23. März 2020

Guy Klucevsek: Song of Remembrance (2007)

Guy Klucevsek zählt zu den vielseitigsten und renommiertesten Akkordeon-Virtuosen der Welt. Der „rebel with an accordian" (Downbeat) und „trailbazing virtuoso" (The Wall Street Journal) arbeitete mit zahlreichen internationalen Spitzen-Künstlern wie Laurie Anderson, Bang On a Can, Anthony Braxton, Dave Douglas, Bill Frisell, Rahim al Haj, Robin Holcomb, KepaJunkera, dem Kronos Quartet, Natalie Merchant und John Zorn zusammen.

Klucevsek spielte die Uraufführungen von mehr als 50 Akkordeon-Solostücken, darunter sowohl Eigenkompositionen als auch Auftragswerke von Mary Ellen Childs, William Duckworth, Fred Frith, Aaron Jay Kernis, Jerome Kitzke, Stephen Montague, SomeiSatoh, Lois V Vierk und John Zorn.

Seine Karriere umfasst Auftritte beim Ten Days on the Island Festival (Tasmanien), Adelaide Festival (Australien), Berlin Jazz Festival, Lincoln Center, Spoleto Festival (USA), BAM Next Wave Festival, Cotati Accordion Festival, San Antonio International Accordion Festival und dem Internationalen Akkordeon-Festival Wien sowie in der Kinder-TV-Show "Mr. Rogers' Neighborhood".

Sein Projekt "Polka From the Fringe" aus dem Jahr 1988, eine Sammlung von Polkas von Fred Frith, Elliott Sharp, Bobby Previte, Carl Finch u.a., wurde weltweit mit höchst erfolgreich aufgeführt und später als Doppel-CD beim Musiklabel eva veröffentlicht. 1992 wurde "Polka From the Fringe" vom WNYC-FM "New Sounds" Programm unter die besten Aufnahmen des Jahres gewählt.

Guy Klucevek (* 1947)
1996 gründete Klucevsek gemeinsam mit den Komponisten und Akkordeonisten Otto Lechner (Österreich), Maria Kalanemi (Finnland), Lars Hollmer (Schweden) und Bratko Bibic (Slowenien) das internationale Ensemble "AccordionTribe", welches bis 2009 regelmäßig Konzertbühnen in aller Welt bespielte und insgesamt drei Alben beim deutschen Label Intuition veröffentlichte. Größte Bekanntheit erreichte das Ensemble durch den preisgekrönten Dokumentarfilm "AccordionTribe: Music Travels" von Stefan Schwietert.

Klucevsek komponierte Bühnenmusik zu "Chinoiserie" und "Obon" (Ping Chong and Company), "Hard Coal" (Bloomsburg Theatre Ensemble), "Industrious Angels" (Laurie McCants), "Cirque Lili" (für den französischen Zirkuskünstler Jérôme Thomas mit weltweit 250 Aufführungen mit Live-Musik) und zu seinem eigenen Stück „Squeeze Play", bei dem Dan Hurlin, David Dorfman, Dan Froot, Claire Porter und Mary Ellen Childs mitwirkten. Für "The Heart oft the Andes", das u.a. beim Henson International Puppetry Festival (London) und beim Ten Days on the Island Festival gespielt wurde, erhielt er gemeinsam mit Dan Hurlin einen „Bessie".

Klucevsek veröffentlichte mehr als 20 Alben als Solist und Bandleader, u.a. bei Tzadik, Winter & Winter, Starkland, Review, Intuition, CRI und XI. Das renommierte Magazin Stereo Review bezeichnete seine Starkland Aufnahme "Transylvanian Softwear" von 1995 als "Recording of Special Merit".

Nicht zuletzt ist Guy Klucevsek auch im Kino allgegenwärtig: er ist etwa in John Williams' Filmmusik für die Steven Spielberg Klassiker "Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels", "The Terminal", "München" und "The Adventures of Tin-Tin", sowie auf A.R. Rahmans Soundtrack für "Welcome to People" zu hören.

Quelle: “Dancing on the Volcano" auf Kultur-Rhein-Neckar e.V.


TRACKLIST

GUY KLUCEVSEK
(* 1947)

SONG OF REMEMBRANCE

Fallen Shadows (1993)                                 39:42

01. overture                                           5:12 
02. song of remembrance                                5.31
03. procession of the gypsy divas                      5:03 
04. more gypsy divas                                   2:11
05. bandoneons, basil and bay leaves*                  5.50 
06. incidentally, the coroner called                   4:28
07. intro/dance of the blue flamingos                  6:04  
08. eulogy for the divas                               5:17
        *in memory of Astor Piazzalla
Dora Ohrenstein - voice 
Joyce Hamman - violin
Guy Klucevsek - accordion 
Blair McMillen - piano

09. Tea Song (1995)                                    3:52

Theo Bleckmann - voice
Steve Elson - clarinet 
Nurit Tilles - piano

10. My Walk With Ligeti (2007)                         5.45
       in memory of Gyargy Ligeti
Guy Klucevsek - accordion 

Cameos (1996)                                          7:43

11 choir practice chiropractic                         1:13 
12 java good time                                      0:59
13 tangoed in gospel                                   1:23 
14 balkan merengue ("everybody’s doin’ it!")           1:00
15 accordion foaled                                    1:12 
16 chiropractic choir pracdce                          1:47

Double Edge:.
Edmund Niemann, Nurit Tilles - duo pianists

                                          Time Total: 57:20

produced by GUY KLUCEVSEK - session producer SILAS BROWN (tracks 5, 9-16)
executive producer JOHN ZORN - associate producer KAZUNORI SUGIYAMA

tracks 1-4,7,8 recorded April-June 2007 by SCOTT LEHRER at Second Story Sound, NYC
tracks 5,9,10 recorded April-June 2007 by SILAS BROWN and SCOTT LEHRER at Second Story Sound, NYC 
track 6 recorded in 1993 at the Packard Building, Philadelphia, PA
tracks 11-16 recorded March 2007 by SILAS BROWN at Hoff-Barthelson Music School, Scarsdale, NY 

(C)+(P) 2007 



Charles-Augustin Sainte-Beuve:

Flaubert - Madame Bovary

Ich vergesse nicht, daß dieses Werk Gegenstand einer Erörterung war, die nichts weniger als eine literarische Erörterung bedeutete, aber ich erinnere mich vor allem an die Ergebnisse und an die Weisheit der Richter. Das Werk gehört seither der Kunst, ganz allein der Kunst, Gerichtsbarkeit an ihm hat nur die Kritik zu üben, und die kann ihre ganze Unabhängigkeit brauchen, wenn sie hier spricht.

Sie kann und sie muß das. Man nimmt sich oft Mühe, Vergangenes auszurufen, alte Autoren wieder zu erwecken. Werke, die kein Mensch mehr liest — und man gibt ihnen einen Augenblick lang blitzflüchtig Beachtung, Schein eines Lebens. Aber wenn dann wahrhaftige, wirklich lebendige Gebilde an uns vorbeiziehn, in Rufweite, Segel auf und mit flatternder Fahne, wenn sie zu sprechen scheinen, gleichsam „was sagt Ihr dazu?" — und wenn da einer wirklich Kritiker ist, wenn er in seinen Adern einen Tropfen von dem Blut hat, das einen Pope beseelte, einen Boileau, einen Johnson, einen Jeffrey, Hazlitt oder einfach Herrn de La Harpe, so zuckt er vor Ungeduld, hat es satt, immer zu schweigen, brennt darauf, sein Wort hinzuschleudern und diese neu Herkommenden zu grüßen bei ihrem Vorübergehen oder sie mit heftigem Geschütz anzufallen. Es ist lange her, daß es Pindar für die gebundene Rede ausgesprochen hat: „Hoch der alte Wein und die jungen Lieder!“ Junge Lieder, das ist auch das Stück von heute abend, der Roman des Tages, ist, was im Augenblick seines Erscheinens die Jugend beschäftigt.

Ich hatte Madame Bovary in der ersten Fassung nicht gelesen, in jener Zeitschrift, die ursprünglich das Werk in Fortsetzungen brachte. Wie packend auch diese Teile waren, es mußte dabei verlieren und besonders die Idee des Ganzen, die Auffassung mußte leiden. Der Leser brach kurz ab nach schon gewagten Szenen und fragte sich: „Was kann darüber hinaus noch kommen?“ Es war gut möglich, dem Werk tolle Wucherungen anzusinnen und dem Autor Absichten, die er gar nicht hatte. Ununterbrochenes Lesen erst gibt jeder Szene ihre Bedeutung zurück. Madame Bovary ist vor allem ein Buch, ein ausgewogenes und bedachtes Buch, darin alles zusammenhält, nichts einem Zufall überlassen ist, darin überhaupt der Autor, besser noch der Künstler, von einem Ende zum andern erreicht hatte, was er nur wollte.

Der Verfasser hat offenkundig lange auf dem Lande gelebt, in jener Landschaft der Normandie, die er uns so unvergleichlich wahrhaft beschreibt. Sonderbar! Wenn man lange im Freien lebt, wenn man diese Natur so recht mit allen Sinnen aufnimmt und sie so gut zu malen versteht, so liebt man sie völlig, insgesamt, oder man stellt sie wenigstens recht schön hin, gar wenn man sie verlassen hat; man neigt dazu, in ihr die Umrahmung eines Glücks, einer Seligkeit zu sehen, nach der man mehr oder weniger Heimweh hat, man gestaltet eine Idylle daraus, ein Ideal. Bernardin de Saint-Pierre langweilte sich weidlich auf lle-de-France, solang er da lebte, aber als er zurück und weit weg war, wußte er nur noch von der Schönheit der Landschaft und von dem sanften Frieden ihrer Täler; dahin versetzte er die Gebilde seiner WahL, und so entstand Paul et Virginie. Nicht so weit wie Bernardin de Saint-Pierre ging Madame Sand, die sich vermutlich anfangs in ihrem Berry gelangweilt hatte; aber späterhin gefiel ihr, es lediglich anziehend zu schildern. Sie hat uns, das ist gewiß, den Zauber der Creuse-Landschaft nicht etwa genommen, und wenn sie darin selbst Figuren auftreten ließ, die Ansichten hatten oder Leidenschaften, so wehte um sie immer der volle Hauch von Land und Feld und Poesie im Sinn der Alten.

Hier, bei dem Autor der Madame Bovary. kommen wir an einen andern Vorgang, an eine andere Art Inspiration und, wenn man alles aussprechen soll, an eine Verschiedenheit der Generationen. Das Ideal ist dahin, die Lyrik abgestorben; man will das nicht mehr. Wahrheit, streng und unerbittlich, ist auch in die Kunst eingedrungen als das letzte Wort der Erfahrung. Der Autor dieser Madame Bovary hat in der Provinz gelebt, auf dem Land, im Dorf und in der kleinen Stadt; und er ist da nicht an einem Frühlingstag vorbeigekommen, wie der Wanderer eines La Bruyère, der droben auf der Höhe seinen Traum als Bild am Hügelabhang ausmalt, sondern er hat dort wirklich und wahrhaftig gelebt. Und was hat er geschaut? Nichtigkeit, Jämmerlichkeit, Anmaßung. Dummheit, Gewitztheit, Eintönigkeit, Langeweile: davon erzählt er uns. Die Landschaft in ihrer Wahrheit und Wesentlichkeit, den reinen Hauch dieses freien Himmels atmend, sie dient ihm nur als Staffage für gemeine, platte Geschöpfe von dümmstem Ehrgeiz, unwissend oder halbgebildet, für Liebende ohne Zartgefühl. Die einzige träumerisch vornehme Natur, die sich hineingeschleudert sieht, nach einer Welt über diese hinaus suchend, sie wird da wie ohne Heimat sein, ohne Atem; und wie sie so leidet, wie sie niemand findet, der ihr Antwort gibt, gerät sie außer sich, nimmt den schlechten Weg, gibt sich immer mehr einem trügerischen Traum und dem Reiz der Ferne hin und fällt Stufe um Stufe ins Verderben und in Vernichtung. Ist das moralisch? Ist es trostreich? Der Verfasser scheint sich die Frage nicht gestellt zu haben. Er hat sich nur eines gefragt: Ist es wahr? Man möchte glauben, daß er selber Ähnliches beobachtet hat oder daß es ihm zum mindesten beliebte, in diesem so fest gefügten Ausschnitt manches zur Gestalt zu verdichten, daß er das Ergebnis verschiedentlicher Wahrnehmungen zusammenfassen wollte, bei einer Grundstimmung bitterster Ironie.

Eine andere Besonderheit, gleichermaßen bemerkenswert: unter all diesen ganz wirklichen, ganz lebendigen Personen ist auch nicht eine, in der sich der Autor vermuten lassen möchte: keine ist von ihm zu einem andern Ende gehegt worden, als damit sie sich mit aller Genauigkeit und Grausamkeit abgeschildert sehe, niemanden hat er geschohnt, wie man Freunde schont. Dieser Autor hat sich völlig zurückgehalten, er ist nur da, um alles zu sehen, alles zu zeigen und alles zu sagen. Aber in keinenm Winkel des Romans merkt man auch nur seinen Schatten. Das Werk ist ganz und gar unpersönlich. Eine starke Probe seiner Kraft.

Die wichtigste Gestalt neben Madame Bovary ist Herr Bovary. Charles Bovary, der Sohn (denn er hat einen Vater, der gleichfalls nach der Natur abgeschildert wird), erscheint uns seit seiner Schulzeit als ein ordentlicher junger Mensch, fügsam, aber ungeschickt, unbedeutend oder doch heillos mittelmäßig, ein bißchen „blöde“, ohne jede Eigenheit, ohne Neigung, unempfindlich gegen Reize, geboren, um zu gehorchen, Schritt für Schritt den gebahnten Weg zu gehen und sich führen zu lassen. Der Vater war zuvor Hilfschirurg in der Armee und nicht im besten Ruf, aber der Sohn hat nichts von seinem Leichtsinn und von seinen Lastern. Die Ersparnisse seiner Mutter haben es ihm ermöglicht, sich in Rouen schlecht und recht durchzustudieren, und so ist er Amtsarzt geworden. Nicht ohne Mühe graduiert, hat er jetzt nur noch den Ort seiner Wirksamkeit zu wählen. Er entscheidet sich für Tostes, einen kleinen Ort nicht weit von Dieppe; man verheiratet ihn mit einer Witwe, die viel älter ist als er und eine mäßige Rente haben soll. Er läßt es geschehen, und es fällt ihm nicht einmal ein zu bemerken, daß er nicht glücklich ist.

Eines Nachts wird er unversehens auf einen Hof geholt, gut sechs Meilen weit, um dem alten Rouault ein gebrochenes Bein einzurenken, einem behäbigen, verwitweten Landmann, der mit seiner einzigen Tochter zusammenhaust. Der Weg durch die Nacht, zu Pferd, immer näher heran an das reiche Gehöft (es heißt Bertaux) — und wie man es dann sieht, wie er anlangt und von dem jungen Mädchen empfangen wird, das so gar keine Bäuerin ist, sondern in einem Kloster als Fräulein erzogen wurde, das Verhalten des Kranken, alles das ist wunderbar geschildert und Punkt für Punkt wiedergegeben, als ob wir dabei wären: es ist holländisch, flämisch, normannisch. Bovary nimmt die Gewohnheit an, Bertaux zu besuchen und sogar öfter, als es für die Verbände des Kranken nötig wäre; ja, er geht auch nach der Heilung immer wieder hin. Die Besuche auf dem Hof sind ihm, ohne daß er es recht weiß, nach und nach nötig geworden, in der Mühseligkeit seines Tuns liebe Entspannung.

„An solchen Tagen stand er früh auf, enteilte im Galopp, spornte das Tier, stieg dann ab, um die Füße im Gras abzustreifen und zog seine schwarzen Handschuhe an, bevor er eintrat. Er hatte es gern, wenn er so in den Hof kam, wenn er seine Schulter gegen die sich wendende Schranke drückte, wenn der Hahn auf der Mauer krähte und die jungen Burschen ihm entgegenkamen. Er liebte die Scheune, die Ställe: liebte Vater Rouault, der die Hand in die seine schlug und ihn seinen Retter nannte; liebte Fräulein Emmas kleine Holzpantinen auf den sauberen Fliesen der Küche: die hohen Stöckel machten sie ein wenig größer, und wenn sie vor ihm herging, klappten die hölzernen Sohlen, rasch aufgerichtet, mit einem trockenen Schlag gegen das Leder am Schuh.

Sie brachte ihn immer bis an die erste Stufe der Treppe. Wenn sein Pferd noch nicht herangeführt war, blieb sie da. Man hatte sich verabschiedet, sprach nicht mehr; um sie war die freie Luft, und sie hob ihr die kleinen Haare im Nacken wirr durcheinander oder zerrte am Schürzenband über ihrer Hüfte, daß es sich wand wie ein Wimpel. Einmal, bei Tauwetter, tropfte es von den Rinden der Bäume auf den Hof herab, und der Schnee auf den Bedachungen der Gebäude schmolz. Sie stand auf der Schwelle; ging ihren Schirm holen, machte ihn auf. Die taubengraue Seide des Schirms beleuchtete, sonnendurchschimmert, mit huschendem Flimmern die weiße Haut in ihrem Gesicht: sie lächelte darunter in der lauen Wärme‚ und man hörte die Wassertropfen, einen um den andern, auf den gespannten Stoff fallen.“

Kann man sich ein frischeres Bild denken oder eines, das feiner oder besser umrissen, besser beleuchtet wäre, eines, das die Erinnerung an Formen der Antike besser ins Moderne hinübertäuschen könnte? Dieses Geräusch der Tropfen von geschmolzenem Schnee, die auf den Schirm fallen, erinnert mich an jenes andere der Eistropfen, die klingen, wenn sie von den Zweigen auf die trockenen Blätter am Steig fallen: in den „Mittagsspaziergängen im Winter" von William Cowper. Eine köstliche Eigenschaft unterscheidet Herrn Gustave Flaubert von den andern mehr oder minder genauen Beobachtern, die heutzutage darauf aus sind, einzig die Wirklichkeit ins Bewußtsein zu bringen und die es manchmal treffen: er hat Stil. Er hat sogar ein bißchen zuviel davon; seiner Feder behagen Absonderlichkeiten und Winzigkeiten, die er unaufhörlich beschreibt, und das schadet gelegentlich dem Gesamteindruck. Bei ihm werden die Dinge und die Gestalten, die er am meisten betrachtet haben mochte, ein wenig verlöscht oder verdrängt durch das allzu deutliche Hervortreten von Gegenständen um sie herum. Madame Bovary selbst, dieses Fräulein Emma, das wir soeben und so reizvoll auftreten sahen, wird uns so oft im einzelnen und im kleinsten beschrieben, daß ich nicht recht imstande bin, ihren äußeren Eindruck als Ganzes festzuhalten, und sie ist mir weder vollkommen deutlich noch bleibend gegenwärtig.

Die erste Frau Bovary stirbt, und Fräulein Emma wird die zweite und einzige Frau Bovary. Das Kapitel von der Hochzeitsfeier in Bertaux ist ein vollendetes Gemälde von reicher, fast überquellender Wirklichkeitstreue, ein Gemisch von Natürlichkeit und Sonntagsgeziere, von Häßlichkeit, Steifheit, grober Freude und auch Anmut, von Üppigkeit und gefühlvoller Schilderung. Diese Hochzeit, der Besuch und der Ball auf dem Schloß von Vaubyessard, der dazu förmlich das Gegenstück bietet, dieser ganze Auftritt der Landwirtschaftsversammlung, der späterhin folgen wird, das gibt Bilder, die man, wären sie gemalt, wie sie geschildert sind, in einer Galerie zu dem besten Genre hängen könnte.

So ist also Emma Frau Bovary geworden, daheim in dem Häuschen von Tostes mit seinen engen Räumen und mit einem Gärtchen, das eher tief als breit ist und nach den Feldern zu liegt. Alsbald bringt sie Ordnung hinein, Sauberkeit, einen Schein von Eleganz; der Mann, der nur daran denkt, ihr etwas Liebes zu tun, kauft einen gerade erreichbaren Kutschierwagen, damit sie nach Belieben auf der Landstraße oder in die Umgebung hinausfahren könne. Und er ist, zum erstenmal in seinem Leben, glücklich, er merkt's; tagsüber mit seinen Kranken beschäftigt, findet er, wenn er heimkommt, Frieden und süßen Rausch; er ist in seine Frau verliebt. Er wünscht sich nichts mehr, als daß dieses bürgerlich-ruhige Glück dauere. Aber sie, die Besseres erträumte und sich in der Mädchenlangenweile mehr als einmal gefragt hat, wie man es anstellen müßte, um glücklich zu sein, sie merkt rasch genug, und seit den Flitterwochen, daß sie es nicht ist.

Hier beginnt eine tiefgründige, feine, gedrängte Analyse; ein grausames Sezieren hebt an und hört nicht mehr auf; wir dringen in das Herz der Frau Bovary. Wie wäre da zu sondern? Sie ist eine Frau; ist, im Beginn, nur romantisch, ist durchaus nicht verderbt. Der Maler, Herr Gustave Flaubert, schont sie nicht. Er verrät uns die raffinierten, koketten Liebhabereien des kleinen Mädchens, des Pensionsfräuleins, er zeigt sie verträumt und maßlos empfänglich für allerhand Vorstellungen, er treibt seinen Spott mit ihr und kennt kein Erbarmen. Darf ich's gestehen? Man ist, genau genommen, nachsichtiger gegen sie, als er zu sein scheint. Emma hat, an dem Platz, der ihr nun zugewiesen ist und an dem sie etwas sein sollte, eine Eigenschaft zu viel oder eine Tugend zu wenig: das ist der Beginn ihres ganzen Unrechts und ihr Unglück. Die Eigenschaft, die sie zu viel hat — sie ist eben nicht nur eine romantische Natur, sondern auch eine, die Bedürfnisse des Herzens, des Verstandes, Ehrgeizes kennt, die ein höheres, reicheres, ein mehr verfeinertes Dasein ersehnt als das, wie es ihr eben zuteil geworden ist. Und die Tugend, die ihr fehlt — sie hat nicht gelernt, daß die Grundbedingung eines ordentlichen Lebens die Fähigkeit ist, Langeweile ertragen zu können, dieses ungewisse Entbehren, diesen Mangel an einem angenehmeren, unseren Neigungen besser entsprechenden Dasein; sie versteht es nicht, sich ganz still zu fügen, ohne sich etwas merken zu lassen, vermag es nicht, sich selber, sei es in der Liebe ihres Kindes, sei es durch ein nützliches Wirken in ihrer Umgebung, Verwendung für ihren Tätigkeitsdrang zu schaffen, Bindung, Schutz, einen Zweck. Kein Zweifel, sie kämpft dagegen an und kehrt sich nicht an einem Tag vom rechten Weg ab, sie wird ein paarmal, jahrelang ansetzen müssen, bevor sie ins Verderben rennt. Aber sie tut jeden Tag einen Schritt näher hin, und zuletzt ist sie verirrt und toll verloren. Doch ich berede es, und der Verfasser der Madame Bovary hat nur vorgehabt, uns seine Gestalt Tag für Tag, Minute für Minute in ihrem Denken und Handeln zu zeigen.

Die langen, schwermütigen Tage, die Emma in der Einsamkeit verbringt, in den ersten Monaten ihrer Ehe sich selber überlassen, ihre Spaziergänge bis an das Buchenwäldchen von Banneville in Gemeinschaft mit Djali, dem getreuen Windspiel, Grübeleien ins Endlose über ihr Schicksal, ihre Fragen, wie es sonst hätte kommen können, alles das wird abgelöst und abgeleitet mit der gleichen analytischen Feinheit, mit gleich zartem Verständnis wie in einem noch so sehr verinnerlichten Roman früherer Zeit, noch so sehr bestimmt, Träumen Nahrung zu geben. Die Eindrücke draußen in der Natur, sie dringen wie in den Tagen des René oder Oberman über Launen und Anfälle in ihre bekümmerte Seele und erwecken unbestimmte Sehnsucht:

„Es kam manchmal in Stößen der Wind, kamen Brisen vom Meer, fegten in einem Ansprung über das ganze Plateau von Caux und brachten weit hinein ins Gefilde eine salzige Frische. Das Rohr pfiff dicht an der Erde, und die Buchenblätter rauschten in heftigem Schauer auf, während die Wipfel, immerzu schaukelnd, unaufhörlich murmelten. Emma preßte ihr Tuch um die Schultern und stand auf.

In der Allee erhellte grünes Licht, vom Laubwerk niedergedrückt, das rosige Moos; leise krachte es unter ihren Schritten. Die Sonne senkte sich; der Himmel flammte zwischen den Zweigen, und die gleichragenden Stämme der Bäume, in gerader Linie gepflanzt, sahen aus wie braune Säulen über einem Goldgrund. Es ergriff sie Angst, sie rief Djali, ging schnell auf der Straße nach Tostes zurück, sank in einen Lehnstuhl und sprach über den ganzen Abend hin nichts.“

Um diese Zeit gibt ein Nachbar, der Marquis d’Andervilliers, der als Politiker seine Wahl vorbereitet, einen großen Ball auf seinem Schloß, und er lädt alles ein, was in der Umgebung Glanz und Einfluß hat. Ein Zufall hat ihn mit Bovary bekannt gemacht, der ihn, in Ermangelung eines anderen Arztes, einmal von einem Abszeß an der Lippe geheilt hat; der Marquis hat dann gelegentlich in Testes Madame Bovary gesehen und sie mit einem Blick würdig befunden, zu dem Ball geladen zu werden. Und so kommt es zu dem Besuch von Herrn und Frau Bovary auf Schloß Vaubyessard; es ist eine der wichtigsten Stellen im Buch, ist mit besonderem Können erreicht.

Dieser Abend, an dem Emma so höflich empfangen wird, wie es einer jungen, schönen Frau überall gewiß ist, da sie schon beim Eintreten einen Hauch des aristokratisch-eleganten Lebens atmet, von dem sie träumt, eben das, wofür sie sich geboren glaubt, der Abend, an dem sie tanzt, sich im Walzer wiegt, ohne es gelernt zu haben, alles errät, was vonnöten ist und einen ganz anständigen Erfolg hat, dieser Abend berauscht sie und wird mit schuld an ihrem Untergang: sie ist wie vergiftet von dem Parfüm. Das Gift wirkt nur langsam, aber es ist in ihre Adern gedrungen, ist nicht mehr wegzubekommen. Alle Vorfälle, und selbst die nichtigsten an diesem denkwürdig-einzigen Abend, bleiben ihr ins Herz geprägt, und da arbeitet es dumpf weiter: „Ihre Reise nach Vaubyessard hatte eine Bresche in ihr Leben gerissen, vergleichbar den großen Spalten, die der Sturm in einer einzigen Nacht im Gebirge manchmal aushöhlt." Wie sie am Tage nach dem Ball frühmorgens von Vaubyessard abreisen und zur Speisestunde daheim sind und sich nun, Herr und Frau Bovary, in dem kleinen Zuhause wiederfinden, vor ihrem bescheidenen Tisch, auf dem eine Zwiebelsuppe dampft und ein Stück Kalbfleisch in Sauerampfer, und wie sich dann Bovary die Hände reibt vor Glück und sagt: „Es freut einen, wieder daheim zu sein“ — da blickt sie mit unaussprechlicher Verachtung zu ihm hin. Sie hat seit gestern im Geist einen tüchtigen Weg gemacht und in ganz entgegengesetzter Richtung. Als die zwei in ihrem Wägelchen zu dem Fest hinfuhren, waren sie nur sehr verschiedene Menschen: jetzt, da sie zurück sind, trennt sie ein Abgrund.

Ich kürze da, was Seiten füllt und sich über Jahre hin dehnt. Die Gerechtigkeit muß man Emma widerfahren lassen: sie braucht Zeit. Sie möchte ihrer angespannten Tugend zu Hilfe kommen; und sie sucht in sich und ringsum. In sich: aber sie hat einen schweren Fehler, sie hat nicht viel Herz; ihre Phantasie hat frühzeitig alles eingenommen, alles erfüllt. Um sich herum: neues Unheil! Der gute Charles, der sie liebt und den sie manchen Augenblick versuchen will wieder zu lieben, hat nicht die Art, sie zu verstehen oder zu erraten. Wenn er wenigstens Ehrgeiz hätte, sich's angelegen sein ließe, in seinem Beruf hervorzuragen, sich durch Studium, durch Arbeit emporzumühen, seinen Namen zu Ehren und Geltung zu bringen! Aber nein, er hat keinen Ehrgeiz, keine Wißbegierde, nichts von den Trieben, die einen über seinen Kreis hinausbringen, vorwärts drängen, eine Frau überall stolz sein lassen auf den Namen, den sie trägt. Darüber regt sie sich auf: „Das ist doch kein Mann, dieser Mensch. Ein armer Teufel, ruft es in ihrem Innern, ein ganz armer Teufel.“ Einmal durch ihn gedemütigt, wird sie ihm nicht mehr verzeihen.

[…]

Quelle: [Charles-Augustin] Sainte-Beuve: Literarische Portraits. Aus dem Frankreich des XVII. - XIX. Jahrhunderts. Herausgegeben von Stefan Zweig. Gerd Hatje, Calw, 1947. Zitiert wurde der Beginn des Porträts "Flaubert / Madame Bovary", Seite 803 ff. (übersetzt von Paul Stefan)

Die Abbildungen zu diesem Artikel zeigen Jennifer Jones in der Rolle der Emma Bovary in der Verfilmung von Vincente Minnelli (USA, 1949)


Noch mehr Neue Musik aus der Kammermusikkammer:

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Giacinto Scelsi beim Musikprotokoll 1989 (Steirischer Herbst, ORF) | Fanny von Galgenberg - die älteste Frauenstatuette der Welt


Susie Ibarra Trio: Songbird Suite (2002) | Die Anamorphose deformierte absichtlich ihre Bildgegenstände, die nur von einem genau festgelegten und ausgerichteten Standpunkt aus gesehen sich zu erkennbaren Bilder zusammensetzten.

Aribert Reimanns Klavierwerke | "Was soll man zu der Eisenbahn von Herrn Manet sagen? Es ist nicht möglich, mit größerem Talent schlechter zu malen."

Prokofjew: Violinsonaten Nr. 1 & 2 - Fünf Melodien op. 35bis | 歌川 広重 Utagawa Hiroshige - Die Landschaft erobert den Holzschnitt



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9. März 2020

Henri Pousseur: Aquarius-Memorial

Henri Pousseur (1929-2009), einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten in Belgien, war noch keine 20 Jahre alt, als er den Weg der seriellen Musik einschlug, und dieser Schritt hat aus ihm, neben Pierre Boulez und Karl-Heinz Stockhausen, einen der Pioniere und später einen der Hauptvertreter der Avantgarde und der verschiedenen daraus entstandenen Wege gemacht. Als leidenschaftlicher Forscher und Theoretiker ist er allen Klangwelten und allen Beiträgen, die das musikalische Schaffen erweitern können, gegenüber offen, und es war ihm sehr früh bewusst, wie schwierig es ist, sich der kreativen Subjektivität zu entziehen, und ebenso, dass der Komponist der ausschließliche Meister seines Werkes ist. Hierher stammt seine Vorliebe für das Konzept des "oeuvre ouverte" (offenes Werk), das Umberto Eco übernehmen wird, und bei dem versucht wird, die Distanz zwischen Komponist und Interpret zu reduzieren, wenn nicht sogar zwischen Komponist, Interpret und Publikum.

So entstanden Ende der 50er Jahre eine Anzahl von Werken, bei denen es dem Interpreten oder dem Publikum oder sogar beiden ermöglicht wurde, sowohl das Material auszuwählen als auch den Verlauf des Szenarios zu beeinflussen. Das ist zum Beispiel der Fall bei Scambi aus elektronischen Klängen, bei Mobile für zwei Klaviere, bei Répons für sieben Musiker und einen Schauspieler, bei Ephémérides d'Icare 2 für einen Solisten und ein in ein Trio und ein Quartett geteiltes Instrumentalensemble, bei der "fantaisie variable, genre opéra" (variablen Fantasie in der Art einer Oper) Votre Faust, erstes Opus (1961-1967) aus einer treuen und fruchtbaren Zusammenarbeit mit Michel Butor, bei dem die letzte Szene und der Weg dorthin von der Wahl des Publikums abhängt, welches an einigen Stellen eingreifen kann.

Diese dem Interpreten und dem Publikum eingeräumte Freiheit, und auch die soziale Utopie (mit klar formulierten Übernahmen von Fourier), auf der sie basiert - eines von Pousseurs Werken, geschrieben 1971 und Erweiterung von Ephémérides, heißt Invitation à l'Utopie - haben einen Dialog ausgelöst, eine dialektische Erforschung und Bemächtigung, mit mehr oder weniger von unserer musikalischen Tradition entfernten Momenten der Vergangenheit - Votre Faust, die Erprobung des Petrus Hebraicus / Le Procès du jeune chien, Seconde Apothéose de Rameau, Dichterliebesreigentraum, L'Effacement du prince Igor ... - und mit seiner eigenen Produktion - die vielen Satellitenwerke von Votre Faust, La Guirlande de Pierre ...

Henri Pousseur (1929-2009)
Es ist diese Tendenz zur reduzierten Dichte und zum Prozess einer "Begegnung-Übernahme-Dialog", die in ihrem Konzept der großen "offenen" Form und ihrer Entstehung als "work in progress" die vier Stücke des Zyklus Aquarius-Memorial illustriert. Es handelt sich um eine Sammlung, die Henri Pousseur zwischen 1994 und 1999 im Rahmen seiner sechsjährigen "Amtszeit" an der Universität von Leuven, die ihm nach dem Tod von Karel Goeyvaerts, der diese Position voher inne hatte, angeboten wurde, komponiert hat. Die Anordnung der Stücke (die nicht die originale, chronologische ist) verläuft wie ein Stoffstrang aus Beziehungen und Zusammenfügungen von Erinnerungsteilen: Les Litanies d'Icare, Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine, Les Fouilles de Jéruzona und Icare aux jardins du Verseau.

Goeyvaerts, um einige Jahre älter als Pousseur, spielte im flämischen Teil des Landes eine ähnliche Rolle wie Pousseur im französischen: als Pionier der post-seriellen Avantgarde (Sonate pour deux pianos von 1950/51) hat er sich der elektronischen Musik zugewandt, um dann zu einer freieren Schreibweise in Kombination mit traditionelleren Mitteln zurückzukehren. Die letzten Jahre seines Lebens dienen dem Reifungsprozess (fünf Litanie für verschiedene Solisten und kleine Ensembles, komponiert zwischen 1979 und 1982) und zwischen 1983 und 1993 der definitiven Ausarbeitung des visionären, utopischen und "abstrakten" Opern-Oratoriums Aquarius. Es ist für 16 Stimmen und großes Orchester komponiert und wurde kurz nach dem Ableben des Autors in Antwerpen und später in Brüssel von Pierre Bartholomée und dem Orchestre Philharmonique de Liège uraufgeführt.

Aquarius-Memorial lebt somit von der Ähnlichkeit in der intellektuellen und künstlerischen Entwicklung und von der thematischen Verwandtschaft.

Karel Goeyvaerts (1923-1993)
Mit einem großen Stück für Klavier solo - das Klavier war Goeyvaerts Instrument - hat Pousseur den posthumen Dialog mit dem Werk und dem Idiom seines älteren Kollegen eingeleitet, und hat sich dabei durch die Übernahme von Themen aus Icare und Mnémosyne der utopischen, symbolisierten Thematik bedient. Die gleichen Titel einiger ihrer Partituren sind rein zufällig - ohne über die Projekte von Goeyvaerts informiert zu sein, hatte auch Pousseur in den 80er Jahren eine Serie von Litanies komponiert, bei der er auf seine Weise die Frage der Wiederholbarkeit behandelt hat.

Die Litanies d'Icare entwickeln sich aus sehr einfachem Material: die Ton-Konstellation A, E, G, A, Es, die sich durch die fünf Teile des Werkes zieht, findet sich (A, E, G, A, S) in dem Namen von Karel Goeyvaerts. Dieses Material ist nach einem für Henri Pousseur seit über 35 Jahren sehr wichtigen Prinzip organisiert, als ein Netzwerk, das Transformationsprinzipien unterworfen ist und sich fortschreitend in einem einzigen "Klangbogen" ausbreitet, "ein liebevolles Heraufbeschwören einer Abwesenheit" (H. Pousseur). Das Werk wurde als erster Teil des Zyklus Aquarius-Memorial, das nach damaligem Plan drei Teile enthalten sollte, von Frederic Rzewski im Februar 1995 in Leuven im Rahmen des Festivals "Nieuwe Stemmen" uraufgeführt.

Die beiden folgenden Stücke richten sich nur an das Orchester, und zwar das der Beethoven Akademie mit seinen 36 Musikern unter der Leitung von Jan Caeyers, welches im ersten Teil, Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine, durch einen Schlagzeuger bereichert ist. Es entstand später als die in offener Form komponierten Fouilles de Jéruzona und wurde, als Antwort auf eine ausdrückliche Anfrage nach einem relativ kurzen Stück in traditioneller Schreibweise, im Oktober 1998 uraufgeführt. Es war von Anfang an als Einführung in den ersten Entwurf konzipiert, wo es eine Art Scherzo darstellt, und bildet auf diese Weise mit den grammatikalischen Elementen des gesamten Zyklus ein Echo zu dem Kammermusiktheaterstück Don Juan à Gnide ou les Séductions de la Chasteté, welches 1996 zum 70. Geburtstag von Michel Butor komponiert wurde, sowie zu dessen Serien von in proportionalen Verhältnissen organisierten Tanzrhythmen (Passepied, Gigue, Badinerie / Bosniaque, Gaillarde, Thébaine / Sarabande, Sicilienne, Pavane) und auch zur Erinnerung - variiert in Rhythmus, Stärke, Klangfarbe und Register -an die melodischen Konturen der Romanze Le temps des Cerises, die seit Anfang der 70er Jahre ein wichtiges Thema der Pousseurschen Utopie waren.

Pierre Bartholomée (* 1937)
Das zweite Stück ist nur für Orchester, und der Titel Les Fouilles de Jéruzona erinnert durch seine Mischung und Verkettung der, von nun an nicht mehr vorhandenen, historischen Zitate an Ruines de Jéruzona, eines der zahlreichen 20 Jahre früher komponierten Satellitenwerke von Votre Faust. Denn aus der Gesamtheit der kreativen Initiativen jedes einzelnen Interpreten wird eine neue Musik aus dem Reservoir an Noten, die ihm die Partitur anbietet, geschaffen, welche der Komponist als "jungfräulich" bezeichnet. Dieses Konzept der mehr oder weniger spontanen Öffnung und Improvisation, die Pousseur seit mehr als vierzig Jahren studiert und ausfeilt, damit es nicht zu Unordnung oder Unleserlichkeit der Musik führt, wird hier auf relativ strenge Wiederholungsphänomene angewendet, die dem späten Goeyvaerts sehr wichtig waren:

Jeder der 36 Musiker (organisiert in Sechsergruppen) muss eine bestimmte Anzahl an ziemlich einfachen Figuren erfinden, die dann nach einer durch die Partitur festgelegten polyphonen Steigerung wiederholt werden, aber gleichzeitig die anfängliche Wahl der Interpreten verändern. Es folgt eine zentrale, etwas träumerische Episode, bei der die Improvisation, die weiterhin auf den gegebenen allgemeinen Harmonien, dieselben wie in Litanies d'Icare, wo sie vollständig bestimmt sind, basiert, etwas flexibler ist. Das Stück endet mit einer Reprise des Materials, das in dem ersten Teil geschaffen wurde, und nimmt an Komplexität in der Art eines Decrescendos ab. Dieser Teil von Aquarius-Memorial wurde von seinen Widmungsträgern im Herbst 1995 uraufgeführt.

Frederic Rzewski (* 1938)
Das letzte Stück des Zyklus, Icare aux Jardins du Verseau, wurde schließlich im Winter 1998/99 komponiert und ist bei weitem das längste und komplexeste: in einer Art Synthese der drei anderen verbindet es das Klavier solo mit dem Orchester aus 37 Musikern (weiterhin geteilt in Sechsergruppen und einen zusätzlichen Schlagzeuger in halbsolistischer Funktion). Die Struktur des Ensembles greift auf die von Litanie d'Icare zurück, indem sie in allen Dimensionen vervielfacht wird: das von dem Klavier geführte Orchester spielt bis zu vier Variationen der Litanies gleichzeitig, was die Dichte merklich verstärkt, während der Solist seinerseits langsam immer freiere Improvisationen hinzufügt. Im Moment des Höhepunktes dieser Entwicklung, ungefähr nach drei Viertel der Zeit, erscheinen breite Zitate aus Fouilles de Jéruzona, zu denen sich noch überarbeitete, in neue prismatische Transformationen gelangte Erinnerungen aus Danseurs gnidiens mischen. Dieses mehr und mehr überladene bunte Treiben führt in eine große Kadenz, bei der der Solist all seine improvisatorischen Fähigkeiten maximal entfalten kann. Durch ein schnelles Abnehmen von der stärksten zu einer sehr reduzierten Dichte, welche den ersten Klavierteil beendet, gelangt man dann in die Atmosphäre der Litanies zurück.

So schließt sich der Kreis, und das Wenigerwerden, mit dem drei seiner Bestandteile, hier besonders feinfühlend, enden, ist wie die Wiederholung des bewegten Abschiednehmens von einem Komponisten, "dessen lächelndes Schweigen geheimnisvolle Tiefe heraufbeschwörte" (Henri Pousseur).

Die vollständige Version von Aquarius-Memorial wurde im Oktober 2000 in Leuven von Frederic Rzewski und der Beethoven Academie unter der Leitung von Pierre Bartholomée uraufgeführt.

Quelle: Marie-Isabelle Collart (Übersetzung: Monica Winterson), im Booklet


This is an aerial view of Times Square looking north from the New York Times
 newspaper building at 42nd St., during a dim-out in midtown Manhattan on
May 20, 1942 in World War II. The large signs illuminating Broadway,
street on left, are out in addition to the marquee lights above the theaters
 and restaurants along Seventh Ave., right.

TRACKLIST

Henri Pousseur
(1929-2009)


Aquarius-Memorial

01 Les litanies d'Icare                              24:14

02 Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine   11:21

03 Les fouilles de Jéruzona                          17:31

04 Icare aux jardins du verseau                      28:44

                                          Total time 79:02
                                          
Frederic Rzewski, Piano

Beethoven Academie, directed by Pierre Bartholomée
                                          
                                          
Recording: Leuven, Lemmens Institut, 23 October 2000 (live) and 24 October
Producer: Michel Stockhem
Sound Engineer: Emmanuelle Bailliet 
Editing: Emmanuelle Bailliet 
Premastering: Louis-Philippe Fourez

(P)(C) 2001 


Theodor W. Adorno:

Minima Moralia

Aus dem zweiten Teil der Minima Moralia (1945)

Customers gather at soft drink stand during a dimout in Times Square,
New York, May 21, 1942. Dimouts were necessary to conserve energy and
also cloak the city and surrounding waters in darkness in case of enemy attack.
64

Moral und Stil. — Man wird als Schriftsteller die Erfahrung machen, daß, je präziser, gewissenhafter, sachlich angemessener man sich ausdrückt, das literarische Resultat für um so schwerer verständlich gilt, während man, sobald man lax und verantwortungslos formuliert, mit einem gewissen Verständnis belohnt wird. Es hilft nichts, alle Elemente der Fachsprache, alle Anspielungen auf die nicht mehr vorgegebene Bildungssphäre asketisch zu vermeiden. Vielmehr bewirken Strenge und Reinheit des sprachlichen Gefüges, selbst bei äußerster Einfachheit, ein Vakuum. Schlamperei, das mit dem vertrauten Strom der Rede Schwimmen, gilt für ein Zeichen von Zugehörigkeit und Kontakt: man weiß, was man will, weil man weiß, was der andere will. Beim Ausdruck auf die Sache schauen, anstatt auf die Kommunikation, ist verdächtig: das Spezifische, nicht bereits dem Schematismus Abgeborgte erscheint rücksichtslos, ein Symptom der Eigenbrötelei, fast der Verworrenheit. Die zeitgemäße Logik, die auf ihre Klarheit so viel sich einbildet, hat naiv solche Perversion in der Kategorie der Alltagssprache rezipiert. Der vage Ausdruck erlaubt dem, der ihn vernimmt, das ungefähr sich vorzustellen, was ihm genehm ist und was er ohnehin meint. Der strenge erzwingt Eindeutigkeit der Auffassung, die Anstrengung des Begriffs, deren die Menschen bewußt entwöhnt werden, und mutet ihnen vor allem Inhalt Suspension der gängigen Urteile, damit ein sich Absondern zu, dem sie heftig widerstreben. Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei. Wer ihr entgehen will, muß jeden Rat, man solle auf Mitteilung achten, als Verrat am Mitgeteilten durchschauen.

After 18 months in the dark, theater marquees on Broadway light up again while
 underneath the crowds come out of the dimout gloom in New York, Nov. 2, 1943.
71

Pseudomenos. — Die magnetische Gewalt, welche die Ideologien über die Menschen ausüben, während sie ihnen bereits ganz fadenscheinig geworden sind, erklärt sich jenseits der Psychologie aus dem objektiv bestimmten Verfall der logischen Evidenz als solcher. Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher Präformation trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die Institutionen der öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend faktische Belege und alle Beweiskraft mitgeben, deren die totale Verfügung habhaft werden kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Charakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist überdies zu arm, um in Konkurrenz mit dem hochkonzentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen. Über den gesamten Mechanismus belehrt das deutsche Extrem. Als die Nationalsozialisten zu foltern begannen, terrorisierten sie damit nicht nur die Völker drinnen und draußen, sondern waren zugleich vor der Enthüllung um so sicherer, je wilder das Grauen anstieg. Dessen Unglaubwürdigkeit machte es leicht, nicht zu glauben, was man um des lieben Friedens willen nicht glauben wollte, während man zugleich davor kapitulierte. Die Zitternden reden sich darauf hinaus, es werde doch viel übertrieben: bis in den Krieg hinein waren in der englischen Presse Einzelheiten über die Konzentrationslager unerwünscht. Jedes Greuel in der aufgeklärten Welt wird notwendig zum Greuelmärchen. Denn die Unwahrheit der Wahrheit hat einen Kern, auf den das Unbewußte begierig anspricht. Nicht nur wünscht es die Greuel herbei. Sondern der Faschismus ist in der Tat weniger »ideologisch«, insoweit er das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert, das anderswo sich versteckt. Was immer die Demokratien an Humanem ihm entgegenzustellen haben, kann er spielend widerlegen mit dem Hinweis darauf, daß es ja doch nicht die ganze Humanität, sondern bloß ihr Trugbild sei, dessen er mannhaft sich entäußerte. So desperat aber sind die Menschen in der Kultur geworden, daß sie auf Abruf das hinfällige Bessere fortwerfen, wenn nur die Welt ihrer Bosheit den Gefallen tut zu bekennen, wie böse sie ist. Die politischen Gegenkräfte jedoch sind gezwungen, selbst immer wieder der Lüge sich zu bedienen, wenn nicht gerade sie als destruktiv völlig ausgelöscht werden wollen. Je tiefer ihre Differenz vom Bestehenden, das ihnen doch Zuflucht gewährt vor der ärgeren Zukunft, um so leichter fällt es den Faschisten, sie auf Unwahrheiten festzunageln. Nur die absolute Lüge hat noch die Freiheit, irgend die Wahrheit zu sagen. In der Vertauschung von Wahrheit und Lüge, die es fast ausschließt, die Differenz zu bewahren, und die das Festhalten der einfachsten Erkenntnis zur Sisyphusarbeit macht, kündet der Sieg des Prinzips in der logischen Organisation sich an, das militärisch am Boden liegt. Lügen haben lange Beine: sie sind der Zeit voraus. Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht, der Wahrheit selber nicht sich entziehen kann, wenn sie nicht von der Macht vernichtet werden will, unterdrückt sie nicht bloß, wie in früheren Despotien, sondern hat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr und Falsch ergriffen, an deren Abschaffung die Söldlinge der Logik ohnehin emsig mitwirken. So überlebt Hitler, von dem keiner sagen kann, ob er starb oder entkam.

A huge crowd in New York’s Times Square jubilantly welcome the news that
 the Japanese had accepted the allies terms of surrender on Aug. 14, 1945.
76

Galadiner. — Wie Fortschritt und Regression heute sich verschränken, ist am Begriff der technischen Möglichkeiten zu lernen. Die mechanischen Reproduktionsverfahren haben sich unabhängig von dem zu Reproduzierenden entfaltet und verselbständigt. Sie gelten für fortschrittlich‚ und was an ihnen nicht teilhat für reaktionär und krähwinklerisch. Solcher Glaube wird um so gründlicher gefördert, als die Superapparaturen‚ sobald sie irgend ungenützt bleiben, in Fehlinvestitionen sich zu verwandeln drohen. Da aber ihre Entwicklung wesentlich das betrifft, was unterm Liberalismus Aufmachung hieß, und zugleich durch ihr Eigengewicht die Sache selber erdrückt, der ohnehin die Apparatur äußerlich bleibt, so hat die Anpassung der Bedürfnisse an diese den Tod des sachlichen Anspruchs zur Folge. Der faszinierte Eifer, die jeweils neuesten Verfahren zu konsumieren, macht nicht nur gegen das Übermittelte gleichgültig, sondern kommt dem stationären Schund und der kalkulierten Idiotie entgegen. Sie bestätigt den alten Kitsch in immer neuen Paraphrasen als haute nouveauté. Auf den technischen Fortschritt antwortet der trotzige und bornierte Wunsch, nur ja keinen Ladenhüter zu kaufen, hinter dem losgelassenen Produktionsprozeß nicht zurückzubleiben, ganz gleichgültig, was der Sinn des Produzierten ist. Mitläufertum, das sich Drängeln, Schlange Stehen substituiert allenthalben das einigermaßen rationale Bedürfnis. Kaum geringer als der Haß gegen eine radikale, allzu moderne Komposition ist der gegen einen schon drei Monate alten Film, dem man den jüngsten, obwohl er von jenem in nichts sich unterscheidet, um jeden Preis vorzieht. Wie die Kunden der Massengesellschaft sogleich dabei sein wollen, können sie auch nichts auslassen. Wenn der Kenner des neunzehnten Jahrhunderts sich nur einen Akt der Oper ansah, mit dem barbarischen Seitenaspekt, daß er sein Diner von keinem Spektakel sich mochte verkürzen lassen, so kann mittlerweile die Barbarei, der die Auswegsmöglichkeit zum Diner abgeschnitten ist, an ihrer Kultur sich gar nicht sattfressen. Jedes Programm muß bis zu Ende abgesessen‚ jeder best seller gelesen, jeder Film während seiner Blütetage im Hauptpalast beguckt werden. Die Fülle des wahllos Konsumierten wird unheilvoll. Sie macht es unmöglich, sich zurechtzufinden, und wie man im monströsen Warenhaus nach einem Führer sucht, wartet die zwischen Angeboten eingekeilte Bevölkerung auf den ihren.

An open pushcart vendor cleans fresh fish before weighing it for a customer
 at the corner of Orchard St. and Stanton in the Jewish section of New York’s
 Lower East Side on June 1, 1946.
86

Hänschen klein. — Der Intellektuelle, und gar der philosophisch gerichtete, ist von der materiellen Praxis abgeschnitten: der Ekel vor ihr trieb ihn zur Befassung mit den sogenannten geistigen Dingen. Aber die materielle Praxis ist nicht nur die Voraussetzung seiner eigenen Existenz, sondern liegt auch auf dem Grunde der Welt, mit deren Kritik seine Arbeit zusammenfällt. Weiß er nichts von der Basis, so zielt er ins Leere. Er steht vor der Wahl, sich zu informieren oder dem Verhaßten den Rücken zu kehren. Informiert er sich, so tut er sich Gewalt an, denkt gegen seine Impulse und ist obendrein in Gefahr, selber so gemein zu werden wie das, womit er sich abgibt, denn die Ökonomie duldet keinen Spaß, und wer sie auch nur verstehen will, muß »ökonomisch denken«. Läßt er sich aber nicht darauf ein, so hypostasiert er seinen an der ökonomischen Realität, dem abstrakten Tauschverhältnis überhaupt erst gebildeten Geist als Absolutes, während er zum Geist werden könnte einzig in der Besinnung auf die eigene Bedingtheit. Der Geistige wird dazu verführt, eitel und beziehungslos den Reflex für die Sache unterzuschieben. Die einfältig-verlogene Wichtigkeit, wie sie Geistesprodukten im öffentlichen Kulturbetrieb zugewiesen wird, fügt Steine zu der Mauer hinzu, welche die Erkenntnis von der wirtschaftlichen Brutalität absperrt. Dem Geistesgeschäft verhilft die Isolierung des Geistes vom Geschäft zur bequemen Ideologie. Das Dilemma teilt sich den intellektuellen Verhaltensweisen bis in die subtilsten Reaktionen hinein mit. Nur wer gewissermaßen sich rein erhält, hat Haß, Nerven, Freiheit und Beweglichkeit genug, der Welt zu widerstehen, aber gerade vermöge der Illusion der Reinheit — denn er lebt als »dritte Person« — läßt er die Welt nicht draußen bloß, sondern noch im Innersten seiner Gedanken triumphieren. Wer aber das Getriebe allzu gut kennt, verlernt darüber es zu erkennen; ihm schwinden die Fähigkeiten der Differenz, und wie den anderen der Fetischismus der Kultur, so bedroht ihn der Rückfall in die Barbarei. Daß die Intellektuellen zugleich Nutznießer der schlechten Gesellschaft und doch diejenigen sind, von deren gesellschaftlich unnützer Arbeit es weithin abhängt, ob eine von Nützlichkeit emanzipierte Gesellschaft gelingt — das ist kein ein für allemal akzeptabler und dann irrelevanter Widerspruch. Er zehrt unablässig an der sachlichen Qualität. Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch. Er erfährt drastisch, als Lebensfrage die schmähliche Alternative, vor welche insgeheim der späte Kapitalismus all seine Angehörigen stellt: auch ein Erwachsener zu werden oder ein Kind zu bleiben.

A pedestrian stops and enjoys a hot ear of corn from the vendor, at left,
with his corn cooking machine in New York, July 14, 1947.
88

Dummer August. — Daß das Individuum mit Haut und Haaren liquidiert werde, ist noch zu optimistisch gedacht. Wäre doch in seiner bündigen Negation, der Abschaffung der Monade durch Solidarität, zugleich die Rettung des Einzelwesens angelegt, das gerade in seiner Beziehung aufs Allgemeine erst ein Besonderes würde. Weit entfernt davon ist der gegenwärtige Zustand. Das Unheil geschieht nicht als radikale Auslöschung des Gewesenen, sondern indem das geschichtlich Verurteilte tot, neutralisiert, ohnmächtig mitgeschleppt wird und schmählich hinunterzieht. Mitten unter den standardisierten und verwalteten Menscheneinheiten west das Individuum fort. Es steht sogar unter Schutz und gewinnt Monopolwert. Aber es ist in Wahrheit bloß noch die Funktion seiner eigenen Einzigkeit, ein Ausstellungsstück wie die Mißgeburten, welche einstmals von Kindern bestaunt und belacht wurden. Da es keine selbständige ökonomische Existenz mehr führt, gerät sein Charakter in Widerspruch mit seiner objektiven gesellschaftlichen Rolle. Gerade um dieses Widerspruchs Willen wird es im Naturschutzpark gehegt, in müßiger Kontemplation genossen. Die nach Amerika importierten Individualitäten‚ die durch den Import bereits keine mehr sind, heißen colorful personality. Ihr eifrig hemmungsloses Temperament, ihre quicken Einfälle, ihre »Originalität«, wäre es auch nur besondere Häßlichkeit, selbst ihr Kauderwelsch verwerten das Menschliche als Clownskostüm. Da sie dem universalen Konkurrenzmechanismus unterliegen und durch nichts anderes dem Markt sich angleichen und durchkommen können als durch ihr erstarrtes Anderssein, so stürzen sie sich passioniert ins Privileg ihres Selbst und übertreiben sich dermaßen, daß sie vollends ausrotten‚ wofür sie gelten. Sie pochen schlau auf ihre Naivetät, welche, wie sie rasch herausbekommen, die Maßgebenden so gern mögen. Sie verkaufen sich als Herzenswärmer in der kommerziellen Kälte, schmeicheln sich ein durch aggressive Witze, die von den Protektoren masochistisch genossen werden, und bestätigen durch lachende Würdelosigkeit die ernste Würde des Wirtsvolkes. Ähnlich mögen die Graeculi im römischen Imperium sich benommen haben. Die ihre Individualität feilhalten, machen als ihr eigener Richter freiwillig den Urteilsspruch sich zu eigen, den die Gesellschaft über sie verhängt hat. So rechtfertigen sie auch objektiv das Unrecht, das ihnen widerfuhr. Die allgemeine Regression unterbieten sie als privat Regredierte, und selbst ihr lauter Widerstand ist meist nur ein verschlageneres Mittel der Anpassung aus Schwäche.

A prospective customer grumbles under his breath at the prices scribbled on
 the window of this Bowery restaurant on New York’s Lower East Side,
Sept. 26, 1947. The high cost of living has hit the Bowery like every other
 place and it’s tough on the residents. One of the biggest selling items is
soup and coffee, for 10 cents. It used to be a Nickel. A room with a partition
 and an electric light is up from 30 cents to 40 cents.
The dormitories are 35 cents up from 20.
90

Taubstummenanstalt. — Während die Schulen die Menschen im Reden drillen wie in der ersten Hilfe für die Opfer von Verkehrsunfällen und im Bau von Segelflugzeugen, werden die Geschulten immer stummer. Sie können Vorträge halten, jeder Satz qualifiziert sie fürs Mikrophon, vor das sie als Stellvertreter des Durchschnitts plaziert werden, aber die Fähigkeit miteinander zu sprechen erstickt. Sie setzte mitteilenswerte Erfahrung, Freiheit zum Ausdruck, Unabhängigkeit zugleich und Beziehung voraus. Im allumgreifenden System wird Gespräch zur Bauchrednerei. Jeder ist sein eigener Charlie McCarthy: daher dessen Popularität. Insgesamt werden die Worte den Formeln gleich, die ehedem der Begrüßung und dem Abschied vorbehalten waren. Ein mit Erfolg auf die jüngsten Desiderate hin erzogenes Mädchen etwa müßte in jedem Augenblick genau sagen, was diesem als einer »Situation« angemessen ist, und wofür probate Anweisungen vorliegen. Solcher Determinismus der Sprache durch Anpassung aber ist ihr Ende: die Beziehung zwischen Sache und Ausdruck ist durchschnitten, und wie die Begriffe der Positivisten bloß noch Spielmarken sein sollen, so sind die der positivistischen Menschheit buchstäblich zu Münzen geworden. Es geschieht den Stimmen der Redenden, was der Einsicht der Psychologie zufolge der des Gewissens widerfuhr, von deren Resonanz alle Rede lebt: sie werden bis in den feinsten Tonfall durch einen gesellschaftlich präparierten Mechanismus ersetzt. Sobald er nicht mehr funktioniert, Pausen eintreten, die in den ungeschriebenen Gesetzbüchern nicht vorgesehen waren, folgt Panik. Um ihretwillen hat man sich auf umständliches Spiel und andere Freizeitbeschäftigungen verlegt, die von der Gewissenslast der Sprache dispensieren sollen. Der Schatten der Angst aber fällt verhängnisvoll über die Rede, die noch übrig ist. Unbefangenheit und Sachlichkeit in der Erörterung von Gegenständen verschwinden noch im engsten Kreis, so wie in der Politik längst die Diskussion vom Machtwort abgelöst ward. Das Sprechen nimmt einen bösen Gestus an. Er wird sportifiziert. Man will möglichst viele Punkte machen: keine Unterhaltung, in die nicht wie ein Giftstoff die Gelegenheit zur Wette sich eindrängte. Die Affekte, die im menschenwürdigen Gespräch dem Behandelten galten, heften sich verbohrt ans pure Rechtbehalten, außer allem Verhältnis zur Relevanz der Aussage. Als reine Machtmittel aber nehmen die entzauberten Worte magische Gewalt über die an, die sie gebrauchen. Immer wieder kann man beobachten, daß einmal Ausgesprochenes, mag es noch so absurd, zufällig oder unrecht sein, weil es einmal gesagt ward, den Redenden als sein Besitz so tyrannisiert, daß er nicht davon ablassen kann. Wörter, Zahlen, Termine machen, einmal ausgeheckt und geäußert, sich selbständig und bringen jedem Unheil, der in ihre Nähe kommt. Sie bilden eine Zone paranoischer Ansteckung, und es bedarf aller Vernunft, um ihren Bann zu brechen. Die Magisierung der großen und nichtigen politischen Schlagworte wiederholt sich privat, bei den scheinbar neutralsten Gegenständen: die Totenstarre der Gesellschaft überzieht noch die Zelle der Intimität, die vor ihr sich geschützt meint. Nichts wird der Menschheit nur von außen angetan: das Verstummen ist der objektive Geist.

A pedestrian walks between drifts of snow in Times Square in New York City,
 Dec. 27, 1947, following the record-breaking snowfall of the day before.
This view looks south on Broadway with the Times Building in the center
background.
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Vandalen. — Was seit dem Aufkommen der großen Städte als Hast, Nervosität, Unstetigkeit beobachtet wurde, breitet nun so epidemisch sich aus wie einmal Pest und Cholera. Dabei kommen Kräfte zum Vorschein, von denen die pressierten Passanten des neunzehnten Jahrhunderts nichts sich träumen ließen. Alle müssen immerzu etwas vorhaben. Freizeit verlangt ausgeschöpft zu werden. Sie wird geplant, auf Unternehmungen verwandt, mit Besuch aller möglichen Veranstaltungen oder auch nur mit möglichst rascher Fortbewegung ausgefüllt. Der Schatten davon fällt über die intellektuelle Arbeit. Sie geschieht mit schlechtem Gewissen, als wäre sie von irgendwelchen dringlichen, wenngleich nur imaginären Beschäftigungen abgestohlen. Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, praktiziert sie den Gestus des Hektischen, des Hochdrucks, des unter Zeitnot stehenden Betriebs, der jeglicher Besinnung, ihr selber also, im Wege steht. Oft ist es, als reservierten die Intellektuellen für ihre eigentliche Produktion nur eben die Stunden, die ihnen von Verpflichtungen, Ausgängen, Verabredungen und unvermeidlichen Vergnügungen übrig bleiben. Widerwärtig, doch einigermaßen rational ist noch der Prestigegewinn dessen, der als so wichtiger Mann sich präsentieren kann, daß er überall dabei sein muß. Er stilisiert sein Leben mit absichtlich schlecht gespielter Unzufriedenheit als einen einzigen acte de présence. Die Freude, mit der er eine Einladung unter Hinweis auf eine bereits akzeptierte ablehnt, meldet den Triumph in der Konkurrenz an. Wie darin, so wiederholen sich allgemein die Formen des Produktionsprozesses im Privatleben oder in den von jenen Formen ausgenommenen Bereichen der Arbeit. Das ganze Leben soll wie Beruf aussehen und durch solche Ähnlichkeit verbergen, was noch nicht unmittelbar dem Erwerb gewidmet ist. Die Angst, die darin sich äußert, reflektiert aber nur eine viel tiefere. Die unbewußten Innervationen, die jenseits der Denkprozesse die individuelle Existenz auf den historischen Rhythmus einstimmen, gewahren die heraufziehende Kollektivierung der Welt. Da jedoch die integrale Gesellschaft nicht sowohl die Einzelnen positiv in sich aufhebt, als vielmehr zu einer amorphen und fügsamen Masse sie zusammenpreßt, so graut jedem Einzelnen vor dem als unausweichlich erfahrenen Prozeß des Aufgesaugtwerdens. Doing things and going places ist ein Versuch des Sensoriums, eine Art Reizschutz gegen die drohende Kollektivierung herzustellen, auf diese sich einzuüben‚ indem man gerade in den scheinbar der Freiheit überlassenen Stunden sich selber als Mitglied der Masse schult. Die Technik dabei ist, die Gefahr womöglich zu überbieten. Man lebt gewissermaßen noch schlimmer, also mit noch weniger Ich, als man erwartet leben zu müssen. Zugleich lernt man durch das spielerische Zuviel an Selbstaufgabe, daß einem im Ernst ohne Ich zu leben nicht schwerer fallen könnte sondern leichter. Dabei hat man es sehr eilig, denn beim Erdbeben wird nicht geläutet. Wenn man nicht mitmacht, und das will sagen, wenn man nicht leibhaft im Strom der Menschen schwimmt, fürchtet man, wie beim allzu späten Eintritt in die totalitäre Partei, den Anschluß zu verpassen und die Rache des Kollektivs auf sich zu ziehen. Pseudoaktivität ist eine Rückversicherung, der Ausdruck der Bereitschaft zur Selbstpreisgabe‚ durch die einzig man noch die Selbsterhaltung zu garantieren ahnt. Sekurität winkt in der Anpassung an die äußerste Insekurität. Sie wird als Freibrief auf die Flucht vorgestellt, die einen möglichst rasch an einen anderen Ort bringt. In der fanatischen Liebe zu den Autos schwingt das Gefühl physischer Obdachlosigkeit mit. Es liegt dem zugrunde, was die Bürger zu Unrecht die Flucht vor sich selbst, vor der inneren Leere zu nennen pflegten. Wer mit will, darf sich nicht unterscheiden. Psychologische Leere ist selber erst das Ergebnis der falschen gesellschaftlichen Absorption. Die Langeweile, vor der die Menschen davonlaufen, spiegelt bloß den Prozeß des Davonlaufens zurück, in dem sie längst begriffen sind. Darum allein erhält der monströse Vergnügungsapparat sich am Leben und schwillt immer mehr auf, ohne daß ein einziger Vergnügen davon hätte. Er kanalisiert den Drang dabei zu sein, der sonst wahllos, anarchisch, als Promiskuität oder wilde Aggression dem Kollektiv sich an den Hals werfen würde, das zugleich doch aus niemand anderem besteht als aus denen unterwegs. Am nächsten verwandt sind sie den Süchtigen. Ihr Impuls reagiert exakt auf die Dislokation der Menschheit, wie sie von der trüben Verwischung des Unterschieds von Stadt und Land, der Abschaffung des Hauses, über die Züge von Millionen Erwerbsloser, bis zu den Deportationen und Völkerverschiebungen im verwüsteten europäischen Kontinent führt. Das Nichtige, Inhaltslose aller kollektiven Rituale seit der Jugendbewegung stellt nachträglich als tastende Vorwegnahme übermächtiger historischer Schläge sich dar. Die Unzähligen, die plötzlich der eigenen abstrakten Quantität und Mobilität, dem von der Stelle Kommen in Schwärmen wie einem Rauschgift verfallen, sind Rekruten der Völkerwanderung, in deren verwilderten Räumen die bürgerliche Geschichte zu verenden sich anschickt.

This general view from the Steeplechase Pier shows part of the crowded beach
 at Coney Island in Brooklyn, N.Y., Aug. 28, 1948. In the background beyond
 the boardwalk is the ferris wheel, center, and the Cyclone roller coaster at right.
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Bilderbuch ohne Bilder. — Der objektiven Tendenz der Aufklärung, die Macht aller Bilder über die Menschen zu tilgen, entspricht kein subjektiver Fortschritt des aufgeklärten Denkens zur Bilderlosigkeit. Indem der Bildersturm nach den metaphysischen Ideen unaufhaltsam die ehedem als rational verstandenen, die eigentlich gedachten Begriffe demoliert, geht das von Aufklärung entbundene und gegen Denken geimpfte Denken in zweite Bildlichkeit, eine bilderlose und befangene, über. Mitten im Netz der ganz abstrakt gewordenen Beziehungen der Menschen untereinander und zu den Sachen entschwindet die Fähigkeit zur Abstraktion. Die Entfremdung der Schemata und Klassifikationen von den darunter befaßten Daten, ja die reine Quantität des verarbeiteten Materials, die dem Umkreis der einzelmenschlichen Erfahrung ganz inkommensurabel geworden ist, zwingt unablässig zur archaischen Rückübersetzung in sinnliche Zeichen. Die Männchen und Häuschen, die hieroglyphenhaft die Statistik durchsetzen, mögen in jedem Einzelfall akzidentiell, als bloße Hilfsmittel erscheinen. Aber sie sehen nicht umsonst ungezählten Reklamen, Zeitungsstereotypen, Spielzeugfiguren so ähnlich. In ihnen siegt die Darstellung übers Dargestellte. Ihre übergroße, simplistische und daher falsche Verständlichkeit bekräftigt die Unverständlichkeit der intellektuellen Verfahren selber, die von deren Falschheit — der blinden begriffslosen Subsumtion — nicht getrennt werden kann. Die allgegenwärtigen Bilder sind keine, weil sie das ganz Allgemeine, den Durchschnitt, das Standardmodell als je Eines, Besonderes präsentieren zugleich und verlachen. Aus der Abschaffung des Besonderen wird auch noch hämisch das Besondere gemacht. Das Verlangen danach hat sich bereits im Bedürfnis sedimentiert und wird allerorten von der Massenkultur, nach dem Muster der Funnies, vervielfacht. Was einmal Geist hieß, wird von Illustration abgelöst. Nicht bloß daß die Menschen sich nicht mehr vorzustellen vermögen, was ihnen nicht abgekürzt gezeigt und eingedrillt wird. Sogar der Witz, in dem einmal die Freiheit des Geistes mit den Fakten zusammenstieß und diese explodieren machte, ist an die Illustration übergegangen. Die Bildwitze‚ welche die Magazine füllen, sind großenteils ohne Pointe, sinnleer. Sie bestehen in nichts anderem als in der Herausforderung des Auges zum Wettkampf mit der Situation. Man soll, durch ungezählte Präzedenzfälle geschult, rascher sehn‚ was »los ist«‚ als die Bedeutungsmomente der Situation sich entfalten. Was von solchen Bildern vorgemacht, vom gewitzigten Betrachter nachvollzogen wird, ist, im Einschnappen auf die Situation, in der widerstandslosen Unterwerfung unter die leere Übermacht der Dinge alles Bedeuten wie einen Ballast abzuwerfen. Der zeitgemäße Witz ist der Selbstmord der Intention. Wer ihn begeht, findet sich belohnt durch Aufnahme ins Kollektiv der Lacher, welche die grausamen Dinge auf ihrer Seite haben. Wollte man solche Witze denkend zu verstehen trachten, so bliebe man hilflos hinterm Tempo der losgelassenen Sachen zurück, die in der einfachsten Karikatur noch rasen wie in der Hetzjagd am Ende des Trickfilms. Gescheitheit wird ganz unmittelbar zur Dummheit im Angesicht des regressiven Fortschritts. Dem Gedanken bleibt kein Verstehen als das Entsetzen vorm Unverständlichen. Wie der besonnene Blick, der dem lachenden Plakat einer Zahnpastaschönheit begegnet, in ihrem angestellten Grinsen der Qual der Folter gewahr wird, so springt ihm aus jedem Witz, ja eigentlich aus jeder Bilddarstellung das Todesurteil übers Subjekt entgegen, das im universalen Sieg der subjektiven Vernunft eingeschlossen liegt.

Three-quarters of a million people crowd into Times Square, in New York,
 Dec. 31, 1949, to welcome in the New Year.
Quelle: Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Bd. 1704). ISBN 978-3-518-29304-1. Zitiert wurden Auszüge aus dem 2. Teil (geschrieben 1945) auf den Seiten 114 bis 161.


B&W Photos Give Firsthand Perspective of Daily Life in 1940s New York (By Jessica Stewart on May 4, 2017)
New York City in the 1940s was buzzing with activity, with the population of Manhattan almost reaching 2 million inhabitants. These incredible black and white photographs, which document everyday life in New York City, are a glimpse back at this era.


Musik aus alter und neuer Zeit, aus der Kammermusikkammer:

Pierre Boulez: Polyphonie X | Poésie pour pouvoir | Structures II | Jacob Burckhardt: Die Ruinenstadt Rom.

Johannes Ciconia: Opera Omnia (Diabolus in Musica, La Morra) | Die Schönste im ganzen Land: Die Berliner Büste der Nofretete

W. B. Yeats: Poems / Gedichte | Das Haus des Tauben: Goyas „pinturas negras“

George Gershwin: Rhapsody in Blue | Ovid: Diana und Aktäon: "Dumque ibi perluitur solita Titania lympha, / ecce nepos Cadmi dilata parte laborum / per nemus ignotum non certis passibus errans / pervenit in lucum: sic illum fata ferebant."

Beethoven: Bagatellen, Sonaten und Trio (Glenn Gould, 1952/54) | Ninfa Fiorentina - Aby Warburg: Florentinische Wirklichkeit und antikisirender Idealismus.

Turina | Zilcher | Dvorák: Klaviertrios | Ein Paradies fürs Auge: Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance



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2. März 2020

Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza (ed. RZ 1009)

Die Improvisationsgruppe Nuova Consonanza entstand 1964 auf Anregung von Franco Evangelisti. Den Namen übernahm sie von der Konzertgesellschaft Nuova Consonanza, die 1961 in Rom gegründet wurde und im Rahmen deren dritten Festivals im Frühling 1965 die Gruppe ihr Debüt gab. Der Ausdruck »nuova consonanza« wurde im Vorwort zur Sammlung Le musiche di Iacopo Peri aus dem Jahre 1600 vorgefunden. Er verweist auf kein neuartiges Gesetz der Harmonielehre, sondern auf ein ästhetisches Programm: über die Grenzen hinausschauen, um immer wieder »neue Übereinstimmungen« zu erreichen. Die »historische« Besetzung der Gruppe - die in der vorliegenden Schallplatte dokumentiert ist - war: Mario Bertoncini (Schlagzeug und Klavier), Walter Branchi (Kontrabaß), Franco Evangelisti (Klavier), John Heineman (Posaune und Violoncello), Roland Kayn (Hammond-Orgel, Vibraphon und Marimbaphon), Egisto Macchi (Schlagzeug und Celesta) und Ennio Morricone (Trompete). In Improvvisazione per cinque und RKBA 1675/1 kommt Frederic Rzewski (Klavier) hinzu; in Eflot und Soup erscheinen auch Giovanni Piazza (Horn) und Jesus Villa Roja (Klarinette). Mit der historischen Besetzung trat die Gruppe bei mehreren europäischen Festivals auf: 1968 beim Maggio Musicale von Florenz und der Biennale von Venedig, 1969 bei den Sechs Tagen Musik von Berlin, 1971 anläßlich der Konzertsaison vom ORF in Wien und 1972 bei der Internationalen Musikfestwoche in Luzern.

Gegenüber den vielen Improvisationsgruppen, die sich im Laufe der sechziger Jahre bildeten, zeichnet sich Nuova Consonanza durch Merkmale aus, die sie zu einer einzigartigen Erscheinung machen. Nach dem Modell des kurzlebigeren New Music Ensemble des Amerikaners Larry Austin, das Evangelisti bei der Bildung von Nuova Consonanza inspiriert hatte, sollen die Mitglieder der Gruppe zunächst das jeweils eigene Instrument beherrschen; sie sollen aber zugleich Komponisten sein, und in dieser Doppelfunktion verstehen sie ihre Tätigkeit als improvisierende Musiker. Improvisation wird also nicht als neodadaistischer Angriff gegen den Werkbegriff, sondern als dessen Erweiterung praktiziert. Das Werk als intendiertes Kunstobjekt bleibt bestehen, es wird aber zu einem transitorischen, von einem kollektiven Subjekt produzierten Werk. Das jeweilige Ergebnis ähnelt einem Mosaik aus unendlich vielen Steinchen, die als solche keine Selbständigkeit haben und erst im Zusammenhang mit den anderen ihren Sinn erhalten. Es ist eine »instantane« Komposition, an deren Konstitution alle mit gleichem Recht und zur gleichen Zeit teilnehmen.

Selbstverständlich ist solchen »instantanen« Kompositionen nicht mit der Haltung zu begegnen, die der Rezeption schriftlich fixierter Werke angemessen ist. Die gewöhnlichen Kategorien des Musikwerkes - Beginn, Entwicklung, Kontrast, Übergang und Schluß können zum Verständnis der kompositorischen Aktion von Nuova Consonanza nicht das geringste beitragen. Das Schaffen von Nuova Consonanza hat für die Musik der sechziger Jahre insgesamt Signalcharakter: der Akzent hat sich von Form und Struktur auf das Material verschoben. Die Substanz des instantanen Werkes fällt mit den angewendeten Klängen und ihren Produktionsvorgängen zusammen. Die Eigenart von String Quartet beispielsweise erklärt sich aus einem Verfahren, das Bertoncini eingeführt hatte: die Haare eines Geigenbogens werden unter den Saiten eines Flügels hin- und hergezogen, wodurch kontinuierliche Klangbänder entstehen.

Von links nach rechts: Walter Branchi, Mario Bertoncini, Egisto Macchi,
 Franco Evangelisti, Ennio Morricone, John Heineman.
Im Repertoire von Nuova Consonanza überwiegt ohnehin eine unkonventionelle Behandlung der Instrumente: Hauchen und Sprechen in Blasinstrumente, der Flügel als Resonanzkörper für andere Instrumente, die Verwendung von Fagottmundstücken bei Blechbläsern sowie unzählige geräuschproduzierende Objekte. Die Entscheidung für deformierte Klänge entsprach nicht dem Selbstzweck einer spielerischen Effektistik, sondern einer ästhetischen Orientierung, die die Unzulänglichkeit des temperierten Systems erkannt hatte und nach einer neuen Klangwelt suchte.

Evangelisti sah die Gruppe als Ausweg aus dem etablierten Musikbetrieb mit seinen Auftragswerken, seinen Einschränkungen, seinen abgenutzten Kommunikationsformen. Er sah Nuova Consonanza als ersten Schritt auf dem Weg zu einer neuen Klangwelt, die nicht mehr Musik heißen kann. Dieser Schritt war einer der Negation. Die kollektive Arbeit setzte einen Katalog der Verbote voraus, der von allen Mitgliedern akzeptiert wurde: keine Priorität eines einzelnen Spielers zulassen, keinen an das tonale System gebundenen Klang hervorbringen, keine rhythmische Periodik, gestalten, keine einprägsamen Motive einfügen, keine genaue Wiederholung eines Gewesenen ausführen. Der Katalog war auf alle Klischees erweiterbar, auch auf die der Avantgarde: keinen Jargon der Negativität bilden, das Sichtbare nicht über das Klangliche vorherrschen lassen.

Den Improvisationen gingen meistens Übungen voraus, die gleichsam als Training für die eigentliche kompositorische Aktion erfunden wurden. Sie betrafen einzelne Dimensionen des Klanges: eine Farbengruppe, einen dynamischen Bereich, eine Verhaltensweise (wie das Spielen nach je individuellem Zeitmaß oder das Bilden von schnellen Kettenreaktionen); sie galten aber nicht als normatives Schema für eine Improvisation. Die einzige positive, immer geltende Vorschrift war das alte Prinzip der Ökonomie der kompositorischen Arbeit; geboten war eine nicht verschwenderische Verwendung der Klangelemente, eine Arbeit in Minimalbereichen, eine Reduktion der Mittel - was übrigens der in der Improvisation üblichen Neigung entgegenwirkte, vielfältige Materialien zu akkumulieren und ihre Ressourcen rasch auszuschöpfen, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer wachzuhalten. Fundament für Vorarbeit und kompositorische Aktion von Nuova Consonanza ist jedoch das Hören und das Hören-lernen. Erst aus einer prinzipiellen Bereitschaft, die anderen und sich selbst mit den anderen zu hören, erklären sich Ergebnisse derartigen Gleichgewichtes. Denn - wie Evangelisti sagte - "in dieser Fähigkeit des Anhörens der eigenen Fehler und der Fehler der anderen und in der unmittelbaren Reaktion sich entsprechend zu korrigieren, also in der Verteilung der individuellen Energie im Dienste der gemeinsamen Idee, liegt das Wesen der Improvisation" .

Quelle: Gianmario Borio, im Booklet


TRACKLIST

Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza 

01. String Quartet (RCA-1967) 4'13 
Mario Bertoncini, Franco Evangelisti, John Heineman, Roland Kayn

02. Improvvisazione per cinque (RCA-1967) 7'06 
Mario Bertoncini, Franco Evangelisti, John Heineman, Roland Kayn, Frederic Rzewski 

03. RKBA 1675/I (RCA-1967) 5'12 
Mario Bertoncini, Franco Evangelisti, John Heineman, Roland Kayn, Frederic Rzewski 

04. Percussione per tutti (General Music-1969) 7'23 
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ennio Morricone

05. Mirage (General Music-1969) 4'44 
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ennio Morricone

06. Wenig aber kurz (SFB-15.12.69) 2'00 
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ennio Morricone

07. NC Berlino 1969 (SFB-15.12.69) Ausschnitt: 7'40 
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ennio Morricone

08. Zum Schluß (Wien-1971) 6'13 
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, Egisto Macchi, Ennio Morricone, Giovanni Piazza, Jesus Villa Rojo

09. Eflot (Cinevox-1975) 11'15 
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, Egisto Macchi, Ennio Morricone, Giovanni Piazza, Jesus Villa Rojo

10. Soup (Cinevox-1975) 7'37 
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, Egisto Macchi, Ennio Morricone, Giovanni Piazza, Jesus Villa Rojo

Time Total: 64'34

(C) 1992 ADD
Edition RZ
Ed. RZ 1009


Norbert Elias:

Die höfisch-aristokratische Verflechtung

Ludwig XIV. in der Rolle der Sonne im Ballet de la nuit,
23. Februar 1653, Salle du Petit Bourbon, Paris
1) Wie man sieht, ist die Verstrickung der sozialen Existenz einer nicht arbeitenden Schicht nicht weniger zwingend und unausweichlich als die Verstrickung, welche eine arbeitende Schicht zum Ruin führt. Das ist die Situation, die in dem Wort des Herzogs von Croy zum Ausdruck kommt: »Ce sont les maisons qui ont écrasé la plupart des grandes familles«.

Die besondere Figuration, die eine solche Haltung züchtet und zu ihrer Aufrechterhaltung nötig hat, wird mit alledem ganz gewiß erst andeutungsweise sichtbar. Aber die spezifische Haltung selbst, die der Verflechtung in eine solche höfische Gesellschaft entspringt, tritt bei dieser Art der Untersuchung aus der Überlagerung durch heteronome Wertungen, aus der Verdeckung durch das berufsbürgerliche Wirtschaftsethos, für den Blick des Betrachters bereits etwas klarer heraus. Dieses Wirtschaftsethos ist nicht etwas Selbstverständliches. Menschen handeln nicht seinen Geboten gemäß, gleichgültig in welcher Gesellschaft sie leben, sofern sie nur für sich selbst »rational« oder »logisch« zu denken vermögen. Daß die höfisch-aristokratische Haltung zu Geldeinnahmen und Geldausgaben von der berufsbürgerlichen verschieden ist, läßt sich nicht einfach durch die Annahme einer zufälligen Häufung von persönlichen Mängeln oder Lastern einzelner Menschen erklären; es handelt sich nicht um eine Epidemie der Willkür oder der Schwächung von Langsicht und Selbstkontrolle der beteiligten Individuen. Man begegnet hier einem anderen gesellschaftlichen System der Normen und Wertungen, dessen Geboten sich Individuen nur zu entziehen vermögen, wenn sie auf den Umgang innerhalb ihrer gesellschaftlichen Zirkel, auf die Zugehörigkeit zu ihrer sozialen Gruppe verzichten. Diese Normen lassen sich nicht erklären aus einem Geheimnis, das in der Brust vieler einzelner Menschen begraben ist; sie lassen sich nur erklären im Zusammenhang mit der spezifischen Figuration, die die vielen Individuen miteinander bilden und mit den spezifischen Interdependenzen‚ die sie aneinander binden.

2) Auf der einen Seite steht das gesellschaftliche Ethos des Berufsbürgertums, dessen Normen die einzelne Familie dazu verpflichten, die Ausgaben den Einnahmen unterzuordnen und, wenn irgend möglich, den gegenwärtigen Verbrauch unter dem Niveau der Einnahmen zu halten, so daß die Dfferenz als Ersparnis in der Hoffnung auf erhöhte zukünftige Einnahmen investiert werden kann. In diesem Falle hängt die Sicherung der erreichten Familienposition und noch weit mehr der gesellschaftliche Erfolg, der Erwerb eines höheren Status und Prestiges davon ab, daß der Einzelne in seiner Einnahmen-Ausgaben-Strategie auf lange Sicht hin seine kurzfristigen Verbrauchsneigungen ohne allzu große Abweichungen dem Ethos des Sparens für künftigen Gewinn (saving-for-future-profit ethos) unterordnet.

Ballett in den Tuilerien, Paris 1573,
 zu Ehren der Polnischen Gesandten
Von diesem berufsbürgerlichen Verhaltenskanon unterscheidet sich der des Prestigeverbrauchs. In Gesellschaften, in denen dieses andere Ethos, das des Statuskonsums (statusconsumption ethos) vorherrscht, hängt allein schon die bloße Sicherung der vorhandenen gesellschaftlichen Position einer Familie und noch weit mehr die Erhöhung des gesellschaftlichen Ansehens, der gesellschaftliche Erfolg, davon ab, daß man die Kosten seiner Haushaltung, seinen Verbrauch, seine Ausgaben überhaupt, in erster Linie von dem gesellschaftlichen Rang, von dem Status oder Prestige, das man besitzt oder anstrebt, abhängig macht. Jemand der nicht seinem Range gemäß auftreten kann, verliert den Respekt seiner Gesellschaft. Er bleibt in dem ständigen Wettrennen um Status- und Prestigechancen hinter den Konkurrenten zurück und läuft Gefahr, ruiniert beiseite stehen und aus dem Verkehrskreis seiner Rang- und Statusgruppe ausscheiden zu müssen. Diese Verpflichtung zu Ausgaben entsprechend seinem Rang, verlangt eine Erziehung zur Handhabung des Geldes, die von der berufsbürgerlichen verschieden ist. Einen paradigmatischen Ausdruck dieses sozialen Ethos’ findet man in einer von Taine berichteten Handlung des Herzogs von Richelieu: Er gibt seinem Sohn einen Beutel mit Geld, damit er lernt, es wie ein Grandseigneur auszugeben, und als der junge Mann das Geld wieder zurückbringt, wirft der Vater den Beutel vor den Augen des Sohnes zum Fenster hinaus. Das ist eine Sozialisierung im Sinne einer gesellschaftlichen Tradition, die dem Einzelnen einprägt, daß sein Rang ihm die Verpflichtung zur Großzügigkeit auferlegt. Im Munde höfisch-aristokratischer Menschen hat der Ausdruck »économie« im Sinne der Unterordnung von Ausgaben unter die Einnahmen und der planmäßigen Einschränkung des Verbrauchs um des Sparens willen bis spät ins achtzehnte Jahrhundert und gelegentlich auch noch über die Revolution hinaus einen etwas verächtlichen Beigeschmack. Es ist ein Symbol für die Tugend der kleinen Leute. Veblen, wie man sieht, wird bei seiner Untersuchung des »Prestige-Konsums« noch in hohem Maße durch den unkritischen Gebrauch bürgerlicher Werthaltungen als Maßstab für das Wirtschaftsverhalten von anderen Gesellschaften geblendet. Er verstellt sich damit den Weg zu einer soziologischen Analyse des Prestigekonsums. Er sieht nicht klar die sozialen Zwänge dahinter. […]

Ballett am Hof von Schweden, 17. Jahrhundert
3) Montesquieu hat eines der frühesten soziologischen Modelle, das es in der europäischen Entwicklung gibt, entworfen, um die Regelmäßigkeit, mit der sich in seinem Beobachtungsfelde Adelsfamilien ruinieren, zu erklären. Er stellt diesen Abstieg von Familien des Schwertadels als Phase in der gesellschaftlichen Zirkulation von Familien innerhalb der Stände dar. Er geht dabei von zwei Voraussetzungen aus, die für den Aufbau seiner Gesellschaft, ebenso wie für seine eigene Standeszugehörigkeit, bezeichnend sind. Er geht davon aus, daß die gesetzlichen wie alle anderen Barrieren, die die verschiedenen sozialen Eliten seiner Gesellschaft voneinander trennen, unangetastet bleiben. Seiner Meinung können und sollen die Unterschiede zwischen den führenden ständischen Kadern der französischen Gesellschaft, wie zwischen den Ständen überhaupt, nicht verwischt werden. Gleichzeitig aber sieht er, daß es innerhalb dieses festen Gerüsts der Stände und ihrer Eliten eine ständige Zirkulation von Familien gibt, die auf- und die absteigen.

Eine der wichtigsten Schranken, die die beiden Adelsformationen der französischen Gesellschaft, die des Schwertes und die der Robe, von der Masse des Volkes abtrennt, ist das gesetzliche Verbot, sich an irgendwelchen kommerziellen Unternehmungen zu beteiligen. Auf diese Weise sein Einkommen zu vermehren, gilt als unehrenhaft und hat den Verlust des Titels und des Ranges zur Folge. Montesquieu hält dieses Verbot für eine nützliche, in der Tat für eine ganz unentbehrliche Einrichtung einer absoluten Monarchie. Jeder der Spitzengruppen‚ so argumentiert er, fällt bei dieser Anordnung eine gesellschaftliche Belohnung eigener Art zu, die von der jeder anderen verschieden ist. Gerade das gibt ihnen den Ansporn:

»Die Belohnung der Steuerpächter sind die Reichtümer, und Reichtümer machen sich selbst belohnt. Ruhm und Ehre sind die Belohnung desjenigen Adels, der nichts anderes kennt, nichts anderes sieht, nichts anderes fühlt als Ruhm und Ehre. Respekt und Achtung sind die Belohnung der hohen Gerichts- und Verwaltungsbeamten, die nichts anderes auf ihrem Wege finden, als Arbeit nach der Arbeit und die Tag und Nacht über die Wohlfahrt des Reiches wachen.«

Entrée Des Espagnolz Joueurs de guitaire. Zeichnung Daniel Rabel
Man sieht aus solchen Bemerkungen ziemlich deutlich, wo Montesquieu selbst steht. Er gehört der letztgenannten Gruppe, der Robe, an. Die Rivalität zwischen diesem Amtsadel und dem Schwertadel kommt in seiner Darstellung deutlich zum Ausdruck. Er kann es sich selten versagen, von dem Schwertadel zu sprechen, ohne einige ironische Bemerkungen einzuflechten. Aber verglichen mit anderen Bemerkungen, die Vertreter der zwei rivalisierenden Adelsformationen übereinander machen, sind die Montesquieus noch maßvoll und mild. Wenige Menschen haben so klar wie er gesehen, daß die Regelmäßigkeit, mit der sich Familien des Schwertadels ruinieren, nicht einfach Ausdruck persönlicher Schwächen, sondern eine Folge ihrer gesellschaftlichen Lage und besonders ihres gesellschaftlichen Wertsystems ist.

Er bemerkt zunächst, wie unrichtig es wäre, die Bestimmung aufzuheben, die es Adligen verbietet, sich durch Handel zu bereichern. Täte man das, so würde man Kaufleuten den Hauptantrieb nehmen, den sie haben, um recht viel Geld zu verdienen: Je tüchtiger sie als Kaufleute sind, um so größer ist ihre Chance, den Kaufmannsstand verlassen und sich einen Adelstitel kaufen zu können. Wenn sie mit Hilfe ihrer Reichtümer zunächst in den Amtsadel aufgestiegen sind, dann kann die Familie etwas später vielleicht auch noch in den Schwertadel aufsteigen. Wenn das geschieht, dann sind sie recht bald gezwungen, ihr Kapital durch standesgemäße Ausgaben wieder zu verringern. Denn der Schwertadel, sagt Montesquieu mit leicht ironischem Unterton, das sind die Leute, die immer daran denken, wie sie ein Vermögen machen können, die aber zugleich auch denken, es sei eine Schande, sein Vermögen zu vermehren, ohne sogleich damit zu beginnen, es zu verschleudern. Das ist derjenige Teil der Nation, der das Grundkapital seines Besitzes verbraucht, um der Nation zu dienen. Wenn sich eine Familie auf diese Weise ruiniert hat, macht sie einer andern Platz, die ebenfalls bald damit beginnt, ihr Kapital aufzuzehren. […]

4) Man kann diese Kombination von Starrheit und Beweglichkeit der sozialen Schichtung nicht verstehen, ohne sich daran zu erinnern, daß sie in der Form, in der sie Montesquieu beobachtet, ein integrales Bestandstück der absolutistischen Herrschaftsapparatur Frankreichs bildet. Ludwig XIV. hatte in seiner Jugend am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wie gefährlich es für die Position des Königs sein kann, wenn ständische Eliten, vor allem die des Schwertadels und die der hohen Gerichts- und Verwaltungsbeamten, ihre Abneigung gegeneinander überwinden und gemeinsame Sache gegen den König machen. Vielleicht hatte er auch von der Erfahrung der englischen Könige gelernt, die die Bedrohung und Schwächung ihrer Position in hohem Maße dem vereinten Widerstand von Adels- und Bürgergruppen verdankten.

Ballet des Fées des forêts de Saint-Germain 'Entrée des Eperlucattes',
 Zeichnung Daniel Rabel, Musée du Louvre
Jedenfalls gehörte die Stärkung und Festigung der vorhandenen Unterschiede, der Gegensätze und Rivalitäten zwischen den Ständen, ganz besonders zwischen den ständischen Eliten und auch innerhalb ihrer zwischen den verschiedenen Rängen und Stufen ihrer Status- und Prestigehierarchie, zu den festen Maximen seiner Herrschaftsstrategie. Es war ganz offenbar, wie noch genauer zu zeigen sein wird, daß diese Gegensätze und Eifersüchteleien zwischen den mächtigsten Elitegruppen seines Reiches zu den Grundbedingungen für die Machtfülle der Könige gehörten, die in Begriffen, wie »unumschränkt« oder »absolutistisch« ihren Ausdruck findet.

Die lange Herrschaft Ludwigs XIV. hat viel dazu beigetragen, daß die spezifische Härte und Schärfe, die ständische Unterscheidungen und andere soziale Rangunterschiede durch ihre ständige Nutzung als Herrschaftsinstrumente des Königs erwarben, auch gedanklich und gefühlsmäßig in den beteiligten Gruppen selbst als ein wesentlicher Charakterzug ihrer eigenen Überzeugungen zu spüren ist. Dank dieser Verwurzelung der scharfen Rang-‚ Status- und Prestigekonkurrenz in den Überzeugungen, in den Werthaltungen und Idealen der Beherrschten reproduzieren sich die derart erhöhten und verhärteten Spannungen und Eifersüchteleien zwischen den verschiedenen Ständen und Rängen, und besonders zwischen den rivalisierenden Spitzengruppen dieser hierarchisch gegliederten Gesellschaft, wie eine Maschine im Leerlauf immer von neuem, selbst wenn das bewußte Spiel auf dieser Spannungsbalance und deren systematische Steuerung durch den König nach dem Tode Ludwigs XIV. einer weit nachlässigeren und weniger konsequenten Handhabung Platz macht. Wie in anderen Fällen, so trägt auch hier die Gewöhnung ganzer Gruppen von Menschen an Haltungen, die zunächst durch deren Abhängigkeit von anderen, deren Beherrschung durch andere, erzwungen oder jedenfalls verstärkt wurden, erheblich zur Routinisierung von Spannungen und Konflikten bei.

The Royal Ballet of the Dowager of Bilbao's Grand Ball,
Zeichnung Daniel Rabel, 1626, Musée du Louvre
Was hier bei der Untersuchung der Unterscheidungen und Konflikte zwischen ständischen Eliten zutage tritt, gilt nicht weniger für die gesellschaftliche Mobilität, die trotz aller Rivalitäten und Rangunterschiede von einer ständischen Schicht zur andern führt. Auch sie, auch der Aufstieg und Abstieg von Familien innerhalb der ständisch geschichteten Gesellschaft, ist zunächst gesellschaftlich vorgegeben; das heißt, sie sind nicht von irgendeinem König oder von irgendeinem anderen Individuum geschaffen. Wie die ständische Anordnung der sozialen Schichtung selbst, so sind auch Aufstieg und Abstieg von Familien zunächst Erscheinungsformen der immanenten Dynamik dieser Figuration. Aber wenn sich das Machtgleichgewicht dieser Gesamtfiguration von Menschen nach einer Reihe von Kämpfen zwischen Vertretern der Stände und der Könige zugunsten der letzteren verschiebt, wie das in Frankreich nach vielen Schwankungen schließlich im 17. Jahrhundert der Fall ist, dann fällt dem Inhaber der Königsposition die Chance zu, die soziale Mobilität entsprechend den Vorstellungen, die er von den Interessen der Königsposition oder ganz einfach von seinen eigenen Interessen und Neigungen hat, zu steuern. Ludwig XIV. tut das mit großer Bewußtheit. Nach seinem Tode wird die Ausnutzung solcher Chancen zu einer Art von Routine; am Ende ist sie wieder etwas mehr dem internen Machtkampf höfischer und anderer Eliteformationen selbst ausgesetzt.

Solange der Machtspielraum der Königsposition groß genug bleibt, haben es jedenfalls die Könige und deren Repräsentanten in der Hand, durch Verleihung von Adelstiteln an reiche bürgerliche Familien den sozialen Aufstieg von Familien im eigenen Interesse und nach eigenem Ermessen zu steuern. Da auch sie in hohem Maße an das Ethos des Statusverbrauchs‚ an die Verpflichtung, ihren Rang als oberstes Maß ihrer Ausgaben zu betrachten, gebunden sind, nutzen sie das Vorrecht des Adelns häufig als standesgemäße Einkommensquelle.

Genau wie im Rahmen einer solchen Figuration der soziale Aufstieg von der Königsposition her kontrolliert und gesteuert werden kann, so kann auch der soziale Abstieg in gewissen Grenzen von dieser Position her kontrolliert und gesteuert werden. Der König kann die Verarmung oder den Ruin einer Adelsfamilie durch seine persönliche Gunst mildern oder verhindern. Er kann der Familie durch die Verleihung eines Hofamtes, eines militärischen oder diplomatischen Postens zu Hilfe kommen. Er kann ihnen eine der Pfründen, über die er verfügt, zugänglich machen. Er kann ihnen einfach ein Geldgeschenk, etwa in der Form einer Pension, geben.

The Royal Ballet of the Dowager of Bilbao's Grand Ball,
 Zeichnung Daniel Rabel, 1626, Musée du Louvre
Die Gunst des Königs gehört dementsprechend zu den wichtigsten Chancen, die Familien des Schwertadels haben, um dem Teufelszirkel des Repräsentationszwanges auf Kosten ihres Kapitals Einhalt zu gebieten. Es ist verständlich, daß man sich diese Chance nicht gern verstellt, dadurch daß man sich in einer dem König nicht genehmen Weise verhält. Der König bringt seine Untertanen dazu, wie Montesquieu einmal bemerkt, zu denken »comme il veut«. Wenn man das Abhängigkeitsgeflecht untersucht, in das hier König und Untertanen verstrickt sind, dann ist es nicht schwer zu verstehen, wie das möglich ist. […]

8) Man lernt die gesellschaftlichen Zusammenhänge des eigenen Lebens besser verstehen, wenn man sich in die des Lebens von Menschen anderer Gesellschaften vertieft. Die Untersuchung der höfischen Gesellschaft bringt klarer zutage, als das gewöhnlich der Fall ist, wenn man nur an die eigene Gesellschaft denkt, daß die eigene Werthaltung ein Glied in der Kette der Interdependenzzwänge bildet, denen man ausgesetzt ist. Philosophische und soziologische Theorien behandeln oft das, was man »Werte« oder »Werthaltungen« nennt, als etwas nicht weiter Erklärbares, etwas »Letztliches« und »Absolutes«. Menschen, so scheint es dann, entscheiden in völliger Freiheit, welche Werte, welche Werthaltungen sie zu den ihren machen wollen. Man fragt so wenig, woher die Werte kommen, die Menschen zu den ihren machen können, wie Kinder fragen, woher der Weihnachtsmann seine Geschenke nimmt oder der Storch die Kinder. Auch die Einschränkungen, auch die Zwänge, denen man durch die Werte, denen man anhängt, durch die eigenen Werthaltungen‚ ausgesetzt ist, übersieht man leicht.

Was hier über die höfische Gesellschaft gesagt wurde, kann den Zugang zum Verständnis der Zusammenhänge von Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen und Werthaltungen erleichtern. Wenn man in einer Gesellschaft aufwächst, in der der Besitz eines Adelstitels höher rangiert als der Besitz erworbener Reichtümer, und in der die Zugehörigkeit zum Hofe des Königs oder gar das Privileg des Zutritts zur Person des Königs — ent- sprechend der existierenden Machtstruktur — als Lebenschance in der Skala der gesellschaftlichen Werte außerordentlich hoch rangieren, dann ist es schwer, sich dem Zwang zu entziehen, die persönlichen Zielsetzungen im Sinne dieser gesellschaftlichen Wertsetzungen und Normen auszurichten und sich an dem Konkurrenzkampf um solche Chancen zu beteiligen, sofern die soziale Position der eigenen Familie und die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten die Möglichkeit dazu gibt. Was man als Zielsetzung der Mühe des langfristigen Strebens für wert hält, ist niemals allein durch den Zuwachs an Genugtuung und an Wert bestimmt, den jeder Fortschritt in der Richtung auf das Ziel einem Menschen in den eigenen Augen gibt, sondern auch durch die Erwartung einer Bestätigung des eigenen Wertes oder eines Zuwachses an Achtung und Wert in den Augen anderer. […]

La Princesse de Navarre, Comédie-ballet von Voltaire und Rameau,
Nicolas Cochin, 1745
Viele — wenn auch durchaus nicht alle — Lebenschancen, um deren Besitz sich Menschen der höfischen Gesellschaft oft mit dem Aufwand ihres ganzen Lebens bemühten, haben inzwischen Glanz und Bedeutung verloren. Wie konnten sich Menschen nur um solcher Nichtigkeiten willen erregen, so mag man fragen, oder gar ihr ganzes Leben auf solche sinnleeren Ziele abstellen? Aber obwohl der Glanz vieler hoher Werte mit der Machtstruktur, die ihnen Bedeutung gab, verblaßt ist, die Situation der Menschen in dieser Gesellschaft selbst und mit ihr auch das Verständnis für die Interdependenz der Wertungen, die in dem Einzelnen das Verlangen nach solchen gesellschaftlich für wert gehaltenen Zielen verankert, kann in der soziologischen Untersuchung auch für Menschen einer anderen Gesellschaft klar und lebendig wieder auferstehen. Man braucht die Werthaltungen höfischer Menschen nicht zu teilen, um zu verstehen, daß sie zu den Zwängen ihres gesellschaftlichen Daseins gehörten und daß es für die meisten der zugehörigen Menschen schwer, wenn nicht unmöglich war, aus der Konkurrenz um die gesellschaftlich für wert gehaltenen Chancen herauszutreten. Es war in der höfischen Gesellschaft für einen Herzog sinnvoll, ein Herzog, für einen Grafen, ein Graf, und für jeden höfisch Privilegierten‚ ein Privilegierter zu sein. Jede Bedrohung der privilegierten Stellung eines einzelnen Hauses wie des Systems der abgestuften Privilegien überhaupt bedeutete eine Bedrohung dessen, was Menschen in dieser Gesellschaft in ihren eigenen Augen und in denen der Menschen, mit denen sie verkehrten und an deren Meinung ihnen lag, Wert, Bedeutung und Sinn gab. Jeder Verlust bedeutete eine Sinnentleerung. Deswegen mußte jeder dieser Menschen auch alle Repräsentationspflichten erfüllen, die mit seiner Position, mit seinen Privilegien verbunden waren.

Quelle: Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt / Main, Suhrkamp, 9. Aufl. 1999. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Bd. 423). ISBN 3-518-28023-6. Zitiert wurden Auszüge aus Kapitel IV. "Zur Eigenart der höfisch-aristokratischen Verflechtung" (Seiten 102-117).


Musik aus alter und neuer Zeit, aus der Kammermusikkammer:

Musik von Henry Cowell (1897-1965) | "Wer Laura war, können wir allein von Petrarca selber erfahren" (Hugo Friedrich)

Die Szenische Kantate «Carmina Burana» von Carl Orff | "Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken, und einige zuwenige kauen und verdauen" (Francis Bacon)


Der Begriff Frottola bezeichnet ein Konglomerat willkürlicher Gedanken oder auch eine Flunkerei | Das Fest des Fleisches (Rubens und Helene Fourment)

T.S. Eliot: The Waste Land and Other Poems / Das Öde Land und andere Gedichte | Die unerträgliche Leichtigkeit des Zeichnens (Die Kunst Paul Floras)


Susie Ibarra (* 1970) ist eine US-amerikanische Perkussionistin, Jazzschlagzeugerin und Komponistin | Einst, so schreibt Plinius, gelang dem Maler Protogenes durch den Wurf mit einem Schwamm die ungeahnt wirklichkeitsgetreue Abbildung eines Hundes

Songs of Carl Michael Bellmann (Martin Best): Ich bin da, und ich will leben, / Daß ich meine Zeit genieß, / Wie's der alte Adam eben / Tat im Paradies.



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