Paul Juon, am 8. März 1872 als Enkel eines aus Graubünden nach Rußland ausgewanderten Zuckerbäckers in Moskau geboren, wächst in einem hochkultivierten, von sprachlicher Polyphonie und künstlerischer Kreativität geprägten bürgerlichen Ambiente auf. In seiner Heimatstadt besucht er die deutsche Realschule und tritt danach mit siebzehn Jahren in das Konservatorium ein. Sergej Taneev und Anton Arenskij sind hier für seine kompositorische, der tschechische Virtuose Jan Hřímalý für seine geigerische Ausbildung verantwortlich, und Sergei Rachmaninov ist sein Studienkollege und Freund. Mit seinem brillanten Konservatoriumsdiplom wendet er sich 1894 nach Berlin, um bei Clara Schumanns Halbbruder Woldemar Bargiel zu weiterzustudieren. Mit 24 Jahren wird er mit dem Mendelssohn-Preis ausgezeichnet und heiratet Ekaterina Sachalova. Mit ihr zieht er auf ein Jahr ins aserbaidschanische Baku, wo er als Geigenlehrer am Konservatorium und als Primarius eines Streichquartetts wirkt. 1898 kehrt das junge Ehepaar nach Berlin zurück, das für dreieinhalb Jahrzehnte Paul Juons Wahlheimat bleiben sollte. Schon in diesem Jahr erscheinen im Berliner Verlag Schlesinger Juons erste Kompositionen, drei Jahre später eine sehr qualitätvolle »Praktische Harmonielehre« und die Übersetzung von Modest Tschaikovskijs Biographie seines Bruders. Im selben Jahr 1901 wird Juon ein Stipendium der Franz-Liszt-Stiftung zuerkannt. Der auf diese Weise bestens in das Berliner Musikleben eingeführte Gast erwirbt sich bald auch einen hervorragenden Ruf als Pädagoge: 1906 wird eine der letzten Amtshandlungen des durchaus wählerischen Joseph Joachim Juons Berufung als ordentlicher Professor an die Berliner Musikhochschule sein.
Paul Juon, undatierte Postkarte
Aus dem Jahr dieser Berufung stammt auch das erste, 1907 unter dem Titel »Rhapsodie« als Opus 37 veröffentliche und der jungen Freundin Marie Bender gewidmete Klavierquartett, dem - wie einer ganzen Reihe von Juons Werken dieser Zeit - Anregungen und Bilder aus Selma Lagerlöfs phantasievollem Roman »Gösta Berling« zugrundeliegen. Dieser Umstand, der durch entsprechende Vermerke in Juons eigenhändigem Werkverzeichnis dokumentiert ist, findet zwar im Druck keine Erwähnung, teilt sich aber dem Hörer durch den erzählenden Ton des Stückes sowie durch eine auffällige Anhäufung »nordischer« (und uns etwa aus dem Werk Edvard Griegs wohlvertrauter) Wendungen ganz zwanglos mit. Der Werktitel ist durch die überaus freie und unkonventionelle Form dieses ersten Juonschen Klavierquartetts, das sich übrigens wie auch sein Autor einer eindeutigen Zuordnung zu entziehen weiß (denn das auf dem Titelblatt angegebene D-Moll ist weder Ausgangs- noch Zieltonart), mehr als gerechtfertigt.
Dem eröffnenden Moderato, einem vielgliedrigen und assoziativ frei schweifenden Satz, der sich zu seiner Heimattonart F-Dur eigentlich nur an Anfangs- und Endpunkt bekennt, folgt mit dem D-moll-Allegretto, das in einer von Juon autorisierten Bearbeitung den genrehaften Titel »Spuk in der Schmiede« bekam, ein höchst effektvolles, überwiegend im folkloristischen Fünfvierteltakt stehendes Stück. Der auf den ersten Satz zurückgreifende, ihn aber an Vielgestaltigkeit noch bei weitem übertreffende Schlußsatz (Sostenuto - Allegretto, f-moll) gehört zu den eigenwilligsten und verblüffendsten Schöpfungen Juons: Innere Widersprüchlichkeit und emotionale Vielschichtigkeit sind hier auf die Spitze getrieben und schaffen ein Gebilde von ganz eigenartigem, zwischen Mutwillen und Melancholie, Weltschmerz und Willkür schwankendem Gepräge - ein irisierendes Kaleidoskop von nicht alltäglichem Zauber.
War in der Rhapsodie op. 37 vielleicht der seine drei kleinen Kinder mit launigen und spannenden Erzählungen fesselnde glückliche Familienvater Paul Juon am Wort, so spricht in dem fünf Jahre später, im Todesjahr seiner Frau Ekaterina, entstandenen Schwesterwerk Opus 50 (G-Dur) ein seine Lebensgefährtin durch ihre letzten Wochen und auf dem letzten Weg begleitender Ehemann: Seine Stimme ist tröstlich und zärtlich, zuversichtlich und mutig, und sie verschönt und adelt diese schwersten Stunden mit aller Suggestion der Erinnerung. Das so entstandene Werk wurde schon von Wilhelm Altmann als der Höhepunkt des Juonschen Schaffens gepriesen, und es hat auch nach fast einem Jahrhundert nur wenig von seiner unmittelbar berührenden Wirkung verloren. Es soll freilich nicht verschwiegen werden, daß - ganz wie etwa im Falle des in völlig analoger Lebenssituation zwei Jahrzehnte früher entstandenen ersten Klavierquartetts (e-moll, op. 75) des Brahms-Freundes Heinrich von Herzogenberg - eine ganze Ebene der musikalischen Botschaft dem Zuhörer unzugänglich bleiben muß: Wir sind hier Zeugen einer intimen, mit verborgenen Anspielungen und unentschlüsselbaren Hinweisen durchsetzten Zwiesprache, deren durchaus nicht wehleidige Wehmut aber so beredt ist, daß wir den Schlüssel zu den Geheimfächern erst gar nicht vermissen.
Nikolaj Klodt: Café-Terrasse am Genfer See. 1908, 53,5 x 64,5 cm, Moskau, Tretjakow-Galerie (Quelle)
Im Gegensatz zu dem älteren Vorgängerwerk folgt Juons zweites Klavierquartett dem seit Schumanns Opus 47 für das Genre Klavierquartett nahezu obligat gewordenen viersätzigem Formschema mit dem Scherzo an zweiter Stelle (diese Dramaturgie findet sich nach Brahms` op. 25 und op. 60 auch in allen Klavierquartetten Faurés und Regers). So vergleichsweise konventionell aber auch der formale Rahmen erscheinen mag, so persönlich und eigenwillig sind die darin dargebotenen Inhalte. Im Kopfsatz (Moderato) spielt ein sich wie ein warnendes Vorzeichen immer wieder in Erinnerung bringendes Motiv aus zwei kurzen, erregt pochenden Akkorden eine zentrale Rolle - es ist dieses unscheinbare Detail, das auch über die unbeschwertesten Momente dieses Sonatensatzes seinen beunruhigenden Schatten wirft. Das diese Bangigkeit fortspinnende Scherzo (Presto non troppo, a-moll) trägt den für heutige Hörer nicht unproblematischen Titel »Zitternde Herzen«, balanciert aber diese Verletzlichkeit mit einem robusten, geradtaktigen Trio (D-Dur), das fraglose ländliche Geborgenheit ausstrahlt. In eben diese heile D-Dur-Welt will uns auch das pastorale Albumblatt für Klavier solo entführen, das sich in die C-Dur-Klage des dritten Satzes (Adagio lamentoso) eingenistet hat und das dann vom ganzen Ensemble auf abenteuerlichen Wegen wieder in die Ausgangslandschaft zurückgeführt wird. Der Schlußsatz (Allegro non troppo) hat schon in seinem alle zwölf Töne der chromatischen Skala berührenden Incipit eine unüberhörbare Neigung nach G-moll, gegen die sich die Dur-Grundtonart erst im allerletzten Takt dieses weiträumigen Finales endgültig durchzusetzen vermag. Eine zweite Konfliktebene eröffnet sich hier zwischen dem (wieder gleichermaßen auf slawische und skandinavische Vorbilder verweisenden) rustikalen Fünfvierteltakt und der urbaneren und westlicheren Geradtaktigkeit.
Das ein Jahr nach dem Tod der geliebten Widmungsträgerin im Rahmen des Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musiker-Verbandes in Danzig am 30. Mai 1912 uraufgeführte Werk ist eine nahezu tränenlose, aber in ihrem erinnerungsschweren Reichtum umso berührendere Totenklage - und in diesem Sinne vielleicht ein Unicum in der gesamten Kammermusikliteratur.
Noch im Jahre dieser Uraufführung heiratet Juon die aus Vevey stammende Witwe seines Freundes Otto Hegner, Marie (genannt Armande) Hegner-Günthert. Mit ihr verläßt er im Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme Berlin und läßt sich in der Heimat seiner Vorfahren nieder; er stirbt am 21 August 1940 in Vevey und wird in Langenbruck (Basel) begraben. Seine in jüngster Vergangenheit, vor allem aufgrund des Wirkens der von Thomas Badrutt (1934-1999) gegründeten Internationalen Paul-Juon-Gesellschaft allmählich voranschreitende Wiederentdeckung bereichert das vielstimmige Panorama der Musik aus dem ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts um eine nicht unverzichtbare, aber sehr kostbare und eigenständige Facette.
Quelle: Claus-Christian Schuster, Altenberg Trio Wien, 2008, im Booklet
Track 6: Klavierquartet op. 37 "Rhapsodie", II. Allegretto
Russische Komponisten und Pianisten. 11 e. Notenzitate m. U., o. O. u. D. (um 1930), eine Seite 4°. Eine Sammlung von Autographen bedeutender Musiker. Hier haben sich zwölf Musiker mit Notenzitaten auf 1 – 2 Systemen aus ihren eigenen Werken verewigt: Paul Juon (1872-1940), Nicolai Medtner (1880-1951), Sergei Prokofjew (1891-1953), aus seiner II. Symphonie, Sergei Rachmaninow (1873-1943), aus seiner II. Symphonie, Leonid Nikolaiew, Sergei Wassilenko, Reinhold Glière (1875-1956), Alexander Goedicke (1877-1957), Alexander Karzew (1883-1953) und anderen. Am Kopf die Bleistiftzeichnung des Porträts von Sergei Iwan Tanejew von M. Wutzer. (Quelle: KotteAutographs)
TRACKLIST Paul Juon (1872-1940)Piano Quartets Piano Quartet Op. 50 32'36 [1] Moderato 10'35 [2] Scherzo. Presto non troppo 4'07 [3] Adagio lamentoso 10'02 [4] Allegro non troppo 7'52 Piano Quartet »Rhapsodie« op. 37 29'13 [5] Moderato 9'30 [6] Allegretto 5'18 [7] Sostenuto 14'25 T.T.: 62'09 Oliver Triendl, Piano Daniel Gaede, Violin Hariolf Schlichtig, Viola Peter Bruns, Violoncello Recording: Siemensvilla Berlin-Lankwitz, December 14-16, 2006 Recording Supervisor: Florian B. Schmidt Recording Engineer: Henri Thaon Technician: Markus Lilge Executive Producers: Burkhard Schmilgun / Stefan Lang Cover Painting: Nikolaj Klodt: »Café-Terrasse am Genfer See«, 1908, Moskau, Tretjakow-Galerie (P) 2008
Robert Gernhardt
Herr Gernhardt, warum schreiben Sie Gedichte?
Das ist eine lange Geschichte:
Die hier versammelten Gedichte stammen aus sieben Büchern und rund fünfunddreißig Jahren. Ihr Ablauf entspricht der Reihenfolge, in welcher diese Bücher erschienen sind; die sieben römischen Ziffern im Text geben einen Hinweis darauf, aus welchem Buch ich die der Zahl zugeordneten Gedichte entnommen habe. Was eint diese erstmals im Schnelldurchlauf vorgestellte Produktion?
Die hilfreichste Schublade für mein Dichten und Trachten war über Jahre mit K wie Komik beschriftet. Zu recht. Nicht, daß alle Produkte nun auch wirklich komisch gewesen wären oder es immer noch sind. Doch ist den frühen und mittleren Gedichten durchaus und fast durchgehend die Absicht anzumerken, komische Wirkungen zu erzielen. Gilt das auch noch für die späteren?
Nein, hörte ich hin und wieder nach Erscheinen des letzten Gedichtbandes, und bei einigen dieser Stimmen war ein enttäuschter, ja besorgter Unterton nicht zu überhören: »Jetzt geht also auch er den Weg aller alternden Komiker, wird weise, wertvoll und weinerlich - eigentlich schade…«
Nein - keine Rechtfertigungen! Auf die nämlich kann verzichten, wer eine These zur Hand hat, die den wehleidigen Gegensatz Komik - Ernst wenigstens so weit aufzuheben in der Lage ist, daß der ganze Diskurs auf einem ganz anderen Niveau weitergeführt werden kann. Die These aber lautet, daß alle Gedichte komisch sind, da das Gedicht die Komik vom ersten Tag an mit der Muttersprache eingesogen hat und bis auf den heutigen Tag von ihr durchtränkt ist, wenn auch manchmal in kaum mehr nachweisbarer Verdünnung bzw. Vergeistigung. Dazu ein paar Erläuterungen und Einschränkungen:
Den Begriff »Gedicht« verwende ich im verbreitetsten und plattesten Sinne: als sprachliche Mitteilung, die sich am Ende reimt. Ich weiß natürlich, daß es auch reimlose Gedichte gibt und andere Reime als den Endreim, doch zumindest in unserem Sprachraum ist er seit gut tausend Jahren das vorherrschende, manchmal sogar alleinherrschende Prinzip, nach welchem sich Worte dergestalt organisieren lassen, daß jeder Erwachsene »Ein Gedicht!« sagt und jedes Kind begreift, wie es gemacht wird: »Der Reim entspricht einer Neigung des Menschen, mit seiner Sprache zu spielen; genauer: Worte mit gleichklingenden Bestandteilen zusammenzustellen«, schreibt Karl Martin Schiller in seiner Einleitung des Steputat - so nämlich heißt der Verfasser des seit 1891 meistgenutzten deutschen Reimlexikons und wie beim Duden steht auch hier der Name fürs Werk -, und Schiller fährt fort: »Schon die Kinder tun das, wenn sie einander mit ihren Namen necken: Paul, Paul - Lügenmaul!« Das sei zwar »nichts weiter als hübsch gereimter Unsinn - und doch beginnt mit alledem der Reim bereits ein Mittel dessen zu werden, was wir Dichtung nennen.« So weit, so richtig - doch gilt das auch noch für Schillers Folgerung: »Ein magischer Vorgang im Rahmen der Sprache vollzieht sich, wenn wir reimen« -? Müßte es nicht heißen: »windiger Vorgang«?
Solange das Gedicht nur hübschen Unsinn mitteilt, ist es noch ganz und gar ehrlich. Die Worte Denker, Henker, Lenker und Schenker beispielsweise eint nichts als der Reim und die Tatsache, daß sie in dieser Reihenfolge im Steputat stehen; und solcher Beliebtheit müßte eigentlich auch das Werk Rechnung tragen, das sich ihr verdankt:
Ein Denker
traf mal einen Henker
und sagte: Gib mir deinen Lenker,
dann bist du ein prima Schenker
- so oder ähnlich unschuldig würde wahrscheinlich das aufgeweckte Kind reimen und sich des offenkundigen Unsinns oder des zutage geförderten Nichtsinns freuen. Nicht so der Erwachsene in seinem unstillbaren Sinnbedarf und Sinnbedürfnis:
Einst Land der Dichter und der Denker,
Dann Land der Richter und der Henker,
Heut' Land der Schlichter und der Lenker -:
Wann Land der Lichter? Wann der Schenker?
Bernd Eilert, Arend Aghte, F. K. Waechter und Robert Gernhardt (v.l.) (Foto: © Irene von Mehring)
Kein gutes Gedicht, zugegeben, aber doch eines, das sich nicht sogleich und so einfach als Unsinn begreifen, belachen und abtun läßt. Allzu zwingend suggerieren Endreim, Binnenrein, Anfangsreim (Dann-Wann) und Stabreim (Land der Lichter), daß in diesen vier Zeilen irgend etwas zusammengewachsen ist, das irgendwie zutiefst zueinandergehört. Und wenn das Bankert der Vereinigung von Reimlexikon und Alphabet dann noch auf den Namen »Mein Land« getauft würde oder »Fragen an mein Land« oder gar »Denk ich an ... « - so müßte der Leser schon sehr gewitzt oder äußerst dickfellig sein, um den Vierzeiler als ganz und gar sinnlos zu entlarven bzw. zu empfinden -: Mach einer was gegen die Dichter.
»Wer schreibt, bleibt. Wer spricht, nicht« - nicht gerade ein richtiges Gedicht, doch ein weiteres gutes Beispiel dafür, mit welch simplen rhetorischen Reimtricks sich selbst relativ wache Köpfe einlullen lassen. Beispielsweise meiner. Jahrelang hatte ich diesen Merksatz immer dann mit viel Erfolg ins Feld geführt, wenn es galt, mein Dichtertum gegenüber anderen Tätigkeiten herauszustreichen und zu erhöhen, da plötzlich wagte jemand Einwände: Von vielen der weltweit berühmtesten Menschen sei doch keine geschriebene Zeile überliefert, nicht von Homer und nicht von Sokrates, nicht von Jesus und nicht von Dschingis Khan, nicht von Nofretete und nicht von Johanna von Orleans - und plötzlich war er gebrochen: der Reimzauber, welcher bis dahin so zuverlässig gewirkt hatte.
»Was bleibet aber stiften die Dichter« - wirklich? Ist es nicht vielmehr die Sprache selber, die das Dichterwort schamlos gängelt, indem sie hier Zusammenhänge verwehrt, dort in geradezu unsinniger Menge stiftet? 129 Reimwörter führt der Steputat für die Endsilbe »-at« an, von »Achat, Advokat, Aggregat« über »Rat (Titel), Rat (Hinweis), Rat (Körperschaft)« bis hin zu »ich lad, ich schad, ich verrat«. Dementsprechend breit kann der Dichter nichtsnutzige Vorgänge wie den folgenden ausmalen: Der Advokat aß grad Salat, als ihm ein Schrat die Saat zertrat. Nichts aber fiele dem gleichen Dichter ein, äße da nicht ein windiger Rechtsverdreher, sondern ein schlichter, dabei aber doch so unendlich viel wichtigerer »Mensch« seinen - ja, was eigentlich? Bekanntlich wissen weder der Steputat noch die deutsche Sprache einen Reim auf Mensch, und selbst ein so gewitzter Wortsucher wie Peter Rühmkorf wurde erst im Plural fündig:
Die schönsten Verse des Menschen
- Nun finden Sie schon einen Reim! -
Sind die Gottfried Bennschen:
Hirn, lernäischer Leim.
Das Dichten gilt als Kunst, und ich bin der letzte, der da widerspräche. Nur besteht die Kunst des Dichters nicht darin, seine Empfindungen oder Gedanken in Reime zu kleiden, sondern in seiner Fähigkeit, Sätze, Worte und Reimwörter so zu reihen, daß sie Gedanken oder Empfindungen suggerieren, im Glücksfall sogar produzieren. Als Meister aber erweist der sich, der uns vergessen läßt, daß da überhaupt gereimt wird. Das kann beim Lesen, häufiger noch beim Hören der Gedichte von, beispielsweise, Goethe, Mörike oder Brecht geschehen, und bezaubert fragen wir nicht lange, wieso uns das Mitgeteilte eigentlich dermaßen einleuchtet: Wir wollen ja auch nicht wissen, was die Kugeln wiegen und wieso sie dem Jongleur nicht runterfallen, sondern uns der schönen Täuschung hingeben, daß die Schwerkraft augenscheinlich doch zu überlisten oder gar ganz außer Kraft zu setzen ist.
Wo ein Vorhaben gelingen soll, kann es auch scheitern. Immer wieder unterlaufen selbst erfahrenen Dichtern Gedichte, in welchen die zutiefst komische Qualität aller vom Reim gelenkten Sinn- und Beziehungsstiftung bloßgelegt wird. Wenn ein formstrenger Dichter wie August von Platen sich und der Sprache den Kraftakt zumutet, acht plausible Reime auf »Wunde nichts« zu finden, ohne daß sein Gedicht in blanke Beliebigkeit oder puren Nichtsinn abrutscht -:
Es liegt an eines Menschen Schmerz, an eines Menschen Wunde nichts,
Es kehrt an das, was Kranke quält, sich ewig der Gesunde nichts;
- dann kann der Leser das angestrengte Ergebnis ehrfürchtig bestaunen; er mag einwenden, daß man sich nicht »nichts« an etwas kehren kann, sondern lediglich »nicht«; er darf das Mißverhältnis von Aufwand und Ertrag jedoch auch innig belächeln:
Und wer sich willig nicht ergibt dem ehrnen Lose, das ihm dräut,
Der zürnt ins Grab sich rettungslos und fühlt in dessen Schlunde nichts;
- als ob es so schrecklich erstrebenswert wäre, auch noch als Toter und noch im Grabe etwas zu fühlen.
Die Neue Frankfurter Schule
Lächeln, ja lachen darf der Leser jedoch auch dann, wenn Clemens Brentano den Reim nicht wie Platen in die Zucht des Gedankens nimmt, sondern im Gegenteil dermaßen die Zügel schleifen läßt, daß sein Gedicht jedweden Sinn in Grund und Boden reimt:
Wenn der lahme Weber träumt, er webe,
Träumt die kranke Lerche auch, sie schwebe,
- und wenn das so ist, dann folgt daraus natürlich auch:
Träumt das blinde Huhn, es zähl die Kerne,
Und der drei je zählte kaum, die Sterne,
- und nach der achten Zeile schließlich glaubt uns der Dichter reif für die nun völlig rätselhaften, dafür zur Sicherheit gleich durch dreifachen Reim verklammerten Zeilen:
Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche,
Wie der Traube Schüchternheit berausche;
- ein Gedicht, das in keiner Anthologie deutscher Unsinnsdichtung fehlen dürfte, von den zuständigen Stellen jedoch hartnäckig dem literarischen Tiefsinn zugerechnet und dementsprechend interpretiert, hofiert und glorifiziert wird.
Um Komik und Ernst war es zu Beginn dieser Überlegungen gegangen, einigermaßen folgerichtig sind wir bei den Grenzen gelandet, die Sinn und Unsinn scheiden, derart undeutlichen Markierungen, daß auch der gewitzteste Kartograph nicht weiterhelfen kann: Immer wieder nämlich finden sich Gedichte, die keinem der Bereiche eindeutig zuzuordnen sind; Gebilde, in welchen der Sinn langsam, fast unmerklich in Nichtsinn oder Unsinn übergeht. In anderen aber kippt er urplötzlich, und das gerade dann, wenn der Dichter ein Übermaß an Sinn produzieren, suggerieren oder schlicht ergaunern wollte, siehe Platens »Wunde nichts«-Variationen, aber auch mein Gedicht »Deutung eines allegorischen Gemäldes« -: alles Sinn-Implosionen, die teils unfreiwillig, teils beabsichtigt Komik freisetzen.
Niemand hantiert gern ungesichert mit kritischen Massen, niemand ist gerne ungeschützt jener Kritik und Lächerlichkeit ausgesetzt, die bei jedermann erkennbaren Stör- und Unglücksfällen sich zuverlässig einstellt -: Kein Wunder, daß die Ernst-Dichter im Laufe dieses Jahrhunderts immer entschlossener immer mehr Regelsysteme über Bord warfen, nicht nur den Reim, auch den Vers, das Metrum, den Takt und den Rhythmus. Als ich zu dichten begann, Anfang der 60er, war das Gedicht eine relativ kurze reimlose Mitteilung, die aus meist unerfindlichen Gründen nicht in durchlaufenden, sondern vielfach zerstückelten Zeilen abgesetzt wurde, von Leerzeilen unterbrochen und auf möglichst viel umgebendem Weiß, ganz so, wie es bereits Lewis Carroll in Alice im Wunderland dem Dichter geraten hatte:
Wir schreiben eine Zeile
Dann hacken wir sie klein
Dann würfeln wir die Teile
In bunt gemischte Reih'n
Der Wörter Reihenfolge muß
Nicht unsre Sorge sein.
Da nun konnte nichts so richtig schiefgehen, aber auch nichts so recht gelingen. Künstler, die Regeln verwerfen, gleichen Jongleuren, die sich von ihren Kugeln befreien: Kein Dichter mußte fortan mehr befürchten, an der Regel gemessen oder von ihr gefressen zu werden, doch bezahlte er diese Sicherheit mit dem Verzicht auf jene glorreichen Augenblicke, in welchen die Regel nicht an dem zuschanden wird, der sie auftrumpfend zerbricht, sondern an dem, der sie lachhaft mühelos meistert.
Reim oder Nichtreim - für mich war das schon damals keine Frage. Ich brauchte die Regel, solange ich eindeutig auf Komik oder Nonsens aus war - Komik lebt von der Regelverletzung, und Nonsens ist nicht etwa jener hausbackene Unsinn, der ungeregelt in launigen Lautgedichten, krausen Collagen und absurden Verbalautomatismen wuchert, sondern konsequent, also regelmäßig, verweigerter Sinn -, und ich liebe die Regel nach wie vor, weil sie beides ist, Widerstand und Wegweiser: Da geht's lang, nicht aufgeben, hier mußt du durch.
Sich heute noch ernsthaft auf das uralte Reim- und Regelspiel einzulassen, ist, meine ich, schon mal per se komisch. Einfach war es nie, doch in Jahrhunderten gebundener Dichtung hat sich sein Schwierigkeitsgrad erheblich gesteigert. Daraus haben Verzagte wie Arno Holz gefolgert, daß nichts mehr gehe: »Der Erste, der - vor Jahrhunderten! - auf Sonne Wonne reimte, auf Herz Schmerz und auf Brust Lust, war ein Genie; der Tausendste, vorausgesetzt, daß die Folge ihn nicht bereits genierte, ein Kretin.«
Falsch, ganz falsch: Der Erste, der Brust auf Lust reimte, war ein braver Mann, der Einmillionste aber, dem es gelingt, die beiden Begriffe einleuchtend, einschmeichelnd oder auch nur eingängig zu paaren, ist ein Genie, zumindest ein achtenswerter Artist.
Das Knebellied
Der zweite Teil ist wie mit geknebeltem Munde zu sprechen
»Gib mir den Säbel, liebes Kind,
Und sag mir, wo die Knebel sind.
Denn heute, heute gehts drauf und dran,
Die Türken, die Türken greifen an!«
So sprach der Bursch und zog aus mit Hurrah.
Erst nach siebzehn Stunden war er wieder da:
»Zhieh mhir dhem Sähbl ausm Bhauch,
Dhem Khnbll ausm Mhundhe auuch.
Dhnem cheuthecheuthe ghinghs dhraumfumddrhram,
Dhie Thürrkm, dhie Thürrkm ghriffm ahmh!«
(I)
Bekenntnis
Ich leide an Versagensangst,
besonders, wenn ich dichte.
Die Angst, die machte mir bereits
manch schönen Reim zuschanden.
(II)
Paris ojaja
Oja! Auch ich war in Parih
Oja! Ich sah den Luver
Oja! Ich hörte an der Sehn
die Wifdegohle-Rufer
Oja! Ich kenn' die Tüllerien
Oja! Das Schöhdepohme
Oja! Ich ging von Notterdam
a pjeh zum Plahs Wangdohme
Oja! Ich war in Sackerköhr
Oja! Auf dem Mongmatter
Oja! Ich traf am Mongpahnass
den Dichter Schang Poll Satter
Oja! Ich kenne mein Parih.
Mäh wih!
(III)
Dreißigwortegedicht
Siebzehn Worte schreibe ich
auf dies leere Blatt,
acht hab' ich bereits vertan,
jetzt schon sechzehn und
es hat alles längst mehr keinen Sinn,
ich schreibe lieber dreißig hin:
Dreißig.
(III)
Schöpfer und Geschöpfe
Am siebenten Tage aber legte Gott die Hände
in den Schoß und sprach:
Ich hab vielleicht was durchgemacht,
ich hab den Mensch, den Lurch gemacht,
sind beide schwer mißraten.
Ich hab den Storch, den Hecht gemacht,
hab sie mehr schlecht als recht gemacht,
man sollte sie gleich braten.
Ich hab die Nacht, das Licht gemacht,
hab beide schlicht um schlicht gemacht,
mehr konnte ich nicht geben.
Ich hab das All, das Nichts gemacht,
ich fürchte, es hat nichts gebracht.
Na ja. Man wird's erleben.
(IV)
Schön, schöner, am schönsten
Schön ist es,
Champagner bis zum Anschlag zu trinken
und dabei den süßen Mädels zuzuwinken:
Das ist schön.
Schöner ist es,
andere Menschen davor zu bewahren,
allzusehr auf weltliche Werte abzufahren:
Das ist schöner.
Noch schöner ist es,
speziell der Jugend aller Rassen
eine Ahnung von geistigen Gütern zukommen zu lassen:
Das ist noch schöner.
Am schönsten ist es,
mit so geretteten süßen Geschöpfen
einige gute Flaschen Schampus zu köpfen:
Das ist am allerschönsten.
(IV)
Gespräch mit dem Engel
Ein Geräusch in der Luft,
wie von großen Maschinen:
»Sagn Sie mal - läßt sich das nicht abstellen?«
»Damit kann ich leider nicht dienen.
Das ist das Stöhnen Gottes
beim Betrachten seiner Welten.
Das heißt: Manchmal lacht er auch über sie.
Aber selten.«
(V)
Die Bronzeplastik des «Frankfurter Grüngürteltieres», eine Schöpfung Robert Gernhardts, sitzt in Frankfurt am Main auf einer Brücke.
Die Geburt
Als aber in der finsteren Nacht
die junge Frau das Kind zur Welt gebracht,
da haben das nur zwei Tiere gesehn,
die taten grad um die Krippen stehn.
Es waren ein Ochs und ein Eselein,
die dauerte das Kindlein so klein,
das da lag ganz ohne Schutz und Haar
zwischen dem frierenden Elternpaar.
Da sprach der Ochs: »Ich geb dir mein Horn.
So bist du wenigstens sicher vorn.«
Da sprach der Esel: »Nimm meinen Schwanz,
auf daß du dich hinten wehren kannst.«
Da dankte die junge Frau, und das Kind
empfing Hörner vorn und ein Schwänzlein hint.
Und ein Hund hat es in den Schlaf gebellt.
So kam der Teufel auf die Welt.
(VI)
Sonntag in Lübeck
Wie sie kauend durch
die Straßen schieben!
- Du mußt diese Menschen nicht lieben.
Wie sie gekleidet sind,
die Ungeschlachten!
- Du mußt diese Menschen nicht achten.
Wie erfreulich es wär,
wenn sie weniger wögen!
- Du mußt diese Menschen nicht mögen.
Wie sie durch ihre
Stumpfheit entsetzen!
- Du mußt diese Menschen nicht schätzen.
Wie schafft man es nur,
sie nicht zu hassen?
- Da mußt du dir etwas einfallen lassen.
(VI)
Robert Gerhardt angesichts Heinrich Heines
Frühsommerabend am Hundekehlesee
O daß doch die Armen es niemals erführen,
wie gut es tut, etwas reich zu sein.
Zumindest so reich,
daß man sich die Armen,
so gut es geht, vom Leib halten kann.
O daß doch die Armen es niemals erahnten,
wie schön es sich lebt, wenn die Kohlen stimmen.
Dann stimmt auch die Lage
der Villa am Waldsee
und der Abstand zu jenen, bei denen's nicht stimmt.
O daß doch die Armen es niemals erlebten,
wie lang es noch licht ist des Abends am Wasser,
wenn schweigend der Wald steht
und Gäste laut rühmen:
»Direkt wie jemalt!« - »Unbezahlbar die Ruhe!«
O daß doch die Armen es niemals ersehnten,
wie jene zu sein, die auf Terrassen,
vom Flieder umstanden,
beschirmt von Kastanien,
die scheidende Sonne mit goldnem Glas grüßen.
O daß es doch niemand den Armen erzählte,
sie müßten sich nicht mal durch Brei hindurchfressen.
Das Schlaraffenland läge
direkt um die Ecke:
»Es liegt nur an euch, euch dort breitzumachen.«
(VIII)
Quelle: Robert Gernhardt: Reim und Zeit & Co. Gedichte, Prosa, Cartoons. Reclam, Stuttgart, 2.Aufl. 2006, ISBN 978-3-15-050032-3 bzw. 3-15-050032-X (Nachwort: Seite 170-177)
Die Texte wurden ursprünglich in folgenden Bänden veröffentlicht:
(I) Die Wahrheit über Arnold Hau. Frankfurt a. M.: Bärmeier & Nikel, 1966.
(II) Besternte Ernte. Gedichte aus fünfzehn Jahren. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 1976.
(III) Wörtersee. Gedichte und Bildgedichte. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 1981.
(IV) Körper in Cafes. Gedichte. Zürich: Haffmans, 1987.
(V) Weiche Ziele. Gedichte 1984-1994. Zürich: Haffmans, 1994.
(VI) Lichte Gedichte. Zürich: Haffmans, 1997.
(VII) Klappaltar. Drei Hommagen. Zürich: Haffmans, 1998.
(VIII) Berliner Zehner. Hauptstadtgedichte. Zürich: Haffmans, 2001.
(IX) Im Glück und anderswo. Gedichte. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2002.
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Reposted on June 29, 2015Das Infopaket enthält als Beilagen weitere Gedichte von Robert Gernhardt und die Dissertation Klaus Cäsar Zehrers "Dialektik der Satire. Zur Komik von Robert Gernhardt und der ‚Neuen Frankfurter Schule.‘" (Universität Bremen, 2002).