Ursula Mamlok hat schon als junge Schülerin in den dreißiger Jahren in Berlin mit dem Komponieren begonnen und über mehr als ein Dreivierteljahrhundert ihr Können immer weiter vervollkommnet. Diese CD, die dritte aus einer Serie mit Mamloks Musik, enthält Beispiele ihres Schaffens für Soloinstrumente und kleine Kammerensembles, entstanden über einen Zeitraum von beinahe fünfzig Jahren. Mamloks Stil hat viele Wandlungen durchgemacht, aber ihre sehr individuelle Musik war immer durch viele charakteristische Züge gekennzeichnet. Die stilistisch unterschiedlichen Stücke, die hier präsentiert werden, zeigen Mamloks Begabung für Dramatik und für die Pflege instrumentaler Virtuosität ebenso wie ihr genaues Gehör und ihre Neigung zu zarten, transparenten Klanggeweben.
Die CD wird eingerahmt von zwei Oboenwerken, beide gespielt von Heinz Holliger:
Five Capriccios für Oboe und Klavier (1968) und
Kontraste (2009/2010). Die
Five Capriccios entstanden zu einer Zeit, in der Mamlok ein Idiom ausprobierte, das syntaktische Komplexität mit instrumentaler Virtuosität verband. Die großen Fähigkeiten des Oboisten Josef Marx, für den ihre Lehrer Stefan Wolpe und Ralph Shapey schon mehrere Werke geschrieben hatten, bedeuteten für Mamlok die erste Anregung, für Oboe zu komponieren.
Five Capriccios ist das zweite von vier Stücken, die Mamlok zwischen 1964 und 1976 für Oboe schrieb, wobei das
Konzert für Oboe und Kammerorchester (1976/2003) den Höhepunkt dieser Gruppe darstellt. Die ersten zwei Sätze spiegeln einander. Große Aufwärtssprünge werden in der Melodielinie des ersten Satzes häufig verwendet, während Abwärtssprünge den zweiten Satz beherrschen. Ähnlich zieht sich im ersten Satz ein Cluster zu einem einzigen Ton zusammen, während im zweiten Satz eine einzelne Note zweimal zu einem Cluster anwächst, erst in der hohen Lage, später im Bass. Mamlok verwendete vergleichbare kompositorische Strategien im dritten und vierten Satz. Der dritte Satz ist frei kanonisch und palindromisch, mit einem polyrhythmischen Gegensatz zwischen den Stimmen. Der vierte Satz präsentiert ebenfalls einen polyrhythmischen Gegensatz zwischen den Stimmen, welche diesmal in Gegenbewegung ablaufen, wobei die beiden Instrumente häufig die Rollen wechseln. Der fünfte und längste Satz ist ein langsamer und emotional zurückhaltender Epilog, der die Ideen der vorangehenden Sätze aufgreift und zur Synthese bringt. Die
Five Capriccios erlebten ihre New Yorker Uraufführung 1968 mit Judith Martin, Oboe, und Joan Tower, Klavier.
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Ursula Mamlok (1923-2016), im März 2009 |
Stray Birds für Sopran, Flöte/Piccolo/Altflöte und Cello (1963) gehört zu Mamloks ersten Werken, nachdem sie sich während ihrer Studien bei Stefan Wolpe und Ralph Shapey einem dezidiert modernen Stil zugewandt hatte. […] Der Text von
Stray Birds besteht aus fünf Aphorismen, ausgewählt aus den 326 Aphorismen, die zum Gedicht
Stray Birds des bengalischen Dichters Rabindranath Tagore (1861-1941) gehören:
1. (In einer ununterbrochenen Stimmung) Verirrte Vögel des Sommers kommen an mein Fenster, um zu singen und fortzufliegen, und gelbe Herbstblätter, welche keine Lieder haben, flattern und fallen seufzend herunter.
2. (Hoheitsvoll) Lass Deine Musik wie ein Schwert den Lärm des Marktes ins Herz treffen.
3. (Sehr luftig) Niedriges Gras, Deine Schritte sind klein, aber Dir gehört die Erde unter Deinem Tritt.
4. (In melancholischer Stimmung) Dieser Regenabend, der Wind ist ruhelos, ich blicke auf die schwankenden Zweige und denke über die Größe aller Dinge nach.
5. (Ruhig, in größter Einfachheit) Mein Tagwerk ist getan und ich bin wie ein auf den Strand gezogenes Boot, das auf die Tanzmusik der abendlichen Gezeiten lauscht.
Mamlok versuchte, in diesem emotional dichten und expressionisdschen Stück den „Charakter der Dichtung auszudrücken“, indem sie den nervösen, verschlungenen Linien der Anfangssätze die langsame, gehaltene Musik des ausgedehnten Schlusssatzes gegenüberstellte. Der Wechsel zwischen Flöte, Altflöte und Piccolo während des ganzen Stücks erzeugt dramatische Kontraste von Klangfarbe und Register. Das Cello spielt am Beginn von
Stray Birds eine zentrale Rolle im musikalischen Diskurs, wird aber in den beiden letzten Sätzen der Stimme und Flöte untergeordnet. Seine palindromischen Soli umrahmen den zweiten Satz. Die Group for Contemporary Music brachte
Stray Birds 1964 in New York zur Uraufführung.
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Ursula Mamlok mit Master-Abschluss |
Polyphony I für Soloklarinette entstand 1968, im gleichen Jahr wie die
Five Capriccios für Oboe und Klavier. Mamlok nannte 1982 ihre Bearbeitung des viersätzigen Werks für Cello solo
Fantasy-Variations. Die Transposition des Stücks um eine Oktave nach unten verleiht der Musik einen neuen Aspekt, wobei eine musikalische Spannung zwischen den klar un-terschiedenen Diskant— und Bassregistern der weiträumigen Cellomelodie entsteht. Die Einbeziehung häufiger Wechsel der für Streichinstrumente typischen Artikulation schafft zusätzliche Dramatik. Zu Beginn des ersten Satzes erzeugen die Gegensätze von Register und Dynamik eine zweistimmige Polyphonie, die bald zu einer Passage rhythmisch irregulärer Musik mit auffälligen Tonwiederholungen führt. Der Satz endet mit gespenstischen Trillern und Tremoli. Der zweite Satz baut sich rund um kurze palindromische Figuren auf, die in eine größere palindromische Anlage eingehen. Die webenden, sich ständig beschleunigenden Linien des dritten Satzes führen zu einem abschließenden
ffff
-Höhepunkt. Im langsamen, nachdenklichen Schlusssatz gehört die ständige Veränderung des Vibratos ebenso wesentich zum musikalischen Diskurs wie der Wechsel von lauter und leiser Dynamik. Die Cellistin Dawn Buckholz brachte die
Fantasy-Variations 1983 in New York zur Uraufführung.
Während der frühen achtziger Jahre begann Mamlok ihre musikalische Sprache zu vereinfachen, wobei sie die neoklassischen Verfahren ihrer frühen Werke mit ihrer zunehmenden Verwendung der Reihentechnik verschmolz.
Panta Rhei (Zeit im Fluss), ein fünfsätziges Werk für Klaviertrio, entstand 1981, zu Beginn dieser Periode in Mamloks kompositorischer Laufbahn. Der Untertitel bezieht sich nicht auf eine spezifische Technik, welche die Komponistin verwendete, sondern wurzelt vielmehr in einer Anregung ihrer Mutter, einer begeisterten Musikliebhaberin. Im kurzen ersten Satz verwendet Mamlok Arpeggien und Akkorde, um die Reihe horizontal wie auch vertikal vorzustellen. Der zweite Satz beginnt mit einem spielerisch kontrapunktischen Gedankenaustausch zwischen den Mitgliedern des Ensembles, wobei die Musik zu großen Teilen aus Ketten von Terzen, Quarten und Quinten besteht. Der schnelle lineare Diskurs der ersten Hälfte des Satzes wird in der zweiten Hälfte unterbrochen durch einen Wechsel zum Walzerrhythmus, und die Intervallketten verwandeln sich manchmal zu dissonanten Akkorden.
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Hochzeitsphoto von Ursula und Dwight Mamlok,
November 1947 |
Im dritten Satz wiederholen zwei Instrumente zeitweise einen einzelnen Ton, während das dritte die musikalische Erzählung weiterführt. Die Stimmen wechseln während des ganzen Satzes, der leise beginnt und einen
ff
-Höhepunkt erreicht, wenn das Klavier eine Reihe von Cluster-Akkorden spielt. In den letzten Takten nimmt das Cello den Krebs der Anfangsmelodie wieder auf und überträgt ihn in das Bassregister. Der vierte Satz, ein Rondo, verwendet Ideen aus den ersten drei Sätzen, wobei es in einzelnen Episoden verschiedene Kombinationen von Tonwiederholungen, dissonanten Akkorden und geschmeidigen thematischen Figuren gibt, die von schnellen Lauffiguren begleitet werden. Gegen Ende des vierten Satzes greift Mamlok den Walzerrhythmus des zweiten Satzes auf. Sie schließt den Satz mit den gehämmerten D’s, mit denen er begann, jetzt aber ohne die Akkordbegleitung der Anfangstakte. Die Arpeggien und Akkorde des Kopfsatzes werden im fünften und Schlusssatz, der mit einer weiteren Anspielung auf die Musik des zweiten Satzes endet, in Umkehrung präsentiert.
Panta Rhei entstand im Auftrag von Sigma Alpha Iota und wurde von Barbara Sorlien, Violine, Lloyd Smith, Cello, und Rheta Smith, Klavier, 1981 auf der Sigma Alpha Iota National Convention in Washington, D.C., uraufgeführt. […]
Mamloks
Streichquartett Nr. 2, vollendet 1998, ist ein kompaktes dreisätziges Werk, das sich von ihrem
Streichquartett Nr. 1,, das mehr als dreißig Jahre früher entstand, erheblich unterscheidet. Während das erste Quartett die intensive Rhetorik zeigt, die typisch war für ihre Stilistik in den sechziger Jahren, ist das zweite Quartett grundsätzlich neoklassizistisch angelegt. Den ersten und dritten Satz verbindet ein verschlungenes, hüpfendes Thema, das in vielen Gestalten in Musik präsentiert wird, die abwechselnd spielerisch und lyrisch ist. Die Sätze verbindet auch eine formale Verwandtschaft: der erste Teil jedes Satzes wird in Umkehrung wiederholt. Im zweiten Satz wechseln lange Legato-Linien von einer fast an Fauré erinnernden Zartheit mit kurzen
agitato-Zwischenspielen. Gegen Ende des Finales führt Mamlok wieder das Thema des zweiten Satzes ein, um eine dicht geschlossene Gesamtform zu schaffen. Das Quartett endet mit einem eindrücklichen Moment, wenn das Anfangsthema des ersten Satzes in seiner originalen Lage wiederkehrt, aber in flexibler Bewegung von hoch und tief, was an den Beginn von Bergs
Lyrischer Suite erinnert.
Streichquartett Nr. 2 war ein Auftrag der Fromm Music Foundation der Harvard University für das Cassatt Quartett und wurde von diesem Ensemble 1998 an der Syracuse University (New York, USA) uraufgeführt. Es ist der Erinnerung an Anna Cholakian gewidmet, eines der Gründungsmitglieder des Quartetts.
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Ursula Mamlok mit Chevrolet auf der „Route 66“ |
Confluences ist ein dreisätziges Werk für Klarinette, Violine, Cello und Klavier, welches im Jahr 2001 für das Continuum Ensemble New York komponiert wurde. Im kurzen ersten Satz wandert ein Zweitonmotiv durch die Streicher, während das Klavier zarte Figuren im Diskant spielt. Der zweite Satz,
Grazioso, ist der kunstvollste der drei. Er beginnt mit einem bogenförmigen Thema, gespielt von der Klarinette, welches eine Ähnlichkeit aufweist zum Hauptthema des ersten Satzes des
Streichquartetts Nr. 2. Aus diesem Thema gehen oszillierende Arpeggien hervor, die sich wiederholt in Drehmotive auflösen. Diese verengen den weiten Klangraum, der durch die arpeggierten Figuren umrissen wird. Der Satz wird unterbrochen durch mehrere langsame Zwischenspiele. In der ersten dieser Passagen dient eine alternierende Sekundschritt-Zweitonfolge, aufgeteilt zwischen Violine und Klavier, als Hintergrund für ein klagendes Thema, das vom Cello eingeführt wird. Die anderen langsamen Zwischenspiele bringen akkordische Figuren, gespielt von Klarinette und Streichern und vom Klavier mit Streicherbegleitung. Der Schlusssatz, betitelt „Ruhig, schwebend“, enthält einen transparenten Dialog zwischen allen Mitgliedern des Ensembles.
Confluences wurde von Continuum im Jahre 2001 in der Knitting Factory in New York City uraufgeführt.
Mamlok komponierte eine
Humoreske für Oboe und Harfe 2009 anläßlich des siebzigsten Geburtstages von Heinz Holliger. Im Jahr 2010 ergänzte sie einen zweiten Satz und nannte das Werk
Kontraste. Der erste Satz von
Kontraste setzt zartes Filigran in den hellsten Registern beider Instrumente ein. Der zweite, überschrieben
Largo e mesto, ist gewichtig und klagend. Mamlok vermeidet den höchsten Bereich der Tessitura der Oboe und verwendet dichte Harfenakkorde, welche die Resonanz der Bassnoten des Instruments hervorheben. Heinz und Ursula Holliger brachten
Kontraste im Jahr 2011 für die vorliegende Aufnahme zur Uraufführung.
Quelle: Barry Wiener, im Booklet (Übersetzung: Albrecht Dümling). [gekürzt]
Link-Tipp
Webportal der Dwight und Ursula Mamlok-Stiftung
TRACKLIST
Ursula Mamlok
(1923-2016)
Music of Ursula Mamlok, Volume 3
Five Capriccios (1968) 7:10
01 I. #\ = 100 0:52
02 II. #\ = 112 0:45
03. III. #\ = 92 0:43
04 IV. # = 104 0:41
05 V. #\ = 54 4:05
Heinz Holliger, Oboe
Anton Kernjak, Piano
Stray Birds (1963) 14:29
06. I. In a Sustained Mood 3:31
07. II. Majestic 2:37
08. III. Very Airy 0:53
09. IV. In a Melancholy Mood 2:27
10. V. Still, with utmost simplicity 5:02
Phyllis Bryn-Julson, Soprano
Harvey Sollberger, Flute
Fred Sherry, Cello
Fantasy-Variations
for Solo Violoncello (1982) 8:17
11. I. Pensive 3:09
12. II. #\ = 60: Fast # = 132 1:10
13. III. Allways # = 30, but with
Increasing Excitement 0:47
14. IV. Dreamy 3:11
Jakob Spahn, Cello
Panta Rhei (Time in Flux) (1981) 9:06
15. I. Agitato 0:35
16. II. Vivace misterioso 1:02
17. III. Molto tranquillo 4:00
18. IV. Allegro energico 2:43
19. V. Distant 0:46
Susanne Zapf, Violin
Cosima Gerhardt, Cello
Heather O'Donnell, Piano
Five Bagatelles (1988) 8:39
20. Grazioso 0:48
21. Very Calm 1:36
22. Playful 1:34
23. Still, as if Suspended 3:24
24. Sprightly 1:17
Helge Harding, Clarinet
Kirsten Harms, Violin
Cosima Gerhardt, Cello
String Quartet No. 2 (1998) 12:45
25. I. With Fluctuating Tension 3:44
26. II. Larghetto 5:02
27. III. Joyful 3:59
Sonar String Quartet:
Kirsten Harms, Violin
Susanne Zapf, Violin
Nikolaus Schlierf, Viola
Cosima Gerhardt, Cello
Confluences (2001) 8:39
28. Introduction - Presto 0:11
29. I. Grazioso - Transition 2:28
30. II. Vivo 1:20
31. III. Still, as if Suspended 4:40
Helge Harding, Clarinet
Kirsten Harms, Violin
Cosima Gerhardt, Cello
Heather O'Donnell, Piano
Kontraste (2009/2010) 3:27
32. I. Humoresque 0:41
33. II. Largo e Mesto 2:46
Heinz Holliger, Oboe
Ursula Holliger, Harp
Total Time 72:45
Recorded November 25.-28, 2010, Deutschlandfunk Köln Kammermusiksaal (01.-31.),
February 12, 2011, Radiostudio Zürich (32.-33.)
Producer: Frank Kämpfer / Andreas Werner
Engineer: Hendrik Manook / Andreas Werner
Editors: Charlie Post / Doron Schächter
Executive Producers: Bettina Brand, Becky und David Starobin
(P)+(C) 2011
Sigmund Freud:
Das Unbehagen in der Kultur
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Sigmund Freud (1856-1939) |
IV
[…] Nachdem der Urmensch entdeckt hatte, daß es — wörtlich so verstanden — in seiner Hand lag, sein Los auf der Erde durch Arbeit zu verbessern, konnte es ihm nicht gleichgültig sein, ob ein anderer mit oder gegen ihn arbeitete. Der andere gewann für ihn den Wert des Mitarbeiters, mit dem zusammen zu leben nützlich war. Noch vorher, in seiner affenähnlichen Vorzeit, hatte er die Gewohnheit angenommen, Familien zu bilden; die Mitglieder der Familie waren wahrscheinlich seine ersten Helfer.
[…] In dieser primitiven Familie vermissen wir noch einen wesentlichen Zug der Kultur; die Willkür des Oberhauptes und Vaters war unbeschränkt. In
Totem und Tabu habe ich versucht, den Weg aufzuzeigen, der von dieser Familie zur nächsten Stufe des Zusammenlebens in Form der Brüderbünde führte. Bei der Überwältigung des Vaters hatten die Söhne die Erfahrung gemacht, daß eine Vereinigung stärker sein kann als der Einzelne. Die totemistische Kultur ruht auf den Einschränkungen, die sie zur Aufrechthaltung des neuen Zustandes einander auferlegen mußten. Die Tabuvorschriften waren das erste »Recht«.
Das Zusammenleben der Menschen war also zweifach begründet durch den Zwang zur Arbeit, den die äußere Not schuf, und durch die Macht der Liebe, die von seiten des Mannes das Sexualobjekt im Weibe, von seiten des Weibes das von ihr abgelöste Teilstück des Kindes nicht entbehren wollte. Eros und Ananke sind auch die Eltern der menschlichen Kultur geworden. Der erste Kulturerfolg war, daß nun auch eine größere Anzahl von Menschen in Gemeinschaft bleiben konnten. Und da beide großen Mächte dabei zusammenwirkten, könnte man erwarten, daß sich die weitere Entwicklung glatt vollziehen würde, zu immer besserer Beherrschung der Außenwelt wie zur weiteren Ausdehnung der von der Gemeinschaft umfaßten Menschenzahl. Man versteht auch nicht leicht, wie diese Kultur auf ihre Teilnehmer anders als beglückend wirken kann. […]
Jene Liebe, welche die Familie gründete, bleibt in ihrer ursprünglichen Ausprägung, in der sie auf direkte sexuelle Befriedigung nicht verzichtet, sowie in ihrer Modifikation als zielgehemmte Zärtlichkeit in der Kultur weiter wirksam. In beiden Formen setzt sie ihre Funktion fort, eine größere Anzahl von Menschen aneinander zu binden und in intensiverer Art, als es dem Interesse der Arbeitsgemeinschaft gelingt. Die Nachlässigkeit der Sprache in der Anwendung des Wortes »Liebe« findet eine genetische Rechtfertigung. Liebe nennt man die Beziehung zwischen Mann und Weib, die auf Grund ihrer genitalen Bedürfnisse eine Familie gegründet haben, Liebe aber auch die positiven Gefühle zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschwistern in der Familie, obwohl wir diese Beziehung als zielgehemmte Liebe, als Zärtlichkeit, beschreiben müssen.
Die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewußten des Menschen noch immer. Beide, vollsinnliche und zielgehemmte Liebe, greifen über die Familie hinaus und stellen neue Bindungen an bisher Fremde her. Die genitale Liebe führt zu neuen Familienbildungen, die zielgehemmte zu »Freundschaften«‚ welche kulturell wichtig werden, weil sie manchen Beschränkungen der genitalen Liebe, z. B. deren Ausschließlichkeit, entgehen. Aber das Verhältnis der Liebe zur Kultur verliert im Verlaufe der Entwicklung seine Eindeutigkeit. Einerseits widersetzt sich die Liebe den Interessen der Kultur, anderseits bedroht die Kultur die Liebe mit empfindlichen Einschränkungen.
Diese Entzweiung scheint unvermeidlich; ihr Grund ist nicht sofort zu erkennen. Sie äußert sich zunächst als ein Konflikt zwischen der Familie und der größeren Gemeinschaft, der der Einzelne angehört. Wir haben bereits erraten, daß es eine der Hauptbestrebungen der Kultur ist, die Menschen zu großen Einheiten zusammenzuballen. Die Familie will aber das Individuum nicht freigeben. Je inniger der Zusammenhalt der Familienmitglieder ist, desto mehr sind sie oft geneigt, sich von anderen abzuschließen, desto schwieriger wird ihnen der Eintritt in den größeren Lebenskreis. Die phylogenetisch ältere, in der Kindheit allein bestehende Weise des Zusammenlebens wehrt sich, von der später erworbenen, kulturellen abgelöst zu werden. Die Ablösung von der Familie wird für jeden Jugendlichen zu einer Aufgabe, bei deren Lösung ihn die Gesellschaft oft durch Pubertäts- und Aufnahmsriten unterstützt. Man gewinnt den Eindruck, dies seien Schwierigkeiten, die jeder psychischen, ja im Grunde auch jeder organischen Entwicklung anhängen. […]
Von seiten der Kultur ist die Tendenz zur Einschränkung des Sexuallebens nicht minder deutlich als die andere zur Ausdehnung des Kulturkreises. Schon die erste Kulturphase, die des Totemismus, bringt das Verbot der inzestuösen Objektwahl mit sich, vielleicht die einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat. Durch Tabu, Gesetz und Sitte werden weitere Einschränkungen hergestellt, die sowohl die Männer als die Frauen betreffen. Nicht alle Kulturen gehen darin gleich weit; die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft beeinflußt auch das Maß der restlichen Sexualfreiheit. Wir wissen schon, daß die Kultur dabei dem Zwang der ökonomischen Notwendigkeit folgt, da sie der Sexualität einen großen Betrag der psychischen Energie entziehen muß, die sie selbst verbraucht. Dabei benimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein Volksstamm oder eine Schichte der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.
Einen Höhepunkt solcher Entwicklung zeigt unsere westeuropäische Kultur. Es ist psychologisch durchaus berechtigt, daß sie damit einsetzt, die Äußerungen des kindlichen Sexuallebens zu verpönen‚ denn die Eindämmung der sexuellen Gelüste der Erwachsenen hat keine Aussicht, wenn ihr nicht in der Kindheit vorgearbeitet wurde. Nur läßt es sich auf keine Art rechtfertigen, daß die Kulturgesellschaft so weit gegangen ist, diese leicht nachweisbaren, ja auffälligen Phänomene auch zu leugnen. Die Objektwahl des geschlechtsreifen Individuums wird auf das gegenteilige Geschlecht eingeengt, die meisten außergenitalen Befriedigungen als Perversionen untersagt. Die in diesen Verboten kundgegebene Forderung eines für alle gleichartigen Sexuallebens setzt sich über die Ungleichheiten in der angeborenen und erworbenen Sexualkonstitution der Menschen hinaus, schneidet eine ziemliche Anzahl von ihnen vom Sexualgenuß ab und wird so die Quelle schwerer Ungerechtigkeit.
Der Erfolg dieser einschränkenden Maßregeln könnte nun sein, daß bei denen, die normal, die nicht konstitutionell daran verhindert sind, alles Sexualinteresse ohne Einbuße in die offen gelassenen Kanäle einströmt. Aber was von der Ächtung frei bleibt, die heterosexuelle genitale Liebe, wird durch die Beschränkungen der Legitimität und der Einehe weiter beeinträchtigt. Die heutige Kultur gibt deutlich zu erkennen, daß sie sexuelle Beziehungen nur auf Grund einer einmaligen, unauflösbaren Bindung eines Mannes an ein Weib gestatten will, daß sie die Sexualität als selbständige Lustquelle nicht mag und sie nur als bisher unersetzte Quelle für die Vermehrung der Menschen zu dulden gesinnt ist.
Das ist natürlich ein Extrem. Es ist bekannt, daß es sich als undurchführbar, selbst für kürzere Zeiten, erwiesen hat. Nur die Schwächlinge haben sich einem so weitgehenden Einbruch in ihre Sexualfreiheit gefügt, stärkere Naturen nur unter einer kompensierenden Bedingung, von der später die Rede sein kann. Die Kulturgesellschaft hat sich genötigt gesehen, viele Überschreitungen stillschweigend zuzulassen, die sie nach ihren Satzungen hätte verfolgen müssen. Doch darf man nicht nach der anderen Seite irregehen und annehmen, eine solche kulturelle Einstellung sei überhaupt harmlos, weil sie nicht alle ihre Absichten erreiche. Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiß und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen. Man hat wahrscheinlich ein Recht anzunehmen, daß seine Bedeutung als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszweckes, empfindlich nachgelassen hat. […]
V
Die psychoanalytische Arbeit hat uns gelehrt, daß gerade diese Versagungen des Sexuallebens von den sogenannten Neurotikern nicht vertragen werden. Sie schaffen sich in ihren Symptomen Ersatzbefriedigungen, die aber entweder an sich Leiden schaffen oder Leidensquelle werden, indem sie ihnen Schwierigkeiten mit Umwelt und Gesellschaft bereiten. Das letztere ist leicht verständlich, das andere gibt uns ein neues Rätsel auf. Die Kultur verlangt aber noch andere Opfer als an Sexualbefriedigung.
Wir haben die Schwierigkeiten der Kulturentwicklung als eine allgemeine Entwicklungsschwierigkeit aufgefaßt, indem wir sie auf die Trägheit der Libido zurückführten, auf deren Abneigung, eine alte Position gegen eine neue zu verlassen. Wir sagen ungefähr dasselbe, wenn wir den Gegensatz zwischen Kultur und Sexualität davon ableiten, daß die sexuelle Liebe ein Verhältnis zwischen zwei Personen ist, bei dem ein Dritter nur überflüssig oder störend sein kann, während die Kultur auf Beziehungen unter einer größeren Menschenanzahl ruht. Auf der Höhe eines Liebesverhältnisses bleibt kein Interesse für die Umwelt übrig; das Liebespaar genügt sich selbst, braucht auch nicht das gemeinsame Kind, um glücklich zu sein. In keinem anderen Falle verrät der Eros so deutlich den Kern seines Wesens, die Absicht, aus mehreren eines zu machen, aber wenn er dies, wie es sprichwörtlich geworden ist, in der Verliebtheit zweier Menschen zueinander erreicht hat, will er darüber nicht hinausgehen.
Wir können uns bisher sehr gut vorstellen, daß eine Kulturgemeinschaft aus solchen Doppelindividuen bestünde, die, in sich libidinös gesättigt, durch das Band der Arbeits- und Interessengemeinschaft miteinander verknüpft sind. In diesem Falle brauchte die Kultur der Sexualität keine Energie zu entziehen. Aber dieser wünschenswerte Zustand besteht nicht und hat niemals bestanden; die Wirklichkeit zeigt uns, daß die Kultur sich nicht mit den ihr bisher zugestandenen Bindungen begnügt, daß sie die Mitglieder der Gemeinschaft auch libidinös aneinander binden will, daß sie sich aller Mittel hiezu bedient, jeden Weg begünstigt, starke Identifizierungen unter ihnen herzustellen, im größten Ausmaße zielgehemmte Libido aufbietet, um die Gemeinschftsbande durch Freundschaftsbeziehungen zu kräftigen. Zur Erfüllung dieser Absichten wird die Einschränkung des Sexuallebens unvermeidlich. Uns fehlt aber die Einsicht in die Notwendigkeit, welche die Kultur auf diesen Weg drängt und ihre Gegnerschaft zur Sexualität begründet. Es muß sich um einen von uns noch nicht entdeckten störenden Faktor handeln.
Eine der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft kann uns hier die Spur zeigen. Sie lautet: »Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst«; sie ist weltberühmt, gewiß älter als das Christentum, das sie als seinen stolzesten Anspruch vorweist, aber sicherlich nicht sehr alt; in historischen Zeiten war sie den Menschen noch fremd. Wir wollen uns naiv zu ihr einstellen, als hörten wir von ihr zum ersten Male. Dann können wir ein Gefühl von Überraschung und Befremden nicht unterdrücken. Warum sollen wir das? Was soll es uns helfen? Vor allem aber, wie bringen wir das zustande? Wie wird es uns möglich? Meine Liebe ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen bereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen. (Ich sehe von dem Nutzen, den er mir bringen kann, sowie von seiner möglichen Bedeutung als Sexualobjekt für mich ab; diese beiden Arten der Beziehung kommen für die Vorschrift der Nächstenliebe nicht in Betracht.) Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbst lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, daß ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann; ich muß ihn lieben, wenn er der Sohn meines Freundes ist, denn der Schmerz des Freundes, wenn ihm ein Leid zustößt, wäre auch mein Schmerz, ich müßte ihn teilen. Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle.
Wenn ich ihn aber lieben soll, mit jener Weltliebe, bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist, wie das Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird, fürchte ich, ein geringer Betrag Liebe auf ihn entfallen, unmöglich so viel, als ich nach dem Urteil der Vernunft berechtigt bin, für mich selbst zurückzubehalten. Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?
Wenn ich näher zusehe, finde ich noch mehr Schwierigkeiten. Dieser Fremde ist nicht nur im allgemeinen nicht liebenswert, ich muß ehrlich bekennen, er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Haß. Er scheint nicht die mindeste Liebe für mich zu haben, bezeigt mir nicht die geringste Rücksicht. Wenn es ihm einen Nutzen bringt, hat er kein Bedenken, mich zu schädigen, fragt sich dabei auch nicht, ob die Höhe seines Nutzens der Größe des Schadens, den er mir zufügt, entspricht. Ja, er braucht nicht einmal einen Nutzen davon zu haben; wenn er nur irgendeine Lust damit befriedigen kann, macht er sich nichts daraus, mich zu verspotten, zu beleidigen, zu verleumden, seine Macht an mir zu zeigen, und je sicherer er sich fühlt, je hilfloser ich bin, desto sicherer darf ich dies Benehmen gegen mich von ihm erwarten. Wenn er sich anders verhält, wenn er mir als Fremdem Rücksicht und Schonung erweist, bin ich ohnedies, ohne jene Vorschrift bereit, es ihm in ähnlicher Weise zu vergelten. Ja, wenn jenes großartige Gebot lauten würde: »Liebe deinen Nächsten, wie dein Nächster dich liebt«‚ dann würde ich nicht widersprechen. Es gibt ein zweites Gebot, das mir noch unfaßbarer scheint und ein noch heftigeres Sträuben in mir entfesselt. Es heißt: »Liebe deine Feinde.« Wenn ich’s recht überlege, habe ich unrecht, es als eine noch stärkere Zumutung abzuweisen. Es ist im Grunde dasselbe.
Ich glaube nun von einer würdevollen Stimme die Mahnung zu hören: »Eben darum, weil der Nächste nicht liebenswert und eher dein Feind ist, sollst du ihn lieben wie dich selbst.« Ich verstehe dann, das ist ein ähnlicher Fall wie das
Credo quia absurdum.
Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß der Nächste, wenn er aufgefordert wird, mich so zu lieben wie sich selbst, genauso antworten wird wie ich und mich mit den nämlichen Begründungen abweisen wird. Ich hoffe, nicht mit demselben objektiven Recht, aber dasselbe wird auch er meinen. Immerhin gibt es Unterschiede im Verhalten der Menschen, die die Ethik mit Hinwegsetzung über deren Bedingtheit als »gut« und »böse« klassifiziert. Solange diese unleugbaren Unterschiede nicht aufgehoben sind, bedeutet die Befolgung der hohen ethischen Forderungen eine Schädigung der Kulturabsichten, indem sie direkte Prämien für das Bösesein aufstellt. […]
Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.
Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht, deren Ziel auch mit milderen Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind, äußert sie sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist. Wer die Greuel der Völkerwanderung, der Einbrüche der Hunnen, der sogenannten Mongolen unter Dschengis Khan und Timurlenk, der Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken des letzten Weltkriegs in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit dieser Auffassung demütig beugen müssen.
Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns selbst verspüren können, beim anderen mit Recht voraussetzen, ist das Moment, das unser Verhältnis zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Aufwand [an Energie] nötigt. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellsdiaft beständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. Daher also das Aufgebot von Methoden, die die Menschen zu Identifizierungen und zielgehemmten Liebesbeziehungen antreiben sollen, daher die Einschränkung des Sexuallebens und daher auch das Idealgebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft.
Durch alle ihre Mühen hat diese Kulturbestrebung bisher nicht sehr viel erreicht. Die gröbsten Ausschreitungen der brutalen Gewalt hofft sie zu verhüten, indem sie sich selbst das Recht beilegt, an den Verbrechern Gewalt zu üben, aber die vorsichtigeren und feineren Äußerungen der menschlichen Aggression vermag das Gesetz nicht zu erfassen. Jeder von uns kommt dahin, die Erwartungen, die er in der Jugend an seine Mitmenschen geknüpft, als Illusionen fallenzulassen, und kann erfahren, wie sehr ihm das Leben durch deren Übelwollen erschwert und schmerzhaft gemacht wird. Dabei wäre es ein Unrecht, der Kultur vorzuwerfen, daß sie Streit und Wettkampf aus den menschlichen Betätigungen ausschließen will. Diese sind sicherlich unentbehrlich, aber Gegnerschaft ist nicht notwendig Feindschaft, wird nur zum Anlaß für sie mißbraucht.
Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen seinen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen. Ich habe nichts mit der wirtschaftlichen Kritik des kommunistischen Systems zu tun, ich kann nicht untersuchen, ob die Abschaffung des privaten Eigentums zweckdienlich und vorteilhaft ist.
Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen. Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht. Sie ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in Urzeiten, als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigt sich bereits in der Kinderstube, kaum daß das Eigentum seine anale Urform aufgegeben hat, bildet den Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen unter den Menschen, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mutter zu ihrem männlichen Kind. Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muß. Hebt man auch dieses auf durch die völlige Befreiung des Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so läßt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, daß der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird.
Es wird den Menschen offenbar nicht leicht, auf die Befriedigung dieser ihrer Aggressionsneigung zu verzichten; sie fühlen sich nicht wohl dabei. Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, daß er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben. Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, daß gerade benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und Schotten usw. Ich gab ihm den Namen »Narzißmus der kleinen Differenzen«, der nicht viel zur Erklärung beiträgt. Man erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird.
Das überallhin versprengte Volk der Juden hat sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben; leider haben alle Judengemetzel des Mittelalters nicht ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher und sicherer für seine christlichen Genossen zu gestalten. Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden; den Römern, die ihr staatliches Gemeinwesen nicht auf die Liebe begründet hatten, war religiöse Unduldsamkeit fremd gewesen, obwohl die Religion bei ihnen Sache des Staates und der Staat von Religion durchtränkt war. Es war auch kein unverständlicher Zufall, daß der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief, und man erkennt es als begreiflich, daß der Versuch, eine neue kommunistische Kultur in Rußland aufzurichten, in der Verfolgung der Bourgeois seine psychologische Unterstützung findet. Man fragt sich nur besorgt, was die Sowjets anfangen werden, nachdem sie ihre Bourgeois ausgerottet haben.
Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, daß es dem Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden. Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte. Zum Ausgleich war seine Sicherheit, solches Glück lange zu genießen, eine sehr geringe. Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht. Wir wollen aber nicht vergessen, daß in der Urfamilie nur das Oberhaupt sich solcher Triebfreiheit erfreute; die anderen lebten in sklavischer Unterdrückung. Der Gegensatz zwischen einer die Vorteile der Kultur genießenden Minderheit und einer dieser Vorteile beraubten Mehrzahl war also in jener Urzeit der Kultur aufs Äußerste getrieben. Über den heute lebenden Primitiven haben wir durch sorgfältigere Erkundung erfahren, daß sein Triebleben keineswegs ob seiner Freiheit beneidet werden darf; es unterliegt Einschränkungen von anderer Art, aber vielleicht von größerer Strenge als das des modernen Kulturmenschen.
Wenn wir gegen unseren jetzigen Kulturzustand mit Recht einwenden, wie unzureichend er unsere Forderungen an eine beglückende Lebensordnung erfüllt, wieviel Leid er gewähren läßt, das wahrscheinlich zu vermeiden wäre, wenn wir mit schonungsloser Kritik die Wurzeln seiner Unvollkommenheit aufzudecken streben, üben wir gewiß unser gutes Recht und zeigen uns nicht als Kulturfeinde. Wir dürfen erwarten, allmählich solche Abänderungen unserer Kultur durchzusetzen, die unsere Bedürfnisse besser befriedigen und jener Kritik entgehen. Aber vielleicht machen wir uns auch mit der Idee vertraut, daß es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden.
Quelle: Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud: Studienausgabe. Band IX. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2000, ISBN 3 596 50360 4. Zitiert wurden die Seiten 229 bis 244 in Auszügen.
Die Bilder vom Blutmond im Juli 2018 wurden aufgenommen von Christopher Blau mit einer Lumix G-81 und einem Panasonic Objektiv 100-400 mm und veröffentlicht in seinem Blog "Matrix in Blau".
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