24. Juni 2019

La Frottola - eine fast vergessene Kunstgattung des 15. und 16. Jh.

Unter der Frottola versteht man eine vierstimmige, schlichte Liedform, die als lyrisch-musikalische Gattung etwa um 1450 bis 1530 an den Höfen von Mantua und Ferrara entwickelt wurde und sich später nach Venedig, Padua und in andere Städte ausbreitete. Die mantuanische Markgräfin Isabella d'Este war eine große Liebhaberin und prominente Förderin dieser Kunst. Musikhistorisch ist die Frottola wohl insbesondere deshalb bedeutsam, weil sie die allererste musikalische Gattung genuin italienischer Prägung gebildet haben dürfte.

Der Begriff Frottola ist wohl vom lateinischen „Frocta“ abgeleitet und bezeichnet ein Konglomerat willkürlicher Gedanken oder auch eine Flunkerei. Es handelt sich um volksliedähnliche Vokalkompositionen für 1 bis 2 Sänger mit oder ohne (kleine) Instrumentalbegleitung zu amourösen Texten, die teils der damaligen Trivialdichtung entstammten, teils aber auch die schönste Liebeslyrik von Petrarca, Ariosto, Dante, Tasso, Boccaccio und anderen vertonte. Gelegentlich wurden die Frottole bei höfischen Konzerten auch mit szenischen Darstellungen verbunden. Durch den Aufschwung des neu entstandenen Notendrucks fanden die u.a. in Venedig von Ottaviano Petrucci herausgegebenen Frottole-Sammlungen erhebliche Verbreitung in ganz Oberitalien, bevor sich bereits Mitte des 16. Jh. der Zeitgeschmack anderen Formen zuwandte.

Die berühmten Komponisten der Hochrenaissane nutzten die Form der Frottola kaum. Viele Frottole stammen von heute wenig bekannten Sänger-Lautenisten wie Serafino dell'Aquila, Marchetto Cara und Bartolomeo Tromboncino, doch wurde der Stil später von vielen anderen Komponisten, unter anderem von Clément Janequin und Orlando di Lasso in ihren Chansons und Villanellen, nachgeahmt. Die Weiterentwicklung der Frottola ist schließlich das im 16. Jh. entstandene Madrigal.

Als 1504 in Venedig das erste von elf Libri di Frottole des Musikverlegers Ottaviano Petrucci im Druck erschien, begann der Boom einer Musik, die mit ihrer Poesie, ihrem Witz und ihrer Leichtigkeit die italienische Gesellschaft begeisterte. Auf der Grundlage literarischer Traditionen, die ins 14. Jahrhundert zurückreichten, bot die Frottola, oftmals als mehrstimmiger Gesang zur Laute, eine raffinierte Unterhaltung, die am Mantuaner Hof der Isabella d’Este Gonzaga und an konkurrierenden Höfen in Norditalien ebenso beliebt werden sollte wie in römischen Kardinalspalästen und Kurtisanenhäusern. Die musikalische Sprache der Frottola bildete zu der Zeit florierende Diskurse wie den Petrarkismus und Diskussionen über die Liebe ab – oft in ironischer Brechung. Als erste eigenständige musikalische Gattung im Italienischen, dem Volgare, lieferte die Frottola zudem einen wichtigen Beitrag zur questione della lingua, den Bemühungen um die Aufwertung der italienischen Sprache.

Später galt die Frottola aufgrund ihrer Einfachheit und der Nähe zur volkstümlichen Musik, dem ewig gleichen Sujet "Amore" und der nicht immer qualitätvollen Dichtung als minderwertigere und antiquierte Kunstform im vergleich zum franco-flämischen Chanson oder dem Madrigal. Beide genannten Gattungen dürften jedoch auf der Frottola basieren bzw. stark von dieser beeinflusst sein. Dass die Frottola in Vergessenheit geriet, ist sehr zu bedauern. Dem heutigen Hörer wird die schlichte, liedhafte Melodik und das Archaische in dieser Musik vielleicht wieder gefallen, insbesondere dann, wenn Texte der großen italienischen Dichterfürsten vertont sind.

Quelle: Général Lavine im Capriccio Kultur-Forum, ergänzt durch eine Buchbesprechung

Link-Tipp:
Prof. Dr. Sabine Meine forscht über die Frottola innerhalb der Musica cortigiana. 

TRACKLIST


FROTTOLE

Popular Songs of Renaissance Italy

Anonymous:
(01) La vida de Culin (1-6, 8-9. 11)                             2:25
Text: Anonymous - Source: Ms Montecassino 871

Jacopo da Fogliano (Giacomo Fogliano) (1468-1548):
(02) L’amor, dona ch’io te porto (1-9)                           3:10
Text‘ Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Libro VII, Venezia 1507

Adrian Willaert (1490-1562):
(03) Vecchie letrose (1-10, 12)                                  2:15
Text: Anonymous - Source: A. Gardano, Canzone villanesche alla napolitana, Venezia 1545

Michele Pesenti (c. 1600-´c. 1648) (attr):
(04) Che faralla, che diralla (1-4. 6-10)                        3:40
Text: Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Libro XI, Fossombrone 1514

Anonymous:
(05) Occhi miei, al pianger nati (1-7, 9-10)                     4:42
Text: Anonymous - Source: O, Petrucci, Frottole Libio II. Venezia 1505

Joan Antonio Dalza (? - after 1508):
(06) Poi che volse la mia stella (5)                             1:36
Source: O. Petrucci. Intabulatura de laino. Libro IV, Venezia 1508

Sebastiano Festa (1490-1524):
(07) L’ultimo di di maggio (1-4)                                 2:01
Text: Anonymous - Source: Codice Basevi Ms 2440

Bartolomeo Tromboncino (1470-1535):
(08) Zephiro spira e ’l bel tempo rimena (1, 3, 5-7, 9-10)       4:49
Text: Alter Zefiro torna by Francesco Petrarc
Sources: F. Bossinensis, Tenori e contrabbassi intabulati col sopran in 
canto figurato per cantar e sonar col lauto, Venezia 1509

Anonymous:
(09) Alle stamegne, donne (1-9, 11)                              2:28
Text: Anonymous - Source: Ms. Montecassino 871

Bartolomeo Tromboncino:
(10) Su, su, leva, alza le ciglia (1-7. 9-10)                    5:03
Text: Anonymous - Source: A Antico, Prima libro di Frottole intabulate da sonar organi, Roma 1517

Anonymous:
(11) Ahimè sospiri (1, 5, 8)                                     3:08
Text: Anonymous - Source: Cancionero El Escorial IV.A.24  

Marchetto Cara (1470-1525):
(12) Per dolor me bagno el viso (1-7, 9)                         5:56
Text: Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Libro XI. Fossombrone 1514

Vincenzo Capirola (1474-after 1548):
(13) Ricercar Ottavo (5)                                         1:47
Source: Compositioni di Messer Vincenzo Capirola, 1517 ca.

Francesco Patavino (1478-1556):
(14) Un cavalier di Spagna (1-4)                                 1:25
Text: Anonymous - Source: Libro primo de la Croce, Pasotti & Donco, Roma 1526

Bartolomeo Tromboncino:
(15) Virgine bella (1. 6-7. 9-10)                                4:02
Text: Francesco Petrarca - Source: A. Antico, Canzoni nove, Roma 1510

Marchetto Cara:
(16) Non è tempo d'aspettare (3, 5-7. 9-10)                      3:25
Text: Anonymous - Sources: F. Bossinensis, Tenori e contrabbassi intabulati 
col sopran in canto figurato per cantar e sonar col lauto, Venezia 1509

Giovan Battista Zesso (Ioannes Baptista Gesso) (15th-16th century):
(17) D'un bel matin d'amore (1-10)                               2:13
Text: Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Lfbro VII, Venezia 1507

Rossino Mantovano (Rossino di Mantova) (fl. 1505-1511):
(18) Lirum bililirum (1-7. 9-10)                                 6:01
Text: Anonymous - Source: O. Petrucci, Frottole Libro II, Venezia 1505

                                                  Playing Time: 60:06

RING AROUND QUARTET & CONSORT

1 = Vera Marenco, Soprano            7 = Marcello Serafini, Tenor Viol
2 = Manuela Litro, Alto              8 = Marcello Serafini, Renaissance Guitar
3 = Umberto Bartolini. Tenor         9 = Maria Notarianni, Bass Viol
4 = Alberto Longhi, Baritone        10 = Atsufumi Ujiie, Recorder ‘
5 = Giuliano Lucini, Lute           11 = Atsufumi Ujiie, Pipe and Tabor
6 = Aimone Gronchi, Viola d'arco    12 = Atsufumi Ujiie, Percussion

Recorded in Chiesa di San Lorenzo di Premanico, Genoa, Italy, 17th-19th October 2011
Producer: Associazione Musicaround  Engineer and Editor: Giacomo Papini
Cover: Detail of a fresco by Enrico Bernardi, Castello Bruzzo, Genoa.
(P)+(C) 2015 


Das Fest des Fleisches

Rubens und Helene Fourment

Peter Paul Rubens: Liebesgarten. Um 1638. Leinwand, 198 x 283 cm. Prado, Madrid.
Am 6. Dezember 1630 heiratete Rubens in Saint-Jacques zu Antwerpen Helene, die letzte Tochter unter den elf Kindern seines Freundes Daniel Fourment. Er war dreiundfünfzig und sie sechzehn Jahre alt. Diese Tollheit brachte seine Kunst auf ihre höchsten Gipfel, ein wundersames Fest des Fleisches entfaltete sich im Werk des Paladins der Monarchie und der Kirche.

Helene war eine entzückende, rosige und mollige Person, deren Rundungen unserem Graubart den Kopf verdrehten. Er fand in den Umarmungen jenes hellstrahlenden Körpers zum Jugendglanz zurück. Das war in irdischer Verkörperung die ideale Frau seiner Bilder und Träume, übrigens Isabella Brandt erstaunlich ähnlich. Sie schenkte Rubens fünf Kinder: Claire-Jeanne, getauft am 18. Januar 1632, François am 12. Juli 1635, Isabella-Helene am 5. Mai 1635, Pierre-Paul am 1. April 1639. Eine letzte Tochter, Constance-Albertine, empfing die Taufe am 5. Februar 1641, neun Monate nach dem Tode des Malers.

Da gab es nun eine neue Königin im Reiche jenes glücküberschütteten Mannes, jenes erlauchten Künstlers, jenes Höflings und Diplomaten, der in Paris, Madrid und London, nach Brüssel und Antwerpen, sich als einer der erlesensten Geister durchgesetzt hatte. In dem Hause an der Wapperstraat, das sie gut kannte, weil sie mit ihren Eltern dort schon oft empfangen worden war, richtete sich Helene ein, ein wenig verschüchtert, weil sie von nun an Herrin über all die schönen Dinge sein sollte, ein wenig verwirrt, weil sie eine Art Feenmärchen erleben durfte.

Rubens war unsterblich in sie verliebt. Er achtete nicht der bösen Antwerpener Zungen, die herzogen über die Gier des Wenschenfressers nach frischem Fleisch und darüber lästerten, daß Albert, Rubens ältester Sohn, gerade im Alter seiner Stiefmutter stand. Er wußte ganz genau, daß Helene so wenig wie Isabella sein Leben belasten würde. Weiterhin handelte er, wie es ihm gut schien, und lenkte sein Dasein, wie er es verstand, was er nicht hätte tun können, wenn er eine hochgestellte Dame, wie man ihm öfters vorgeschlagen hatte, oder eine reiche, etwas ältere und schon gereifte Großbürgerin genommen hätte.

Peter Paul Rubens: Rubens und seine zweite Frau im Garten. 1631,
 Holz, 98 x 131 cm. Alte Pinakothek, München.
In der Liebe hatte er seinem zärtlichen, sicherlich verwirrten, aber auch entzückten Weibchen alles beizubringen. Das waren, trotz unerwünschten Rheuma-Anfällen, köstliche Augenblicke, welche die lntimitäten des Anziehens und Schmückens verlängerten. Rubens war so glücklich über seine junge Frau und so stolz auf ihre Schönheit, daß er sie aller Welt zeigte. Ohne eine Spur von Scheu verheimlichte er niemandem die opulenten Früchte ihres bezaubernden Körpers. Vor aller Augen und jederzeit öffnete die Venus in der Wapperstraat sperrangelweit die Pforten ihres Zimmers und ihres Ankleide-Cabinets, an dessen Schwelle Rubens stand und zuschaute. „Sie ist seine Göttin, und er nötigt sie der Welt auf wie eine Göttin“ — schrieb Roger Avermaete. Welche Herausforderung an die Heuchler, die Verschämten, die Frömmler! Keiner aber wagte, angesichts der hochangesehenen Stellung des Künstlers etwas zu sagen, und sogar die Kirche schwieg. […]

Eine holdselige Sechzehnjährige stellte alles auf den Kopf. Mit ihrem frischen Gesichtchen, ihrem klaren Blick, ihren lieblichen Wangen, ihrem Kirschenmund und diesem Körper, für den mancher Mucker‚ der in die Kirche ging, weniger wegen des Gebetes im Schatten, als wegen der Selbstgeißelung im Lichte, sich um die ewige Seligkeit bringen würde, entfesselte sie einen Tornado, dessen Heftigkeit niemand vorausgeahnt haben würde. Vielleicht hat sie, ohne es zu wollen, die Tage ihres ältlichen Gatten verkürzt, diese schöne Helena von Antwerpen. Aber die zehn Jahre in Gemeinschaft mit ihr verwandelten sein Werk in ein sinnliches Heldenlied‚ worin sich sein Genie glorreich und unmittelbar in das Glück verwandelte.

Rubens fühlte das Bedürfnis, frei zu sein und es zu proklamieren. Kein Zwang, kein Vorurteil, kein Hindernis mehr. Er wollte von nun an nur noch das Leben genießen. Vor den Tizians im Madrider Schloß hatte er bereits begriffen, daß dieses Leben eitel Licht und Farbe, Jugend und Liebe war. Alles das trat nun zugleich in sein Dasein und in seine Bilder. Der Ernst seiner ersten Gefährtin Isabella beherrschte den barocken Ausdruck, das lyrische Durchdachtsein seiner großen dekorativen Werke; aber Helenes Sinnenfreude befreite Rubens von den Formeln, ließ die Fröhlichkeit aufjubeln und Licht verbreiten über die intimen oder die lauten Feste des physischen Lebens, das in mächtigen Rhythmen die Vereinigung der Wesen und der Dinge, des Menschen mit den Pulsen der Erde, mit den Verwandlungen der Jahreszeiten, mit den Reiterstücken der Helden, mit den Abenteuern der Götter umwogt. Wie er der Madonna Isabellas Gesicht verliehen hatte, so gab er ihr jetzt Helenes Antlitz, aber er lieh die Züge der jungen Frau ebenso der Venus, der Andromeda, der Diana, den lustigen Bäuerinnen oder den Nymphen der Bacchanale. Und die zärtlichen Schönen im Liebesgarten sind unermüdliche Spiegelungen der blendenden Angebeteten in galanter Positur, umringt von rundlichen Putti vor einem herrlichen Traumschloß eines unterjochten Liebhabers, den die Sinne unablässig kitzeln und der seine Trunkenheit und Sehnsucht in seine Bilder hineinbannt. […]

Peter Paul Rubens: Das Pelzchen. Um 1631. Holz,
 175 x 96 cm. Kunsthistorisches Museum, Wien.
Die Liebe gelang Rubens, aber er meisterte sie mit seinen Mitteln. Sein Stil wurde großzügiger und erfuhr wie neue Jugend die Heiterkeit der Farbe, wo strahlendes Gelb, seidiges Ultramarin, belebendes Karmin, schimmernder Lack an die Stelle der ockrigen, braunen, blauen und grünen Töne früherer Perioden traten. Nuancen, Übergänge und Halbtöne üben ihre Modulationen, die gebrannten erdigen Farben verschwinden, und in den Schatten singt die Farbe wie in den Helligkeiten. Weise verteiltes Licht breitet sich zärtlich aus, hier entschieden, dort lebhaft und leicht, genährt mit starkem Purpur und Rot, zur Beglaubigung köstlicher Lebensfreude, wie sie später die besten Erben des Malers, ein Fragonard, ein Delacroix, ein Renoir, ausstrahlten. Zinnobriger Schimmer der Morgenröte, triumphierende Helligkeit des Mittags oder des Abendscheins: Rubens betrachtete mehr denn je die Natur und ließ sich von ihr inspirieren. Bei sich zu Hause, in der Intimität seines Ateliers, erfaßte er die Reflexe auf Helenes schönem Körper. Er hüllte sein Werk in Sonne durch Verherrlichung der Liebe.

Schwierig ist die Datierung der Bildnisse seiner Frau, allein oder mit ihren Kindern, nackt, halbbekleidet oder geschmückt in prunkvollem Staat, im Brautkleid, in Hofkleidung, bedeckt mit Juwelen und in verschwenderischem Dekollete einen Busen zeigend, der von Jahr zu Jahr majestätischer wurde, ohne seine Festigkeit zu verlieren.

Eines Morgens entstieg sie nackt vor seinen Blicken dem Bad. Rubens sah sie jeden Tag so, aber an diesem Morgen warf er jäh seinen Pelz um sie und malte sie. Ihre ersten Geburten hatten sie schwerfällig gemacht, aber ihre Haut war immer noch perlmuttrig, wie aus Licht geschaffen, mit rötlichem Glanz. Das durch ein Band gehaltene blonde Haar umrahmte ein rosiges Antlitz mit verschmitztem Blick und etwas überraschter, sogar verstörter Miene, die sie immer auf ihren Bildnissen zeigt, wie wenn sie erstaunt wäre über ihren Mann, daß er sie gar so häufig darstellte.

Diese Ehrung der Schönheit in einem Bilde, das der Maler eifersüchtig in seinem Atelier bewahrte (heute im Wiener Kunsthistorischen Museum), ist kein Seelenporträt, da die Frauen bei Rubens, im Gegensatz zu denen bei Rembrandt, keine Seele haben. Keinerlei inwendiges Leben kommt da zum Vorschein, als handelte es sich um ein beliebiges Modell, und nichts drückt Charakter und Betragen Helenes aus. Deswegen wissen wir von ihr, die eine so vollkommene Inkarnation der bekannten Redensart „Sei hübsch und sei still“ ist, nichts, kennen nichts, außer den Reizen ihres Körpers, trotz der vielen Bilder, zu denen sie ihm Modell stand. Eine brave Gattin ohne Zweifel, eine gute Mutter und Hausfrau, besonders aber ein vortreffliches Modell, jederzeit bereit sich auszuziehen oder sich zu schmücken, je nach Laune des Meisters, bereit auch zu lieben.

Peter Paul Rubens: Helene Fourment und ihre Kinder.
 Um 1635. Holz, 113 x 82 cm. Louvre, Paris.
Rubens berühmtestes Bildnis der Helene Fourment ist im Louvre. Nach dem Alter der Kinder geschätzt, dürfte es 1636 oder 1637 gemalt worden sein. Skizzenhaft leicht und sicher von Meisterhand angelegt, erinnert es an die große barocke venezianische Schnellmalerei, von der er auch die perlmuttrigen Farben, das purpurgehöhte Blond und die warmen Zinnobertöne, das Rosa und das durchgoldete Grau hat. Gewiß hatte der Künstler die Absicht, diese Skizze zu vergrößern und deren Komposition zu vervollkommnen.

Die recht stark gewordene Helene betrachtet zärtlich und ängstlich zugleich ihren auf ihren Knien sitzenden Buben François. Ihre Tochter Claire-Jeanne, das älteste Kind des Paares, steht vor ihr, und rechts erscheint, kaum angedeutet, das Händchen eines kleinen, sich am Stuhl festhaltenden Kindes, offenbar die zuletzt, nämlich im Jahre 1635, geborene Isabella-Claire.

Ein Wunder der Malerei! Dieses unvollendete und nur stellenweise ausgeführte Werk, dessen Farbe monochrom, realistisch und poetisch zugleich ist, mutet wie die schönste Liebeserklärung an, die ein Maler je der von ihm Geliebten und durch sie der Jugend und dem Leben gemacht hat. […]

Die schönsten Bildnisse der Helene Fourment sind — vom bewundernswerten Trio im Louvre und dem Pelzchen in Wien abgesehen — diejenigen in München, das eine in prunkvoller Hochzeitsgewandung, das andere mit dem Söhnchen François auf den Knien. Ein herrliches, Baron Eduard von Rothschild gehöriges Brustbild zeigt sie in schwarzem Kleid und goldbordürter Mantille, die sie mit der Hand wegschiebt. Es ist sehr saftig gemalt. Nicht weniger schön ist das andere Brustbild in der Sammlung Robert Finck in Brüssel, wo man die Erregung des Künstlers im Pinselstrich spürt.

In der Wapperstraat stand der Honigmond zwischen Rubens und Helene im Zenit. Festlich und freigebig nach seiner Gewohnheit, sehnte sich der Maler danach, seine junge Frau dem gesamten Antwerpen vorzuführen. Zuvor hatte er sie nach Brüssel gebracht und der Erzherzogin Isabella vorgestellt, die hinter ihrem Clarissenschleier voller Freundlichkeit dieses Kind betrachtete, das der Gatte bei dieser Gelegenheit wie einen Reliquienschrein geschmückt hatte. Der Hof murmelte und lächelte, aber die Spötter hielten vor Rubens den Mund, und es gab nur Verneigungen und Gratulationen. Nach beendigter Audienz bestieg Antwerpens König seinen Wagen und kehrte nach Hause zurück. […]

Peter Paul Rubens: Helene Fourment, einen Handschuh
anziehend. Eichenholz, 96,5 x 68,6 cm.
Alte Pinakothek, München.
In seinem Hochzeitsjahr 1630 führte er, auf Bestellung Isabellas, für die Kirche Saint-Jacques-sur-Coudenberg in Brüssel ein großes Altarblatt aus, das heute im Kunsthistorischen Museum zu Wien ist: Die heilige Jungfrau bekleidet den heiligen Ildefonso mit dem Meßgewand. Es ist ein stark bewegtes Barockwerk, wo die Farbe in ihrer ganzen Vielfältigkeit auftönt und das Licht sich in einer breiten Kaskade aus Schnee und Gold mit Opal-‚ Karmin- und Granatgeriesel ausbreitet. Es blendet den Blick wie ein Zauberspiegel und vibriert wie ein von eines Meisters Stab gelenktes Orchester.

Auf die Seitenflügel malte er sehr geschmeichelte Bildnisse des erzherzoglichen Paars, das stolz an der allgemeinen Bewegung teilnimmt. Die plastische Fülle der Haltung, die mächtige Draperie ihrer Mäntel, die großen Gebärden erinnern an die Familiengruppe der Gonzaga, wie sie Rubens vor wohl dreißig Jahren auf einer berühmten Komposition zu Mantua gemalt hatte. Auf den rückwärtigen Flächen der Seitenflügel war eine Heilige Familie in einem Garten dargestellt. Sie wurden im Anfang des 18. Jahrhunderts der Schicht nach losgesägt und nebeneinandergefügt zu einem einzigen Bild, das nun unter dem Titel Heilige Familie unterm Apfelbaum auch im Wiener Kunsthistorischen Museum hängt.

Angelica und der Eremit gehört in die Jahre zwischen 1630 und 1635, als die vielen Porträts und Aktbilder von Helene entstanden. Von da stammt in dieser Komposition aus dem „Rasenden Roland“ die lockere Behandlung des Fleisches in lichtgebadeten Konturen, die hingewischt sind wie in wollüstigem Schauder bebend. Heute ebenfalls im Kunsthistorischen Museum, wurde dieses Bild mehrmals von Rubens-Nachfolgern interpretiert. Watteau selbst scheint sich seiner in „Jupiter und Antiobe“ (Louvre) erinnert zu haben, und das ganze 18. Jahrhundert von Boucher bis Fragonard in seiner Liebe zur Frau als dem Wesen der Lust entsinnt sich Angelicas wunderbarer Anatomie, deren Bewegung noch in Renoirs Badenden und Matisses Odalisken nachklingt.

„Des Weibes Leib, wie ist er lieblich . . .“ Und wiederum überläßt sich Rubens beim Malen von Madonnen, Heiligen und Märtyrern für Kirchen seinem sieghaften Heidentum, seiner lyrischen Sinnenlust, seinen fröhlichen und unwiderstehlichen Trieben, wo die sinnlichen Wallungen des alternden Mannes mit dem von Italien her übernommenen Geschmack an Allegorien und Legenden verschmelzen. Ebenfalls nach 1630 und vor 1635 malte er bekanntlich das Bad der Diana des Boymans-van-Beuningen-Museums in Rotterdam, die Anbetung der Könige des King’s College in Cambridge sowie Jungfrau und Heilige des Museums in Toledo, ursprünglich bestimmt für die Augustiner in Malines, „bezahlt 1631 mit Almosengeldern und durch die Körperschaft des Lohgerberhandwerks: 620 Gulden“. […]

Peter Paul Rubens: Helene Fourment mit ihrem Sohn.
Um 1635. Eichenholfz, 146 x 102 cm.
Alte Pinakothek, München.
Vor dem Bilde Die Jungfrau und Heilige sieht man, wie wach seine Dynamik allezeit ist, stets bereit, sich ebenso gewaltig wie früher in Rhythmen, Massen und schimmernden oder samtigen Farben, unfaßlich jugendlichen Fassungen des Ganzen auszudrücken. Die Heiligen auf der Leinwand in Toledo wiederholen, freilich ein wenig abgeschmackt, Helenes Bild, wie man es vom Liebesgarten her kennt.

Zu Rubens’ Zeiten hieß diese Komposition La Conversation à la mode. Sie zeigt eine galante Gesellschaft hübscher und junger, wenig spröder Frauen und fröhlicher Gesellen im herrlichen Dekor eines Schlosses, während sich tummelnde Amoretten zur idyllischen Stimmung beitragen.

Rubens’ diplomatisches Wirken war also mißlungen und zu Ende. Der Krieg lastete weiterhin auf dem verwüsteten und unterdrückten Flandern, das gerade seine Herrscherin verloren hatte und sich bange fragte, was nun folgen werde. Antwerpen erlebte endloses Unglück. Gleichwohl singt ein Rubens, den die Gicht mehr und mehr in die Zange nimmt, die Liebe jedoch verzücken macht. Er besingt das Leben, die Jugend und die Liebe, er zaubert Farbe auf alles, bedeckt es mit Purpur, Blau, Goldocker, Grün, blühenden Fleischtönen‚ frischen Gesichtern, blondem Haar, entzückender Verfeinerung und Verführung.

Welcher Reiz in diesen Zweisamkeiten‚ gefühlvollen Spaziergängen, solchem träumerischem Liebesgeflüster und Tanzen, wo jeder liebelt und an sein Glück glaubt, als sei er allein auf der Welt! Der barocke Schwall besänftigt sich, das Gewoge wird zu ruhigen Wellen, die weich dahinfließen. An der Schwelle des Alters schreibt ein Mann, dessen Leben immerdar erfüllt war, noch einmal eine gedrängte Seite voll Liebespoesie, eine Verwirklichung aller Lieblingsthemen, also Landschaften, Allegorien, Anekdoten, weibliche Schönheit, Bildnisse, alles zu Ehren Helenes.

Am 18. Dezember 1634 schrieb Rubens an Peiresc: „Im Augenblick stecke ich in Vorbereitungen zum Einzug des Kardinal-Infanten, der zu Ende des Monats stattfinden wird, und ich habe keine Zeit zu leben oder zu schreiben.“ Gleichwohl erwarb er immer noch weitere Kunstwerke, wie eine andere Stelle in diesem Briefe beweist, zu steter Verschönerung seines Antwerpener Hauses. Und er beschäftigte sich mit allerlei Angelegenheiten, besonders mit den Verdrießlichkeiten, die ihm ein deutscher Stecher in Paris bereitete, welcher Rubens’ Drucke ohne Ermächtigung kopierte. Der Mann war schon verurteilt worden, hatte aber Berufung eingelegt, und Rubens ersuchte nun Peiresc, seine „gerechte Sache dem Präsidenten oder den Räten seiner Freunde“ zu empfehlen. Er fügte noch hinzu: „Auf den Briefen, die Ew. Herrlichkeit an mich richten wird, würde es gut sein, wenn Sie an Stelle von ‚ständig bestallter Edelmann des Hauses‘ usw. ‚Sekretär Seiner Katholischen Majestät in Dero geheimem oder privatem Rate‘ setzen wollen.“ Eitelkeit? Eigentlich nicht, aber der Maler hat ungeachtet dessen, was er schrieb, nicht darauf verzichtet, eine politische Rolle zu spielen, und die Ernennung eines neuen Gouverneurs gibt allen seinen Hoffnungen Auftrieb.

Peter Paul Rubens: Die Heilige Jungfrau bekleidet den Heiligen Ildefonso mit dem Meßgewand. 1630.
Kunsthistorisches Museum, Wien.
Am 17. April 1635 vollzog der Kardinal-Infant von Österreich, Regent der spanischen Niederlande, seinen „freudvollen Einzug“ in Antwerpen. Die Stadt schwimmt in eitel Lust, wenigstens scheinbar, da ihre Einwohner ja ernstere Sorgen haben als diese Feier, zu der man alle Handwerkszünfte mobil gemacht hatte, um die Straßen und elf Triumphbogen zu schmücken, die der Zug passieren sollte. Allenthalben gab es nichts als Teppiche, Girlanden, Kirchenfahnen und Banner. Fünfzigtausend Gulden wurden den Schöffen zur Verfügung gestellt, aber sie gaben zwanzigtausend mehr aus und mußten neue Steuern erheben, was entsprechende, freilich vergebliche Proteststürme hervorrief. Rubens entwarf und leitete die gesamte architektonische und malerische Dekoration der mit Skulpturen und Malereien nach Art der Kirchenaltäre verzierten „Theater“, mächtiger monumentaler Aufbauten. Allein für seine Mühe strich er fünftausend Gulden ein.

Das „Pompa introitus Fernandini“ betitelte Erinnerungswerk von Gaspart Gevaert wurde mit Kupferstichen von Theodor van Thulden illustriert, die uns eine Vorstellung von diesem gigantischen Festprunk verschaffen. Nach seiner Gewohnheit überließ Rubens nichts dem bloßen Zufall, sah alles und griff überall ein. Trotz einem plötzlichen Gichtanfall lenkte er die Ausführung seiner Entwürfe mit unfehlbarer Autorität. Seine Mannschaft bestand aus den besten Antwerpener Künstlern: den Malern Jacob Jordaens, Theodor Rombouts, Jean de la Barre, Cornelis Schut, Erasmus Quellin und zwei Söhnen von Hendrik van Baelen; den Bildhauern van Mildert, Luc Fay d’Herbe und van den Eynde; Inschriften und Sinnsprüche lieferte Gevaert. […]

So lernten also die Antwerpener ihren Rubens als Arrangeur symbolischer Schaustücke kennen. Bisher hatte er nur für die Fürsten und den Klerus gearbeitet. Jetzt begab er sich gewissermaßen unters Volk als Regiemeister eines Schaugepränges im Freien unter Beteiligung vieler Tausende von Menschen. Dieses Zusammenwirken eines schöpferischen Genies und der Volksmenge blieb lange ein Einzelfall, bis dann der große französische Maler David Revolutionsfeste arrangierte.

Peter Paul Rubens: Bathseba am Springbrunnen.
 Um 1635. Holz, 175 x 126 cm. Gemäldegalerie, Dresden.
Der gichtkranke Rubens konnte freilich nicht an jener von ihm gestalteten Einzugsfeier teilnehmen, aber der Kardinal-Infant wußte genau über die Dienste Bescheid, welche der Maler der Sache Spaniens geleistet hatte, und stattete ihm einen Besuch ab. Diese Geste schmeichelte den Antwerpenern, obgleich sich manche fragten, ob ihr erlauchter Landsmann unterm Druck der Ereignisse nicht schon mehr spanisch als flämisch geworden sei.

Einige Wochen später erwarb der Künstler das prächtige Schloß Steen in Elewijt, nicht weit von Brüssel. Diese stattliche Residenz hat trotz mancher Umbauten und Restaurierungen ihr altes Gepräge behalten. Damals lag sie inmitten von Feldern und Wäldern, die ein Bach durchfloß. Hier malte Rubens zahlreiche Landschaften, die das Schloß so wiedergaben, wie es war, als er sich dort samt den Seinigen einrichtete und gleichzeitig den Titel eines „Seigneur du Steen“ erwarb, der dann später auf seinem Grabstein an erster Stelle zu lesen war.

Seit 1627 besaß er den „Hof van Orsele“, eine Liegenschaft im Norden Antwerpens, wohin er oft ging um Ruhe zu suchen. Das Wohnhaus auf einem Inselchen inmitten eines Teiches war recht malerisch. Der Steen ist völlig anders. Er ist eine Burg mit Türmchen und Hauptturm, wie sie dem Hofmaler und Sekretär von des spanischen Königs geheimem Conseil, von Philipp IV. und Karl I. zum Ritter geschlagen, zukommt, der eine schier fürstliche Stellung einnimmt und ein beträchtliches Vermögen besitzt. Von nun an ist er Großgrundbesitzer.

Wollte er bei seinen Landsleuten keinen Anstoß erregen, als in einer sehr bitteren Zeit ihrer Geschichte zur Stätte seines hochherrschaftlichen Lebensstils das offene Land bei Brüssel wählte, wo er auch näher beim Hofe wohnte, falls man seiner bedurfte? Rubens machte kein Aufhebens von seinem Ruhm und Reichtum, aber er wollte nach seinem Geschmack leben. Andererseits wurde seine Familie größer und brauchte Platz. Im Monat Mai, da er den Steen erwarb, gebar Helene ihr drittes Kind: Isabella-Helene. Einen Monat später wurde er vom Kardinal-Infanten zum Hofmaler ernannt.

Quelle: Pierre Cabanne: Rubens. Galerie Somogy, Paris, im Bertelsmann Lesering, Ohne Jahr (circa 1965). Der Auszug ist aus dem Kapitel „Das Fest des Fleisches und des Geistes“, Seiten 211 bis 239 (gekürzt)


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Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob.

Alfonso Ferrabosco (England, 16. Jahrhundert): Consort Music | Max Liebermann: Über Adolph Menzel.

Girolamo Frescobaldi: Fiori Musicali (Venedig, 1635) | Otto Pächt: Künstlerische Orginalität. Über Giotto di Bondone und seine Vorläufer.

G. B. Vitali: Varie Sonate alla Francese e all’Italiana a 6 Op.XI, 1684 | Wolfdietrich Schnurre: Kritik und Waffe. Zur Problematik der Kurzgeschichte.



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14. Juni 2019

Turina | Zilcher | Dvořák: Klaviertrios

Die vorliegende CD stellt Trios von Antonín Dvořák, Hermann Zilcher und Joaquín Turina zusammen. Diese drei Komponisten sind fest in der klassischen europäischen Kunstmusik verwurzelt, haben aber Elemente der Volksmusik ihres Kulturkreises in ihr Schaffen einbezogen. Die hier vorgestellten Kompositionen weichen von tradierten Formvorgaben wie der klassischen Viersätzigkeit ab, wobei die Elemente der volkstümlichen Lieder und Tänze zum Entstehen der neuen Formen beitragen. Der persönlich-emotionale Ausdruck steht im Vordergrund, während die Werke der klassischen Zeit, die Dvořák, Zilcher und auch Turina noch als Vorbilder dienten, eher eine allgemein ästhetische Aussage zu erreichen suchten. Die drei Komponisten liefern überzeugende Beispiele dafür, dass die Musik im Konzertsaal durch volkstümliche Traditionen um eine kraftvolle Farbe bereichert wurde.

Die musikalische Entwicklung von Joaquín Turina (Sevilla 1882 - Madrid 1949) wurde von seinem Vater, einem Maler italienischer Abstammung, früh gefördert. Nach einer Ausbildung als Pianist in Madrid ging er mit ersten Kompositionen im Gepäck 1905 nach Paris, wo er bei Vincent d’Indy studierte. Dort war der Einfluss von dessen Vorgänger César Franck noch sehr präsent, und Turina konnte sich auch den neuen Klängen eines Claude Debussy nicht verschließen. Durch die Freundschaft mit Manuel de Falla und Isaac Albéniz wurde sein Interesse an der spanischen Volksmusik bestärkt. 1914 war sein Erfolg in Paris und in Spanien gefestigt und Turina kehrte als geachteter Komponist nach Spanien zurück. 1930 wurde er als Professor ans Konservatorium nach Madrid berufen; später wurde er dessen Direktor. 1941 ernannte man ihn zum Leiter der Musikabteilung im spanischen Erziehungsministerium.

Zeit seines Lebens ließ sich Turina von literarischen und visuellen Ideen zu seinen Werken inspirieren. Die spanische Musik mit ihren charakteristischen Tänzen und Rhythmen (z.B. die Abwechslung vom 6/8 mit dem 3/4 Takt), die der Gitarre abgelauschten Elemente wie schnelle Repetitionen und markant gebrochene Akkorde oder auch die typisch andalusische Bassfortschreitung A G F E — dies sind nur ein paar Merkmale, die die Atmosphäre in Turinas Musik bestimmen. In den Satzstrukturen orientiert sich Turina jedoch bewusst an den mitteleuropäischen Traditionen der klassischen Musik - weit mehr als de Falla und Albéniz.

Joaquín Turina (1882-1949)
Die Verwendung volkstümlichen Materials in der spanischen Kunstmusik steht bereits in einer längeren Tradition. Domenico Scarlatti, seit 1729 in Spanien, übernahm die Lieder der Eselstreiber und Träger sowie die Rhythmen der Tänze der einfachen Leute in seine Werke. Doch die spanische Musik führte lange, auch aus politischen Gründen, ein Rand—Dasein in Europa. Erst durch die Verbindung des Volkstümlichen, typisch Spanischen mit den Formen der europäischen Kunstmusik, z.B. durch Felipe Pedrell (1841 - 1922) in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wurde die spanische Musik von führenden Kritikern in Europa überhaupt wahr- und ernstgenommen. Pedrell schuf eine Sammlung klassischer spanischer Musik mehrerer Jahrhunderte, die zeigte, dass die spanische Kunstmusik seit jeher auf dem Boden der Volksmusik stand. Insofern fand nur eine Neubewertung des spanischen Beitrags zur europäischen Musik statt, anders als in Deutschland und in den osteuropäischen Ländern, in denen man die Volksmusik für die Kunstmusik erst im großen Stil „entdeckte”.
Turina gewann mit seinem ersten Klaviertrio 1926 den nationalen spanischen Musikpreis. Das hier eingespielte dritte Klaviertrio „Círculo” entstand 1942. Die Musik dieses letzten Trios ist viel weniger durch vorgegebene formale Überlegungen geprägt als die des ersten, das sich explizit auf traditionelle Formen wie Prelude, Fuge, Variation oder Sonate bezieht. Die Form ergibt sich aus der Idee des „Círculo”, des Tageskreislaufs mit Sonnenaufgang, Mittag und Abenddämmerung. Zwei ruhige Sätze umrahmen einen lebhaft-tänzerischen Teil. Turina soll ein freundlicher Mensch gewesen sein, der Einfachheit und Schönheit liebte. Die Wirren der Zeit, Tragik oder depressive Leidenschaft spiegeln sich in seinem Werk nicht. „Círculo” - von Turina mit dem Untertitel „Fantasia“ bezeichnet - sind drei impressionistisch gefärbte Szenen voll spanischer Eleganz und glutvoller Schönheit.

Hermann Zilcher (1881-1948) stammt aus Frankfurt und zeigte als Kind eine ausgeprägte Doppelbegabung für Malerei und Musik. Mit seiner Ausbildung verlagerte sich der Akzent schließlich doch ganz auf die Musik und er wurde als Konzertpianist und später als Komponist in ganz Deutschland bekannt. Dies führte zu seiner Berufung als Professor zunächst an die Musikhochschule in München und von 1920 an als Direktor an das Musikkonservatorium in Würzburg wo er 1948 starb. Zilchers Musik steht ganz in der Nachfolge von Johannes Brahms, Richard Strauß und Max Reger. Sein großes Vorbild war Mozart. Er entwickelt auf dieser Basis eine Tonsprache, die Elemente des Volkstümlichen mit stark kontrapunktisch geprägter Themenbehandlung verbindet.

Hermann Zilcher (1881-1948)
Insbesondere der zweite Satz des Klaviertrios op. 56, die „Variationen über ein walisisches Volkslied”, zeigt deutlich die Verwurzelung von Zilchers musikalischem Ausdruck im Liedhaft-Volkstümlichen. Harmonisch gesehen entwickelt er einen individuellen Klang, der zwar impressionistisch anmutende Neuerungen einfließen lässt, im Grunde aber den Boden der Spätromantik nicht verlässt. Das ist wohl der Grund, dass Zilchers Werke in einer Zeit, da Schönberg, Hindemith, Schreker oder Busoni die musikalische Avantgarde bildeten, in Vergessenheit geraten sind. Zilcher setzte als Pädagoge wichtige Akzente für die Musikausbildung an den deutschen Hochschulen und war Gründer des heute noch bestehenden Mozart-Festes in Würzburg.

Das Klaviertrio in e-moll, op. 56, das aus der Zeit um 1927 stammt, ist für Zilchers eigene Konzertpraxis entstanden. Das Zilcher-Trio mit Adolf Schiering, Violine, Ernst Chanbley, Violoncello, und Zilcher selbst am Klavier gab zahlreiche Konzerte in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg. Zilcher war in dieser Zeit stark durch die Leitung des Würzburger Konservatoriums in Anspruch genommen, später kamen dann Schwierigkeiten und Behinderungen seiner Tätigkeit durch die Nationalsozialisten dazu. 1942 stellte er den Antrag, ihn seines Postens als Direktor zu entheben. Dazu kam es nicht, weil man auf einen so versierten und kundigen Mann nicht verzichten wollte. Nach dem Krieg wurde er von seiner Stelle als Leiter des Konservatoriums suspendiert. Verbittert über die Missachtung seiner jahrzehntelangen musikalischen Arbeit verbrachte er die letzten Jahre, in denen nur noch die Kantate „Du aber, Herr, bist unser Vater” und seine 5. Symphonie in c-moll entstanden, die in das Sterbelied „Mein Gott, ich bin bereit” mündet. Seine Musik ist heute mit einigen Liedern, dem Klarinettentrio op. 90, dem Klavierquintett op. 42 und dem Klaviertrio op. 56 in den Konzertsälen vertreten.

Das Dumky-Trio op. 90 von Antonín Dvořák (Böhmen 1841 - Prag 1904) ist das älteste Werk auf dieser CD. Es entstand 1890/91, zu einer Zeit, als Dvořák bereits von seiner bevorstehenden Berufung als Professor nach New York wusste. Gemeinsam mit dem Geiger Ferdinand Lachner und dem Cellisten Hanuš Wihan unternahm er 1892 eine „Abschiedstournee" durch seine Heimat, bei der das Dumky-Trio in ca. 40 Konzerten aufgeführt wurde.

Antonín Dvorák (1841-1904)
PHOTOGRAPH, signed and inscribed by the composer
 to Toscanini on the image ("Il Maestro Arturo Toscanini
 in amichevole ricordo, Antonín Dvorák 1903.25.2"),
bearing below the image an autograph quotation from
 the fugal statement of the theme in bb.13-16 of the Finale
 from his Symphonic Variations, Op.78,, 25 February 1903
„Dumka” (Plural „Dumky”) bezeichnet in den slawischen Sprachen als Verkleinerungsform von „Duma” (der Rat, der bedeutende Gedanke) einen Gedanken, dem man nachhängt - nichts Weltbewegendes, eher etwas Verträumtes. Manche Quellen bezeichnen mit „Dumka” einen Tanz ukrainischer Herkunft, manche ein slawisches Lied — jedenfalls hat sie meist eine melancholische Note. Bei Dvořák hat die Dumka eine zweiteilige Form mit einem langsam-melancholischen Teil und einem tänzerisch-schnellen Teil, der häufig in Dur steht. Bereits in früheren Werken wie dem Streichsextett op. 48, dem Streichquartett op. 51 oder dem Klavierquintett op. 81 verwendet er dieses formale Modell der Dumka. Weitere Elemente, die seinen Werken eine volkstümliche Färbung geben, sind typische Rhythmen (Polka, Furiant) und Melodiebildungen, die teilweise echten Liedern und Tänzen entnommen, meistens aber nachempfunden sind.

Das Dumky-Trio ist insofern bemerkenswert, da die Dumka das einzige, äußerst einfache formbildende Prinzip aller sechs Sätze des Werkes ist. Dvořák hatte in der Zeit um 1890 längst seine individuelle Klangsprache gefunden, so dass diese formale Einfachheit ihm genügend Raum für seinen melodiösen Einfallsreichtum ließ. Noch heute gehört das Dumky-Trio zu den beliebtesten Werken für Klaviertrio. Mit seinem bewussten Bekenntnis zur musikalischen Tradition seiner Heimat war Dvořák sicher eines der wichtigen Vorbilder, die in ganz Europa den verschiedenen Strömungen der Volksmusik und der nationalen Folklore zum Einzug in die Musik der Konzertsäle verhalfen.

Quelle: Ulrike Eickenbusch, im Booklet


TRACKLIST


TURINA - ZILCHER - DVORAK

Klaviertrios


JOAQUÍN TURINA (1882-1949)

Círculo Op. 91 Fantasía para piano, violín y violoncello (1942)

 (1) Amanecer                                          4:03
 (2) Mediodía                                          2:22
 (3) Crepúsculo                                        4:29


HERMANN ZILCHER (1881-1948)

Trio in E minor, Op. 56 for piano, violin and violoncello (1927)

 (4) Ruhig fließend beginnen                          11:51
 (5) Variationen über ein walisisches Vollslied       12:12
     Ruhig schreitend, einfach


ANTONÍN DVORÁK (1841-1904)

Trio in E minor, Op. 90 for piano, violin and violoncello "Dumky Trio"

 (6) Lento maestoso - Allegro quasi doppio movimento   4:39
 (7) Poco adagio - vivace non troppo                   7:08
 (8) Andante - vivace non troppo                       6:16
 (9) Andante moderato (quasi tempo di marcia)          5:26
(10) Allegro                                           4:26
(11) Lento maestoso - vivace, quasi doppio movimento   4:58


                                          Total Time: 67:54
Turina-Trio:
  Ursula Monter, piano
  Bertram Schade, violin
  Ulrike Eickenbusch, violoncello

Recorded July 1999, International Bach Academy, Stuttgart   
(P)+(C) 2001 


Ein Paradies fürs Auge

Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance

Abb. 1 Gartentapisserie aus Wetzlar, Südliche Niederlande, letztes Viertel 16. Jhdt.,
Wolle und Seide, 318 x 404,5 cm, Lemmers-Danforth-Sammlung, Wetzlar.
Gartenkunst und Tapisseriekunst: zwei künstlerische Ausdrucksformen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben scheinen. Mehrere Jahrhunderte lang aber standen beide Kunstgattungen in einer engen und intensiven Wechselbeziehung und waren im Genre der Gartentapisserie sogar miteinander „verwoben". Die Anfänge dieser Beziehung reichen zurück bis in die Renaissance, als sowohl Garten- als auch Tapisseriekunst eine bis dahin nicht gekannte Blüte erlebten und erstmals auch architektonische Gärten auf Tapisserien gezeigt wurden.

Die Darstellung einzelner Pflanzen hingegen ist mit der Geschichte der Textilkunst untrennbar verbunden. Schon vor Jahrtausenden entstanden im Orient Teppiche mit stilisierten Pflanzen, floralen Motiven und symbolischen Paradiesdarstellungen, die während der Kreuzzüge auch im Westen bekannt und beliebt wurden. Im Mittelalter entwickelte sich in Frankreich ein eigener Typus von Wandteppichen, die sogenannten „Tausendblumen- oder Millefleurs-Teppiche". Diesen Namen verdanken sie ihrem mit reichem Blumenschmuck überzogenen Grund, auf dem die dargestellten Figuren ohne jegliche Andeutung landschaftlicher oder architektonischer Umgebung von kleinen Blumen und Blüten eingeschlossen werden. In den folgenden Jahrhunderten bis hin zum Barock setzten sich Künstler immer wieder intensiv mit Naturdarstellungen auf Tapisserien auseinander.

In der Renaissance, einer Zeit des Umbruchs philosophischer und künstlerischer Traditionen, wurde der architektonische Garten zum Abbild eines völlig neuen Naturverständnisses. In künstlerischen Darstellungen wurde die vergängliche Schönheit des Gartens festgehalten, symbolisch überhöht, und als Sinnbild ewigen Frühlings in den Innenraum transferiert. Tapisserien waren dazu besonders geeignet. Zum einen bot ihre monumentale, wandfüllende Größe ein geeignete Darstellungsfläche, zum anderen waren sie als Luxusgegenstand ähnlich exklusiv wie Gärten. Die Gartentapisserien der Renaissance spiegeln also in besonderem Maß das Verhältnis zwischen Mensch und Natur am Beginn der Neuzeit wider (Abb. 1).

Im Folgenden wird eine allgemeine Interpretation des Genres der Gartentapisserien auf der Basis des neuen Naturverständnisses der Renaissance versucht. Im zweiten Abschnitt werden die Übereinstimmungen zwischen Gartenkunst und Tapisseriekunst anhand von Repräsentationswert‚ künstlerischem Entstehungsprozeß und Rezeption der Zeitgenossen aufgezeigt. Den Abschluß bildet eine thematische Gliederung der erhaltenen Gartentapisserien anhand repräsentativer Beispiele unter Berücksichtigung literarischer Vorbilder.

Abb. 2 Villa Lante in Bagnaia.
Ars et natura

Für den humanistisch gebildeten Menschen des 16. Jahrhunderts ist es ein Ideal, Kunst und Natur zu verschmelzen. Er will die Natur nachahmen (imitatio naturae), indem er das, was die Natur geschaffen hat, auf künstlerischem Weg wiederholt. In diesem Umfeld entstehen erstmals architektonische Gärten, die ausschließlich als Lustgärten konzipiert sind (vgl. Abb. 2). In ihnen gehen Kunst und Natur eine Symbiose ein: aus Pflanzen werden Räume erschaffen, die zum Wandeln oder Sitzen einladen. Buchs und andere Gewächse werden zu geometrischen Kunstwerken geformt (ars topiaria), Wasser wird in Form von Kaskaden und trickreichen Wasserspielen „gezähmt”, es entstehen Grotten, Eremitagen und Labyrinthe. Teiche werden zu Meeren, Hügel zu Gebirgen; schließlich wird der gesamte Garten mittels der skulpturalen Ausstattung zum Tummelplatz von Göttern und allegorischen Figuren. Mit Hilfe des Intellekts und der künstlerischen Ausdruckskraft wird der Garten damit zur „dritten Natur“. Diese gilt als Fortsetzung der ersten Natur — die ursprüngliche Landschaft — und der zweiten Natur — die vom Menschen zu agrarischen Zwecken kultivierte Natur. […]

Garten und Wildnis

Die Sicht auf die Natur war aber nicht nur verklärend. Ungezähmte Natur war genauso wunderbar wie beängstigend. Dementsprechend drückte der göttliche Kosmos sich auch in wilden, unbekannten Tieren oder unüberschaubaren Höhlen und Schluchten aus.

Außerhalb des geordneten Gartens befand sich meist der Boskett-Bereich, ein kleines und doch überschaubares Wäldchen, das schließlich zur unberührten Natur — dem Wald — hinführte. Diese Unterscheidung zwischen der geordneten, kunstreichen Natur und der unbezwungenen, wilden Natur konnte am besten in Jagddarstellungen thematisiert werden (vgl. Abb. 3). lm Zentrum vieler Jagdtapisserien befindet sich ein regelmäßig angelegter, architektonischer Renaissancegarten mit dazugehörigem Schloß. Die Symmetrie und Ordnung im Garten steht in klarem Gegensatz zu seiner Umgebung, der wilden Natur. Sie ist durch unebenes und wegloses Terrain mit unzähligen Pflanzen und darin verborgenem Kleintier charakterisiert. Hinter der Gartenanlage erhebt sich eine bewaldete Bergkette, die in einem Felsmassiv mit schneebedeckten Gipfeln endet. Eine Jagdszene im Vordergrund zeigt den Kampf des Menschen gegen die wilden Kräfte der Natur. Der abgeschlossene und geschützte Garten inmitten dieser urwüchsigen Landschaft erhält dadurch etwas Beruhigendes, er vermittelt Harmonie und Ordnung. Der spanische Dichter Pedro Calderón (1600-1681) formulierte es folgendermaßen: „Ein schöner Garten, rings von wildem Forst umgürtet, ist um so schöner, je stärker er den Gegensatz berühret.“

Abb. 3 Jagdtapisserle (Die Bärenjagd), 1575-1580, Wolle und Seide, 360,7 x 299,7 cm,
The Fine Arts Museum of San Francisco, Schenkung von Mr. & Mrs. Mortimer Fleishhacker.
Die Darstellungen auf Jagdtapisserien ermöglichen dem Betrachter, sich mit den verschiedenen Gesichtern der Natur, ihren Gottheiten und ihren Lebewesen auseinanderzusetzen. Sie stellen eine Verknüpfung der drei in Hierarchie des Universums neu geordneten und miteinander verankerten Kräfte dar: Gott, Mensch und Natur.

Innen und Außen

Die Tapisserie als monumentales und exklusives künstlerisches Ausdrucksmittel war besonders geeignet, zur Darstellung von Gärten herangezogen zu werden. Die Größe und die verwendeten Materialien wie Gold- und Silberfäden sind es, die Gartentapisserien zu einem paradisus oculorum werden lassen. Mit ihrer Hilfe konnte der Garten mit seinem gesamten Symbolgehalt sozusagen nach innen transferiert werden, in die Prunkräume des Schlosses seines Besitzers. Der Anblick der Tapisserie bot dort gleichsam einen Aus- oder Einblick in den eigenen Garten. Architektonische Elemente wie Säulen, Karyatidhermen oder Balustraden verstärken den Eindruck, als blicke man in eine Gartenlaube oder über eine Balustrade hinein in den Garten. Damit lädt die Tapisserie scheinbar zum Eintreten ein. Zusätzlich weisen allegorisch-szenische Handlungen verstärkt auf den metaphysischen Gehalt des Gartens hin. Diese Weltabbildlichkeit, die sich aus der philosophischen, religiösen und naturwissenschaftlichen Dimension ergibt, wird vor allem durch ein umfassendes allegorisches Programm, aber auch durch zeitgenössische Staffage unterstrichen. Durch diese Gleichsetzung erfährt der Besitzer der Tapisserie eine Aufwertung seines eigenen Schloßgartens.

Im Gegensatz zum englischen Landschaftsgarten des frühen 19. Jahrhunderts, in dem der Betrachter eingeladen war, Bestandteil des „Naturgemäldes“ zu sein, und in dem das aktive Naturerlebnis überraschende Wendungen erfuhr, ist der klar umgrenzte, überschaubare Renaissancegarten am besten von oben zu betrachten. Diese statische Landschaftsbetrachtung drückt sich auch in den Darstellungen auf Tapisserien aus.

Der Schloßgarten ist meist umgeben von Laubengängen und führt niemals in eine unbegrenzte Weite — auch wenn das Gefühl der Ferne erzeugt werden soll, so doch nicht durch den Garten selbst, sondern durch die wilde Natur (Wald, Berge) im Hintergrund. Tapisserien wie die der „Vertumnus und Pomona—Serie" (Abb. 5 bis 7) verdeutlichen die Sehnsucht nach klarer Ordnung und Abgrenzung. Der Blick in den Garten wird nur durch schmale Öffnungen in der Gartenlaube ermöglicht und ist rundum durch Statuen, Balustraden oder Laubdächer begrenzt. […]

Abb. 4 E. Dupérac, Villa d'Este in Tivoli, 1573, Kupferstich,
Biblioteca Hertziana, Rom.
Rolle der Auftraggeber

Die Auftraggeber sowohl von Gartenanlagen als auch von Tapisserieserien kamen aus dem klerikalen und weltlichen Feudaladel. Beide Künste verlangten außergewöhnlich große Geldmittel und dienten aus diesem Grund immer auch zur Demonstration des eigenen Reichtums.

So werden etwa in gartentheoretischen Schriften der Spätrenaissance Gärten nach Gesellschaftsklassen unterschieden. Joseph Furttenbach d. Ä. (1591-1667) schreibt, daß vor allem auf die Größe zu achten sei, damit „hierdurch der Seckel nit zu wehklagen habe“. Nur ein Freiherr, Graf oder Fürst könne sich neben einem Küchen-‚ Baum- und Pomeranzengarten noch einen Tiergarten leisten. Schon die Auswahl der Pflanzen im Garten zeugte vom Reichtum des Besitzers: je seltener und exotischer, desto teurer und repräsentativer.

Auch bei Tapisserien hatte der Materialwert sehr große Bedeutung. Die Verwendung von Edelmetallen wie Gold- oder Silberfäden erfüllte oft auch eine sozial differenzierende Signalfunktion. Dazu kamen die Kosten für die Weber. Gerade das Figurenweben zählte zu den schwierigeren, kunstreicheren Arbeiten, für die in vielen Fällen eigene Spezialisten entsprechend entlohnt werden mußten.

Angesichts der hohen Kosten waren viele Käufer von Tapisserien an zeitlosen, allgemein etablierten Themen interessiert. Diese konnten nämlich aus einem Sortiment von bereits vorhandenen Entwürfen ausgewählt und bestellt werden. Gerade bei Gartentapisserien war es üblich, die Vorlagen (Kartons) für mehrere Auftraggeber zu verwenden. Je nach Wunsch und finanziellen Möglichkeiten des Kunden wurden sie mit Wappen oder mythologischen Figuren angereichert. Durch ein entsprechendes ikonographisches Programm konnte der Bezug zum Auftraggeber hergestellt werden, es diente zur Verherrlichung seiner Person oder seiner Taten. […]

Auch die meisten Gartenanlagen basierten auf einem ikonographischen Konzept — beispielsweise war der Mythos des Goldenen Zeitalters für die Propaganda der Medici von besonderer Bedeutung und bestimmte sowohl die Anlage der Villa Lorenzo des Prächtigen in Poggio a Caiano als auch der Villa für Herzog Cosimo I in Castello. In beiden Kunstgattungen wiesen heraldische Motive gezielt auf die Herkunft und die gesellschaftliche Stellung der Besitzer hin.

Abb. 5 Detail aus Abb. 6.
Künstlerische Praxis

[…] Eine berühmte Renaissancevilla der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts — die Villa d'Este in Tivoli” (Abb. 4) — geht in ihrer künstlerischen Konzeption maßgeblich auf Pirro Ligorio zurück. Dieser Künstler — der Architekt und Entwerfer des außergewöhnlichen Gartens für Kardinal lppolito II. d'Este — ist auch für eine Serie von Entwürfen für Wandteppiche verantwortlich, die mit großer Wahrscheinlichkeit zur Ausstattung der Villa d'Este entstanden. In 16 Zeichnungen illustriert er das Leben des griechischen Helden Hippolitus. Ligorio fügte den Zeichnungen zahlreiche schriftliche Kommentare bei und stellte eine Verbindung zum Leben des Kardinals her. Die Tapisserieentwürfe bildeten in ihren Anspielungen auf den heldenhaften Namenspatron eine Allusion auf den Kardinal. Hier läßt sich gut erkennen, daß der Künstler gleichsam Regie führte. Die handelnden Personen der Geschichte — Hipploytus, Herkules, Äskulap, Diana —, sie alle spielen eine große Rolle im ikonographischen Programm der Villa d'Este, in ihrem Tapisserieschmuck und in ihrem Garten.

Ebenso zeigt sich Giulio Romano, der Architekt und Ausstatter des Palazzo del Te in Mantua, für zahlreiche Tapisserieentwürfe verantwortlich, darunter die sogenannten Kinder- oder Puttenspiele, die aufgrund ihrer großen Beliebtheit in mehreren Variationen als Tapisserien ausgeführt nurden.

Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, denn auch später noch, im 17. Jahrhundert, entwarfen namhafte Künstler wir Peter Paul Rubens und Jacob Jordaens Tapisserievorlagen. An dieser Stelle sei auch auf einen Franzosen hingewiesen, der 1686 an den kaiserlichen Hof in Wien kam: Jean Trehet. Er beherrschte zwei Kunstzweige — die Tapisseriekunst und die Gartenkunst. Als Inspektor der ‚kaiserlichen Tapezerey’ übernahm er Ausbesserungsarbeiten und Neuanfertigungen. Auch an die Errichtung einer niederländischen Teppichmanufaktur für den Wiener Hof war gedacht. Als kaiserlicher Garteningenieur sollte er vorerst die „Alte Favorita" (das heutige Theresianum) verschönern und anschließend die Planung der Gartenanlage von Schönbrunn übernehmen. […]

Am augenfälligsten ist die sprachliche und optische Verwandtschaft von Gärten und Textilien ab der Barockzeit, denn nun erhalten die kunstvoll geschwungenen Ornamentbeete den Namen „parterre de broderie" (frz.: Stickerei). Im 19. Jahrhundert taucht der Begriff des Teppichbeetes (auch carpet bed, tappeto di fiori) auf, der auch Termini aus beiden Kunstgattungen vermischt. Es handelt sich dabei um Beete, die Muster aus verschieden farbigen Pflanzen aufweisen, „die mit einem gestickten Teppich Ähnlichkeit haben“.

Abb. 6 Vertumnus und Pomona-Serie‚ Vertumnus als Winzer, Brüssel, vor 1545,
Wolle, Seide, Gold- und Silberfäden‚ 297 x 421 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Die Themen

Der Garten als Lust- und Liebesgarten

Das Motiv des Liebesgartens hat eine bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition. In der Literatur zählen der „Rosenroman" von Guillaume de Lorris (1230) und vor allem die „Hypnerotomachia Polophili" (Der Traum des Poliphil) von Francesco Colonna (1467 datiert und 1499 erstmals in Venedig erschienen) zu bemerkenswerten Dokumenten der Gartenkunstgeschichte. In beiden Romanen betritt ein Jüngling im Traum einen Liebesgarten. Im letzeren wird der lch-Erzähler Poliphil im Traum auf der Suche nach seiner Geliebten Polia auf die Insel Kythera, Insel der Venus, geführt. Kythera wird in größter Ausführlichkeit als kunstvoll gestalteter Garten geschildert, der formal viele Charakteristika eines Renaissancegartens aufweist. Die kreisrunde Insel wurde in konzentrischen Ringen mit radial verlaufenden Wegen angelegt und gehorcht einem klaren geometrischen Grundprinzip. Der Liebesgarten in der Hypnerotomachia wird als locus amoenus geschildert, als ein Ort idealer Schönheit und immerwährenden Frühlings. Es werden das klare Wasser, die fruchtreichen Bäume und die blühenden Blumen beschrieben. Der Garten ist von Vögeln und zahmen Tieren reich bevölkert. Auch die Menschen leben in friedlicher Eintracht und Zuneigung auf Kythera — der ideale Ort für Poliphil, die Liebe zu finden. „Auf den Wiesen sah ich unzählige Jünglinge und schöne Jungfrauen, die mit Hingabe musizierten, sangen, tanzten, sich fröhlich unterhielten und sich in völliger Unschuld und Reinheit umarmten." Zahlreiche Holzschnitt-Illustrationen ergänzen den Roman, der auch aufgrund seiner Verarbeitung vielfältiger literarischer Texte aus der Antike als interessante Quelle für das Gedankengut der Renaissance angesehen werden kann.

Im 16. Jahrhundert findet der architektonische Garten Eingang in den Themenkreis der Tapisserien. Zahlenmäßig am stärksten vertreten ist jene Gruppe, in der der Garten als Ort der Geselligkeit, des Spiels und der Liebe charakterisiert wird. In vielen Gartentapisserien des späten 16. Jahrhunderts wird der Garten als Lustgarten mit musizierenden, tanzenden und flanierenden Pärchen in zeitgenössischer Kleidung charakterisiert. In Abbildung 1 befindet sich auf der linken Seite unter einem überdimensional hohen Laubengang, der von männlichen und weiblichen Karyatidhermen getragen wird, ein Paar, das von einem Kind mit Hund begleitet wird; rechts spielt ein vornehmer Herr in Anwesenheit einer Gesellschaftsdame seiner Liebsten auf der Laute vor.

Abb. 7 Detail aus Abb. 8.
Durch den Laubengang, der gleichsam als Rahmung des Bildfeldes dient, blickt man auf einen Garten mit geometrischen Beeten umgeben von hohen Laubengängen. Rechts enden diese in einem Rundpavillon mit üppig bewachsenem Kuppeldach. Darin sitzen vier Personen an einem runden Tisch. Der „locus amoenus" sollte jener liebliche Ort sein, an dem sorglose Vergnügungen wie gutes Essen, Musik, Tanz und Spiel stattfinden konnten. „Man bemühet sich die Banckete an lustigen Orten / unter grünen Hütten / in Gärten und Fruchtbaumen anzustellen / die Gäste so vielmehr zu belustigen: Was aber sind die bunten Blumen / die Traubenreichen Reben / die Lisplenden Brünnlein / und die Kleebaren Wasen anderst / als Sinnbilder Göttlicher Allmacht.”

Auch in dieser Charakterisierung wird das Zusammenspiel von Gott, Natur und Mensch erkennbar. Der humanistische Mensch der Renaissance war sich der positiven Auswirkungen des Gartens bewußt. Alle Sinne sollten durch den Duft, die Farben und die Geräusche des Gartens angesprochen werden.

Der Garten als göttlicher Ort

„Pomona", die als Göttin des Obstes verehrte Baumnymphe, ist eine jener Figuren, die häufig auf Gartentapisserien dargestellt ist (Abb. 5 bis 7). Die literarische Grundlage bildet die Erzählung aus dem vierzehnten Buch der Metamorphosen Ovids. Vertumnus, der überaus einfallsreiche Gott der Verwandlung, wirbt um Pomona. Ihre Liebe gilt jedoch ausschließlich dem Garten. Daraufhin versucht Vertumnus sich ihr in vielerlei Gestalt zu nähern. Nachdem jedoch jeder dieser Versuche — etwa als Bauer, als Krieger oder als Obstpflücker — scheitert, verwandelt er sich in eine alte Frau und schildert ihr die wahre Liebe des Vertumnus. Er erzählt ihr auch die Geschichte von Iphis, einem Mann aus niederer Herkunft, der sich aufgrund seiner unerwiderten Liebe zu der edlen Anaxarete vor deren Augen tötete, worauf diese zum Steinbild erstarrte. Nach dieser Erzählung verwandelt sich Vertumnus wieder in den schönen Jüngling. Pomona ist daraufhin „von des Gottes Gestalt gefangen und liebte ihn wieder".

Die Entwürfe für diese großartige Tapisserieserie, die in mehreren Versionen existiert, werden Jan Cornelisz Vermeyen unter Mitarbeit von Joost van Noevele und Cornelis Bos zugeschrieben. Je eine beinahe vollständige Serie mit Gold- und Silberfäden befindet sich im Kunsthistorischen Museum in Wien und in Spanischem Staatsbesitz in Madrid. Die „editio princeps" entstand wahrscheinlich vor 1545 für Kaiser Karl V. und besteht aus neun großformatigen Wandbehängen jeweils etwa in der Größe von 4 x 6 Metern. Die in Brüssel gewebten Stücke weisen ein nicht eindeutig identifiziertes Weberzeichen auf, vermutlich handelt es sich aber um das Zeichen des Tapissiers und Händlers Georg Wezeleer.

Abb. 8 Vertumnus und Pomona-Serie, Vereinigung von Vertumnus und Pomona, Brüssel, vor 1545,
 Wolle, Seide, Gold- und Silberfäden, 425 x 445 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Auf schmalen Bühnenstreifen unter kunstvoll gestalteten Laubenarkaden befinden sich die Göttin Pomona und der in unterschiedlicher Gestalt dargestellte Gott Vertumnus. Durch den Laubengang blickt man auf verschieden gestaltete Gartenanlagen — in sich abgeschlossene giardini segreti Pomonas, der Hüterin des Obstgartens. Eine Kartusche am oberen Bordürenrand mit einer lateinischen Inschrift klärt über den Inhalt der Szene auf. SVMPTA FIT FALCE PVTATOR steht über der Darstellung von „Vertumnus als Winzer" (Abb. 6). Hier hält der Gott der Verwandlung eine Hippe in seiner Rechten, jenes Werkzeug, mit dem auch Pomona charakterisiert wird. Der im Hintergrund situierte Garten zeigt fruchttragende Obstbäume auf einer Wiese und reife, von der Laube hängende Trauben. Dieser Laubengang umschließt den Gartenbereich und entspricht so der Handlung der Geschichte: „Fürchtend jedoch die Gewalt der Bauern, schließt sie von innen / Ab ihren Garten und wehrt dem Zutritt von Männern und flieht sie.” Pomona versperrte ihren Garten, um in Ruhe ihrer Aufgabe nachgehen zu können. […]

Auf der letzen Tapisserie dieser Serie (Abb. 7) wird das glückliche Ende der schwierigen Beziehung zwischen Vertumnus und Pomona geschildert. ln einem halbkreisförmigen Rundpavillon sitzend entfernt Vertumnus die letzten Relikte seiner Verkleidung als alte Frau, woraufhin seine Liebe von Pomona erwidert wird. Auch die Vereinigung von Polia und Poliphil findet in einem Rundtempel im Zentrum von Kythera statt. Denn sowohl in der italienischen als auch in der französischen Ausgabe der Hypnerotomachia findet man einen perspektivischen Querschnitt dieses Tempels. Dieses Werk hatte besonders auf französische und niederländische Künstler großen Einfluß. Und so finden sich auch in dieser Tapisserieserie Zitate der Illustrationen des Romans.

Gartenveduten

Zu dieser Gruppierung gehören all jene Gartentapisserien, die ohne menschliche Staffage auskommen. Aber auch hier spiegelt sich das neue Naturverständnis der Renaissance in den detailgetreuen Pflanzen- und Tierdarstellungen wider. Mit dem Beginn der Neuzeit erwachte das Interesse an Kunst- und Wunderkammern und zunehmend auch an botanischen und zoologischen Enzyklopädien. Auch der Garten sollte einen Katalog der Natur darstellen. Herrscher wir Kaiser Maximilia II. und Rudolf II. waren begeisterte Sammler und zählten zu den großen Förderern der Naturwissenschaften.

In Deutschland, Frankreich und Italien entstanden zoologische und botanische Schriften wie zum Beispiel vom Gründer des Botanischen Gartens in Padua, Ulisses Aldrovandi (1522-1605). Diese Bücher vermerken neben der wissenschaftlichen Beschreibung mit Zeichnung der Pflanzen und Tiere auch deren Gewohnheiten, Temperamente und Charaktere. Wie eng im damaligen Verständnis Mystik und Natur beieinander lagen, zeigt sich darin, daß auch Fabelwesen wie Drache und Einhorn aufgenommen wurden.

Abb. 9 aus Serlios Architekturtraktat.
Das wissenschaftliche Interesse vermischte sich aber auch mit ästhetischen Fragen. Der Botaniker Carolus Clusius (1526-1607) beispielsweise, obwohl Forscher und nicht Künstler, befürwortete die Schönheit als wesentliches Kriterium für die Auswahl und die Reihenfolge seiner darzustellenden Pflanzen.

Gerade in den Tapisserien konnten Pflanzen als dekoratives Mittel der Kunst in die Darstellung einbezogen werden. Bemerkenswert ist jene Serie, die 1564 für Kardinal Granvella (1517-1586), den humanistisch gebildeten und kunstsinnigen Staatsminister unter Kaiser Karl V. und König Philipp ll., angefertigt wurde (Abb. 8 bis 10). Diese aus sechs Tapisserien bestehende sogenannte „Granvella-Serie”, in deren oberen Bordürenrand das Wappen des Kardinals eingewebt ist, gehört heute zum Sammlungsbestand des Kunsthistorischen Museum in Wien. Dabei handelt es sich um einen hoch- und fünf querformatige Bildteppiche, die ausschließlich architektonische Gärten mit Tierstaffagen zeigen. Durch die Perspektive des Laubenganges und des dahinter liegenden Gartens wird der Betrachter scheinbar eingeladen, den Garten zu betreten. Ähnlich wie in der Vertumnus und Pomona-Serie blickt man durch eine Pergola in den Garten. In den meisten Fällen wird das laubbewachsene Dach von steinernen oder marmornen Rundsäulen oder Pfeilern getragen, die den klassischen Säulenordnungen der Renaissance entsprechen. […]

Diesem Gartenschloß soll hier Aufmerksamkeit geschenkt werden: Das dargestellte Gebäude ist nahezu identisch mit einem Entwurf aus dem Architekturtraktat Sebastiano Serlios über die fünf Säulenordnungen“ (Abb. 9). Schon Vitruv und auf ihn zurückgreifend auch Leon Battista Alberti beschäftigten sich mit den klassischen Säulenordnungen. Erst durch die beigefügten Bildtafeln erlangte das ab 1537 in Venedig erschienene Architekturtraktat Serlios vor allem in Nordeuropa größte Beliebtheit. Den verschiedenen Ordnungen wurden bestimmte Eigenschaften und Charaktere zugeschrieben. Die einfachste Ordnung stellt die Toscana dar, gefolgt von der Donca, die von Serlio als männlich und stark interpretiert wurde. Die Ionica und die Corinthia beziehen sich auf das weibliche Geschlecht. Als letzte steht die Composita zur Verfügung, die bereits bei einigen Theoretikern des 16. Jahrhunderts als Zeichen für übertriebene ornamentale Freiheiten und Geschmacklosigkeiten galt.

Abb. 10 Granvella Nr. 3, Brüssel, 1564, Wolle und Seide, 363 x 520 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Der Entwerfer der Granvella-Serie, Josse van Noevele, der Schwager des Webers Willem de Pannemaker, hatte demnach genaue Kenntnis des Traktates von Serlio. Mit großer Wahrscheinchkeit wurden die Pergolen der „Granvella-Gärten" auf die Genera der fünf Säulenordnungen abgestimmt, denn jeder Teppich (mit Ausnahme des hochformatigen Exponats) läßt sich einer bestimmten Ordnung zuweisen. Darüber hinaus unterstreichen die dargestellten Pflanzen und Tiere die zugeschriebenen Charaktere. ln der als dorisch identifizierten Tapisserie wachsen üppige Kürbisgewächse mit mächtigen Früchten‚ oft in phallischer Form. Zwischen den Pfeilern sind majestätische Hirsch- und Reharten dargestellt. Dies alles weist auf den Charakter und das Geschlecht dieser als männlich, tapfer und stark interpretierten Säulenordnung hin.

Eine andere Tapisserie dieser Serie zeigt rote Marmorsäulen mit ionischen Kapitellen, die ein von Kletterrosen bewachsenes Laubendach tragen. Die Rose galt schon im Mittelalter als Königin der Blumen und Symbol der Jungfrau Maria. So wurden sowohl die Rose als auch die Ionica als tugendhaft und weiblich wahrgenommen.

Weiters gibt es eine Tapisserie mit einem korinthischen Kreuzgang, unter dem sich exotische und kostbare Vögel wie Truthahn, Perlhuhn und Pfau befinden. Das Laubendach ist von einem üppig blühenden und fruchttragenden Granatapfelbaum bedeckt. So kann man diese Tapisserie, die Corinthia, als kostbar und reich interpretieren.

In der Composita (Abb. 10) kulminieren alle bisherigen Säulenordnungen. Sie vermischt die einzelnen Merkmale bzw. erzeugt etwas völlig Neues. Die einzige Pergola, die nicht von Säulen oder Pfeilern, sondern von männlichen und weiblichen Karyatidhermen getragen wird, stellt den Höhepunkt dieser Tapisserieserie dar. Die Charakterisierung als besonders prächtig und kräftig wird durch den angeketteten Panther und die seltene, radiale Anordnung der Beete in der Mittelachse der Tapisserie unterstrichen. Auch die Verwendung des mehrfarbigen Marmors und die Drohgebärde des Marders in der rechten Bildhälfte unterstützen diese Interpretation.

Die beiden hier vorgestellten Wiener Gartenserien „Vertumnus und Pomona" und die „Granvella-Gärten" stellen einen Höhepunkt im Genre der Gartentapisserien dar — nicht zuletzt aufgrund ihrer Vollständigkeit und ihrer qualitätvollen Ausführung. Gleichzeitig wird hier das Wechselspiel von Kunst und Natur besonders augenscheinlich vorgeführt. Es zeigt sich, daß Gartentapisserien unter dem Blickpunkt des neuen Naturverständnisses der Renaissance erklärt werden können. Der Garten, die ‚dritte Natur‘, ist Teil des göttlichen Kosmos, in dem die Ordnung der Natur zum Ausdruck gebracht wird. Ein realer Garten verändert im Wechsel der Jahreszeiten sein Aussehen. Durch das Festhalten in der Gartentapisserie scheint diese Vergänglichkeit jedoch aufgehoben. Auch die Identifikation bzw. Gleichstellung mit Göttern oder Helden fällt durch die meist lebensgroße Darstellung leicht. Die monumentale Darstellung von Gärten auf Tapisserien bietet dem Betrachter gleichsam einen Ausblick in einen idealen Garten, ein Paradies für das Auge.

Quelle: Dagmar Sachsenhofer: Ein Paradies fürs Auge. Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. 11. Jahrgang, Heft 1/2005. ISNN 1025-2223. Seite 4 bis 21 (gekürzt).


Klaviertrios gibt es auch einige in der Kammermusik-Kammer! Hören Sie selbst:

Paul Juon: Die Werke für Klaviertrio (Altenburg Trio Wien) | Otto Pächt: Die Erfassung des Raumes. Am Beispiel der Admonter Riesenbibel.
 

Antonin Dvorák: Die Kammermusik (8 CDs, auch ohne die Streichquartette) | Gustav Meyrink: Tschitrakarna, das vornehme Kamel.(»Bitt’ Sie, was ist das eigentlich: Bushido?«)

Robert Schumann: Die Kammermusik (7 CDs, diesmal komplett mit den Streichquartetten) | Raymond M. Smullyan: Aus dem »Buch ohne Titel«.

Fanny Mendelssohn | Clara Schumann: Klaviertrios | Erich Auerbach: Fortunata. Aus »Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der Abendländischen Literatur«.



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4. Juni 2019

Joseph Marx (1882-1964): Lieder

Man hat den Liedkomponisten Joseph Marx sehr oft mit Hugo Wolf verglichen. Der eine ein Österreicher, der aus dem heutigen Slowenien stammt, der andere 22 Jahre später in der benachbarten Steiermark geboren. Freilich, wo Wolf ein kühner, stürmischer, kompromissloser Neuerer war, war Marx ein dionysisch erweiternder Bewahrer, gerade im Liedschaffen mehr einer in prachtvoll neuem Kleid auftretenden Verschmelzung von gegenwärtigen Strömungen mit der Vergangenheit zugewandt als einer unwägbaren Zukunft. Charakterlich waren die beiden so verschieden, so gegensätzlich, wie es sich nur denken lässt. Wolf ein Meister der kurzen, psychologisch überspitzten, aufgewühlten Charakterzeichnung, in der Verspanntheit, Zerrissenheit, dem immerwährend unerfüllten Sehnen und der lebensimmanenten Tragödie ein Romantiker reinsten Wassers. Marx hingegen trat von vornherein mit dem Gestus des um Ausgleich der Polaritäten bemühten Altmeisters auf, ein Freund der Idylle und Nostalgie. Der eine unentwegt im Aufbruch zu neuen Ufern begriffen, der andere ein Zusammenfasser, Erkunder und Fusionierer bestehender Richtungen. Wolf hinterlässt den Zuhörer in erregter Unruhe, Marx in genießender Beschaulichkeit.

Andreas Liess schreibt 1943 in seiner zeittypisch völkisch eingefärbten Standard-Monographie Joseph Marx. Leben und Werk:

„Marx verlangt vom Liedkomponisten: Erfassung der Stimmung als erstes, des weiteren Erfassung des Rhythmus des Liedes und schließlich die seines inneren Tempos; - denn jeder Text trägt sein Andante, Allegro, Largo in sich. ‚Jedes Gefühl hat sein eigenes Zeitmaß’, schrieb er in einem Aufsatz über Frederick Delius. Stimmungs- und Gefühlsspiegelung ist der Wesensgrund des Liedschaffens von Marx. Dieses Hingegebensein an den sinnlichen wie gefühlsmäßigen Eindruck führt ihn auch ganz organisch in die Gefilde des Impressionismus hinein. […] Wenn Marx von Wolf ausgeht und diese Bindungen offen zutage liegen, so ist es dieses psychologische Moment, das auf der ganzen technischen Linie die einschneidenden Veränderungen und Weiterentwicklungen hervorbringt.

Joseph Marx, 1957
Immer zieht ,Stimmungsdarstellung’ eine bevorzugte Betonung des klanglichen Elementes nach sich. So entfernt sich Marx von Wolf harmonisch, indem er nicht nur übersteigernde Konsequenzen aus dem Chroma der Leittontechnik zieht, sondern auch in der klanglichen Eigenformung eine ganz spezielle sinnliche Farbigkeit für seine Ausdruckswelt schafft, die wollüstig und verträumt, naturnahe und raffiniert zugleich ist und deutsche wie französische und russische Formungsarten in origineller Synthese vereinigt. In dieser lyrischen Stimmungsklanglichkeit schreitet er, dem Zug der Zeit folgend, über die Wolfsche wie die Regersche Harmonik hinaus, wenngleich beide wichtigste Grundlagen abgeben.

Aus der psychischen Haltung des Künstlers Marx ergibt sich auch der charakteristische Ausbau des Klavierpartes nach der klanglichen wie nach der symphonischen Seite hin. Und in der polyphon verfestigten großsymphonischen ,Entwicklung' der Liedbegleitungen - neben der eigenen Harmonik —‚ also im formalen Ausdrucksbereich, sieht Marx selbst die charakteristische Besonderheit seiner Liedkunst Wolf gegenüber, der in kleinmotivischem Zusammenhang und in Sequenzformungen die Großformung ausbaut, ‚Ich habe eben dort ausgeführt, wo Wolf nur andeutete‘”

Joseph Marx, zwischen Nachromantik und Impressionismus vagierend, immer damit befasst, die ganze Fülle des Stimmungsgehalts auszukosten und zugleich in klarer Form zu artikulieren, wurde berühmt mit seinen Liedern zu einer Zeit, als ‚die Welt noch in Ordnung war’, und er wurde weitgehend vergessen, indem für neue Lieder und konservativen Geist kein breites Interesse mehr da war.

Joseph Marx am Klavier

Marx’ Werdegang

Joseph Rupert Rudolf Marx wurde am 11. Mai 1882 in Graz geboren. Er erhielt ersten Klavierunterricht von seiner Mutter, dann an der Klavierschule Johann Buwas, und erreichte beträchtliche Meisterschaft am Instrument. Daneben erlernte er im Selbststudium auch das Geigen-, Bratschen- und Cellospiel. Auf der Volksschule war es Joseph Gauby, ein Schüler Robert Fuchs’ und Herausgeber steirischer Volkslieder, der als Musiklehrer das musikantische Feuer in Joseph Marx schürte. Seine ersten Kompositionen - zunächst überwiegend Arrangements bekannter Stücke aus der Klavierliteratur und Oper für kleine Kammerbesetzungen zum täglichen Gebrauch — schrieb Marx als Gymnasiast. Seine musikalische Begabung war zwar offenkundig, doch studierte er zunächst auf Wunsch des Vaters Jura, um dann zu Philosophie und Kunstgeschichte überzuwechseln, was zum Zerwürfnis mit dem Elternhaus führte. 1908 erwarb er den Doktortitel in Philosophie, und damit war er frei vom Joch der herkömmlichen Erwartungen. Noch im selben Jahr, 26-jährig‚ fing er wieder zu komponieren an und schrieb innerhalb von vier Jahren (1908-12) vier Fünftel seines insgesamt 150 Kompositionen umfassenden Liedœuvres. Mit den Liedern kam der unverhoffte Erfolg, und schon bald erlangte Marx als Liedkomponist internationale Reputation. Das Liedschaffen ist bei ihm in unmittelbarem Zusammenhang mit der Liedbegleitungspraxis erwachsen, was gewiss entscheidend zur Natürlichkeit und Dankbarkeit der Werke beitrug.

Joseph Marx, Stadtmuseum Graz (Gemälde unbekannter Herkunft,
 prangt über dem Webportal der Joseph-Marx-Gesellschaft
Als Komponist war Joseph Marx erstaunlicherweise Autodidakt, der sich vor seinen ersten Liederfolgen vor allem in intensivem Orgelstudium kontrapunktisch, harmonisch und formal vervollkommnete, und brachte es damit früh zu technisch souveräner Meisterschaft. Andreas Liess schreibt in seiner bereits zitierten Marx-Biographie von 1942, er habe „bereits mit achtzehn Jahren seinen originellen persönlichen Stil gefunden, der zwar noch vertieft, verfeinert werden konnte, aber grundsätzlich in seiner charakteristischen Zeichnung feststand. Man hat die geringe Entwicklung in seinem Gesamtschaffen, die erst in den letzten Jahren stilistisch eine stärkere Abschattierung erfuhr, Marx gelegentlich vorgeworfen. Für Marx ist das Beharren in dem einmal errungenen Stilkreis das Zeichen eines sich ständig neu gestaltenden Urerlebnisses der Musik in einer Form und Geistigkeit, die fest in jener Zeit der Jahrhundertwende und in ihrer Kunst verankert ist."

Die Bestätigung, die er als Liedkomponist erfuhr, ließ Marx nun auch in andere, anspruchsvollere Gefilde tonsetzerischer Betätigung vordringen. 1911 war sein erstes der Kammermusik gewidmetes Jahr, in welchem er seine drei Werke für Klavierquartett schrieb. Hier steht Marx der Exzessivität Max Regers, der ihn als heftigst umstrittener Neuerer seiner Jugendjahre stark beeindruckte, nahe, kontrapunktiert vom harmonisch mäßigenden, motivisch und polyphon disziplinierenden Einfluss Johannes Brahms’. Es fließen Strömungen der schwelgerisch ausufernden Nachromantik, des emporzüngelnden, zu Verdichtung neigenden und zugleich jugendstilhaft ornamentisch verzückten Expressionismus und des unablässig scheinbar absichtslos changierenden lmpressionismus ineinander.

Gedenkstein für Joseph Marx im Stadtpark Graz
Mittlerweile betätigte sich Marx auch als Musiktheoretiker und legte zwei substanzielle Arbeiten über Klangpsychologie und über das Wesen der Tonalität vor (von denen letztere mit dem ,Wartinger'-Preis der Grazer Universität ausgezeichnet wurde und von manchen Kennern als eine der gehaltvollsten Abhandlungen über diese für die musikideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts so zentrale Thematik angesehen wird). 1914 bestellte man ihn daraufhin zum Theorieprofessor an der Musikakademie an der Wiener Universität, wo er 1922 Direktor wurde. Er war dann maßgeblich an der Gründung der Wiener Musikhochschule beteiligt und wirkte 1924-27 als deren erster Rektor. Marx etablierte sich schnell als eine der führenden Musikerpersönlichkeiten Wiens, zunächst Seite an Seite mit dem etwas älteren Generationsgenossen und bewunderten Symphoniker Franz Schmidt, wo er allerdings zusehends in eine konservative Rolle geriet, als Bewahrer der Werte der nachromantischen Tradition und Hüter des Tempels des klassischen Kompositionshandwerks.

1932 begann er im Auftrag von Mustafa Kemal (Atatürk) mit dem Aufbau eines nach westlichem Vorbild ausgerichteten Musiklebens und Musikschulsystems in der türkischen Hauptstadt Ankara (eine Aufgabe, mit der betraut ihm nach einem Jahr der progressive Paul Hindemith nachfolgen sollte). Marx betätigte sich auch als Kulturredakteur und scharfzüngiger, gleichwohl maßvoller Kritiker, und als Kompositionslehrer hat er in 43-jähriger Tätigkeit ca. 1300 Schüler gehabt. Nach dem Zweiten Weltkrieg komponierte Marx nur noch wenig, nahm viele Ehrungen entgegen, bekleidete gewichtige administrative und repräsentative Ämter, und musste zusehen, wie seine Musik - ausgenommen die Lieder im häuslichen Gebrauch - schnell aus der Mode kam. Er starb am 3. September 1964 in Graz, hochgehalten als Hohepriester der Altvorderen, und längst ausgeblendet von den jüngeren Generationen.

Joseph Marx, 1940, inspiriert von der
Mythologie der Antike wie von Mutter Natur
Marx’ Werk

Joseph Marx’ kompositorisches Vermächtnis ist recht leicht zu überblicken, da er verhältnismäßig wenige Gattungen konzentriert in intensiv fruchtbaren Phasen ausschöpfte und sich vom Theater und der konfessionell geistlichen Musik fernhielt. Neben den vielen Liedern steht ein recht überschaubares Kammermusik-OEuvre, einige Klavier- und Orgelmusik, 6 Chorwerke mit Orchester - das Gewaltigste hat er fürs große Orchester geschrieben, und so ist er besonders bemerkenswert in den ganz kleinen und in den großen Formen. An die Klavierquartettsaison 1911 schloss sich 1913-14 eine zweite Periode intensiven Kammermusikschaffens an, die eine große Trio-Phantasie für Klaviertrio, die erste von 2 Sonaten für Violine und Klavier in A-Dur sowie eine Suite in F-Dur und eine Pastorale für Cello und Klavier hervorbrachte. Zwischen 1936 und 1941 entstanden dann seine drei Streichquartette (Quartetto chromatico [1948 revidierte Fassung des 1. Quartetts in A-Dur], Quartetto in modo antico, Quartetto in modo classico), die einen abgeklärten Ton einleiten‚ der bereits wie ein ,Altersstil' anmutet. Marx’ erste Werke mit Orchester verwendeten dieses allesamt als instrumentale Erweiterung des liedbegleitenden Klaviers: zunächst der Morgengesang für Männerchor und Orchester von 1910 und die Berghymne für gemischten Chor und Orchester (ca. 1910); diesen folgten Herbstchor an Pan (1911), Abendweise (1912), Gesang des Lebens und Ein Neujahrshymnus (beide 1914).

Fünf Jahre vergingen, bis er sich dem Orchester als zentralem Medium zuwandte, und auch dann noch zuerst als konzertantem Partner: 1919-20 komponierte Marx sein monumental virtuoses Romantisches Klavierkonzert. 1921 vollendete er sein magnum opus: Eine Herbstsymphonie, ein kathartisch ausufernd viersätziges, orgiastisch übersteigertes Tongemälde auf das Naturdrama des Herbsts, das in der Literatur der orchestralen Kolosse eine einmalige Position einnimmt und aufgrund des großen Aufwands nur sehr selten aufgeführt wird), 1922-25 schrieb er als heiter versöhnliches Gegenstück dazu die impressionistisch schillernde Naturtrilogie, bestehend aus Eine symphonische Nachtmusik, Idylle-Concertino über die pastorale Quart und Eine Frühlingsmusik (alle drei Stücke sind auch gleichberechtigt zur Einzelaufführung vorgesehen).

Joseph Marx mit Dmitri Schostakowitsch und Franz Salmhofer, Juni 1953, Wien
Nach einer Gelegenheitskomposition, der Festlichen Fanfarenmusik für Blechbläser, Pauken und kleine Trommel von 1928, beschlossen die dunkle Nordland-Rhapsodie von 1929 und das lichte zweite Klavierkonzert Castelli Romani (1929-30) den Reigen von Marx’ monumental nachromantisch-impressionistischen Orchestergemälden. 1941 folgten noch die nostalgischen Alt-Wiener Serenaden, 1944-45 die Streichorchesterfassungen des 3. und 2. Streichquartetts (Sinfonie in modo classico und Sinfonia in modo antico), und 1946 schließlich die separate Einrichtung Feste im Herbst (ursprünglich Ein Herbstpoem) des Finales der Herbstsymphonie (die von 1927 bis 2005 unaufgeführt bleiben sollte),

Eine Liedauswahl

Angelika Kirchschlager und Anthony Spiri stellen eine repräsentative Auswahl aus Joseph Marx’ reichem Liedschaffen vor, die ohne weiteres noch durch weitere Sammlungen gleichwertig ergänzt werden könnte. Neben elf der siebzehn Gesänge aus dem Italienischen Liederbuch von Paul Heyse (1830-1914) von 1912 werden der komplette reife Zyklus Verklärtes Jahr (1930-32) und acht Lieder aus den drei frühen Liedfolgen (1907-12) dargeboten.

Aus Heyses italienischem Liederbuch wählte Marx jene Gedichte aus, die Hugo Wolf nicht vertont hat. Mit Ausnahme des ersten, Liebe, das bereits 1907 entstanden ist und dem Ton Wolfs noch am nächsten steht, hat er alle sechzehn weiteren Lieder 1912 binnen acht Tagen in einem Schaffensrausch komponiert. Sie bilden ein Wechselbad unterschiedlichster Stimmungen, dramatisch, lieblich, düster, humoristisch, und schnell erfährt der Hörer, welch gewandte Vielseitigkeit die Grundlage der schnellen Popularität Marx’ in jenen Jahren bildete, wie er in jeder Stimmungslage zu vollendeter, eigentümlicher Formung des Ganzen fand.

Im Verklärten Jahr tritt uns ein Tonsetzer von abgeklärter Größe entgegen. Andreas Liess, der Marx‘ Werk eingehend wie kein anderer kannte, gibt treffende Charakterisierungen der fünf Gesänge, die von unterschiedlichen Dichtern stammen. Ein Abschied nach Konstantin M. Fofanow (1862-1911) bezieht sich thematisch und im steigernden Schwung auf den Kopfsatz der Herbstsymphonie, als „Symbol des Rückblicks”.

Südost-Tagespost, 24.11.1963: Präsident Erich Marckhl mit den ersten
Ehrenmitgliedern der Akademie für Musik und darstellende Kunst Graz:
Mitte links: Joseph Marx
Dezember nach dem steirischen Dichter Ottokar Kernstock (1848-1928), das Marx dem Andenken seiner Eltern widmete, „ist das eindrucksvollste Stück mit dem ergreifenden Schluss: ‚Die Toten kehren nicht wieder’, aber auch in der Gesamterfassung der Stimmung ‚Weihnacht eines Einsamen'." Lieder nach Christian Morgenstern (1871-1914) bezieht sich als Frühlingsanfang des Zyklus thematisch auf das impressionistische Orchesterwerk Eine Frühlingsmusik. Innig zurückgewandt gibt sich Meiner Träume Heimat nach Carl Hauptmann (1858-1921): „Das Schöne in der Erinnerung ist der Ausgangspunkt." Die Schlussverklärung ist thematisch verbunden mit dem elften Lied aus der Ersten Folge der Marx’schen Lieder von 1908, Hat Dich die Liebe berührt, das zugleich den Abschluss vorliegender CD bildet.

Zum großen Schlussgesang Auf der Campagna schrieb Marx den Text selbst. Liess kommentiert: „Es ist ein Hymnus auf die antike Landschaft, der er innerlich so verbunden ist und die ihm, dem Klassizisten und Klangfanatiker, musikalisch und stimmungsmäßig so unendlich viel geschenkt hat. Gleißender goldener Nachmittag ist es inmitten der antiken Zeugen, und diese Stimmung hat sich in Wort und Ton niedergeschlagen. Ein ausgesponnener symphonischer Satz mit Haupt- und Gesangsthema breitet sich aus, wie der Text uns etwas von der Weltanschauung des Dichters verrät: ein Bekenntnis zur ewigen Wiederkehr von Frühling, Jugend und Menschenglück.”

Quelle: Christoph Schlüren, Juni 2010, im Booklet [gekürzt].


TRACKLIST


Joseph Marx (1882-1964)

Ausgewählte Lieder

Lieder aus dem »Italienischen Liederbuch«

01 Liebe (Paul Heise)                             3:36
02 Wofür (Paul Heise)                             0:45
03 Am Fenster (Paul Heise)                        1:32
04 Die Begegnung (Paul Heise)                     1:02
05 Die Liebste spricht (Paul Heise)               1:07
06 Am Brunnen (Paul Heise)                        0:59
07 Wie reizend bist du (Paul Heise)               1:01
08 Sendung (Paul Heise)                           1:05
09 Die Verlassene (Paul Heise)                    2:01
10 Es zürnt das Meer (Paul Heise)                 1:10
11 Die tote Braut (Paul Heisel                    3:16

Verklärtes Jahr (Liederzyklus, 1930-32)

12 Ein Abschied                                   3:33
   (nach Konstantin Mikhailovich Fofanov)
13 Dezember (Ottokar Kernstock)                   2:34
14 Lieder (Christian Morgenstern)                 2:15
15 In meiner Träume Heimat (Carl Hauptmann)       2:09
16 Auf der Campagna (Joseph Marx)                 6:19

17 Ein junger Dichter denkt an seine Geliebte     2:09
   (Hans Bethge nach Sao Han)

18 Selige Nacht (Otto Erich Hartleben)            1:47

19 Schlafend trägt man mich in mein Heimatland    1:54
   (Alfred Mombert)

20 Der Rauch (Rudolf Hans Bartsch)                2:07

21 Lob des Frühlings (Johann Ludwig Uhland)       0;59

22 Regen (nach Paul Verlaine)                     3:24

23 Vergessen (Arno Holz)                          2:00

24 Hat dich die Liebe berührt (Paul Heyse)        2:08

                                           T.T.: 64:39

Angelika Kirchschlager, Mezzo-soprano
Anthony Spiri, Piano

Recording: ORF RadioKulturhaus Wien, May 2009
Recording Producer + Digital Editing: Florian Rosensteiner
Recording Engineer: Andreas Karlberger
Executive Producers: Burkhard Schmilgun, Gustav Danzinger
(P) 2010 



Ludwig Wittgenstein:

Über Gewißheit

Seit 50 Jahren ist der Mond für ›Gewißheit‹ kein gutes Beispiel mehr

Ludwig Wittgenstein (1889-1951), Philosoph
106. Ein Erwachsener hätte einem Kind erzählt, er wäre auf dem Mond gewesen. Das Kind erzählt mir das, und ich sage, es sei nur ein Scherz gewesen, Soundso sei nicht auf dem Mond gewesen; niemand sei auf dem Mond gewesen; der Mond sei weit, weit von uns entfernt, und man könnte nicht hinaufsteigen oder hinfliegen. — Wenn nun das Kind darauf beharrte: es gebe vielleicht doch eine Art, wie man hinkommen könne, und sie sei mir nur nicht bekannt, etc. — was könnte ich erwidern? Was könnte ich Erwachsenen eines Volksstamms erwidern, die glauben, Leute kämen manchmal auf den Mond (vielleicht deuten sie ihre Träume so), und die allerdings zugeben, man könnte nicht mit gewöhnlichen Mitteln hinaufsteigen oder hinfliegen? — Ein Kind wird aber für gewöhnlich nicht an so einem Glauben festhalten und bald von dem überzeugt werden, was wir ihm im Ernst sagen.

107. Ist dies nicht ganz so, wie man einem Kind den Glauben an einen Gott, oder daß es keinen Gott gibt, beibringen kann, und es je nachdem für das eine oder andere triftig scheinende Gründe wird vorbringen können?

108. »Aber gibt es denn da keine objektive Wahrheit? Ist es nicht wahr, oder aber falsch, daß jemand auf dem Mond war?« Wenn wir in unserm System denken, so ist es gewiß, daß kein Mensch je auf dem Mond war. Nicht nur ist uns so etwas nie im Ernst von vernünftigen Leuten berichtet worden, sondern unser ganzes System der Physik verbietet uns, es zu glauben. Denn dies verlangt Antworten auf die Fragen: »Wie hat er die Schwerkraft überwunden?«‚ »Wie konnte er ohne Atmosphäre leben?« und tausend andere, die nicht zu beantworten wären. Wie aber, wenn uns statt allen diesen Antworten entgegnet würde: »Wir wissen nicht, wie man auf den Mond kommt, aber die dorthin kommen, erkennen sofort, daß sie dort sind; und auch du kannst ja nicht alles erklären.« Von Einem, der dies sagte, würden wir uns geistig sehr entfernt fühlen.

Ludwig Wittgenstein. Foto: Moritz Nähr, 1930
 (Österreichische Nationalbibliothek).
111. »Ich weiß, daß ich nie auf dem Mond war.« — Das klingt ganz anders unter den tatsächlichen Umständen, als es klänge, wenn manche Menschen auf dem Mond gewesen wären und vielleicht mancher, ohne es selbst zu wissen. In diesem Falle könnte man Gründe für dies Wissen angeben. Ist hier nicht ein ähnliches Verhältnis, wie zwischen der allgemeinen Regel des Multiplizierens und gewissen ausgeführten Multiplikationen?

Ich will sagen: Daß ich nicht auf dem Mond gewesen bin, steht für mich ebenso fest, wie irgendeine Begründung dafür feststehen kann.

114. Wer keiner Tatsache gewiß ist, der kann auch des Sinnes seiner Worte nicht gewiß sein.

115. Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns selbst setzt schon die Gewißheit voraus.

118. Wäre es nun richtig zu sagen: Niemand hat bisher meinen Schädel geöffnet, um zu sehen, ob ein Gehirn drin ist; aber alles spricht dafür und nichts dagegen, daß man eins drin finden würde?

119. Kann man aber auch sagen: Nichts spricht dagegen und alles dafür, daß der Tisch dort auch dann vorhanden ist, wenn niemand ihn sieht? Was spricht denn dafür?

120. Wenn aber nun Einer es bezweifelte, wie würde sich sein Zweifel praktisch zeigen? Und könnten wir ihn nicht ruhig zweifeln lassen, da es ja gar keinen Unterschied macht?

121. Kann man sagen; »Wo kein Zweifel, da auch kein Wissen«?

122. Braucht man zum Zweifel nicht Gründe?

Dieses kanonische Porträt Wittgensteins wurde auch in
der Würdigung durch die Österreichische Post zitiert.
123. Wohin ich schaue, ich finde keinen Grund, daran zu zweifeln, daß . . .

124. Ich will sagen: Wir verwenden Urteile als Prinzip(ien) des Urteilens.

125. Wenn mich ein Blinder fragte »Hast du zwei Hände?«, so würde ich mich nicht durch Hinschauen davon vergewissern. Ja, ich weiß nicht, warum ich meinen Augen trauen sollte, wenn ich überhaupt dran zweifelte. Ja, warum soll ich nicht meine Augen damit prüfen, daß ich schaue, ob ich beide Hände sehe? Was ist wodurch zu prüfen?! (Wer entscheidet darüber, was feststeht?)

Und was bedeutet die Aussage, das und das stehe fest?

126. Ich bin der Bedeutung meiner Worte nicht gewisser als bestimmter Urteile. Kann ich zweifeln, daß diese Farbe »blau« heißt?

(Meine) Zweifel bilden ein System.

127. Denn wie weiß ich, daß Einer zweifelt? Wie weiß ich, daß er die Worte »Ich zweifle daran« so gebraucht wie ich?

128. Ich habe von Kind auf so urteilen gelernt. Das ist Urteilen.

129. So habe ich urteilen gelernt; das als Urteil kennengelernt.

130. Aber ist es nicht die Erfahrung, die uns lehrt, so zu urteilen, d.h.‚ daß es richtig ist, so zu urteilen? Aber wie lehrt`s uns die Erfahrung? Wir mögen es aus ihr entnehmen, aber die Erfahrung rät uns nicht, etwas aus ihr zu entnehmen. Ist sie der Grund, daß wir so urteilen (und nicht bloß die Ursache), so haben wir nicht wieder einen Grund dafür, dies als Grund anzusehen.

Ludwig Wittgenstein auf dem Schaukelpferd,
 Foto: Carl Pietzner, um 1892
 (Österreichische Nationalbibliothek)
131. Nein, die Erfahrung ist nicht der Grund für unser Urteilsspiel. Und auch nicht sein ausgezeichneter Erfolg.

132. Menschen haben geurteilt, ein König könne Regen machen; wir sagen, dies widerspreche aller Erfahrung. Heute urteilt man, Aeroplan, Radio etc. seien Mittel zur Annäherung der Völker und Ausbreitung von Kultur.

134. Wenn ich ein Buch in eine Lade lege, so nehme ich nun an, es sei darin, es sei denn ... »Die Erfahrung gibt mir immer recht. Es ist noch kein gut beglaubigter Fall vorgekommen, daß ein Buch (einfach) verschwunden wäre.« Es ist oft vorgekommen, daß sich ein Buch nie mehr gefunden hat, obwohl wir sicher zu wissen glaubten, wo es war. — Aber die Erfahrung lehrt doch wirklich, daß ein Buch, z.B.‚ nicht verschwindet. (Z.B. nicht nach und nach verdunstet.) — Aber ist es diese Erfahrung mit Büchern etc., die uns annehmen läßt, das Buch sei nicht verschwunden? Nun, angenommen, wir fänden, daß unter bestimmten neuen Umständen Bücher verschwänden — würden wir nicht unsre Annahme ändern? Kann man die Wirkung der Erfahrung auf unser System von Annahmen leugnen?

135. Aber folgen wir nicht einfach dem Prinzip, daß, was immer geschehen ist, auch wieder geschehen wird (oder etwas ähnlichem)? — Was heißt es, diesem Prinzip folgen? Bringen wir es wirklich in unser Raisonnement? Oder ist es nur das Naturgesetz, dem scheinbar unser Schließen folgt? Das letztere mag es sein. Ein Glied in unsrer Überlegung ist es nicht.

138. […] Es gibt z.B. historische Untersuchungen und Untersuchungen über die Gestalt und auch (über) das Alter der Erde, aber nicht darüber, ob die Erde in den letzten 100 Jahren existiert habe. Freilich, viele von uns hören Berichte über diesen Zeitraum von ihren Eltern und Großeltern; aber können sich die nicht irren? — »Unsinn« wird man sagen, »Wie sollen sich denn alle diese Menschen irren!« Aber ist das ein Argument? Ist es nicht einfach die Zurückweisung einer Idee? Und etwa eine Begriffsbestimmung? Denn rede ich hier von einem möglichen Irrtum, so ändert das die Rolle, die »Irrtum« und »Wahrheit« in unserm Leben spielen.

Ludwig und Paul Wittgenstein Noten studierend,
Foto: Carl Pietzner, 1909 (Österreichische Nationalbibliothek)
139. Um eine Praxis festzulegen, genügen nicht Regeln, sondern man braucht auch Beispiele. Unsre Regeln lassen Hintertüren offen, und die Praxis muß für sich selbst sprechen.

140. Wir lernen die Praxis des empirischen Urteilens nicht, indem wir Regeln lernen; es werden uns Urteile beigebracht und ihr Zusammenhang mit andern Urteilen. Ein Ganzes von Urteilen wird uns plausibel gemacht.

141. Wenn wir anfangen, etwas zu glauben, so nicht einen einzelnen Satz, sondern ein ganzes System von Satzen. (Das Licht geht nach und nach über das Ganze auf.)

142. Nicht einzelne Axiome leuchten mir ein, sondern ein System, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen.

143. Es wird mir z. B. erzählt, jemand sei vor vielen Jahren auf diesen Berg gestiegen. Untersuche ich nun immer die Glaubwürdigkeit des Erzählers und ob dieser Berg vor Jahren existiert habe? Ein Kind lernt viel später, daß es glaubwürdige und unglaubwürdige Erzähler gibt, als es Fakten lernt, die ihm erzählt werden. Es lernt, daß jener Berg schon lange existiert habe, gar nicht; d. h. die Frage, ob es so sei, kommt gar nicht auf. Es schluckt, sozusagen, diese Folgerung mit dem hinunter, was es lernt.

Portrait above on being awarded a scholarship
 from Trinity College, 1929.    [Quelle]
144. Das Kind lernt eine Menge Dinge glauben. D.h. es lernt z. B. nach diesem Glauben handeln. Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.

145. Man will sagen »Alle meine Erfahrungen zeigen, daß es so ist«. Aber wie tun sie das? Denn jener Satz, auf den sie zeigen, gehört auch zu ihrer besonderen Interpretation.

»Daß ich diesen Satz als sicher wahr betrachte, kennzeichnet auch meine Interpretation der Erfahrung.«

146. Wir machen uns von der Erde das Bild einer Kugel, die frei im Raume schwebt und sich in 100 Jahren nicht wesentlich ändert. Ich sagte »Wir machen uns das Bild etc.«‚ und dies Bild hilft uns nun zum Beurteilen verschiedener Sachverhalte.

Ich kann die Dimensionen einer Brücke allerdings berechnen, manchmal auch berechnen, daß hier eine Brücke günstiger ist als eine Fähre etc. etc. — aber irgendwas muß ich mit einer Annahme oder Entscheidung anfangen.

147. Das Bild der Erde als Kugel ist ein gutes Bild, es bewährt sich überall, es ist auch ein einfaches Bild — kurz, wir arbeiten damit, ohne es anzuzweifeln.

148. Warum überzeuge ich mich nicht davon, daß ich noch zwei Füße habe, wenn ich mich von dem Sessel erheben will? Es gibt kein warum. Ich tue es einfach nicht. So handle ich.

149. Meine Urteile selbst charakterisieren die Art und Weise, wie ich urteile, das Wesen des Urteilens.

150. Wie beurteilt Einer, welches seine rechte und welches seine linke Hand ist? Wie weiß ich, daß mein Urteil mit dem der Andern übereinstimmen wird? Wie weiß ich, daß diese Farbe Blau ist? Wenn ich hier mir nicht traue, warum soll ich dem Urteil der Andern trauen? Gibt es ein Warum? Muß ich nicht irgendwo anfangen zu trauen? D.h. ich muß irgendwo mit dem Nichtzweifeln anfangen; und das ist nicht, sozusagen, vorschnell aber verzeihlich, sondern es gehört zum Urteilen.

151. Ich möchte sagen: Moore weiß nicht, was er zu wissen behauptet, aber es steht für ihn fest, so wie auch für mich; es als feststehend zu betrachten, gehört zur Methode unseres Zweifelns und Untersuchens.

152. Die Sätze, die für mich feststehen, lerne ich nicht ausdrücklich. Ich kann sie nachträglich finden wie die Rotationsachse eines sich drehenden Körpers. Diese Achse steht nicht fest in dem Sinne, daß sie festgehalten wird, aber die Bewegung um sie herum bestimmt sie als unbewegt.

153. Niemand hat mich gelehrt, daß meine Hände nicht verschwinden, wenn ich auf sie nicht aufpasse. Noch kann man sagen, ich setze die Wahrheit dieses Satzes bei meinen Behauptungen etc. voraus (als ruhten sie auf ihm), während er erst durch unser anderweitiges Behaupten Sinn erhält.

158. Kann ich mich z. B. darin irren, daß die einfachen Worte, die diesen Satz bilden, deutsche Wörter sind, deren Bedeutung ich kenne?

159. Wir lernen als Kinder Fakten, z.B. daß jeder Mensch ein Gehirn hat, und wir nehmen sie gläubig hin. Ich glaube, daß es eine Insel, Australien, gibt von der und der Gestalt usw. usw., ich glaube, daß ich Urgroßeltern gehabt habe, daß die Menschen, die sich für meine Eltern ausgaben, wirklich meine Eltern waren, etc. Dieser Glaube mag nie ausgesprochen, ja, der Gedanke, daß es so ist, nie gedacht werden.

Erinnerungstafel an Ludwig Wittgenstein in der (nun nach ihm benannten)
Volkschule in Trattenbach, wo er 1920 bis 1922 als Lehrer beschäftigt war.
160. Das Kind lernt, indem es dem Erwachsenen glaubt. Der Zweifel kommt nach dem Glauben.

161. Ich habe eine Unmenge gelernt und es auf die Autorität von Menschen angenommen, und dann manches durch eigene Erfahrung bestätigt oder entkräftet gefunden.

163. Prüft jemand je, ob dieser Tisch hier stehenbleibt, wenn niemand auf ihn achtgibt?

Wir prüfen die Geschichte Napoleons, aber nicht, ob alle Berichte über ihn auf Sinnestrug, Schwindel u. dergl. beruhen. Ja, wenn wir überhaupt prüfen, setzen wir damit schon etwas voraus, was nicht geprüft wird. Soll ich nun sagen, das Experiment, das ich etwa zur Prüfung eines Satzes mache, setze die Wahrheit des Satzes voraus, daß hier wirklich der Apparat steht, welchen ich zu sehen glaube (u. dergl.)?

164. Hat das Prüfen nicht ein Ende?

165. Ein Kind könnte zu einem andern sagen »Ich weiß, daß die Erde schon viele hundert Jahre alt ist«, und das hieße: Ich habe es gelernt.

166. Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.

167. Daß unsre Erfahrungsaussagen nicht alle gleichen Status haben, ist klar, da man so einen Satz festlegen und ihn vom Erfahrungssatz zu einer Norm der Beschreibung machen kann.

Denk an chemische Untersuchungen. Lavoisier macht Experimente mit Stoffen in seinem Laboratorium und schließt nun, daß bei der Verbrennung dies und jenes geschehe. Er sagt nicht, daß es ja ein andermal anders zugehen könne. Er ergreift ein bestimmtes Weltbild, ja, er hat es natürlich nicht erfunden, sondern als Kind gelernt. Ich sage Weltbild und nicht Hypothese, weil es die selbstverständliche Grundlage seiner Forschung ist und als solche auch nicht ausgesprochen wird.

170. Ich glaube, was mir Menschen in einer gewissen Weise übermitteln. So glaube ich geographische, chemische, geschichtliche Tatsachen etc. So lerne ich die Wissenschaften. Ja, lernen beruht natürlich auf glauben.

Wer gelernt hat, der Mont Blanc sei 4000 m hoch, wer es auf der Karte nachgesehen hat, sagt nun, er wisse es.

Und kann man nun sagen: Wir messen unser Vertrauen so zu, weil es sich so bewährt hat?

172. Vielleicht sagt man »Es muß doch ein Prinzip diesem Vertrauen zugrunde liegen«, aber was kann so ein Prinzip leisten? Ist es mehr als ein Naturgesetz des ›Fürwahrhaltens‹?

173. Liegt es denn in meiner Macht, was ich glaube? oder was ich unerschütterlich glaube?

Ich glaube, daß dort ein Sessel steht. Kann ich mich nicht irren? Aber kann ich glauben, daß ich mich irre? Ja, kann ich es überhaupt in Betracht ziehen? — Und könnte ich nicht auch an meinem Glauben festhalten, was immer ich später erfahre?! Aber ist nun mein Glaube begründet?

Quelle: Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit (Werkausgabe Band 8), Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1984 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 508). ISBN 3-518-28108-9. Zitiert wurde ein Ausschnitt aus dem Text ›Über Gewißheit‹ (1950/51), Seiten 141-155.


Link-Tipps

Webportal der Joseph-Marx-Gesellschaft

Berkant Haydins umfangreiche private Website über Leben und Werk von Joseph Marx

Ludwig Wittgensteins kurze Notiz Standardsituationen findet ihre Würdigung im "Lexikon der imaginären philosophischen Werke" (hier in der Kammermusikkammer)

Tractatus Architectonicus. Wie baut man das perfekte Haus? Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat Wien ein geniales Haus hinterlassen.


Klavierlieder - eine Kern-Kompetenz der Kammermusik-Kammer! Hören Sie selbst:

Klavierlieder von Bruno Walter (1876-1962) | Vorsicht, Satire - Angewandte Lyrik von Klopstock bis Blubo (Friedrich Torberg)

Klavierlieder von Clara Schumann (1819-1896) | Ein Suchbild mit Drache - Laubwald mit dem Heiligen Georg (Albrecht Altdorfer)

Klavierlieder von Felix Mendelssohn (1809-1847) | "Je suis belle, ô mortels! comme un rêve de pierre" - Schön sind die Geschöpfe von Baudelaire und de Lempicka

Letzte Klavierlieder von Franz Schubert (1797-1828) | "En una noche escura" - Ein ernster Ton von ernsten Männern (Lyrik aus Spaniens Goldener Zeit)

Und Schuberts "Schöne Müllerin" (Historische Aufnahme 1974) | Das geöffnete Kleid - Piero della Francesca nimmt Maß an den Dingen


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