17. Dezember 2012

Carmina Burana. Das Benediktbeuren Manuskript. Studio der Frühen Musik

Die Carmina burana, die Handschrift Clm 4660 der Bayerischen Staatsbibliothek, ist die berühmteste aller mittelalterlichen Gedichtsammlungen in lateinischer und mittelhochdeutscher Sprache. Johann Andreas Schmeller, der die Handschrift 1847 erstmals herausgab, stellte fest, daß die Handschrift in der Klosterbibliothek Benediktbeuren aufbewahrt worden sein muß; daher wurde sie unter dem Namen Carmina burana, Lieder aus Benediktbeuren, bekannt. Die Handschrift kann zwar für eine gewisse Zeit im Besitz dieses Klosters gewesen sein, doch hatte sie dort nicht ihren Ursprung. Sie entstand in einem unbekannten, ohne Zweifel klösterlichen Umfeld (sowohl Seckau wie Neustift in Tirol wurden vermutet) und kam nach Benediktbeuren im Zuge der Säkularisierung der Klöster durch Napoleon.

Bekannt ist sie vor allem durch ihre reichhaltige Sammlung von Liebesgedichten, Studentenliedern und religiösen Dichtungen, die in lateinischer, häufig aber auch in deutscher Sprache gehalten sind (die deutschen Teile wurden in einem Dialekt geschrieben, der in einer Region um Neustift in Tirol beheimatet ist). Am besten sind die Carmina burana der Musikwelt als szenische Kantate von Carl Orff bekannt, einem Werk für Vokalsolisten, Chor und Orchester, in dem in Szenen arrangierte ausgewählte Texte aus der Handschrift verwendet werden. Die vorliegende Aufnahme aus den frühen sechziger Jahren stellt den ersten ernsthaften Versuch dar, die originale mittelalterliche Musik dieser Lieder etwa 25 Jahre nach Orffs Komposition zu rekonstruieren.

Carmina Burana: Rota Fortunae
Die Anfänge des Projekts

Nachdem ich mich dazu entschieden hatte, eine Transkribierung und Aufführung der Lieder des Carmina burana-Manuskripts zu versuchen - eine Idee, die, wenn ich mich recht erinnere, von Andrea von Ramm angeregt wurde - machte ich mich daran, das notwendige Material zu sammeln. Das Manuskript befand sich (und befindet sich noch heute) in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, doch als ich es sehen wollte, wurde mir mitgeteilt, es sei zu kostbar, man könne mir nicht erlauben, es zu sehen oder gar zu benutzen. Ich sagte dem Kurator, selbst ein Wissenschaftler und anerkannter Beamter, ich wüßte, daß eine Faksimileausgabe vorbereitet würde, daß ich meine Steuern zahle, daß die Handschrift öffentlicher Besitz sei und ich mit ihr arbeiten wolle. Er erwiderte, ich könne ja wohl nicht hereinkommen, ihm die Pistole auf die Brust setzen und Forderungen stellen, im übrigen »dürfen Sie gar nicht wissen« (an diese Worte erinnere ich mich noch heute genau), daß eine Faksimileausgabe geplant sei. Ich glaube, ich habe sogar die Kulturreferenten von Bayern und München um Unterstützung gebeten. Schließlich wurde mir die Erlaubnis erteilt, Fotokopien von den von mir angegebenen Folios anfertigen zu lassen, doch durften keine zusammenhängenden Abschnitte der Handschrift kopiert werden. Einsicht in die Handschrift selbst wurde mir allerdings nie gewährt.

Dies zeigt die Schwierigkeiten, mit denen sich Wissenschaftler und Musiker zu dieser Zeit konfrontiert sahen, wenn sie Material in den großen europäischen Bibliotheken einsehen wollten (an dieser Situation hat sich in einigen Bibliotheken innerhalb wie außerhalb Deutschlands bis auf den heutigen Tag nichts geändert, ein ernsthaftes Hindernis für jeglichen Fortschritt).

Die Handschrift ist klein und recht elegant. Die Musik ist in Neumen ohne Taktstriche über einigen Gedichten angegeben. In dieser Notationsart sind Tonhöhe und Rhytmus nur recht ungenau fixiert, doch da sich viele der Stücke in anderen Handschriften in klarerer Notation finden, ist eine Transkription möglich.

1960 glaubte man, die gesamte Information zur Musik sei in der Partitur enthalten, während heute die Auffassung vorherrscht, daß in vielen Kompositionen die Partitur unwichtiger ist als Einzelheiten des Vortrags; etwas was wir als Hilfsmittel der Ethnologie kennengelernt haben, wird jetzt in der historischen Musikwissenschaft eingesetzt.

Carmina Burana: Der phantastische Wald
Die Rekonstruierung

Unsere Hauptaufgabe war es, einen historisch fundierten Vortragsstil zu finden, der sowohl künstlerische Qualitäten wie historische Aufführungspraxis gleichermaßen berücksichtigte. Es gab keine Modelle, auf die man sich hätte stützen können. Ich hatte bereits Gelegenheit, mich näher mit der Musik des Mittleren Ostens und Südostasiens zu beschäftigen; daher war mir klar, daß diese Musik, die hauptsächlich monophon ist, weder primitiv noch künstlerisch geringer einzuschätzen ist als die polyphone Musik. Dies war weniger Musik des Komponisten als vielmehr Musik der Ausführenden. Daher entwickelten wir passende instrumentale Begleitungen zu den Liedern. Dabei entfernten wir uns von den harmonisch-kontrapunktisch geprägten Modellen zu Instrumentierungen, die besser auf die Melodie abgestimmt waren. Die in der nichtwestlichen Musik vielfach benutzte kleine Trommel wurde mehr als ein Kammermusikinstrument als für die Tanzrhythmen eingesetzt, was zu dieser Zeit eine vollkommene Neuerung darstellte. Außerdem verwendeten wir viele mittelalterliche Instrumente wie die lira, die vielle, das rebec, die 'ud (= Laute), die citole, die chitarra sarracenia, die kleine mittelalterliche Harfe, das Psalter, die kleine Flöte ohne Klappen, die mittelalterliche Schalmei - das alles waren Instrumente, die in Musikerkreisen zu dieser Zeit noch recht unbekannt waren.

Carmina Burana: Das Liebespaar
Die instrumentalen Vor-, Zwischen- und Nachspiele regten zur Aufführung des ganzen Liedes an (1960 war man noch der Auffassung, die Aufführung eines Liedes in voller Länge wäre unüblich, da nicht das ganze Lied sondern nur die Melodie für den wesentlichen Teil der Musik gehalten wurde - ein ein- oder zweimaliger Durchgang galt als durchaus ausreichend). Die Grundregel, die unsere Aufführungen mittelalterlicher Instrumentalmusik bestimmte, war, daß jeder Part individuell behandelt werden mußte und für den jeweiligen Musiker leicht zu spielen war. Artikulation ist der eigentlich wichtige Schlüssel zu korrekter Phrasierung. Bei einem Saiteninstrument gibt die Stimmung die Noten vor, die gespielt werden. Der Bogen oder das Plektrum verlangt eine Art Choreographie, durch die verwendbare und passende Klänge (entsprechend der Stimmung) hervorgebracht werden; diese Klänge basieren nicht auf Theorien über Konsonanz oder Kontrapunkt.

Diese Aufführungen boten einen neuen experimentellen Ansatz für die Interpretation mittelalterlicher Musik, doch öffneten sie auch vielerlei geistloser Nachahmung und Einbeziehung folkloristischer und exotischer Paradigmata Tür und Tor, die in der ernsthaften authentischen Aufführungspraxis keinen Platz hatten. Dies führte zur Schaffung eines pseudo-historischen Aufführungsstils, in dem gute Musiker alte Musik spielten, ohne einen Gedanken an die historische Aufführungspraxis zu verschwenden; sie kreierten eine neue Art von Musik, keine Volksmusik, keine exotische, keine historische Musik, sondern eine Musik, die eben einfach Freude macht beim Spielen und beim Zuhören.

Carmina Burana: Dido und Aeneas
Die Gegebenheiten der Aufführungspraxis mittelalterlicher Musik 1960

In den frühen sechziger Jahren setzten sich die Spezialisten für Alte Musik sehr mit den Details der Melodien auseinander: die Ambiguität von richtigen gegen falsche Noten wurde ähnlich empfunden wie die Zweideutigkeit, die zwischen Dichtung und Wahrheit besteht. Damals wie heute ist es für uns schwer zu verstehen, daß es mehrere verschiedene Versionen eines Musikstücks geben kann, die von gleichem künstlerisehen Wert sind und die gleiche historische Glaubwürdigkeit besitzen. Man kannte sich mit den Einzelheiten der Instmmente und ihren Spieltechniken, die so wichtig dafür sind, improvisatorische Eigenheiten während der Aufführung herauszubringen, noch nicht so recht aus. Es war tatsächlich nur wenig über mittelalterliche Instrumente bekannt. Niemand, der zu dieser Zeit mittelalterliche Musik spielte, wollte den Aufführungsmustern des Mittelalters Vertrauen schenken, jeder benutzte Instrumente neuerer Zeit und setzte bei der Aufführung eine moderne »Qualitätskontrolle« an, bei der es mehr darauf ankam, einen schönen Klang (was auch immer das sein mag) zu erzeugen, als sich interessante Noten besonders herauszugreifen.

Obwohl uns eine wichtige originale Quelle zur historischen Aufführungspraxis leicht zugänglich gewesen wäre, erkannten wir sie nicht als solche: Ich denke hier an den gesamten Komplex mittelalterlicher Rhetorik. Zu dieser Zeit fingen wir erst an zu verstehen, daß es in weitem Maße die speziellen Eigenheiten eines Instruments sind, die das Klangbild bestimmen. Als wir damit aufhörten, spezifische Muster der Renaissancemusik auf das Mittelalter zu übertragen, war ein großer Schritt nach vorn getan. Unsere neuen Modelle fanden wir in ausgewählten Praktiken Südostasiens, des Mittleren Ostens und Nordafrikas: monophon bestimmte und instmmentale Musik, die auf einer ernstzunehmenden ästhetischen Theorie fußen, die im weitesten Sinne auch auf die westliche Musik anwendbar ist. Wir ahmten die östliche Musik nie direkt nach, unsere Erkenntnisse ließen wir durch ein »westliches Filter« passieren, um so die verlorene Kunst mittelalterlicher Instrumentalmusik wieder erstehen zu lassen. Wir sahen die Vor-, Zwischen- und Nachspiele als notwendige Bestandteile der Lieder an, und da es keine Modelle gab, suchten wir in der östlichen Musik nach Vorbildern.

Carmina Burana: Die Zecher
Der Blick zurück

Während ich auf diese Arbeit von vor dreißig Jahren zurückschaue, ist es für mich überraschend, wieviel davon meinem Gefühl nach immer noch richtig ist. Heute wäre ich vielleicht weniger großzügig im Gebrauch verschiedener Instrumentalklänge in der Begleitung. Ich würde die Rhythmen mehr im sprachlichen Sinne und nicht so sehr als tanzähnliche Metren späterer Musik, wie sie uns allen in den Knochen steckt, herausarbeiten. Ich würde die Vor-, Zwischen- und Nachspiele besser in die Stücke eingliedern; sie gehören dazu, sind den Liedern selbst aber immer noch untergeordnet. Die Theorien der nachmittelalterlichen Aufführungspraxis stören den Musiker sowohl bei seiner Umsetzung der Ästhetik mittelalterlicher Stücke, wie auch der Realisierung - wenn man ihn so nennen kann - des Makrorhythmus rhetorischer Exposition, der Priorität der Kadenzen und der Phrasenanfänge. Ich bin nicht sicher, ob wir das damals schon erkannten, doch heute ist dieses Problem immer noch aktuell. Im Gegensatz zu heute war die Szene für mittelalterliche Musik damals klein, was zur Isolation der Musiker, die sich mit moderner Musik beschäftigten, von den Musikern, die sich um eine Umsetzung mittelalterlicher Musik bemühten, führte. Wären da nicht die weitsichtigen Aufnahmeproduzenten gewesen, die ihre Firmen davon überzeugten, in Projekte wie das unsere zu investieren, wer weiß, was wohl passiert wäre.

Ich kann mich noch gut an die Aufnahmen in dem alten AEG Studio in München in jenen ersten Tagen des stereophonen Klangs erinnern. Der Saal selbst war klein und hatte eine schlechte, für Aufnahmen nicht geeignete Akustik - was für ein Unterschied zu den fantastischen riesenhaften Gemäuern des Mittelalters. Wir sangen und spielten mit jugendlichem Zutrauen in die musikalischen Entscheidungen, die zum großen Teil auf Instinkt und Einfühlungsvermögen beruhten. Während ich zu diesem Repertoire in den Jahren bis heute wieder und wieder zurückgekehrt bin, erscheint mir kein Unternehmen so groß und weitreichend wie jenes damals.

Quelle: Thomas Binkley: Erinnerungen nach dreißig Jahren, veröffentlicht im Booklet (Übersetzung: Eva Zöllner). Dieser Artikel wurde 1994 geschrieben, ein Jahr vor Thomas Binkleys Tod

CD 1 Track 3, Estivali sub fervore, C.B. No. 79

Estivali sub fervore
Estivali sub fervore,
quando cuncta sunt in flore,
totus eram in ardore.
sub olive me decore,
estu fessum et sudore,
    detinebat mora.

Erat arbor hec in prato
quovis flore picturato,
herba, fonte, situ grato,
sed et umbra, flatu dato.
stilo non pinxisset Plato
   loca gratiora.

Subest fons vivacis vene,
adest cantus philomene
Naiadumque cantilene.
paradisus hic est pene;
non sunt loca, scio plene,
   his iocundiora.

Hic dum placet delectari
delectatque iocundari
et ab estu relevari,
cerno forma singolari
pastorellam sine pari
   colligentem mora.

In amorem vise cedo;
fecit Venus hoc, ut credo.
»ades!« inquam, »non sum predo,
nichil tollo, nichil ledo.
me meaque tibi dedo,
   pulchrior quam Flora!«

Que respondit verbo brevi:
»ludos viri non assuevi.
sunt parentes michi sevi;
mater longioris evi
irascetur pro re levi.
   parce nunc in hora!«
Unter sommerlicher Hitze -
wenn alles in Blüte steht -
war ich durch und durch erglüht.
Unter eines Ölbaums Schmuck,
von Hitze und Mühe erschöpft,
machte ich eine Pause.

Da war ein Baum auf einer Wiese,
bunt gefärbt von Blüten aller Art.
Eine Quelle, Kräuter, schöne Lage,
doch auch von Schatten, Windhauch gesegnet.
Plato hätte mit seinem Stift keinen schöneren
Ort gezeichnet.

Nahebei der sprudelnde Quell eines Bachs,
ringsum der Nachtigallen Gesang
und Lieder der Najaden.
Fast wie im Paradies ist es hier;
es gibt keinen Ort, ich weiß es bestimmt,
der schöne wäre als dieser.

Als ich da genoss, mich zu erfreuen,
und mich erfreute, mich zu ergötzen
und von der Hitze zu erholen,
sehe ich ein Hirtenmädchen
ohne Gleichen, einzigartig
schön, wie es Brombeeren sammelt.

Ich vergehe in Liebe zu dem, was ich sehe;
Venus bewirkte das, wie ich meine.
»Komm her!«, sage ich. »Ich bin kein Räuber,
Ich stehle nichts, ich verletze dich nicht.
Das Meine und mich geb ich dir hin,
die schöner du bist als Flora!«

Sie erwidert mit knappen Worten:
»Ich vergnüge mich nicht mit Männern,
habe grimmige Eltern.
Meine Mutter, schon recht alt,
zürnt selbst wegen Kleinigkeiten.
Lass mich jetzt zufrieden!«

TRACKLIST

CARMINA BURANA

The Benediktbeuren Manuscript c. 1300


CD 1                                                 53'19"

(1) Fas et nefas, C. B. No. 19                        1'32"
    male voices, goblet drum, bells 

(2) Veris dulcis in tempore, C. B. No. 85             2'38" 
    tenor, lute 

(3) Estivali sub fervore, C. B. No. 79                5'15"
    countertenor, flute, goblet drum

(4) In Gedeonis area, C. B. No. 37                    4'29" 
    male voices, flute, fiddle, lute, goblet drum, cimbalom
    
(5) Dulce solum, C. B. No. 119                        2'49" 
    countertenor, long-necked lute 

(6) Iove cum Mercurio, C. B. No. 88a                  2'42" 
    tenor, rebec, cymbalom, goblet drum 

(7) Nomen a solemnibus, C. B. No. 52                  3'40" 
    baritone, flute, fiddle, long-necked lute 

(8) Sic mea fata canendo solor, C. B. No. 116         1'59" 
    countertenor, long-necked lute, goblet drum 

(9) Vite perdite, C. B. No. 31                        3'04"
    baritone, goblet drum 

(10) Tempus transit gelidum, C. B. No. 153            3'32" 
     countertenor, lute 

(11) Fulget dies celebris, C. B. No. 153              1'08" 
     boys' choir, tenor

(12) Exiit diluculo, C. B. No. 90                     1'22"  
     boys' voices, flute, organetto

(13) Conspexit in cespite, C. B. No. 90               0'34"
     boys' voices

(14) Dic, Christi veritas, C. B. No. 131              4'36"
     countertenor

(15) Procurans odium, C. B. No. 12                    2'04"
     three male voices

(16) Planctus ante nescia, C. B. No. 14*              6'28"
     mezzo soprano, long-necked lute

(17) Chramer gip diu varwe mier, C. B. No. 16*        0'31"
     rebec

(18) Diu werlt frovt sih uber al, C. B. No. 161a      0'30"
     baritone, fiddle

(19) Dum iuventus floruit, C. B. No. 30               0'54"
     flute

(20) Sage, daz ih dirs, C. B. No. 147a                0'58"
     mezzo-soprano, baritone, flute, fiddle

(21) Chramer gip diu varwe mier, C. B. No. 16*        1'00"
     mezzo-soprano, bombarde

     
CD 2                                                 46'35"
    
(1) Homo quo vigeas, C. B. No. 22                     1'24"
    mezzo-soprano, three tenors, bass, rebec, trombone
    
(2) Ecce torpet, C. B. No. 3                          6'50"
    bass, organetto, fiddle, lute, tambourine, bells

(3) Licet eger cum egrotis, C. B. No. 8               4'35"
    tenor, rebab

(4) Vite perdite, C. B. No. 31                        2'57"
    mezzo-soprano, countertenor, three tenors,
    bass, rebec, two tambourines 

(5) Crucifigat omnes, C. B. No. 47                    3'00" 
    mezzo-soprano, countertenor, tbree tenors, bass 
    
(6) O varium Fortune, C. B. No. 14                    3'59" 
    mezzo-soprano, tenor 

(7) Celum, non animum, C. B. No. 15                   4'19"
    mezzo-soprano, two tenors 

(8) Dum iuventus floruit, C. B. No. 30                3'12"
    tenor, lute, fiddle 

(9) Axe Phebus aureo, C. B. No. 71                    2'52"
    mezzo-soprano, rebec, lute 

(10) Ecce gratum, C. B. No. 143                       2'59" 
     tenor, lute, fiddle, organetto, bells, tambourine 

(11) Tellus flore, C. B. No. 146                      2'36"
     countertenor, citole 

(12) Tempus est iocundum, C. B. No. 179               3'18"
     mezzo-soprano, rebec, citole 

(13) Nu gruonet aver diu heide, C. B. No. 168a        3'30"
     tenor, harp, psaltery, rebab 


Studio der Frühen Musik 
Thomas Binkley




STUDIO DER FRÜHEN MUSIK

Andrea von Ramm 
   Mezzo-soprano, harp, organetto - Mezzosopran, Harfe, Organello 
   - mezzo-soprano, harpe, organette 
Willard Cobb 
   Tenor, tambourine - Tenor, Tambourin - tenor, tambourins 
Sterling Jones 
   Rebec, fiddle, lyra - Rebec, Fiedel, Lyra - rebec, vielle, lyre 
Thomas Binkley 
   Lute, bass shawm, trombone, tambourine, citole, psaltery 
   - Laute, Pommer, Posaune, Tambourin, Citôle, Psalterium 
   - luth, bombarde, trombone, tambourins, citole, psaltérion 

with - mit - avec: 

Grayston Burgess 
   Countertenor - Kontratenor - haute-contre 
Nigel Rogers 
   Tenor, bells, tambourine - Tenor, Schellen, Tambourin -
   ténor, grelots, tambourins 
Desmond Clayton 
   Tenor - ténor 
Jacques Villisech 
   Bass - Baß - basse 
Karlheinz Klein 
   Baritone - Bariton - baryton 
Lore Wehrung 
   Transverse flute - Querflöte - flûte traversière 
Horst Huber 
   Percussion - Schlagzeug - percussion 
Münchener Marienknaben 
   Chorus Master: Kurt Rith 


Recording Locations:
Munich, September 1964 (CD 1); Amsterdam, October 1967 (CD2) 
Cover: Osias t.E. Beert: Still Life with Fruit (1615) 

(P) 1964/1968 
(C) 2007 

CD 2 Track 2, Ecce torpet, C.B. No. 3

Ecce torpet probitas (Walther von Châtillon)
Ecce torpet probitas,
    virtus sepelitur;
fit iam parca largitas,
    parcitas largitur;
verum dicit falsitas,
    veritas mentitur.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad res illicitas
    licite recedunt.

Regnat avaritia,
    regnant et avari;
mente quivis anxia
    nititur ditari,
cum sit summa gloria
    censu gloriari.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad prava quelibet
    impie recedunt.

Multum habet oneris
    do das dedi dare;
verbum hoc pre ceteris
    norunt ignorare
divites, quos poteris
    mari comparare.
Refl. Omnes iura ledunt
et in rerum numeris
    numeros excedunt.

Cunctis est equaliter
    insita cupido;
perit fides turpiter,
    nullus fidus fido,
nec Iunoni Iupiter
    nec Enee Dido.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad mala devia
    licite recedunt.

Si recte discernere
    velis, non est vita,
quod sic vivit temere
    gens hec imperita;
non est enim vivere,
    si quis vivit ita.
Refl. Omnes iura ledunt
et fidem in opere
    quolibet excedunt.
Sieh, der Anstand liegt ohnmächtig da,
die Tugend wird begraben;
jetzt wird Freigebigkeit sparsam,
Sparsamkeit großzügig;
wahr spricht die Falschheit,
die Wahrheit lügt.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und ungestört ziehen sie
    zum Unerlaubten hin.

Es regiert Habgier,
und es regieren die Habgierigen;
ein jeder strebt mit bangem Sinn,
sich zu bereichern.
Denn es ist der größte Ruhm,
sich eines Vermögens zu rühmen.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und zu jedwedem Schlechten
    ziehen sie gottlos hin.

Große Last bedeutet
»ich gebe«, »du gibst«, »ich gab« und »zu geben«;
die Reichen verstehen es,
vor allem dieses Verb
nicht zu kennen - man könnte sie
mit dem Meer vergleichen.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und jedes Maß überschreiten sie
    mit dem Maß ihres Besitzes.

Allen gleichermaßen
wohnt die Gier inne,
schmählich stirbt die Treue,
dem Treuen ist niemand treu:
weder Jupiter der Juno
noch dem Äneas Dido.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und auf üble Abwege
    weichen sie ungestört aus.

Wenn du ehrlich urteilen
willst, ist das kein Leben,
was das unwissende Volk
so unbedacht verlebt;
denn es handelt sich nicht um »leben«,
wenn jemand so lebt.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und mit jedwedem Werk
    verletzen sie den Anstand.

Nikolaus Harnoncourt, 2003
Zur Interpretation historischer Musik


Da im heutigen Musikleben die historische Musik eine beherrschende Rolle spielt, ist es gut, sich mit den Problemen, die damit zusammenhängen, auseinanderzusetzen. Es gibt zwei grundverschiedene Einstellungen zu historischer Musik, denen auch zwei ganz verschiedene Arten der Wiedergabe entsprechen: die eine überträgt sie in die Gegenwart, die andere versucht, sie mit den Augen der Zeit ihres Entstehens zu sehen.

Die erste Auffassung ist die natürliche und übliche zu allen Zeiten einer wirklich lebendigen Gegenwartsmusik. Sie ist auch die einzig mögliche während der ganzen abendländischen Musikgeschichte von Beginn der Mehrstimmigkeit bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, und noch heute huldigen ihr viele große Musiker. Diese Einstellung stammt daher, daß die Sprache der Musik immer als absolut zeitgebunden betrachtet wurde. So empfand man zum Beispiel um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kompositionen aus den ersten Jahrzehnten als hoffnungslos altmodisch, wenn man auch ihren Wert als solchen anerkannte. Immer wieder wundern wir uns über die Begeisterung, mit der früher die gegenwärtigen Kompositionen als noch nie dagewesene Höchstleistungen gepriesen wurden. Die Alte Musik wurde nur als Vorstufe dazu betrachtet, bestenfalls als Studienmaterial herangezogen oder in ganz seltenen Fällen für irgendeine besondere Aufführung bearbeitet. Bei jeder dieser seltenen Aufführungen Alter Musik - etwa im 18. Jahrhundert - hielt man eine Modernisierung für unbedingt nötig. Die Komponisten unserer Zeit aber, die historische Werke bearbeiten, wissen genau, daß diese vom Publikum unbearbeitet genauso selbstverständlich angenommen würden; die Bearbeitung entspringt heute also nicht einer absoluten Notwendigkeit wie in früheren Jahrhunderten: wenn überhaupt historische Musik, dann modernisiert, sondern der ganz persönlichen Einstellung des Bearbeiters. Dirigenten wie Furtwängler oder Stokowski, die ein spätromantisches Ideal hatten, haben die ganze frühere Musik in diesem Sinne wiedergegeben. So wurden Bachs Orgelwerke für Wagner-Orchester instrumentiert oder seine Passionen in überromantischer Art mit einem Riesenapparat aufgeführt.

Carmina Burana: Wurfzabelspiel
Die zweite Auffassung, die der sogenannten Werktreue, ist wesentlich jünger als die vorhin besprochene und datiert erst etwa vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Seither wird die »werkgetreue« Wiedergabe historischer Musik immer mehr und mehr gefordert, und bedeutende Interpreten bezeichnen sie als das von ihnen angestrebte Ideal. Man versucht, der Alten Musik als solcher gerecht zu werden und sie im Sinne der Zeit ihres Entstehens wiederzugeben. Diese Einstellung zur historischen Musik - sie nicht in die Gegenwart hereinzuholen, sondern sich selbst in die Vergangenheit zurückzuversetzen - ist Symptom des Verlustes einer wirklich lebendigen Gegenwartsmusik. Die Musik von heute genügt weder dem Musiker noch dem Publikum, ja deren größerer Teil lehnt sie direkt ab, und um das so entstehende Vakuum auszufüllen, greift man auf die historische Musik zurück. In der letzten Zeit hat man sich schon stillschweigend daran gewöhnt, unter Musik in erster Linie historische Musik zu verstehen; die zeitgenössische Musik läßt man höchstens nebenbei gelten.

Diese Situation ist in der Musikgeschichte absolut neuartig. Ein kleines Beispiel mag dies illustrieren: würde man heute die historische Musik aus dem Konzertsaal verbannen und nur moderne Werke aufführen, wären die Säle bald verödet - genau das gleiche wäre aber zu Mozarts Zeit passiert, wenn man dem Publikum die zeitgenössische Musik vorenthalten und nur Alte Musik (zum Beispiel Barockmusik) vorgesetzt hätte. Man sieht, heute trägt die historische Musik, besonders die des 19. Jahrhunderts, das Musikleben. Das war seit Bestehen der Mehrstimmigkeit noch nie der Fall. Ebenso hatte man früher kein Bedürfnis nach einer werkgetreuen Wiedergabe historischer Musik, wie man sie heute fordert. Die historische Schau ist einer kulturell vitalen Zeit absolut wesensfremd. Man sieht dies auch in den anderen Künsten: so hat man beispielsweise früher bedenkenlos an eine gotische Kirche eine barocke Sakristei angebaut, die herrlichsten gotischen Altäre weggeworfen und barocke aufgestellt, während man heute alles peinlichst restauriert und erhält. Diese historische Einstellung hat auch ein Gutes: sie ermöglicht uns, erstmalig in der Geschichte unserer christlich-abendländischen Kunst, einen freien Standpunkt einzunehmen und so das ganze Schaffen der Vergangenheit zu überblicken. Dies ist die Ursache für die immer größere Ausbreitung historischer Musik in den Konzertprogrammen.

Carmina Burana: Schachspiel
Die letzte musikalisch lebendig schöpferische Zeit war die Spätromantik. Die Musik Bruckners, Brahms', Tschaikowskys, Richard Strauss' und anderer war noch lebendigster Ausdruck ihrer Zeit. Dort aber ist das ganze Musikleben stehengeblieben: diese Musik ist noch heute die am meisten und liebsten gehörte, und die Ausbildung der Musiker an den Akademien folgt noch immer den Prinzipien dieser Zeit. Es scheint fast, als wolle man nicht wahrhaben, daß seither viele Jahrzehnte vergangen sind.

Wenn wir heute historische Musik pflegen, so können wir dies nicht mehr so tun wie unsere Vorgänger in großen Zeiten. Wir haben die Unbefangenheit verloren, in der Gegenwart den Maßstab zu sehen, der Wille des Komponisten ist für uns höchste Autorität, wir sehen die Alte Musik an sich in ihrer eigenen Zeit und müssen uns daher bemühen, sie werkgetreu darzustellen, nicht aus musealen Gründen, sondern weil es uns heute der einzig richtige Weg zu sein scheint, sie lebendig und würdig wiederzugeben. Werkgetreu aber ist eine Wiedergabe dann, wenn sie sich der Vorstellung des Komponisten zur Zeit der Komposition annähert. Man sieht, daß dies nur bis zu einem gewissen Grad zu verwirklichen ist: die Urplanung eines Werkes läßt sich nur ahnen, besonders, wenn es sich um Musik weit zurückliegender Zeiten handelt. Anhaltspunkte, die einem den Willen des Komponisten zeigen, sind die Vortragsbezeichnungen, die Instrumentation und die vielen Gebräuche der Aufführungspraxis, die sich immer wieder geändert haben und deren Wissen die Komponisten bei ihren Zeitgenossen natürlich voraussetzten. Für uns bedeutet das ein umfangreiches Studium, aus dem man in einen gefährlichen Fehler verfallen kann: die Alte Musik nur vom Wissen her zu betreiben. So entstehen jene bekannten musikwissenschaftlichen Aufführungen, die historisch oft einwandfrei sind, denen aber jedes Leben fehlt. Da ist eine historisch ganz falsche, aber musikalisch lebendige Wiedergabe vorzuziehen. Die Erkenntnisse der Musikwissenschaft sollen aber natürlich nicht Selbstzweck sein, sondern uns nur die Mittel für die beste Wiedergabe in die Hand geben, denn werkgetreu ist sie schließlich auch nur dann, wenn das Werk am schönsten und klarsten zum Ausdruck kommt, und das wird dann sein, wenn sich Wissen und Verantwortungsbewußtsein mit tiefstem musikalischen Empfinden vereinen.

Carmina Burana: Das Würfelspiel
Den fortwährenden Umwandlungen der Musizierpraxis schenkte man bisher sehr wenig Beachtung, ja sie wurden als unwesentlich empfunden. Schuld daran ist die Vorstellung von der »Entwicklung« aus primitiven Urformen über mehr oder weniger mangelhafte Zwischenstufen bis zu ihrer endgültigen »idealen« Gestalt. Diese ist dann natürlich den »Vorstufen« in allem überlegen. Diese Ansicht ist als Überbleibsel aus den Zeiten lebendiger Kunst noch heute sehr verbreitet. So hatten sich in den Augen der damaligen Menschen die Musik, die Spieltechnik und die Musikinstrumente bis auf diese höchste Stufe, die jeweilige Gegenwart, »herauf«entwickelt. Seit wir aber in der Lage sind, einen Überblick zu gewinnen, hat sich diese Meinung, was die Musik selbst betrifft, schon umgekehrt: wir können keine Wertunterschiede mehr machen zwischen der Musik Brahms', Mozarts, Bachs, Josquins oder Dufays - die Theorie von der Aufwärtsentwicklung ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Nun spricht man von der Zeitlosigkeit aller großen Kunstwerke, und diese Auffassung ist, so wie sie allgemein verstanden wird, genauso unrichtig wie die der Aufwärtsentwicklung. Die Musik ist wie jede Kunst unerhört zeitgebunden, sie ist der lebendige Ausdruck nur ihrer Zeit, sie wird nur von den Zeitgenossen restlos verstanden. Unser »Verständnis« Alter Musik kann uns den Geist, aus dem sie entstanden ist, nur ahnen lassen. Wir sehen, daß die Musik immer der geistigen Situation ihrer Zeit entspricht. Ihr Gehalt kann nie über das menschliche Ausdrucksvermögen hinausgehen, und jeder Gewinn auf der einen Seite muß mit einem Verlust auf einer anderen bezahlt werden.
Carl Orff hat nicht nur die Musik seiner "Carmina Burana"
frei erfunden. Auch das Glücksrad, das für die Inszenierungen
des Orffschen Werks offensichtlich unentbehrlich ist, ist nicht
aus mittelalterlichen Quellen geschöpft.
Weil man sich im allgemeinen nur wenig klar ist über Art und Umfang der Änderungen, die die Musikpraxis in unzähligen Einzelheiten durchmachte, seien sie noch kurz besprochen; etwa die Notation, die bis in das 17. Jahrhundert dauernden Wandlungen ausgesetzt war und deren von da ab »eindeutige« Zeichen trotzdem bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts oft sehr verschieden verstanden wurden. Der heutige Musiker spielt genau das, was in den Noten steht, ohne zu wissen, daß das mathematisch genaue Notieren erst im 19. Jahrhundert üblich wurde. Weiters bildet der Riesenkomplex der Improvisation, bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts untrennbar mit der ganzen Musizierpraxis verknüpft, eine ungeheure Quelle von Problemen. Die Unterscheidung der einzelnen Entwicklungsphasen für die jeweiligen Zeitabschnitte setzt ein umfangreiches Fachwissen voraus, dessen konsequente Verwertung sich im Formalen und Gestaltungsmäßigen der Wiedergabe zeigt. Was aber einen unmittelbar wahrnehmbaren Unterschied macht, ist das Klangbild (das heißt Klangfarbe, Charakter und Stärke der Instrumente und anderes). Denn ebenso wie die Lesart der Notation oder die Praxis der Improvisation dem Zeitgeist entsprechend dauernder Veränderung unterworfen war, wandelten sich gleichzeitig die Klangvorstellung und das Klangideal und damit auch die Instrumente als solche, deren Spielweise und sogar die Gesangstechnik. Zum Komplex des Klangbildes gehört auch noch der Raum, das heißt dessen Größe und Akustik.

Selbst bei den Wandlungen der Spielweise - also der Technik - kann nicht von einer »Aufwärtsentwicklung« gesprochen werden, sie paßt sich ebenso wie die Instrumente den Forderungen ihrer Zeit immer restlos an. Dem könnte entgegengehalten werden, daß die Anforderungen an die Spieltechnik immer größer wurden; das ist richtig, bezieht sich aber immer nur auf gewisse Gebiete der Spieltechnik, während die Anforderungen auf anderen Gebieten wieder geringer wurden. Freilich, kein Geiger des 17. Jahrhunderts könnte zum Beispiel das Brahms-Konzert spielen, aber genauso ist kein Brahms-Geiger imstande, schwierige Werke aus der Violinmusik des 17. Jahrhunderts tadellos wiederzugeben. Eine ganz andere Technik ist für das eine und das andere erforderlich, jede für sich ist gleich schwierig, nur grundsätzlich verschieden.

Bert Osias der Ältere (1580-1623): Stillleben mit Früchten
 (um 1615), Öl auf Holz, 56 x 78 cm, Privatsammlung,
Deutschland. [Quelle]
Ähnliche Veränderungen sehen wir an der Instrumentation und an den Instrumenten. Jede Zeit hat genau das Instrumentarium, das ihrer Musik am meisten gerecht wird. In der Vorstellung der Komponisten klingen die Instrumente ihrer Zeit, sie schreiben oft bestimmten Instrumentalisten in die Hände; instrumentengerechte Spielbarkeit wurde seit jeher gefordert; unspielbar waren nur schlecht komponierte Stücke, und ihr Hervorbringer machte sich lächerlich. Daß viele Werke alter Meister heute als nahezu unspielbar gelten (zum Beispiel Bläserstimmen in der Barockmusik) liegt daran, daß die Musiker mit den jetzigen Instrumenten und der heutigen Spielweise an diese Werke herangehen. Leider ist es eine fast unerfüllbare Forderung, von einem heutigen Musiker zu verlangen, er solle auf alten Instrumenten und nach der alten Technik spielen. Man soll daher die Schuld an den unspielbaren Stellen oder anderen Schwierigkeiten nicht den früheren Komponisten geben oder, wie dies oft geschieht, die Musikpraxis früherer Zeiten als technisch unzulänglich bezeichnen. So kommt man zu dem Schluß, daß die Spitzenmusiker zu allen Zeiten die schwersten Werke ihrer Komponisten wiedergeben konnten.

Aus all dem sind die ungeheuren Schwierigkeiten zu erahnen, die sich dem Versuch eines werkgetreuen Musizierens entgegenstellen. Kompromisse sind nicht zu vermeiden: wie viele Fragen sind ungeklärt, wie viele Instrumente sind nicht mehr aufzutreiben oder es ist kein Musiker dafür zu finden. Wo es aber möglich ist, ein hohes Maß an wirklicher Werktreue zu erreichen, wird man von ungeahnten Reichtümern belohnt. Die Werke offenbaren sich von einer ganz neuen-alten Seite, und viele Probleme klären sich nun von selbst. So wiedergegeben, erklingen sie nicht nur historisch korrekter, sondern auch lebendiger, weil sie ganz mit den ihnen entsprechenden Mitteln dargestellt werden, und man bekommt eine Ahnung von den geistigen Kräften, die die Vergangenheit fruchtbar gemacht haben. Die Beschäftigung mit Alter Musik gewinnt so, über den nur aesthetischen Genuß hinaus, einen tiefen Sinn für uns.

Quelle: Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis. Essays und Vorträge. Kassel, 1982, ISBN 3-7618-1098-9, Seite 13-18

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10. Dezember 2012

Alma Mahler-Werfel (1879-1964): Sämtliche Lieder

»Schön ist sie - das ist unangenehm. Klavier spielt sie famos - das verdrießt. Und componieren thuts auch - das ist doch rein zum aus der Haut fahren.«

Bertha Zuckerkandl beschreibt so in gespielter Empörung eines der umworbensten Mädchen der Wiener Künstler-Salons, die junge Alma Maria Schindler, die sich diese Bemerkung am 16.III.1900 recht zufrieden in ihrem Tagebuch notiert. Sie fiel im Lauf eines geselligen Abends, an dem sich, wie so oft, die fortschrittlichen Künstler, Denker und Musiker des Wiens der Jahrhundertwende im Salon ihrer Eltern versammelt haben. Alma ist die Tochter des berühmten, 1892 verstorbenen Wiener Malers Emil Jakob Schindler. Ihre Mutter ist in zweiter Ehe mit Carl Moll, einem Gründungsmitglied der Wiener Secession, verheiratet. Joseph Olbrich, Josef Hoffmann und Koloman Moser beispielsweise gehen in ihrem Elternhaus ein und aus, Gustav Klimt und Max Burckhard gehören zu ihrem Verehrerkreis.

»Es war so fesch wie selten«, resumiert Alma, die an diesem Abend ganz in ihrem Element ist, vor allem, als einer der Gäste, der belgische Maler Fernand Khnopff ihr vorschlägt, ein von ihm verfaßtes Gedicht »in Musik zu setzen«. Alle wissen, daß Alma vorzugsweise Lieder komponiert, die sie bei solchen geselligen Anlässen auch gerne vorstellt, und ihre Kompositionstätigkeit sehr ernst nimmt. Sie hat regelmäßig Unterricht bei dem bekannten Organisten Josef Labor und wünscht sich nichts sehnlicher, als selber eine bedeutende Künstlerin zu werden:

»Ich möchte eine große That thun. Möchte eine wirklich gute Oper componieren, was bei Frauen wohl noch nie der Fall war. Ja, das möchte ich. Mit einem Wort, ich möchte etwas sein und werden, und das ist unmöglich - & Warum? Mir fehlte die Begabung nicht, mir - fehlt nur der Ernst, der immer nothwendig ist, bei jedem Streben, bei jeder Kunst. - Ach Gott, gib mir irgend eine Pflicht, gib mir etwas Großes zu thun!! Gib mir das Glück!« (9.II.1898)

Das ist nicht der einzige Widerspruch, in dem sich Alma erlebt. An anderen Tagen hadert sie mit sich ganz im Sinne des tradierten Rollenverständnisses:

»Labor. Ich spielte ihm heute alle 8 Lieder vor, und er sagte: ›Das ist aller Ehren wert … für ein Mädel.‹

Ja, es ist ein Fluch, Mädel zu sein, man kann über seine Grenzen nicht hinaus. Im Übrigen gefielen sie ihm aber […]« (17.I.1899)

Weder im Kontrapunkt noch in der Instrumentierung fühlt Alma sich zu diesem Zeitpunkt sicher, mit ihren Sonaten, Etüden und Fugen ist sie häufig unzufrieden und nimmt sich vor, ihre Studien zu intensivieren. Ihr Medium sind Lieder, bei denen sie ihre musikalischen Einfälle mit ihrem pianistischen Können und ihrem literarischen Interesse verbinden kann. Sie ist sehr produktiv und legt ihrem Lehrer Labor von Woche zu Woche mehrere Lieder vor. »Nichts gleicht der Freude, wenn ich mir mein eben fertig gewordenes Lied vorspiele. Ich spiele es immer und immer wieder und fühle mein Eigenes mir entgegenklingen.« (24.I.1899)

Ihre Tagebuchnotizen geben über diese Lieder allerdings nur allgemeinen Aufschluß: Mal spricht sie von Liedern ohne Titel, dann wieder vermerkt sie Gedichte, deren Vertonung sie nie veröffentlichte und deren Manuskripte nicht vorliegen. Selten findet man so genaue Angaben wie am 7.I.1899, an dem das letzte der Fünf Lieder entstand:

»Componierte eben in 5° ein kleines Liederl. ›Ich wandle unter Blumen […]‹ Obs gut ist, weiß ich nicht. Nur weiß ich, Liebesleidenschaft ist genug drin. Das ganze ist ein cromatischer Lauf! Verrückt ist's - ob das dem Labor nicht einen geringen Schreck einjagen wird. -«

Und am 16.VI.1900 findet man in Almas Tagebüchern die Bemerkung, daß sie »ziemlich viel componiert« habe, »2 Gesänge. Texte von Richard Dehmel und Rainer Maria Rilke. Halb Lied, halb Sprache, halb Choral - eine ganz eigenthümliche Kunstgattung, die ich mir da zusammen gearbeitet habe.«

Bei der hier genannten Dehmel-Vertonung kann es sich durchaus um das Lied »Lobgesang«, das vierte Lied der Fünf Gesänge handeln, denn bei der Wiederaufnahme des Unterrichts bei Joseph Labor nach der Sommerpause schreibt sie: »Erste Laborstunde. […] Der ›Lobgesang‹ und mein ›Engelsgesang‹ gefielen ihm.« (25.IX.1900)

Allerdings hat Alma inzwischen eine Bekanntschaft gemacht, die sie allmählich von ihrem alten Lehrer entfernt: Alexander von Zemlinsky, der in ihren Liedern »sehr viel Talent doch wenig Können« vorfindet. »Er bat mich, die Sache ernst zu nehmen, es sei jammerschade um mich - […]« (23.IV.1900)

Almas Unterricht bei Zemlinsky beginnt im Herbst 1900, und auch ihm spielt sie die beiden Lieder ›Lobgesang‹ und ›Engelsgesang‹ vor, doch Zemlinsky reagiert ganz anders als Labor: »Er war durchaus unzufrieden. - Stimmung verfehlt - und er erklärte mir warum. Es war so ungemein interessant, er hatte in allem so recht, dass ich ganz beglückt bin und war.«

Ob sich Zemlinskys Kritik nur auf den ›Engelsgesang‹ bezieht, oder ob Alma den ›Lobgesang‹ unter seiner Anleitung umarbeitet, hat sie nicht in ihrem Tagebuch festgehalten. Sicher ist, daß sie sich innerlich von Labor distanziert und Zemlinsky für wesentlich kompetenter im Bereich des »modernen Liedes« hält. »Zemlinsky zeigte mir, mit raschem Geiste den Gang des Gedichtes erfassend, warum ich gefehlt. […] Und Zemlinsky ist mir einer der sympathischsten Menschen, den ich kenne. -«

Alma studiert und komponiert mit neuem Eifer. Die meisten ihrer später veröffentlichten Lieder entstehen vermutlich in dieser Zeit der Arbeit mit Zemlinsky, der ihr Talent ernst nimmt und kritisch färdert. Alma empfindet die Stunden bei Zemlinsky wie ein »Mineralbad. Prickelnd, erfrischend, wohlthuend. […] Ein famoser Kerl. ich will fest weiterarbeiten.« (27.XII.1900)

Von Zemlinsky lernt sie, in Oper und Konzert neu zu hören, seine Schüler (wie Schönberg) bilden den Kreis der musikalischen Wiener Avantgarde, Alma fühlt sich auf dem richtigen Weg. »Ich habe gestern abend noch wie rasend componiert - ›Ekstase‹ - Bierbaum. Es floß mir nur so vom Herzen weg.« (24.III.1901)

Gustav Klimt: Dame mit Hut und Federboa,
1909, Österreichische Galerie, Wien
Allerdings wandelt sich ihre Begeisterung und Bewunderung für den Lehrer und Musiker Zemlinsky mit der ihr eigenen Intensität bald in eine zwar nicht konfliktfreie, aber durchaus leidenschaftliche heimliche Liebesbeziehung. Die Unterrichtsstunden nehmen dadurch besondere Formen an:

»Ach wie schön wars heute. Wir haben gearbeitet - uns geküsst - wieder gearbeitet - uns wieder geküsst - u. so. f. […] Ich bin fest entschlossen, ihn zu heirathen … Ich sehne mich namenlos zu ihm hin. […] Ich habe nie gewußt, dass ich so lieb haben könne.« (18.X.1901)

Alma fühlt sich geliebt, begehrt und mit ihrer Musik ernst genommen. »[…] mein ganzes Denken concentriert sich auf diesen einen Menschen, auf diesen einen kleinen, hässlichen, süßen Menschen. […] Er spielte mein Lied ›In meines Vaters Garten‹ mit einer solchen Schönheit, wie ich es nie spielen kann.« (2.XI.1901)

Doch Almas Gefühle sind wechselhaft, und ihre Ansprüche an das Leben auch von anderen Erwartungen geprägt. Immer wieder vertraut sie dem Tagebuch ihre Bedenken an, daß Zemlinsky weder reich noch schön genug für sie ist - und läßt ihn das auch fühlen. Ihre Familie und Freunde machen sich über die Idee einer Heirat lustig - Zemlinsky gilt nicht als angemessener Kandidat für die schöne umworbene Alma.

Aus diesem Konflikt enthebt sie die Begegnung mit Gustav Mahler im Salon der zitierten Bertha Zuckerkandl im November 1901, der ihr schon bald einen Heiratsantrag macht. Alma nimmt diesen Antrag an, obwohl Mahler ihr darlegt, daß er sich eine Ehe mit ihr nur vorstellen kann, wenn sie ihre Kompositionstätigkeit für ihn und seine Musik aufgibt. Sie erfährt davon in einem Brief Mahlers am 20.XII.1901, nach dem sie sich fühlt, als habe man ihr »mit kalter Faust das Herz aus der Brust genommen«. »Es hätte ja kommen können, von allein … ganz sachte … Aber einen ewigen Stachel wird das zurücklassen …«

Alma mit Gustav
Damit scheint die Krise nur kurz zu sein, denn schon am nächsten Tag schreibt sie: »Wie wärs, wenn ich ihm zu Liebe verzichten würde? Auf das, was gewesen! […] Ja - er hat recht. Ich muss ihm ganz leben, damit er glücklich wird.«

Doch Alma Schindler-Mahler-Werfel hat an dieser Entscheidung später oft gezweifelt. »Ich freu' mich unendlich mit meinen Liedern.« hatte sie ihrem Tagebuch noch am 9.XI.1901 anvertraut, und nach dieser Freude sehnte sie sich immer wieder zurück. Obwohl sie sich später auch innerhalb ihrer Ehe viele Freiheiten genommen hat, scheint Alma jahrelang wirklich nicht mehr komponiert zu haben. Gustav Mahler beschäftigte sich erst 1910 wieder mit den Liedern seiner Frau, bedauerte die Grundsätzlichkeit seiner Forderung und veröffentlichte eine Auswahl von fünf 1900/1901 entstandenen Liedern. Zwei weitere frühe und zwei 1910/11 auf Mahlers Anregung hin entstandene Lieder Almas wurden 1915 veröffentlicht. Die Gruppe der 1924 erschienenen Fünf Gesänge enthält die erwähnten frühen Lieder »Lobgesang« und »Ekstase«. »Der Erkennende« und vermutlich auch »Hymne« wurden 1915 komponiert. Weitere Kompositionen hat Alma nicht veröffentlicht oder erwähnt. Es scheint, als sei ihre Kompositionstätigkeit trotz der späten Förderung ihres Mannes und auch nach seinem Tod 1911 zu einem Ende gekommen, und nichts mehr von der Begeisterung geblieben, die sie als junges Mädchen auf eine große Oper hoffen ließ.

Alexander Zemlinsky
Alexander von Zemlinsky (1872-1942): Lieder op. 7

Alexander von Zemlinsky muß von Alma Schindler schon nach den ersten Begegnungen im Februar 1900 beeindruckt gewesen sein, denn als er sie im März bei einer großen Abendgesellschaft wiedertrifft, begrüßt er sie mit den Worten, er habe sich »in den letzten Tagen musikalisch viel« mit ihr »unterhalten«. Zunächst aber hat er keine Gelegenheit zu einem weiteren Gespräch, da Alma wieder einmal der Mittelpunkt des Geschehens ist:

»[…] - es scharten sich die Männer um mich wie die Mücke um die Lampe. Und ich fühlte mich so recht als Königin. War unnahbar und stolz, sprach mit jedem 3 kühle Worte. […] Unzählige ließen sich mir vorstellen - es war ein wirklicher Triumph.«

Es ist das Lied »Irmelin Rose«, das sehr deutlich an das Auftreten Almas erinnert, und das Zemlinsky offensichtlich schon komponiert hat, als er sich an Alma wendet:

»›Fräulein, ich möchte Sie etwas fragen - es handelt sich um etwas sehr ernstes für mich. Ich möchte Ihnen ein Lied widmen - oder nein ich will mehr thun - es kommt jetzt ein Heft Lieder heraus. Darf ich Ihnen die widmen? Würden Sie so lieb sein, sie anzunehmen?‹

Ich war starr vor Freude. Mit einer solchen Bescheidenheit eine solche Bitte aussprechen! Ich gab ihm die Hand. Es freut mich innig. […] Er ist ein lieber Kerl und gefällt mir unendlich. - Hässlich ist er bis zum Wahnsinn!« (10.III.1900)

Zemlinskys Lieder op. 7 erscheinen im Herbst 1901 mit der Widmung an Alma Maria Schindler, obwohl ihr widersprüchliches Verhalten ihn oft verletzt und er sogar erwägt, die Widmung zurückzuziehen. Aber Alma versteht es immer wieder, Zemlinsky an sich zu binden. So streng er sie als Lehrer korrigiert, so wenig kann er ihrer Schönheit und ihrem Charme widerstehen. »›Viel zu viel bist Du mir - viel zu viel. -‹« zitiert Alma ihn in ihrem Tagebuch (2.V.1901) und hält damit die Intensität seiner Gefühle für seine Schülerin fest, die auch in sein Leben als »Irmelin Rose« getreten ist. »Abends im Tonkünstlerverein. U.a.: Lieder vom Zemlinsky. Er begleitete. […] Das eine Lied, Irmelin Rose, was mir gehört, ließ er 2 mal singen.« (8.III.1901)

Quelle: Juliane Wandel, im Booklet

TRACKLIST

Alma Mahler-Werfel (1879-1964)     

Complete Songs     

     Fünf Lieder                                    14'47   

(01) Die stille Stadt (Richard Dehmel) (2)               3'08   
(02) In meines Vaters Garten (Otto Erich Hartleben) (2)  5'49   
(03) Laue Sammernacht (Gustav Falke) (2)                 2'32   
(04) Bei dir ist es traut (Rainer Maria Rilke) (2)       2'09   
(05) Ich wandle unter Blumen (Heinrich Heine) (3)        1'09   
     
     Vier Lieder                                    13'32   

(06) Licht in der Nacht (Otto Julius Bierbaum) (2)       3'47   
(07) Waldseligkeit (Richard Dehmel) (1)                  2'41   
(08) Ansturm (Richard Dehmel) (3)                        1'47   
(09) Erntelied (Gustav Falke) (1)                        5'17   
     
     Fünf Gesänge                                   19'56   
(10) Hymne (Novalis) (1)                                 5'53   
(11) Ekstase (Olta Julius Bierbaum) (3)                  3'03   
(12) Der Erkennende (Franz Werfel) (3)                   3'23   
(13) Lobgesang (Richard Dehmel) (3)                      3'42   
(14) Hymne an die Nacht (Novalis) (1)                    3'55   

Alexander Zemlinsky (1871-1942) 

     Songs op. 7                                    10'26

(15) Da waren zwei Kinder (Christian Morgenstern) (2)    1'45
(16) Entbietung (Richard Dehmel) (3)                     1'52
(17) Meeraugen (Richard Dehmel) (1)                      2'40 
(18) Irmelin Rose (Jens Peter Jacobsen) (3)              3'06
(19) Sonntag (Paul Wertheimer) (1)                       1'03 


Ruth Ziesak, Soprano (1)
Iris Vermillion, Mezzo-soprano (2) 
Christian Elsner, Tenor (3) 
Cord Garben, Piano 

Recording: 12 - 14 August 1996, Musikstudio 3 des SR
Recording Supervisor and Editing: Helmut Fackler
Recording Engineer: Erich Heigold
Executive Producers: Burkhard Schmilgun, Helmut Fackler
Cover Painting: Gustav Klimt, "Dame mit Hut und Federboa", 1909,
Österreichische Galerie, Wien
DDD (P) 1997, 
*

Track 10: Fünf Gesänge I. Hymne (Novalis)


Hymne
(Novalis)

Wenige wissen das Geheimnis der Liebe,
fühlen Unersättlichkeit und ewigen Durst.
Des Abendmahls göttliche Bedeutung
ist den irdischen Sinnen Rätsel.
Aber wer jemals von heißen geliebten Lippen
Atem des Lebens sog, wem heilige Glut
in zitternde Wellen das Herz schmolz,
wem das Auge aufging, daß er des Himmels
unergründliche Tiefe maß,
wird essen von seinem Leibe und trinken
von seinem Blute ewiglich.
Wer hat des irdischen Leibes
hohen Sinn erraten?
Wer kann sagen, daß er das Blut versteht?
Einst ist alles Leib, ein Leib,
im himmlischen Blute schwimmt das selige Paar.
O, daß das Weltmeer schon errötete
und in duftiges Fleisch aufquelle der Fels!
Nie endet das süße Mahl, nie sättigt
die Liebe sich. Nicht innig, nicht eigen genug
kann sie haben den Geliebten.
Von immer zärteren Lippen verwandelt
wird das Genossene, inniglicher und näher,
heißere Wollust durchbebt die Seele,
durstiger und hungriger wird das Herz,
und so währet der Liebe Genuß
von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Plakatentwurf von Alfred Roller,
Katalog zur XIV. Ausstellung
Gustav Klimt: Beethovenfries


"Aber hier hört der Spaß auf, und ein brennender Zorn erfaßt jeden Menschen, der noch einen Rest von Anstandsgefühl hat. Was soll man zu dieser gemalten Pornographie sagen? ... Für ein unterirdisches Local, in dem heidnische Orgien gefeiert werden, mögen diese Malereien passen, für Säle, zu deren Besichtigung die Künstler ehrbare Frauen und junge Mädchen einzuladen sich erkühnen, nicht."

S. G., 22. April 1902, zitiert nach: Hermann Bahr, Gegen Klimt, 1903, S. 70

"Im linken Seitenschiff hat Gustav Klimt ein entzückendes Friesgemälde geschaffen, so voll seiner kühnen, selbstherrlichen Persönlichkeit, daß man sich zurückhalten muß, um dieses Gemälde nicht sein Hauptwerk zu nennen,"

Ludwig Hevesi, Acht Jahre Secession, 1906, S. 392-393

Diese extrem entgegengesetzten Kommentare galten dem Beethovenfries von Gustav Klimt, der sich als Teil der im April 1902 eröffneten Beethovenausstellung der Wiener Secession dem staunenden Publikum offenbarte. Beide Zitate - nur ein Griff aus der Flut an gedruckten Kritiken - stehen für die Polarität zwischen positiver und negativer Wertschätzung, die Klimt von seinen Zeitgenossen erfahren hat. Der Ton dieser Wortmeldungen verrät gleichzeitig, dass die Diskussion um die Person und um den Künstler Gustav Klimt damals in eine sehr emotionale Phase geraten war. Das Schicksal dieser heute weltberühmten Künstlerpersönlichkeit wiederum war auf das Engste mit der Wiener Secession verbunden. Das Gebäude dieser Vereinigung war die Arena, in der sich der Kampf um die Anerkennung der Kunst Gustav Klimts und seiner Zeitgenossen abspielte; gleichzeitig präsentierte es sich als Tempel, in dem den Unwissenden die höchsten Offenbarungen zuteil wurden.

Nirgends wird diese Janusköpfigkeit so manifest wie in der Beethovenausstellung, die im Brennpunkt der frühen Geschichte der Secession stand. Ohne diese Gemeinschaftsarbeit, in der die Ideale der jungen Vereinigung ihren wohl konsequentesten Niederschlag fanden, wäre der Beethovenfries nicht denkbar gewesen. Für Klimts künstlerische Entwicklung war die Teilnahme an diesem ehrgeizigen Projekt von entscheidender Bedeutung.

Der Hauptraum in der XIV. Ausstellung mit Max Klingers
Beethovenstatue, im Hintergrund Alfred Rollers
 Die sinkende Nacht 1902
Die Beethovenausstellung - Konzept und Kultobjekt

Im Sommer 1901 - so Ernst Stöhr in seiner Einleitung im Katalog zur Beethovenausstellung - fasste die Vereinigung den Entschluss zu einer "Veranstaltung anderer Art", die die gewohnten Ausstellungen ablösen sollte. Hatten die Wiener Künstler bisher beispielhafte Einrichtungen geschaffen, die eine optimale Präsentation ihrer eigenen Arbeiten sowie jener ihrer ausländischen Kollegen ermöglicht hatten, so wollten sie diesmal einen großen Schritt weiter gehen: "Der Sehnsucht nach einer großen Aufgabe entsprang der Gedanke, im eigenen Haus das zu wagen, was unsere Zeit dem Schaffensdrang der Künstler vorenthält: die zielbewusste Ausstattung eines Innenraumes." Die Secessionisten wollten ihre Auffassungen einer modernen Monumentalkunst modellhaft vorführen, wobei ihnen am Arbeitsprozess sehr viel gelegen war: Gemeinsam wollten sie "lernen". Im Hintergrund des Unternehmens standen die damals europaweiten Bestrebungen, die - bei allen unterschiedlichen Voraussetzungen - eines gemeinsam hatten: die Wiederherstellung des verlorengeglaubten Zusammenhangs zwischen Architektur, Malerei und Skulptur. Längst vergessene Techniken und weit zurückliegende Stilformen wurden studiert; es wurden jene Epochen idealisiert, in denen die Einheit von Kunst, Religion und Gesellschaft noch als ungebrochen galt. So orientierten sich die Secessionisten laut Katalog an der "Tempelkunst", dem "Höchsten und Besten, was die Menschen zu allen Zeiten bieten konnten". Was wäre aber eine Tempelkunst ohne ein alles dominierendes Kultobjekt? Hier ergab sich für die Secessionskünstler der Idealfall schlechthin: Die Beethovenfigur ihres verehrten Leipziger Kollegen Max Klinger näherte sich der Vollendung - und wurde von der Kunstwelt schon voller Spannung erwartet. "Diese eine Hoffnung, der ernsten und herrlichen Huldigung, die Klinger dem großen Beethoven in seinem Denkmale darbringt, eine würdige Umrahmung zu schaffen, genügte, jene Arbeitsfreude zu erzeugen, die trotz des Bewusstseins, dass man nur für wenige Tage schaffe, dauernde Hingabe ins Leben rief." - so Ernst Stöhr im Katalog. Während einer intimen Vorfeier, zu der natürlich auch Klinger geladen war (der sich tief gerührt zeigte), wurde die Ausstellung unter den Klängen einer kleinen Bläserbesetzung eingeweiht; Gustav Mahler dirigierte die von ihm arrangierte Fassung eines Motivs aus dem Schlusschor der Neunten Symphonie von Beethoven. Auf diesen stimmungsvollen Anfang folgte die erregte Anteilnahme der Öffentlichkeit. Die Beethovenausstellung wurde einer der größten Publikumserfolge der Secession; innerhalb von drei Monaten wurden fast 60.000 Besucher gezählt. Im Mittelpunkt der zahllosen in- und ausländischen Kritiken standen der Beethovenfries von Gustav Klimt und die Beethovenfigur von Max Klinger, die die gesamte Ausstellungsprogrammatik bestimmt hatte.

Blick vom linken Seitensaal der XIV. Ausstellung mit dem
Beethovenfries von Gustav Klimt auf Max Klingers Beethoven
Der Hauptgedanke dieser monumentalen, vielfarbigen Plastik geht auf eine im 19. Jahrhundert zentrale Idee vom Künstler als Erlöser und Befreier der Menschheit zurück. Als Prototyp des einsam kämpfenden, für die Menschheit leidenden Künstlergenies galt Ludwig van Beethoven; die Verehrung für diesen Komponisten hatte um die Jahrhundertwende geradezu kultische Ausmaße angenommen. Nur in diesem Licht kann man Klingers plastisches Gesamtkunstwerk und die Reaktionen der Zeitgenossen auf dessen erste, sensationelle Präsentation verstehen. In der vorgebeugten, halbnackten Gestalt mit der geballten Faust, dem konzentrierten Gesichtsausdruck und dem ins Unendliche gerichteten Blick sah man einen neuen, idealen Menschentypus. Man bewunderte den "seelischen Heroismus", man schwärmte von der Hoffnung auf eine neue Zeit. Die auf Wolken thronende Gestalt mit dem Adler zu Füßen erscheint als Kombination von Zeus und Messias, mit den Gesichtszügen Beethovens; auf diese Weise symbolisierte Klinger seine Vorstellungen einer idealen Synthese zwischen Christentum und Antike.

Verwirklichung

Die Beethovenausstellung war nicht nur eine Antwort auf diese Ideenwelt, sondern auch auf die in der Beethovenfigur demonstrierte Material- und Farbenvielfalt (Marmor, Bronze, Halbedelsteine, etc.). In diesem Sinne experimentierte die Gruppe von 21 Künstlern mit einer bunten Vielfalt an ihnen bis dahin nicht geläufigen Materialien und Techniken in unorthodoxen Kombinationen. Zur Programmatik gehörte die "selbstverständliche Pflicht, durchwegs echtes Material zur Anwendung zu bringen, den Schein und die Lüge energisch zu vermeiden" (Katalog zur XlV. Ausstellung). Fast stolz berichtet der Katalog von der "Beschränktheit der verfügbaren Mittel". Von Josef Hoffmann, dem künstlerischen Gesamtleiter des Projekts, stammte die Innenarchitektur.

In dem dreischiffigen Sakralraum der Secession ergab sich die architektonische Gliederung durch den Wechsel von rauen und glatten Putzflächen. Die Funktion der Säle wurde durch ihre Ausstattung offenbar. Der helle Hauptsaal, in dessen Mitte Klingers "Beethoven" thronte, diente der Apotheose des Künstlergenies. In der Blickrichtung Beethovens befand sich an der Stirnwand Adolf Böhms Dekoration Der werdende Tag, die hintere Wand zeigte Die sinkende Nacht von Alfred Roller. Die etwas gedämpfter beleuchteten Seitenräume standen im Zeichen von Leiden und Erlösung, von Kampf und Überwindung; in den Wandmalereien herrschten die Dramatik und Dynamik der Erzählung vor, gefasst in der horizontalen Bewegung. Der im Katalog vorgeschriebenen Gehrichtung folgend, gelangte der Besucher zunächst in den linken Seitensaal, wo er mit Klimts Beethovenfries konfrontiert wurde; gleichzeitig wurde ihm durch die breiten Wandöffnungen schon ein Blick auf die Kultfigur gewährt. Nach der Begegnung mit dem göttlichen Genie begab sich der Besucher im rechten Seitensaal zum Ausgang, vorbei an den Wandmalereien Mannesmut und Kampfesfreude von Ferdinand Andri und Freude schöner Götterfunke von Josef Maria Auchentaller. Thematisch begleitet wurden die friesartigen Wandmalereien beider Seitensäle von quadratischen Schmuckplatten mehrerer Künstler, die sich in regelmäßiger Reihung im unteren Wandbereich befanden. Trotz der materiellen und künstlerischen Vielfalt wurde die Maxime der einheitlichen Wirkung konsequent eingehalten. Die Dekorationen wurden mit Reliefs von stilisierten Monogrammen versehen, die im Katalog aufgeschlüsselt wurden. Dieses kleine, quadratische Buch - ein wesentlicher Teil des Gesamtkunstwerks - enthielt außerdem Originalholzschnitte vieler Künstler, ein Novum für die Secession. Alfred Rollers Ausstellungsplakat zeigt das rhythmisch wiederholte Motiv seiner Dekoration Die sinkende Nacht: die ornamental stilisierte, vorgebeugte Engelsgestalt mit der goldenen Scheibe in der Hand, umgeben von Sternen.

Die Beethovenausstellung dauerte nur wenige Monate, aber für die Beteiligten waren die durch dieses Projekt gewonnenen Erfahrungen von bleibendem Wert. Historisch gesehen lag die Beethovenausstellung im Vorfeld aufregender Entwicklungen, die durch sie wahrscheinlich beschleunigt wurden. Nach 1902 zeichnete sich die zunehmende Polarisierung zwischen "Naturalisten" und "Stilisten" ab; schließlich traten die letztgenannten 1905 als "Klimt-Gruppe" aus der Secession aus. Ein Jahr nach der Beethovenausstellung wurde die Wiener Werkstätte gegründet, die das Zusammenwirken der Künste auf professioneller Basis weiterführte. Große Gemeinschaftsprojekte wie die "Kirche am Steinhof" oder das "Palais Stoclet" schlossen an die erstmals in der Beethovenausstellung erprobte Form der Zusammenarbeit an. Was nicht mehr wiederholbar war, war der Idealismus, durch den dieses einmalige Experiment getragen war.

Der Beethovenfries als "dekoratives Prinzip"

Strategisch gesehen kam dem linken Seitensaal, in dem der Besucher erstmals von weitem mit dem "Allerheiligsten" konfrontiert wurde, die größte Bedeutung zu. Den Prinzipien der Gleichberechtigung und der Gemeinsamkeit zum Trotz wurde dem damals 40-jährigen Klimt die Rolle als Galionsfigur der Ausstellung zuteil. Ihm standen drei Wände zur Verfügung, während sich im gegenüberliegenden Saal zwei Künstler mit je einer Längswand begnügen mussten. Auf besonders einfühlsame Weise berücksichtigte Klimt die für ihn ganz neuen technischen und inhaltlichen Voraussetzungen.

Dass der Fries in erster Linie eine ornamentale, der Architektur dienende Funktion erfüllen sollte, geht aus dem lapidaren Katalogtext hervor: "Dekoratives Prinzip: Rücksichtnahme auf die Saalanlage. Ornamentierte Putzflächen." Offenbar veranlasste diese Verankerung in der Architektur Klimt zu einer intensiven Suche nach neuen stilistischen Lösungen. Seine Figuren erscheinen, rhythmisch gegliedert, in Frontal- und Profilstellungen, ihre Haltungen und Bewegungen sind der strengen Tektonik unterworfen. Besondere Bedeutung erlangten dabei die Konturen, die zum Großteil mit dem Pinsel, aber auch mit Kohle, Graphit oder Pastellstiften angelegt wurden; das helle Grau der Putzflächen diente als Basisfarbe für die nur ganz leicht getönten Hautpartien. Für die übrigen Teile verwendete Klimt Kaseinfarben, deren Intensität und matt schimmernde Oberfläche effektvoll mit den Goldauflagen und den glänzenden, spiegelnden oder schimmernden Applikationen kontrastierte. Das demonstrative Bekenntnis der Secessionisten zu einem kreativen Umgang mit "einfachen" Materialien inspirierte Klimt zu höchst originellen Lösungen: Den Beethovenfries schmücken Tapeziernägel, Vorhangringe, Spiegelstücke, Perlmutterknöpfe und Modeschmuck aus geschliffenem, farbigem Glas. Gleichzeitig erinnert das schillernde, bunte Erscheinungsbild des Frieses - dies betrifft besonders die Schmalwand - an die "heidnische" Vielfalt an farbigen Materialien in Klingers Beethovenfigur.

Bildprogramm und Symbolik

Ebenso eigenständig nimmt Klimt in seiner Programmatik auf die vorgegebenen Richtlinien Bezug. Im Katalog ist nur zu lesen, dass die "friesartigen Malereien" sich über drei Wände erstrecken und eine zusammenhängende Folge bilden, worauf die einzelnen Programmteile kurz erläutert werden. So führt in der linken Wand die lange Kette der hoch oben schwebenden Genien, Symbol für die "Sehnsucht nach Glück", den Betrachter in die Erzählung ein. Bis zum ersten Drittel der letzten Wand bilden diese Schwebenden das verbindende Element zwischen den einzelnen Szenen. Im Laufe der ersten Wand nimmt der "Wohlgerüstete Starke" (der Ritter im goldenen Harnisch), angefleht durch die leidende "Schwache Menschheit" und angetrieben durch "Mitleid und Ehrgeiz", den Kampf um das Glück auf sich. Die "Feindlichen Gewalten" verdunkeln die Schmalwand und entziehen die "Sehnsucht nach Glück" vorübergehend dem Blick. Hier herrschen "Typhoeus" (das Affenmonstrum mit dem überdimensionalen Flügel- und Schlangenleib) sowie "Die drei Gorgonen, Krankheit, Wahnsinn, Tod, Wollust, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, nagender Kummer". Die "Sehnsüchte und Wünsche" sind jedoch stärker und fliegen über sie hinweg. Die dritte Wand, die unterhalb des Frieses zum Kultbild im hellen Mittelsaal hin durchbrochen war, steht im Zeichen der Künste. Hier findet die Sehnsucht nach Glück "Stillung in der Poesie". Über die Kithara spielende Gestalt hinweg scheinen die "Sehnsüchte" mit ihren teils abwehrend aufgerichteten Händen gegen eine unsichtbare Wand zu stoßen.

Der darauffolgende Leerraum wirkt wie eine - vermutlich inhaltsbedingte - Zäsur zwischen der vorletzten und der letzten Szene. Hier leiten uns die "Künste", dargestellt als von goldenen Wellen hinaufgetragene Frauengestalten, in das "ideale Reich, in dem allein wir reine Freude, reines Glück, reine Liebe finden können. Chor der Paradiesengel. Diesen Kuss der ganzen Welt." Diese letzten Sätze - Zitate aus dem Text des Schlusschors der Neunten Symphonie, basierend auf Schillers Ode an die Freude - bilden den Schlüssel zum allegorischen Inhalt des ganzen Frieses. Die "Neunte" wurde um 1900 über alle Maßen bewundert; die in Beethoven projizierten Utopien bezüglich einer besseren Welt nährten sich vor allem aus dieser Quelle. Zum Geniekult um die Figur Beethovens hatte Richard Wagner sehr wesentlich beigetragen. Seine auf diesen Komponisten zugespitzte Antithese von leidendem Volk und kämpfendem Künstler könnte Klimt beeinflusst haben; darüber hinaus zeigt die Katalogbeschreibung der Szenen im Beethovenfries auffallende Parallelen zu Wagners 1846 publizierter, speziell für Laien verfasster programmatischer Deutung der Neunten Symphonie.

Jedenfalls konnte Klimt sich gerade damals mit der Thematik des einsam kämpfenden, von der Menschheit unverstandenen Künstlers gut identifizieren. Die Angriffe auf seine Kunst - besonders auf seine 1900 und 1901 in der Secession präsentierten, für die Universitätsaula geschaffenen Monumentalbilder Philosophie und Medizin - hatten zur Zeit der ersten Pläne für die Beethovenausstellung ihren Höhepunkt erreicht. Von der Schmalwand des Frieses starrten die Fratzen der Feindlichen Gewalten dem Besucher gleich bei seinem Eintritt bedrohlich bzw. herausfordernd entgegen. Wie der anfangs zitierte Kommentar illustriert, verfehlte diese Skandalwand, die von Ludwig Hevesi gerade ihrer "betörenden Schönheit" wegen gelobt wurde, ihre provozierende Wirkung auf Publikum und Presse nicht. In ihrer mythologischen Abwehrfunktion erscheinen die frechen Drei Gorgonen wie eine Anspielung auf die Reliefs der drei Gorgonenköpfe, die sich am Gebäudeexterieur über dem Haupteingang befinden, unmittelbar unter dem berühmten Motto: "Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit."

Klimt und die internationale Kunst

Im Sinne der Ausstellungsprogrammatik setzte Klimt sich intensiv mit Beispielen aus vergangenen Epochen der "Tempelkunst" wie auch mit zeitgenössischen Arbeiten auseinander. Das Spektrum der Vorbilder, die Klimt auf souveräne, phantasievolle Weise verarbeitete, reicht von der ägyptischen, griechischen, japanischen, byzantinischen und mittelalterlichen Kunst bis zu Zeitgenossen wie Beardsley oder Munch, besonders aber zu den Werken jener zeitgenössischen Kollegen, die als "Monumentalkünstler" im Milieu der Secession gerade großes Aufsehen erregt hatten. Die "moderne Gotik" des belgisehen Bildhauers George Minne inspirierte ihn zur Gestaltung der hageren, eckig gegliederten Figuren der knienden Schwachen Menschheit und des Nagenden Kummers (in der sich, einer mündlichen Überlieferung zufolge, die Angst des Künstlers vor der Syphilis verschlüsselt mitteilt); besonders mit dieser ausgemergelten, zusammengehockten Gestalt nimmt Klimt den Expressionismus von Schiele und Kokoschka vorweg. An die schottische "Mackintosh-Gruppe" erinnern die Helligkeit der Längswände in Verbindung mit den eleganten, langgezogenen Linien, die die Figurengruppen ornamental einfassen, zum Beispiel das in einer goldenen Glocke gefangene Liebespaar in der Schluss-Szene. Die Arbeiten des Schweizers Ferdinand Hodler spielten eine wichtige Rolle bei der Heroisierung und Monumentalisierung der menschlichen Gestalt, ebenso wie bei den rhythmisch-parallelen Motivwiederholungen im Chor der Paradiesengel. Für den flächig-ornamentalen Charakter dieser Gruppe war aber zweifellos auch der holländisch-javanische Symbolist Jan Toorop von Bedeutung, dessen tiefgreifender Einfluss auf Klimt gerade im Beethovenfries einen Höhepunkt erreichte. Über unmittelbare Motiventlehnungen hinaus inspirierte Toorop den Wiener Künstler durch die Exotik seines eckiggliedrigen, überschlanken Frauentypus und die charakteristischen parallel-linearen Haarmassen (wie in Sehnsucht nach Glück, Die Künste, u.a.). Auf sehr eigenständige Weise befasste Klimt sich mit der bei Toorop essentiellen, inhaltsbetonenden Funktion der Linie. Im Beethovenfries sind die Figuren durch unterschiedliche Stufen linearer Stilisierung gekennzeichnet, die ihrer Funktion im Programm oder ihrem Realitätsgrad entsprechen. Der größte Kontrast innerhalb dieser Skala findet sich in den fließenden Linien der immateriellen Idealgestalten der Sehnsüchte auf der einen, und in den realitätsbetonenden Körperumrissen des muskulösen Mannes des Liebespaares auf der anderen Seite. Auch in den mit schwarzer Kreide gezeichneten Studien zum Beethovenfries richten sich die Konturen jeweils nach dem Aussagewert der betreffenden Figur: zart und fließend bei der Schwebenden, spröde und derb bei dem knienden nackten Mann, sinnlich gekurvt bei dem Modell für die Gorgonen. In den Umrisslinien der Figur des Nagenden Kummers wird das Hagere, Eckige betont; die Poesie ist von einer archaischen Strenge, während die an- und abschwellenden Umrisslinien des muskulösen Mannes erotische Vitalität zum Ausdruck bringen. Charakteristisch für diese Studien ist der spannungsvolle Gegensatz zwischen tektonischer Strenge und sensibler Linearität.

Ausdruck und Ornamentik

Die Verbundenheit von Inhaltlichem und Dekorativem zeigt sich im Beethovenfries im Kleinen wie im Großen. So sind die Längswände durch Helligkeit, Offenheit wie durch harmonische Farb- und Linienkonstellationen geprägt; in diesen Teilen der Allegorie herrschen das Gute und Positive vor. Die dunkle Schmalwand dagegen, aus deren Dickicht die Körperformen und Ornamente blitzartig aufleuchten, ist ein Sammelbecken von allen denkbaren Lastern und Untugenden. Die grelle Erotik der Gorgonen mit ihren provokanten Körperkonturen, Haarsträhnen und eckig aufeinanderstoßenden Bewegungen setzt sich vom Idealcharakter der harmonisch fließenden Gestalten der Sehnsüchte und der Künste deutlich ab. Auf das heutige Publikum wirkt die Schmalwand nicht mehr schockierend, aber die verschwenderische Pracht des "Bösen" vermag immer noch zu faszinieren; schon im Mittelalter hat die Hölle die Phantasie der Künstler und der Schriftsteller mehr angeregt als das Paradies (Klimt war bekanntlich ein eifriger Dante-Leser). Allegorisch gesehen prangert das moderne und zugleich zeitlose Inferno des Beethovenfrieses die materiellen und sinnlichen Genüsse an. Gleichzeitig jedoch huldigt die Wand der Feindlichen Gewalten der Ästhetik des weiblichen Körpers. Sogar die Gestalt der Unmäßigkeit, deren gewaltige Rundungen mit den Körperformen der Wollust und Unkeuschheit verschmolzen sind, weist in Verbindung mit den elegant geschwungenen, goldenen Lianen eine eigene Linienpoetik auf.

Von großer Bedeutung für den Beethovenfries ist die überragende Rolle des Goldes und des Ornaments, wobei die Grenzen zwischen Figur und Ornament fließend sind. Neben den jugendstilhaft geschwungenen Linien und den floralen Motiven setzt sich, im Anschluss an die Ausstellungsarchitektur, das geometrische Element durch; auch das Spiralmuster ist häufig anzutreffen. Die größte dekorative Phantasie entwickelte Klimt in der Wand der Feindlichen Gewalten, angefangen von dem alles umfassenden Schlangen- und Flügelkörper bis zu den zahllosen Musterformen und Schmuckteilen der weiblichen Gestalten. Am reichsten geschmückt ist die Unmäßigkeit, mit der sich auch die kräftigste Farbe verbindet: Ihr blauer Rock ist der koloristische Blickfang der Schmalwand.

Epilog

Der Beethovenfries von Gustav Klimt wird zusammenfassend von drei wesentlichen Neuerungen geprägt: von der monumentalen, flächenhaften Isolierung der menschlichen Gestalt, von der inhaltsbetonenden Funktion der Linie sowie von der dominierenden Rolle der Ornamentik. Die Teilnahme am "Experiment Beethoven" bildete für Klimt den Auftakt zu den Hauptwerken seiner "Goldenen Periode". Heute gilt die monumentale Allegorie, die dem Publikum 1986 am Ort ihrer Entstehung wieder zugänglich wurde, als Schlüsselwerk in der Entwicklung des Künstlers.

Quelle: Marian Bisanz-Prakken, Der Beethovenfries von Gustav Klimt und die Wiener Sezession, in: Secession - Gustav Klimt - Beethovenfries, Wien, Secession, 2002, ISBN 3-901926-44-5

Gustav Klimt, Studien zu Beethovenfries (Poesie - Die Leiden
der schwachen Menschheit - Gorgonen)
Geschichte des Beethovenfrieses

1902 Ursprünglich wird der Beethovenfries für den Zeitraum der XIV. Ausstellung angefertigt und soll danach wieder von den Wänden des Secessionsgebäudes entfernt werden.

1903 Die Wandmalerei bleibt jedoch bis 1903 am Ort ihrer Entstehung, bis sie in den Besitz des Industriellen Carl Reininghaus übergeht. Reininghaus lässt den Beethovenfries nach Beendigung der XVIII. Secessionsausstellung, einer Klimt-Retrospektive, samt Unterbau von den Wänden nehmen.

1915 Durch Vermittlung von Egon Schiele verkauft Carl Reininghaus den Beethovenfries an die Industriellenfamilie Lederer, die der Österreichischen Galerie, die sich ebenfalls für einen Kauf des Kunstwerks interessiert, zuvorkommt.

1936 In der Zwischenkriegszeit werden Teile des Beethovenfrieses in der Secession ausgestellt.

1939 Nach der Enteignung der Familie Lederer im Zuge der Arisierung durch die Nationalsozialisten wird der Beethovenfries im Depot einer Wiener Speditionsfirma verwahrt.

1943 Teile des Beethovenfrieses werden während des Zweiten Weltkriegs in der Secession gezeigt und im Anschluss wegen Beschädigungsgefahr von Wien nach Schloss Thürntal bei Fels am Wagram in Niederösterreich gebracht, wo das Kunstwerk im Kapellenraum gelagert wird.

1945 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs geht der Beethovenfries in den rechtmäßigen Besitz der Sammlung Erich Lederer in Genf über. Nach Klärung der Besitzverhältnisse wird über den Beethovenfries von Seiten des österreichischen Staates ein Ausfuhrverbot verhängt und er verbleibt im Schloss Thürntal.

Gruppenbild von Mitgliedern der Wiener Secession
 anlässlich der XIV. Ausstellung 1902. Von links nach rechts:
 Anton Stark, Gustav Klimt (im Sessel), Kolo Moser (vor Klimt
 mit Hut)Adolf Böhm, Maximilian Lenz (liegend), Ernst Stöhr
 (mit Hut), Wilhelm List, Emil Orlik (sitzend), Maximilian Kurzweil
 (mit Kappe), Leopold Stolba, Garl Moll (liegend), Rudolf Bacher.
1956 Der Beethovenfries wird nach Stift Altenburg im Waldviertel gebracht. Zum Schutz des Frieses und aus konservatorischen Gründen setzt sich Erich Lederer für einen erneuten Standortwechsel ein.

1961 Die Wandmalerei wird in das Depot der Österreichischen Galerie in den ehemaligen Pferdestallungen des Prinz Eugen im Schloss Belvedere gebracht.

1973 Die Republik Österreich erwirbt den Beethovenfries von Erich Lederer. Der damalige Kaufpreis beträgt 15 Millionen Schilling.

1974 Die Restaurierung des Beethovenfrieses durch das Bundesdenkmalamt beginnt. Die vollständige Restaurierung dauert mehr als zehn Jahre.

1985 Die Restaurierung des Beethovenfrieses wird Ende Jänner mit der Montage der einzelnen Teilstücke auf Stahlrahmen abgeschlossen. In der Ausstellung Traum und Wirklichkeit. Wien 1870-1930 im Wiener Künstlerhaus wird der Fries in einer vom Atelier Hans Hollein erarbeiteten Rekonstruktion seiner ursprünglich von Josef Hoffmann entworfenen architektonischen Umrahmung gezeigt. Nach Ende der Ausstellung im Künstlerhaus kehrt der Beethovenfries in einen von Architekt Adolf Krischanitz eigens dafür geschaffenen Raum in die Secession zurück.

2009 Ein Vierteljahrhundert nach Abschluss der Restaurierung beginnen die laufenden Untersuchungsarbeiten zum konservatorischen Zustand des Beethovenfrieses.



Als Beilage im Infoset befindet sich der Artikel von Marian Bisanz-Prakken: George Minne und die Wiener "Moderne" um 1900


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