12 Jahren. |
Hiernach begann sich Fanny, was ihre Musik anging, allmählich durchzusetzen, und schließlich schrieb Felix ihr, nachdem er Kopien von mehreren kürzlich herausgegebenen Werken Fannys erhalten hatte: „… mögest Du Vergnügen und Freude daran haben, daß Du den andern so viel Freude und Genuß bereitest, und mögest Du nur Autor-Pläsiers und gar keine Autor-Misere kennen lernen, und möge das Publikum Dich nur mit Rosen und niemals mit Sand bewerfen, und möge die Druckerschwärze Dir niemals drückend und schwarz erscheinen, — eigentlich glaube ich, an allem ist gar kein Zweifel denkbar. Warum wünsche ich Dirs also erst?" Rund ein Dutzend Werke von Fanny Mendelssohn wurden vor und nach ihrem Tod veröffentlicht, doch liegen noch viele im Mendelssohn-Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz. Man kennt sie auch heute noch vor allem als Schwester von Felix Mendelssohn, und es könnte durchaus sein, daß sie damit zufrieden gewesen wäre.
Bei Clara Schumann war die Lage völlig anders. Sie begann ihre Karriere als Interpretin im Alter von acht Jahren mit der Darbietung eines Mozart-Konzerts. Ihr Fleiß wurde damit belohnt, daß ihr Vater ihr ein neues Stein-Klavier schenkte. Wir erfahren, daß sie bald nicht nur das normale Klavierrepertoire einübte, sondern auch Opern wie
Oberon und
Die Zauberflöte durchspielte. Was für ein bemerkenswert musikalisches Kind! Mit zehn Jahren lernte Clara Paganini kennen und wurde von ihm in einen Kreis renommierter Künstler eingeführt, und ein Jahr später wandte sich Robert Schumanns Mutter ratsuchend an Claras Vater, um sich beraten zu lassen, ob die Jurisprudenz oder die Musik für die Zukunft ihres Sohnes in Frage kämen. Auf Friedrich Wiecks Anraten widmete sich Robert mit großem Vergnügen der Musik. Es war eine Wahl, die ernsthafte Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg von Wieck, Clara und Robert haben sollte.
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Fanny und Wilhelm Hensel. |
Mittlerweile wurde Clara zum Kontrapunktstudium zu Christian Theodor Weinlig geschickt, dem Kantor der Leipziger Thomaskirche (Bach hatte diesen Posten in den letzten siebenundzwanzig Jahren seines Lebens innegehabt). Weinlig war ein ausgezeichneter Lehrer, der später in Richard Wagner einen bewundernden Schüler hatte. Clara bildete sich fort, indem sie viel las - sowohl griechische und lateinische Klassiker als auch Romantiker wie Byron und E.T.A. Hoffmann. Interessierten Lesern sei das ungeheuer informative Buch
Clara Schumann — A Dedicated Spirit von Joan Chissell (Hamish Hamilton) empfohlen, das viele faszinierende Details aus dem Leben der Künstlerin enthält. Darunter befinden sich Berichte über die Pariser Begegnungen Claras mit berühmten Zeitgenossen wie Berlioz.
Im Jahr 1843, drei Jahre nach ihrer Hochzeit mit Robert Schumann, fiel Clara das Komponieren alles andere als leicht, was ihr Mann ohne weiteres einzugestehen bereit war: Clara habe eine Reihe kleinerer Stücke geschrieben, die eine bis dahin unerreichte Musikalität und sensible Erfindungsgabe bewiesen. Doch Kinder und ein Mann, der ewig im Reich der Phantasie lebe, gingen mit dem Komponieren nicht gut zusammen, meinte er — sie könne sich nicht regelmäßig der eigenen Musik widmen und er sei oft besorgt darüber, wie viele ihrer feinfühligen Ideen mangels Ausarbeitung verloren gingen.
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Clara Wieck. Lithographie von Andreas
Staub, 1838. Das Vorbild für den
100-DM-Schein 1990. |
Als sie ihr viertes Kind erwartete und daher im Winter 1845 nicht auf Tournee gehen konnte, wandte sich Clara der Komposition zu. Insbesondere beschäftigte sie sich zusammen mit ihrem Mann eingehend mit Bach und Cherubini. Das bemerkenswerteste Ergebnis des Fleißes, den Clara um diese Zeit an den Tag legte, war ihr
Klaviertrio in g-Moll - ein Werk, das ihr, wie aus dem Manuskript hervorgeht, zu Beginn große Schwierigkeiten bereitete. In seiner endgültigen Form stellt sich das Trio jedoch als wohlproportioniertes Werk dar, einfühlsam zugeschniten auf die beteiligten Instrumente.
Im ersten Satz könnte man Claras Inspiration stellenweise mit der ihres Mannes verwechseln. Das Hauptthema ist lyrisch, das Nebenthema akkordisch mit bezaubernden Synkopen. Eine scheinbar mühelose Durchführung offenbart die Befähigung der Komponistin zum kontrapunktischen Satz. Die Reprise wird ausgesprochen geschickt bewältigt und legt die Grundtonart g-Moll erneut eindeutig fest.
Das folgende reizende Scherzo setzt einen punktierten Rhythmus nach Art des "Scotch snap” (Sechzehntel und punktiertes Achtel) ein. Die Triopassage verwandelt den Zweiertakt in einen Dreiertakt, genau wie es im Finale des Klavierkonzerts von Robert Schumann der Fall ist. Das anschließende Andante in G-Dur verwirklicht wegen seiner recht simplen Harmonisierung nie ganz sein volles Potential. Der erregte Mittelteil kehrt in die Molltonart zurück, ehe eine Reprise beginnt, in der das Cello auf charmante Art eine Passage gekonnt abwechslungsreicher Instrumentierung bestreitet.
Das Finale in G-Dur ist in Sonatenform angelegt und zeigt Clara auf dem Höhepunkt ihres Könnens als Komponistin. Raffiniert wird auf die einleitende Phrase des Andante angespielt, und die Durchführung bedient sich eines kontrapunktischen Satzes, der selbst Mendelssohn keine Schande gemacht hätte. In der Coda schließlich wird die Spannung nicht nur angemessen erhöht, sondern auch wunderbar kontrolliert.
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Clara und Robert Schumann,
Lithographie von Eduard Kaiser, 1847. |
Fanny Mendelssohns
Klaviertrio in D-Dur ist ein Spätwerk, das 1850 publiziert wurde, drei Jahre nach ihrem Tod. Es ist von der Struktur und Instrumentierung her ein äußerst vollendetes Werk — nicht nur die Schöpfung einer gebildeten Gelegenheitskomponistin, sondern auch die einer begnadeten Künstlerin. Das einleitende „Allegro molto vivace" stellt seine kühnen Themen selbstbewußt vor. Unmittelbar spürbar ist die sensible Art und Weise, in der die Klavierstimme in das Instrumentalgefüge eingepaßt ist. Bemerkenswert ist ferner die gelungen klangvolle Formgebung der Baßlinie des Cellos. Das Trio ist musikalisch sehr auf seine Zeit festgelegt und verrät zwangsläufig den Einfluß des berühmten Bruders der Komponistin. Ein weiterer Einfluß ist der von Schubert, dessen Musik sowohl Felix als auch Fanny geradezu anbeteten.
Der Andante überschriebene zweite Satz fängt ruhig an, steigert jedoch bald das Tempo, und diese schnellere Passage geht logisch zu einer überaus einfallsreichen Durchführung des einleitenden Materials des Satzes über. Der dritte Satz ist um einiges schwächer als die übrigen, doch das Finale beginnt mit einer unerwarteten kadenzialen Passage des Klaviers, ehe Violine und Cello einsetzen. Hier ist das musikalische Material weniger einprägsam als das im ersten Satz verwendete, und die weite Lage der Klavierakkorde wurde möglicherweise zu weit getrieben, doch im allgemeinen ist der Umgang mit dem Medium nie weniger als fähig.
In Anbetracht dieses Werks kann man nur spekulieren, daß Fanny Mendelssohn, hätte ihr kurzes Leben eine normalere Spanne erreicht, der Nachwelt möglicherweise eine Anzahl weiterer bedeutender Kompositionen hinterlassen hätte. Vielleicht können Einspielungen wie die vorliegende sogar zu einer Wiederentdeckung anderer Stücke von ihr führen, die derzeit im Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz untergebracht sind.
Quelle: Peter Lamb [Übersetzung Anne Steeb/Bernd Müller], im Booklet
TRACKLIST
Fanny Mendelssohn / Clara Schumann: Piano Trios
Clara Schumann
(1819-1896)
Piano Trio in G minor Op. 17 29'31
01. I. Allegro 10'58
02. II. Scherzo and Trio 5'05
03. III. Andante 5'32
04. IV. Allegretto 7'34
Fanny Mendelssohn
(1805-1847)
Piano Trio in D major Op. 11 26'46
05. I. Allegro molto vivace 10'55
06. II. Andante espressivo 6'45
07. III. Lied: Allegretto 2'21
08. IV. Finale: Allegretto moderato 6'32
Duration: 56'17
The Dartington Piano Trio:
Oliver Butterworth, violin
Michael Evans, cello
Frank Wibaut, piano
Recorded on 28 and 29 November 1988
Recording Engineer Antony Howell
Recording Producer Mark Brown
Executive Producers Cecile Kelly, Edward Perry
(P) 1989 (C) 2001
Erich Auerbach: Fortunata
Aus »Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der Abendländischen Literatur«
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Erich Auerbach (1892-1957) |
[Die folgende Passage] stammt aus dem Roman des Petronius, von dem nur eine Episode, das Gastmahl bei dem reichen Freigelassenen Trimalchio, vollständig erhalten ist. […] Der Erzähler, Encolpius, erkundigt sich während des Mahles bei seinem Tischnachbarn, wer denn die Frau sei, die durch den Saal hin und her laufe, und erhält Antwort, die ich im folgenden, möglichst stilgerecht, deutsch wiederzugeben versuche:
Das ist Fortunata, Trimalchios Frau, die das Geld mit dem Scheffel mißt. Und früher, was glauben Sie wohl, was die gewesen ist? Nehmen Sie es mir nicht übel, Sie hätten aus ihrer Hand kein Stück Brot genommen. Aber jetzt ist sie mir nichts dir nichts ins Paradies abgeschwommen, und ist dem Trimalchio sein ein und alles. Also ich sage Ihnen, wenn die ihm am hellen Mittag sagt, es ist dunkel, er glaubt es. Der weiß gar nicht, wieviel er hat, so steinreich ist er; aber sie, das Luder, paßt auf, auch wo man es gar nicht vermuten sollte. Sie trinkt nicht, ist sparsam, und weiß immer Rat; dabei aber ein Schandmaul, eine richtige Elster. Wen sie mag, den mag sie, und wen sie nicht mag, den mag sie nicht. Der Trimalchio hat Grundstücke, so weit die Falken fliegen, unzählige Millionen. Im Keller von seinem Portier liegt mehr Geld als andere Leute überhaupt im Vermögen haben. Und das Sklavenpersonal, ich glaube nicht, daß auch nur der zehnte Teil davon je seinen Herren zu sehen kriegt. Also ich sage Ihnen, neben dem kann jeder von den Maulaffen hier einpacken. Und glauben Sie nicht, daß der irgendwas zu kaufen braucht; alles ist eigene Produktion: Wolle, Wachs, Pfeffer - und wenn Sie Hühnermilch haben wollten, sie wäre da. Also ich sage Ihnen, er hatte nicht genug eigene Produktion an guter Wolle; da hat er sich Widder aus Tarent gekauft, und sie in seine Herde gesteißt … Sie sehen, wieviel Kissen hier herumliegen; da ist keines dabei, das nicht mit Purpur- oder mit Scharlachwolle gefüllt wäre: da können Sie sehen, was für ein glücklicher Mann das ist. Auch seine Mitfreigelassenen sind nicht zu verachten. Die haben ihr Schäfchen im Trocknen. Sehen Sie den letzten da hinten? Der hat heute seine Achtmalhunderttausend. Er hat mit nichts angefangen. Es ist noch gar nicht lange her, da schleppte er Holz. Aber wie die Leute erzählen — ich weiß es nur vom Hörensagen — er hat einem Heinzelmännchen die Kappe stiebitzt, und dann hat er einen Schatz gefunden. Na, ich bin nicht neidisch, wenn Gott es einem gibt. — Er ist übrigens erst eben freigelassen und hat noch große Rosinen im Kopf. Neulich hat er in einer Anzeige seine Wohnung zum Vermieten angeboten: «C. Pompeius Diogenes ver- mietet zum Juli seine Wohnung; er hat sich nämlich ein Haus gekauft.» Und der da auf dem Platz des Freigelassenen, wie gut ist es dem früher gegangen! Ich will nichts Böses von ihm sagen, er hat mal eine Million gehabt, aber dann ist es schief gegangen, und jetzt gehören ihm, glaube ich, nicht mal mehr die Haare auf seinem Kopf …
Die Antwort, die in der gleichen Art noch eine Weile fortgeht, ist also recht ausführlich geworden. Nicht nur die Frau, nach der sich Encolpius erkundigt hat, sondern auch der Gastgeber und mehrere Gäste werden behandelt, und überdies schildert der Sprecher auch sich selbst — seine Sprache und die Bewertungsmaßstäbe, die er anlegt, geben einen deutlichen Begriff von seiner Persönlichkeit. Die Sprache ist der ordinäre, etwas breiige Jargon eines ungebildeten städtischen Geschäftsmanns, voll von Klischees — […] und sie wird vorgetragen mit jenem sanguinischen Akzent, der lebhafte, aber triviale Affekte ausdrückt: Staunen, Bewunderung, Beteuerung, Achselzucken, Wichtigtuerei — kurz, in ihrer sprachlichen Form verraten die
tam dulces fabulae, wie sie gleich darauf genannt werden, unverkennbar das, was sie sind, nämlich ordinärer Klatsch, obgleich ein guter Teil ihres Inhalts wahr sein mag; und sie verraten zugleich, wer der Mann ist, der sie ausspricht, nämlich jemand, der vollkommen in das Milieu hineinpaßt, das er schildert.
Dafür zeugen auch seine Bewertungsmaßstäbe. Denn ganz selbstverständlich liegt all seinen Worten die Überzeugung zugrunde, daß Reichtum das höchste Gut ist, je mehr desto besser
(tanta est animi beatitudo), daß die Güter des Lebens nichts sind als Überfluß an Waren bester Qualität und gemeinster Genuß derselben, und daß jeder Mensch ganz selbstverständlich in diesem Sinne nach seinem materiellen Vorteil handelt. Und bei alledem ist er selbst wohl nur ein kleiner oder mittlerer Mann, der die ganz Reichen ehrlich bewundert. So schildert der Gute nicht nur Fortunata, Trimalchio und ihre Tischgenossen, sondern zugleich, ohne es zu wissen, sich selbst. Er hat zwar, wie wir sehen, einen etwas einseitigen Standpunkt, spricht auch mehr gefühlsmäßig und in Assoziationen als logisch, aber er spricht ausführlich und sozusagen plastisch — er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, und sagt alles, was zur Sache gehört. Er läßt nichts im Dunkel, er schwatzt sich aus, wie bei Homer ergießt sich helles, gleichmäßiges Licht über die Menschen und Gegenstände, die er behandelt; er hat, wie Homer, Muße genug zur Ausformung; was er sagt, ist eindeutig, und es bleibt nichts Hintergründig-Verborgenes ungesagt.
Freilich bestehen auch bedeutende Unterschiede gegen die Art Homers. Zunächst ist die Ausformung ganz subjektiv; denn was uns vorgeführt wird, ist nicht etwa der Kreis Trimalchios als objektive Wirklichkeit, sondern als subjektives Bild, so wie es sich im Kopf jenes redenden Tischnachbarn, der aber auch selbst zu dem Kreise gehört, darstellt. Petronius sagt nicht: dies ist so — sondern er läßt einen Ich, der weder mit ihm, noch auch nur mit dem fingierten Erzähler Encolpius identisch ist, den Scheinwerfer seines Blicks auf die Tischgesellschaft werfen — ein höchst kunstvolles, perspektivisches Verfahren, eine Art doppelte Spiegelung, die in der erhaltenen antiken Literatur, ich wage nicht zu sagen einzig, aber doch jedenfalls sehr selten ist.
Die äußere Form dieses perspektivischen Verfahrens ist zwar keineswegs neu, denn selbstverständlich sprechen überall in der antiken Literatur die Personen über ihre Erlebnisse und Eindrücke. Aber das ist entweder, wie in den Erzählungen des Odysseus bei den Phäaken oder des Äneas bei Dido, nur eine Form der Exposition und durchaus objektiv behandelt — oder aber es handelt sich um die Stellungnahme einer Person gegenüber Menschen oder Ereignissen, von denen sie, im Rahmen einer Handlung, gerade betroffen wird, und wo also das Subjektive unvermeidlich und auch ganz kunstlos natürlich ist. Hier aber handelt es sich um schärfsten Subjektivismus, der noch durch die Individualsprache hervorgehoben wird, einerseits — und um eine objektive Absicht andererseits, denn die Absicht zielt auf objektive Schilderung der Tischgesellschaft, den Sprecher eingeschlossen, vermittels des subjektivistischen Verfahrens. Das Verfahren führt zu einer sinnlicheren und konkreteren Lebensillusion — indem der Tischnachbar die Tischgesellschaft schildert, zu der er, innerlich und äußerlich, selbst gehört, wird der Blickpunkt ins Bild hinein versetzt, dieses gewinnt Tiefe, und von einem seiner Orte selbst scheint das Licht auszugehen, von welchem es beleuchtet wird.
Nicht anders arbeiten moderne Schriftsteller, etwa Proust, nur viel konsequenter auch innerhalb des Tragischen und Problematischen, wovon wir alsbald sprechen werden. Das Verfahren Petrons ist also im höchsten Maße kunstvoll, und, wenn er keine Vorgänger gehabt hat, genial — die Tischgesellschaft wird mit ihren eigenen Maßstäben gemessen, diese Maßstäbe richten sich durch ihr bloßes Lautwerden, zudem wird das Pöbelhafte dieser Neureichen schon durch die Tatsache, daß an ihrem eigenen Tisch so von ihnen gesprochen wird, aufs schärfste beleuchtet. Es finden sich wohl Ansätze zu ähnlicher Technik auch sonst in der satirischen Literatur der Antike — ein ähnlich durchdachtes und durchgeführtes Beispiel kenne ich aber sonst nicht.
Ein anderer bedeutender Unterschied gegenüber dem homerischen Vorgehen besteht in folgendem. Dem Tischnachbarn ist es bei seiner Schilderung besonders wichtig, zu betonen, was all diese Leute einst waren, im Gegensatz zu dem, was sie jetzt sind.
Et modo, modo quid fuit, so sagt er bei Fortunata;
de nihilo crevit, und
quam bene se habuit, bei den beiden Tischgenossen. Auch Homer liebt es […] die Abkunft, Geburt und Vorgeschichte seiner Personen einzuschalten. Aber seine Angaben sind ganz anderer Art. Sie führen uns nicht ins Werdende und sich wandelnde, im Gegenteil, sie fuhren uns zu einem festen Anhaltspunkt. Der mythologisch-genealogisch geschulte griechische Hörer soll Abstammung und Familie der in Rede stehenden Person erkennen, er soll sie in dieser Weise einordnen, genau wie man in der modernen Zeit in einem geschlossenen aristokratischen oder altbürgerlichen Kreis einen neu Erschienenen durch Angaben über seine väterliche und mütterliche Familie bestimmt. Dadurch soll weniger der Eindruck der geschichtlichen Wandlung als vielmehr die Illusion eines unwandelbaren Festbegründetseins der gesellschaftlichen Verfassung hervorgerufen werden, neben der der Wechsel der Personen und ihrer persönlichen Schicksale vergleichsweise unbeträchtlich erscheint.
Unser Tischnachbar aber (und darin fühlt er, wie in allem, was er sagt, genau wie seinesgleichen) hat wirklich das geschichtlich sich Wandelnde‚ den Glückswechsel im Sinn. Ihm ist die Welt in ständiger Bewegung begriffen, nichts ist sicher, vor allem aber Wohlstand und gesellschaftliche Stellung sind äußerst unbeständig. Sein geschichtlicher Sinn ist einseitig, denn es dreht sich nur ums Geldhaben, aber er ist echt. (Auch die andern Tischgenossen kommen immer wieder auf die Unbeständigkeit des Lebens zu sprechen.) Das Hinundherfluten des Besitzes ist das, was ihn am Dasein interessiert, und was ihn gelehrt hat, ihn und seinesgleichen, aller Stabilität zu mißtrauen. Eben war man noch Sklave, Lastträger, Lustknabe — eben konnte man noch verprügelt, verkauft, verschickt werden — mit einem Male ist man als reicher Großgrundbesitzer und Spekulant im tollsten Luxus — und morgen konnte es wieder aus damit sein. Selbstverständlich fragt er:
et modo, modo quid fuit? Das ist nicht, oder nicht nur, Neid und Mißgunst, was aus ihm spricht — er ist im Grunde wohl ganz gutmütig —, sondern sein wahres und tiefstes Interesse.
Nun ist es bekannt, daß der Glückswechsel in der antiken Literatur überhaupt einen sehr bedeutenden Platz hat und auch die philosophische Ethik sich vielfach auf ihm aufbaut. Aber, seltsam genug, er vermittelt anderswo nur selten den Eindruck geschichtlichen Lebens. Er erscheint entweder in der Tragödie, als ein einmaliges ungeheures Schicksal, oder in der Komödie, als Ergebnis eines ganz außerordentlichen Zusammentreffens besonderer Umstände; ob es sich um König Ödipus handelt, den der längst vorausgesagte Fluch getroffen und ins entsetzlichste Elend gestoßen hat, oder um das arme Mädchen oder den Sklaven, die sich als die einst geraubten oder nach einem Schiffbruch vermißten Kinder eines reichen Mannes entpuppen, so daß sie sogleich die von ihnen erwünschte Ehe eingehen können, in beiden Fällen geschieht etwas Außerordentliches, besonders Präpariertes, was aus dem gewohnten Lauf der Dinge herausfällt und was nur einen oder wenige trifft, indes die übrige Welt in Unbewegtheit zu verharren und bei dem außerordentlichen Ereignis gleichsam zuzuschauen scheint.
In der literarisch nachahmenden Kunst der Antike hat der Glückswechsel fast immer die Form eines von außen in einen bestimmten Bezirk hineinbrechenden, nicht den eines sich aus der inneren Bewegung der geschichtlichen Welt sich ergebenden Schicksals — während freilich die populär-philosophische Sentenzenliteratur den Glückswechsel bei jedermann und in jeder Lage im Auge hat, aber dies nur in theoretischer Form verträgt. Die sentenziösen Betrachtungen über den Wechsel des irdischen Geschicks finden sich auch im Gastmahl des Trimalchio sehr häufig, und andererseits geistert in der Incubusanspielung des Tischnachbars noch etwas von der Neigung fort, den Glückswechsel besonderen Eingriffen von außen zuschreiben zu wollen. Aber vorherrschend ist in dem Werk des Petronius doch die höchst praktisch-irdische, und also durchaus innergeschichtliche Anschauung der Schicksalswendungen — höchst praktisch-irdisch berichtet Trimalchio die Entstehung seines Vermögens, und auch sonst findet sich Ähnliches; vor allem aber ist es das Serienhafte, was hier den Eindruck des Innergeschichtlichen vermittelt.
Nicht einer oder wenige werden von einem einmaligen außerordentlichen Schicksal betroffen, während die übrige Welt in Ruhe verharrt; sondern es sind allein in der Rede des Tischnachbarn vier Personen, die alle in dem gleichen Wasser schwimmen, alle der gleichen Art wechselvoller Glücksjägerei obliegen, wobei sie zwar alle ein ähnliches, aber doch jeder ein verschiedenes und bei aller Bewegtheit höchst gewöhnliches, ja ordinäres Schicksal haben — und hinter den vier beschriebenen Personen sieht man die ganze Tafelrunde, bei der man vermuten kann, daß jedes ihrer Mitglieder ein ähnliches und ähnlich beschreibbares Leben führt — und dahinter wiederum stellt sich die Phantasie eine ganze Welt von ähnlichen Existenzen vor, so daß ein überaus lebhaftes wirtschaftlich- geschichtliches Bild entsteht, ein von innen ständig bewegtes Auf und Ab der nach Reichtum und dummem Lebensgenuß haschenden Glücksjäger. Es ist leicht zu verstehen, daß eine Gesellschaft von Geschäftsmännern niedrigster Abkunft sich ganz besonders für diese Darstellungsweise, für diesen Blick auf die Dinge eignet — in ihr spiegelt sich am klarsten das Auf und Ab des Geschehens, ohne daß irgend etwas Festes ihm die Waage hielte; denn sie besitzen weder innerlich eine Überlieferung noch äußerlich einen Halt; sie sind nichts ohne Geld. Es gibt in diesem Sinne in der antiken Literatur kaum ein Stück, das so stark wie dieses innere Geschichtsbewegung zeigte.
Und hier kommen wir zu einem dritten, wohl dem wichtigsten Unterschied gegenüber dem homerischen Stil und zu der wohl bedeutendsten Eigentümlichkeit des petronischen Gastmahls: es kommt der modernen Vorstellung von realistischer Darstellungsweise näher als was uns sonst aus der Antike erhalten ist; und zwar nicht etwa in erster Linie wegen der gemeinen Niedrigkeit des Stoffes, sondern vor allem wegen der genauen, ganz unschematischen Festlegung des gesellschaftlichen Milieus. Die Leute, die bei Trimalchio sich versammeln, sind süditalische freigelassene Parvenus des ersten Jahrhunderts; sie haben deren Anschauungen und sprechen fast ohne literarische Stilisierung deren Sprache.
Das findet man sonst kaum. Die Komödie gibt das gesellschaftliche Milieu in viel allgemeinerer und mehr schematischer, örtlich und zeitlich unbestimmterer Weise; sie zeigt kaum Ansätze zur Individualsprache der Personen; in der Satire ist wohl manches in die gleiche Richtung Weisendes erhalten, doch ist die Darstellung nicht so breit angelegt, sondern eher moralistisch und auf die Kritik irgendeiner bestimmten lasterhaften oder lächerlichen Eigenschaft abgestellt; der Roman schließlich,
fabula milesiaca, zu welcher Gattung ja das Werk Petrons wohl auch gehörte, ist in den uns sonst erhaltenen Werken und Fragmenten so stark mit zauberhaften, abenteuerlichen, mythologischen und so unmäßig mit erotischen Dingen angefüllt, daß er unmöglich als eine Nachahmung des damals alltäglichen Daseins angesprochen werden kann — von der unrealistischen, rhetorischen Stilisierung der Sprache ganz zu schweigen.
Am nächsten kommt der breiten, wirklich alltäglichen Darstellung manches aus der alexandrinischen Literatur; etwa die beiden Frauen beim Adonisfest, von Theokrit, oder der Prozeß des Bordellwirts, von Herodas. Aber auch diese beiden Stücke — Versdichtungen — sind in bezug auf die Realistik, den soziologischen Unterbau, spielerischer und auch stärker sprachlich stilisiert als Petronius. Dieser setzt, wie ein moderner Realist, seinen künstlerischen Ehrgeiz daran, ein beliebiges, alltägliches, zeitgenössisches Milieu mit seinem gesellschaftlichen Unterbau ohne Stilisierung nachzuahmen und die Personen ihren Jargon sprechen zu lassen. Damit hat er die äußerste Grenze erreicht, bis zu der der antike Realismus vorgedrungen ist; ob er der erste und einzige war, der derartiges unternahm — wie weit etwa der römische Mimus ihm vorgearbeitet hat — kann hier außer Betracht bleiben.
Wenn nun Petronius die äußerste Grenze zeigt, bis zu der der antike Realismus vorgedrungen ist — so läßt sich an seinem Werk auch erkennen, was dieser Realismus nicht geben konnte oder mochte. Das Gastmahl ist ein Werk rein komischen Charakters. Die darin auftretenden Personen im Einzelnen sowie die Verbindungen des Ganzen sind bewußt und einheitlich im niedrigsten Stil gehalten, sowohl im sprachlichen Ausdruck wie in der Behandlung; und damit ist notwendig verbunden, daß alles Problematische, was, sei es psychologisch, sei es soziologisch, an ernsthafte oder gar tragische Verwicklungen erinnert, fernbleiben muß — es würde den Stil durch allzuschweres Gewicht zerstören.
Denken wir hier einen Augenblick an die realistischen Autoren des 19. Jahrhunderts, an Balzac oder Flau- bert, an Tolstoj oder Dostojewski. Der alte Grandet (Eugénie Grandet) oder Fedor Pawlowitsch Karamasoff sind keine bloßen Karikaturen wie Trimalchio, sondern fürchterliche Wirklichkeit, sehr ernst zu nehmen, in tragische Verwicklungen verwoben, ja sogar selbst tragisch, obgleich sie doch auch grotesk sind. In der modernen Literatur kann jede Person, gleichviel welchen Charakters und welcher sozialen Stellung, jedes Ereignis, gleichviel ob sagenhaft, hochpolitisch oder beschränkt häuslich, durch die nachahmende Kunst ernsthaft, problematisch und tragisch gefaßt werden, und wird es zumeist.
Das aber ist in der Antike ganz ausgeschlossen. Es gibt zwar in der Hirten- und Liebespoesie einige Zwischenformen, aber im ganzen gilt die Stiltrennungsregel […]: alles gemein Realistische, alles Alltägliche darf nur komisch, ohne problematische Vertiefung vorgeführt werden. Das setzt aber dem Realismus enge Grenzen; und wenn man das Wort Realismus etwas schärfer faßt, so muß man sagen: jedes literarische Ernstnehmen der alltäglichen Berufe und Stände — Kaufleute, Handwerker, Bauern, Sklaven — der alltäglichen Schauplätze — Haus, Werkstatt, Laden, Feld — der alltäglichen Lebensgewohnheiten — Ehe, Kinder, Arbeit, Ernährung — kurzum des Volkes und seines Lebens fiel fort.
Damit hängt dann auch zusammen, daß in der antiken Realistik die den jeweils dargestellten Verhältnissen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Kräfte nicht deutlich gemacht werden; das könnte ja nur im Rahmen des Ernsthaft-Problematischen geschehen; da aber die Personen den Bezirk des Komischen nicht verlassen, ist ihr Verhältnis zur Allgemeinheit entweder geschickte Anpassung oder grotesk-tadelnswerte Absonderung; das realistisch dargestellte Individuum hat im letzteren Fall der Gesellschaft gegenüber stets unrecht, und diese erscheint als gegebene, in ihrer Entstehung und Auswirkung nicht erklärungsbedürftige, im Hintergrund des jeweiligen Ereignisses unveränderlich ruhende Institution.
Auch das ist in neuerer Zeit sehr anders geworden. Für die antike realistische Literatur existiert die Gesellschaft nicht als geschichtliches Problem, sondern allenfalls als moralistisches, und überdies bezieht sich der Moralismus mehr auf die Individuen als auf die Gesellschaft. Die Kritik der Laster und Auswüchse, mögen auch noch so viel Personen als lasterhaft und lächerlich dargestellt werden, stellt das Problem individualistisch, so daß die Kritik der Gesellschaft nie zu einer Aufdeckung der sie bewegenden Kräfte führt. Es ist daher auch hinter dem ganzen Getriebe, das Petronius uns vorführt, nichts spürbar, was uns die Dinge aus ihrem ökonomisch-politischen Zusammenhang begreiflich machte, und die geschichtliche Bewegung, von der wir oben sprachen, ist nur eine Bewegung der Oberfläche.
Natürlich meinen wir nicht, daß Petronius in sein Gastmahl eine volkswirtschaftliche Studie hätte einflechten sollen. Er hätte nicht einmal so weit zu gehen brauchen wie Balzac, der in seinem eben schon erwähnten Roman Eugénie Grandet die Entstehung von Grandets Vermögen in einer Weise beschreibt, daß die gesamte französische Geschichte von der Revolution bis zur Restauration in ihr sich widerspiegelt. Eine ganz unsystematische, aber ständige und bewußte Verbindung mit Zeitereignissen und Zeitverhältnissen hätte genügt. Die modernen Petrone knüpften die Schilderung von Schiebern etwa an die Inflation nach dem ersten Weltkrieg oder an sonstige bekannte Krisenzeiten; schon Thackeray, obgleich noch eher moralistisch als eigentlich historisch entwickelnd, bindet seinen großen Roman an den Hintergrund der napoleonischen und nachnapoleonischen Epoche — bei Petron findet sich nichts davon. Wenn etwa von den Lebensmittelpreisen, von sonstigen städtischen Verhältnissen, von der Lebens- und Vermögensgeschichte der Tischgenossen die Rede ist, so fehlt jede Anspielung auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, eine bestimmte politisch-wirtschaftliche Lage.
Zwar handelt es sich deutlich um eine süditalienische Stadt in der ersten Kaiserzeit, wir stellen das leicht fest, der moderne Wirtschaftshistoriker kann die Angaben als Material verwerten, und die Zeitgenossen erkannten das selbstverständlich ebenfalls, sogar vermutlich noch genauer als wir — aber Petronius legt auf die zeitgeschichtliche Seite seines Werkes keinen Wert. Hätte er es getan, hätte er die einzelnen Verhältnisse und Ereignisse mit bestimmten politisch-ökonomischen Lagen der ersten Kaiserzeit verknüpft, so wäre vor dem Auge des Lesers ein geschichtlicher Hintergrund entstanden, den die Erinnerung ergänzt hätte - es hätte sich eine geschichtliche Tiefe ergeben, neben der der Perspektivismus Petrons, von dem wir oben sprachen, als bloße Oberfläche erscheint, und dann hätte man wirklich, und nicht nur vergleichsweise, von geschichtlicher Bewegung sprechen können.
Aber das hätte den Stil gesprengt, in dem sich Petronius zu halten gedachte, und wäre nicht möglich gewesen ohne eine Vorstellung, die ihm nicht zugänglich war, der Vorstellung nämlich von geschichtlichen «Kräften». So wie es ist, bleibt die Bewegung, trotz aller Lebhaftigkeit, nur im Bilde selbst, dahinter bewegt sich nichts, die Welt steht still. Es ist zwar deutlich ein Zeitgemälde, aber die Zeit gibt sich, als hätte sie immer unverändert so bestanden, wie jetzt und hier, mit Herren, die den Sklaven, die ihnen geschlechtlich zu Willen sind, große Teile ihres Vermögens hinterlassen, mit riesigen Verdiensten, die man im Handel machen kann, und so fort — die Zeitbedingtheit oder Geschichtlichkeit all dieser Umstände interessiert als solche weder Petronius noch seinen antiken Leser, erst wir konstatieren sie und moderne Wirtschaftshistoriker ziehen daraus ihre Schlüsse.
Quelle: Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der Abendländischen Literatur. 2. Auflage. Francke Verlag Bern, 1959 [Sammlung Dalp, Band 90]. Seiten 28-36.
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