»Ich möchte keine Buße tun«
Ein Interview mit Evgeni Koriolov
Herr Koroliov, ist es falsch zu sagen, Bach steht im Zentrum Ihres musikalischen Lebens?
Das kann man schon so sagen. Aber ich habe viele Interessen. Eine gilt der ganz alten Musik von der Ars antiqua bis zu Bach. Auch neue Musik interessiert mich, ich habe viel klassische Moderne gespielt, ebenso Ligeti und Kurtág. Aber es ist schwer, in der ganz neuen Musik den Überblick zu behalten, und es wird heute weniger Klaviermusik geschrieben. Das letzte hochinteressante Werk für uns Pianisten waren die Etüden von Ligeti.
Sie waren ja Kollegen an der Hochschule. Verband Sie eine freundschaftliche Beziehung?
Erst ziemlich spät. Er rief mich eines Tages an und fragte mich, ob ich nicht die Kunst der Fuge – er mochte meine Aufnahme sehr – und Stücke von ihm auf einem Festival in Finnland spielen wollte. So sind wir in Kontakt gekommen. Wir hatten viele interessante Gespräche, oft über die ganz alte Musik. Er war eine sehr angenehme Person, sehr witzig, sehr intelligent – und ein großer Musiker.
Zurück zu Bach: Was fasziniert Sie an seinem Werk?
Zunächst einmal ist diese Musik unglaublich gut gemacht. Sie ist oft sehr komplex, aber selbst wenn man sie nicht analysiert, spürt man ihre Größe. Sie hat eine starke Tiefenwirkung, die ganz anders ist als die von Chopin oder Tschaikowsky zum Beispiel. Es ist, als würde man aus der Ferne einen riesigen Berg sehen und könnte doch einschätzen, wie schön es da oben auf dem Gipfel ist. Außerdem sage ich immer, dass ich in Bachs Musik das Gesetz heraushöre, auf dem möglicherweise das Universum aufgebaut ist.
Vielleicht ist es genau das, was Bach beabsichtigt hat.
Ich glaube nicht, dass er sich dessen bewusst war. Er war sozusagen ein Medium, und wir, die wir seine Musik spielen, sind weitere, bescheidenere Medien.
Sie haben ja schon mit 17 Jahren das Wohltemperierte Klavier aufgeführt.
Ich habe Bach sehr früh gemocht, wie auch Mozart und Schubert. Ich habe auf dem Klavier ziemlich schnell Fortschritte gemacht und nach einigen Monaten schon das Präludium in c-Moll, das auch für Laute existiert, gespielt – das hat mich in seinen Bann gezogen. Da war ich vielleicht sieben Jahre alt. Und dann hat mich ein Erlebnis sehr stark geprägt: Meine Lehrerin hat mich immer wieder in Konzerte mitgenommen, und einmal war Glenn Gould zu Gast im Moskauer Konservatorium – er war gerade auf einer Tournee durch die Sowjetunion. Er hat über Bach gesprochen und drei Kontrapunkte aus der Kunst der Fuge gespielt – diese Stücke haben mich damals unglaublich fasziniert.
Sind Ihnen nie Zweifel gekommen, ob es richtig ist, Bach auf dem modernen Flügel zu spielen?
Ich bin kein Ideologe. Am schönsten klingt Bach vielleicht auf dem Clavichord, doch das ist so leise, dass ich es nur für mich spielen kann. Aber ich sehe keinen Grund, Buße zu tun, ich denke, wir Pianisten können sehr viel für diese Musik tun.
Der Cembalist Andreas Staier sagt: Bachs Fugen mit ihrem Stimmengeflecht seien für ein Instrument ohne Dynamik geschrieben, aber auf dem modernen Flügel müsse man mit Dynamik arbeiten.
Da hat er Recht. Aber nicht hundertprozentig. Ich bin nach langjähriger Praxis überzeugt davon, dass es Stücke gibt, die Bach nicht für das Cembalo, sondern für Clavichord geschrieben hat – dessen Dynamik natürlich viel feiner ist als die des modernen Flügels. Es gibt »Claviermusik« von Bach, bei der man keine Zeit hat, zwischendurch wenigstens ein bisschen zu registrieren. Die klingt auf dem Cembalo etwas fade, aber auf dem Clavichord oder dem Flügel wunderbar. Und noch etwas: Die Cembalisten arbeiten sehr viel mit Agogik. Aber vieles in Bachs Musik ist so gebaut, dass man durch kleinste dynamische Nuancen und durch Phrasierung sich bei der Agogik zurücknehmen kann. Zu viel Agogik klingt auf dem Flügel nicht gut.
Ist es ein Talent, ein Gespür für das richtige Tempo zu haben? Oder kann man das lernen?
Das ist sicherlich eine Mischung aus Intui-tion, Wissen und Erfahrung. Arturo Toscanini hat gesagt, in jedem Stück könne man eine Stelle finden, an der man merkt, nur dieses eine Tempo ist richtig. Vielleicht hat er Recht. Ich glaube, in der Wiener Klassik muss man ein richtiges Tempo finden, während Barockmusik und besonders Bachs Musik in verschiedensten Tempi gespielt werden kann – und trotzdem große Musik bleibt. Mehr noch, ich habe das Gefühl, dass seine Musik die robusteste ist. Selbst wenn man sie nicht besonders gut spielt, bleibt es gute Musik. Mozart dagegen bricht sofort auseinander.
Mischa Maisky sagt, es sei eine Beleidigung, Bach als Barockkomponist zu bezeichnen.
Bach hat so viele Facetten. Rein psychologisch – nicht stilistisch natürlich – würde ich ihn eher zur Renaissance oder sogar zur Ars nova zählen. Aber er hat auch richtige Barockmusik im guten Sinne komponiert.
Ist er Ihnen als Mensch nahe?
Ich will mir nichts anmaßen, aber ich habe manchmal schon das Gefühl, ich habe dem Meister über die Schulter geguckt – mit der Seele, wenn Sie so wollen – und weiß, was er mit einem Stück meinte.
Ist Ihnen die Person Bach wichtig beim Spielen?
Chopin oder Schumann sind als Persönlichkeiten wichtig für das Spielen ihrer Musik. Bachs Musik ist so allumfassend und gewichtig. Die Person Bach interessiert mich schon und ist mir sehr sympathisch, aber sie hat keinen unmittelbaren Einfluss darauf, wie ich seine Musik spiele. Die ist für mich irgendwie selbsterklärend. Übrigens habe ich einige Male nachts davon geträumt, dass ich Chopin in einem Salon spielen höre, und er spielt ganz anders, als man es sich vorstellt. Ich glaube, wir würden uns sehr wundern, wenn wir Bach, Mozart oder Chopin hören könnten.
Ein Kritiker hat Sie mal eine »Orchidee in der von Effekthascherei geprägten Pianistenwelt« genannt. Fühlen Sie sich wohl in der Rolle des Geheimtipps?
Ich fühle mich damit sehr wohl. Wenn man mich einen Bach-Spieler nennt, habe ich nichts dagegen, auch wenn es nicht ganz stimmt. Es ist ein schönes Etikett.
Sie wollten nie für die Karriere Tschaikowsky, Rachmaninow oder Liszt spielen?
Nein! Es gibt Leute, die das angenehm und erstrebenswert finden, für mich wäre es langweilig. Das ist schöne Musik, keine Frage, auch angenehm für das breite Publikum. Ich habe mit 14, 15, 16 viele dieser Stücke studiert und zum Teil im Konzert gespielt, aber danach hat mich das Klavierspielen an sich nicht mehr interessiert. Mich interessiert die Musik selbst, und zwar existenziell, ich kann nicht leben, ohne dass ich immer neue Musik spiele oder zumindest höre. Aber ich gehe von der Musik aus und nicht vom Instrument.
Dann hätte der Schritt zum Dirigieren doch nahe gelegen.
Ich war auch nahe dran, man hatte mir schon in der Zentralen Musikschule nahegelegt zu dirigieren. Es ist nicht dazu gekommen, aber das bedauere ich nicht. Als Dirigent ist man fast ständig im Konflikt mit irgendjemandem, und das würde mich ermüden. Dieses Ideal vom musikalischen Leben, das ich irgendwie auch lebe, könnte ich als Dirigent viel schwerer umsetzen. Wenn ich an einen mittelmäßigen Flügel gerate, finde ich durch etwas Arbeit und Erfahrung doch fast immer eine gemeinsame Sprache mit dem Instrument. Ich fürchte, das wäre mit einem mittelmäßigen Orchester viel schwieriger. Das würde mich frustrieren.
Gehen Sie gern auf die Bühne?
Was ich mag, ist die Möglichkeit, auf der Bühne ein großes Werk anzugehen mit voller Energie und sozusagen vollem seelischen Einsatz. Das Publikum vergesse ich dabei, weil meine Aufgaben in dem Moment so überwältigend sind. Ich habe fast mein ganzes Leben nur das gespielt, was mir gefällt, und habe die daraus resultierenden Nachteile gern in Kauf genommen. Sowieso könnte ich nie hundert Konzerte im Jahr spielen. Ich spiele so viel, dass ich es verkraften kann und mit Interesse und Lust aufs Podium gehe.
Sind Sie auch mit Leidenschaft Lehrer?
Am Anfang war es weniger Leidenschaft als vielmehr Not, ich hatte Familie und nicht genug Konzerte, um davon zu leben. Aber es ist interessant, sich mit begabten jungen Leuten über Musik auseinanderzusetzen.
Wie sind Sie überhaupt nach Hamburg gekommen?
Ich hatte eigentlich die beste Stelle: Ich war Assistent im Hauptfachstudium am Tschaikowsky-Konservatorium in Moskau. Aber das Leben in der Sowjetunion war mir zu unfrei, zudem ist meine Frau Mazedonierin, uns sind deshalb einige Unannehmlichkeiten entstanden, zum Beispiel wurden Tourneen abgesagt. Sie ist dann mit unserer Tochter nach Skopje, ins damalige Jugoslawien ausgereist, und ich bin nachgekommen – das war nicht einfach und hat lange gedauert. Und dann war eines Tages ein Freund mit dem NDR Sinfonieorchester in Skopje: David Geringas, damals Solo-Cellist im Orchester. Er sagte, ihr müsst in den Westen, in Hamburg wird gerade eine gute Professur ausgeschrieben. Ich habe also meine Papiere hingeschickt, wurde eingeladen und tatsächlich gewählt – als Sowjetbürger, das hatte ich nicht erwartet. Ich habe meine Frau angerufen, und sie meinte: Sag zu, das ist eine gute Sache. So sind wir nach Hamburg gekommen.
Haben Sie Ihre Frau Ljupka Hadzigeorgieva tatsächlich über die Musik kennengelernt?
Sie war Studentin im gleichen Semester wie ich am Tschaikowsky-Konservatorium. Wir haben Sympathie empfunden, wir konnten beide gut vom Blatt spielen, und so haben wir viel Musik vierhändig gespielt, viele Sinfonien von Haydn und Beethoven. So sind wir uns näher gekommen, und bis heute spielen wir oft als Klavierduo zusammen.
Quelle: Arnt Cobbers: »Ich möchte keine Buße tun«. In: concerti.de
TRACKLIST Johann Sebastian Bach Die Kunst der Fuge BWV 1080 CD 1 40:06 01 Contrapunctus 1 5:11 02 Contrapunctus 2 2:29 03 Contrapunctus 3 3:32 04 Contrapunctus 4 2:29 05 Contrapunctus 5 3:01 06 Contrapunctus 6 a 4 in Stylo Francese 5:50 07 Canon alla Ottava 1:41 08 Contrapunctus 7 a 4 per Augment et Diminut 5:06 09 Canon per Augmentationem in Contrario Motu 3:15 10 Contrapunctus 8 a 3 5:18 11 Contrapunctus 9 a 4 alla Duodecima 2:09 CD 2 43:40 01 Contrapunctus 10 a 4 alla Decima 5:06 02 Contrapunctus 11 a 4 5:03 03 Canon alla Decima. Contrapunto alle Terza 4:55 04 Contrapunctus inversus 12 a 4 [a) rectus] 2:42 05 [b) inversus] 3:17 06 Contrapunctus a 3 2:09 07 Contrapunctus inversus a 3 2:11 08 Canon alla Duodecima in Contrapunto alla Quinta 1:50 09 Fuga a 3 Soggetti 11:17 Appendix: 10 *Fuga a 2 Clav. 2:12 [Different version of Contrapunctus a 3] 11 *Alio modo. Fuga a 2 Clav. 2:07 [Different version of Contrapunctus inversus a 3] Total Time: 83:47 Evgeni Koriolov, piano *Ljupka Hadzigeorgieva, piano II Registered 1990
Donatellos afrikanische Brüder
Zu einem Paradigmenwechsel in der afrikanischen Kunstwissenschaft
Abb.1 Meister von Katéba, Schalenträgerin, um 1820-60, Holz, Höhe: 44 cm, Luba-Hemba, Demokratische Republik Kongo, Musée royal de l'Afrique centrale, Tervuren. |
Nun ist dieser westafrikanische Gründungsmythos in Europa zwar nicht sonderlich bekannt - dort fallen seit der Antike allenfalls göttliche Liebhaber golden vom Himmel -, aber gerade den Afrikanisten oder auf Afrika spezialisierten Kunsthistorikern scheint sie vertraut gewesen zu sein. Man könnte sogar vermuten, daß er manch einem unter ihnen geradezu ins Gebetbuch geschrieben war. Hier ist nicht von der Geschichtsschreibung der früheren Goldküste die Rede. Es geht um die Frage: Wie kam die Kunst nach Afrika? Ist sie das Werk von "Künstlern", das heißt: schöpferischen Persönlichkeiten, Individuen, oder sind dafür numinose Instanzen verantwortlich: Fiel sie also vom Himmel? In die Diskussion um die Frage "anonyme Künstler versus namentlich bekannte Meister" ist in den letzten Jahren erhebliche Bewegung gekommen. Kunstethnologen ist es inzwischen gelungen, ganze Œuvres zu sichten, die sich der Hand eines Meisters zuordnen lassen. Vielfach müssen noch Notnamen aushelfen: Meister von Lataha, Meister von Ireli, Meister von Kasadi und viele andere. Immer wieder konnten aber auch die tatsächlichen Namen der Urheber nachgewiesen werden: Abogunde von Ede, Ateu Atsa, Olowé aus Isé ... Mit 45 zugeschriebenen Werken ist das Corpus des letztgenannten besonders eindrucksvoll.
Die Gegner dieses längst fälligen Paradigmenwechseis in der Betrachtung afrikanischer Kunst kämpfen inzwischen auf verlorenem Posten. Für sie sind die Werke afrikanischer Meister "vom Himmel" gefallen. Wie anders als durch schöpferische Leistungen Einzelner kamen die großartigen Bilderfindungen afrikanischer Kunst in die Welt - aus dem Nichts? Als habe es in Afrika einen einzigen Stil und diesen gleichförmig über Jahrhunderte und Jahrtausende gegeben! In vielen historisch faßbaren Momenten mußten auch auf diesem Kontinent Pioniere immer wieder auf den Plan getreten sein und schulbildend gewirkt haben. Es waren Einzelne, die neue bildliche Formeln zu prägen imstande waren. Urheberschaft - ein großes Thema derzeit auch im europäischen Autorenrecht - wird für die Regionen im Norden und im Süden des Mittelmeeres aber gern mit zweierlei Maß bewertet.
Als man noch mit dem Hinweis auf den Kollektivcharakter afrikanischer Kunst die Individualität von Künstlern ignorierte und Stammesstile zu statischen Größen erklärte, sorgten die Forschungen von Frans M. Olbrechts in den 1930er Jahren für Aufregung. Ihm gelang es dank vergleichender Stilkritik erstmals, ein Ensemble von etwa zwanzig Arbeiten zusammenzustellen, die von einem Meister bzw. seiner Werkstatt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschaffen sein mußten. Nach einem Ort im Osten des Kongo gab er ihm den Notnamen "Meister von Buli". Neuerdings wurde vorgeschlagen, sein Œuvre doch auf drei Personen aufzuteilen: Meister von Katéba, Meister von Buli der Ältere, Meister von Buli der Jüngere. Der Meister von Katéba (tätig ca. 1820-1860) war der bedeutendste unter ihnen. Neben Karyatidenhockern und zwei stehenden Figuren gehört auch die hier abgebildete Gefäßträgerin zu seinem Œuvre (Abb. 1). Die Unbekleidete mit der schweren, aufwendigen Frisur wurde früher irrtümlich als Bettlerin interpretiert. Die meditative Versenkung berechtigt hingegen, in ihr eine Wahrsagerin zu erkennen, die sich in Trance befindet und unter Mitwirkung ihrer Geisthelfer Eingebungen empfängt. Das Halten eines Gefäßes wird hier zu einem sakralen Akt. Sie umfaßt den heilig geltenden Topf mboko, der normalerweise aus einem Flaschenkürbis gefertigt wird. In ihm sind die für die Weissagung benötigten magischen Mittel verwahrt.
Zu den so unverwechselbaren Eigenheiten des Meisters von Katéba gehören der hagere, in die Höhe gestreckte Gesichtstyp mit akzentuierten Wangenknochen, weit nach oben gezogene Augenbrauen (wodurch das geschlossene Oberlid betont wird), vortretende, schmale Lippen. Auch die Körper der Figuren wirken asketisch und insbesondere bei Stehenden schmal und lang. Es wurde versucht, den hageren Charakter mit dem Niedergang des Luba-Reiches, das bereits im 18. Jahrhundert den Zenith seiner Macht und Ausdehnung überschritten hatte, in Verbindung zu bringen - eine doch kurzschlüssige Verknüpfung von Kunst und Gesellschaft. Im Gegenteil, die Gruppe dieser Werke zählt geradezu zu den Höhepunkten der Luba-Kunst.
Aber wie kam es dann dazu, daß eine - wie es scheint - selbstverständliche Stilkritik, daß seit den Anfängen der europäischen Kunstgeschichte routinemäßig gestellte Fragen nach dem Urheber von Bildwerken im Falle der afrikanischen Kunst zunächst als Kuriosität empfunden wurden? Wie konnte unser Bild afrikanischer Kultur in diese Schieflage geraten? Dahinter verbirgt sich mehr als nur das Fehlen von Signaturen.
Abb.2 Unbekannter Meister, Schalenträgerin, Holz, Höhe: 48 cm, Luba, Demokratische Republik Kongo, Staatliches Museum für Völkerkunde, München. |
Der "dunkle" Erdteil bot seit alters eine ideale Projektionsfläche für europäische Sehnsüchte, Wünsche, und Ängste. Selbst nach nunmehr fast einem halben Jahrhundert afrikanischer Unabhängigkeit wird einem immer wieder überraschend bewußt, daß die psychologischen Mechanismen dieses interkulturellen Prozeßes teilweise noch immer am Werk sind. Das aus tiefer europäischer Märchenvergangenheit mit dem Düsteren und Schwarzen assoziierte Unheimliche wurde genauso auf Afrika übertragen wie der Wunsch nach einem Gegenbild für den an der Gedanken Blässe leidenden westlichen Intellektualismus. Europäischen Defiziten an Sonne, Luft und Bewegung schien Afrika mit dem Wunschbild tanzender Halbnackter mit kräftigem Körperbau Abhilfe zu bieten. Auf die Kunst übertragen ergab sich daraus das verzerrte Bild eines Expressionismus, der aus nie versiegenden Quellen der Vitalität schöpft, oder die verkürzte Vorstellung von Trommeln, Tanz und Maske.
Mögen diese oder so ähnliche Projektionen noch leicht durchschaubar sein, sind in anderen Fällen perfidere Mechanismen am Werk. So basiert der Gegensatz von "Zivilisation" auf der einen Seite und "Ursprünglichkeit", "Unberührtheit" auf der anderen auf dem Wunschdenken, das - je nachdem - einem Kulturchauvinismus oder der Zivilisationsmüdigkeit der Europäer entspringt. Zwar dürfte es zwischen Industriegesellschaften und den Kulturen von Feldbauern in der Tat Unterschiede geben, aber erstens klaffen auch innerhalb des "westlichen Kulturkreises" Gegensätze zwischen städtischen, technisierten und ländlichen Regionen, und zweitens ist das Modell irreführend, wenn den Afrikanern "Zivilisation" abgesprochen und sie als Vertreter von "Urgesellschaften" betrachtet werden. Die Vorstellung von "Naturvölkern" basiert auf eben dieser Konstruktion. Der Begriff unterstellt, daß es diesen Menschen an Kultur gebricht - und ebenso an Geschichte.
Auch wenn das Etikett" primitive Kunst" kaum mehr abschätzig verwendet wird, wenn man von afrikanischer Kunst spricht, so hat dieses doch nie ganz den Beigeschmack ästhetischer Vorläufigkeit, Rückständigkeit oder zumindest einer Sonderrolle verloren. Selbst in einem Begriff wie "arts prémiers" feiert das fatale evolutionistische Modell des Westens noch immer fröhliche Urständ. Zunächst unter dieser Überschrift hielt Anfang des Jahres 2000 außereuropäische Kunst im Musée du Louvre in Paris Einzug, ein Vorgang, der von den eurozentrischen Gralshütern des Hauses bis zuletzt heftig bekämpft worden war. Im Flügel an der Porte de Lion ist provisorisch, aber doch höchst aufwendig Kunst aus der Südsee, Altamerika und Afrika zu sehen, bevor diese Sammlung des französischen Staates künftig im Musée du Quai Branly, ausgestellt wird.
Weder steht die Kunst Afrikas für die "Anfänge der Menschheit" noch für elementare Einfachheit. Sie ist komplex, raffiniert, mitunter überfeinert, zuweilen vielleicht sogar dekadent, in jedem Fall aber Ausdruck einer langen ästhetischen Evolution. Während China, Japan, Mexiko oder Ägypten schon früh in den erlauchten Kreis der Hochkulturen aufgenommen und ihnen eigene Wissenschaften gewidmet wurden, blieben Afrika und Ozeanien lange Zeit Zaungäste, bestand doch ihre Kunst vermeintlich nur aus vergänglichen Materialien wie Holz und Bast. Dort Porzellan und eine hochentwickelte Metallurgie, hier angeblich nur "primitive" Werkstoffe. Nur sehr schwer zu revidieren ist das Vorurteil, daß der afrikanische Kontinent vor allem Holzkunst hervorgebracht habe. Das Spektrum der von Künsterinnen und Künstlern Afrikas verwendeten Materialien ist hingegen kaum noch zu überblicken: Bronze, Gold und Eisen ebenso Terrakotta, Ton, Seide, Baumwolle und Raphia, schießlich Stein, Holz, Perlen, Leder oder Elfenbein usw. Viele der Arbeiten bestehen überdies nicht nur aus einem der genannten Materialien, sondern - typisch für Afrika - zeigen raffinierte Materialübergänge und Materialsynthesen.
Die Völkerkunde wurde zum Sammelbecken der Betrachtung all der Kulturen, denen der Status einer Hochkultur versagt blieb. Die Kulturen Afrikas, so wie sie heute existieren, sind wie diejenigen in allen anderen Teilen der Welt das Ergebnis von Entwicklungen über lange Perioden der Menschheitsgeschichte. Sie repräsentieren keinen Urzustand, sondern sind wie alle Systeme einem dynamischen Wandel unterworfen und stellen bestenfalls vorläufige Ergebnisse dar. "Afrika" als Synonym für eine kulturell homogene Ganzheit mit einer undifferenziert einheitlichen Bevölkerung ist reine Fiktion. Genauso töricht wäre es, Ungarn, Katalanen und Engländer in einen Topf zu werfen oder die Kultur der Kelten, die Frührenaissance der Toskana und den flämischen Barock über einen Kamm zu scheren. Stattdessen existiert in Afrika eine Vielzahl unterschiedlicher Kulturlandschaften, deren jede über eine eigene Geschichte, gesellschaftliche Struktur und Hierarchien sowie jeweils sehr ausgeprägte eigenständige Künste verfügt. Königtümer und Feudalreiche sind genauso anzutreffen wie bäuerliche Gesellschaften oder städtische Zentren mit großer kultureller Ausstrahlung - insgesamt das genaue Gegenteil von dem, was uns die Fixierung auf "Stämme" glauben machen will. Die Königtümer der Luba, Kuba, Kongo, Ashanti oder des Kameruner Graslandes haben, wiewohl schon deutlich voneinander unterschieden, eine andere kulturelle Physiognomie als die Bauernkulturen der Bamana, Lobi oder Senufo, wobei letztere sich wieder gegen die Dogon oder andere Feldbauern absetzen. Diese schließlich sind nicht zu verwechseln mit den stark nomadisch geprägten Kulturen der Tuareg, Fulbe oder Massai usw. Schon anthropologisch handelt es sich bei diesen Völkern um ganz unterschiedliche Menschentypen, die verschiedensten Sprachgruppen angehören können. Die Einflußsphären von islamischer und christlicher Kultur machen weitere Differenzierungen erforderlich. Auch soziologisch ergibt dieses Spektrum einen aus vielen Mustern geknüpften Teppich.
Abb.3 Meister der symbolischen Hinrichtung, Salzpokal, um 1490-1530, Elfenbein, Höhe: 42 cm, Sapiportugiesisch, Sierra Leone, Museo Preistorico Etnografico L. Pigorini, Rom |
Der europäische Blick hatte stets eine Schwäche, die anthropologische und gesellschaftliche Vielfalt Afrikas auf einen simplen Nenner zu bringen. "Der Afrikaner", "der Neger" sind verkürzte Stereotypen und passen so zu dem klischeehaft erstarrten Bild kontinentaler Uniformität. Dem Afrikaner keine Individualität zuzubilligen, war dann nur konsequent. Er war nicht anders vorstellbar als in ein Kollektiv eingebunden: seinen Stamm, der die Entsprechung zum Fehlen von Persönlichkeit bildet. Wer über keine ausgeprägte Individualität verfügt, geht anonym in der Stammesgemeinschaft auf. Über Generationen hatte sich im Westen ein Bild der Afrikaner verfestigt, das sie als Einzelwesen ignorierte und ihnen lediglich als Stammesmitgliedern eine Existenzberechtigung zubilligte. So konstruierte das Zeitalter des Darwinismus den "Schwarzen" als Herdenwesen. Unübersehbar ist die Nähe zur Zoologie: Afrika als Kontinent der Tierherden und Eingeborenen. Der zoologische Charakter unseres Bildes der Afrikaner entlarvt sich spätestens dann, wenn man die Systematik der Stämme genau unter die Lupe nimmt. Valentin Mudimbe hat sie zu Recht mit der Klassifikation der Insekten verglichen. Es gehört zu den Erblasten des Kolonialismus, die Bevölkerung eines ganzen Erdteils durch solche Metaphorik in die Nähe der Tierwelt gerückt zu haben: die Afrikaner als Bewohner des Serengeti-Nationalparks der westlichen Anthropologie. Daß Abstammungs- und Rassenlehre über weite Strecken ihre Methoden mit Zoologie und Botanik teilen, läßt sich noch nachvollziehen, fragwürdig wurde es dann, als man die Kategorien der physischen Anthropologie unbefragt auf die Kulturwissenschaften übertrug. Dann wurden Ethnologie und Kunstwissenschaften von einem Biologismus unterwandert, der nicht ohne Folgen für unser Bild außereuropäischer Kulturen blieb. Eine Vielzahl aus diesem Mißverständnis abgeleiteter Konzepte hat die Wahrnehmung von afrikanischer Kunst verzerrt.
Dazu gehört, daß der Stamm bei der Entstehung afrikanischer Kunst alles und der einzelne Bildhauer nichts ist (anstelle von Künstlern sprach der Westen bis vor kurzem lieber von Schnitzern, wenn es um die Urheber solcher Kunstwerke ging). Ihm wurde einerseits Individualität abgesprochen, da er nur im Stammesauftrag arbeitete, andererseits vermied man es, ihm einen Status vergleichbar demjenigen westlicher Künstler zuzugestehen, da er angeblich nur Handwerker ist. Der Verdacht drängt sich auf, daß die Vorstellung des Anonymen für den Westen schon ein Faszinosum an sich darstellte. Der vermeintliche Kollektivcharakter afrikanischer Kunst machte blind für die individuellen Besonderheiten eines Kunstwerks. Statt der schöpferischen Abweichung von der Norm sahen wir nur das Typische der Stammeskonvention. Dieser Betrachtungsweise entging zum Beispiel die Tatsache, daß es Bildhauer gab, die nicht nur für die Angehörigen ihres eigenen Klans arbeiteten, sondern auch für Nachbarn, die über andere ethnische Wurzeln verfügten. Ein hervorstechender Künstler hatte die Möglichkeit, über sein unmittelbares Umfeld hinaus auch für eine andere Klientel zu arbeiten. Es gab" Wanderkünstler" ebenso wie Meister, die gleichzeitig für mehrere Volksgruppen arbeiteten. Dies führte vielleicht zu stilistischen Anpassungen, aber auch dazu, daß ein Stil bei anderen Gruppen auftauchte. Mehr als eine einzige ethnische Gruppe verfügte über ein bestimmtes gestalterisches Vokabular. Es stellt sich bei stark hierarchisch strukturierten Gesellschaften die Frage, ob sich nicht zum Beispiel die Nobilität über die ethnischen Grenzen hinweg zum Teil näher stand als die unterschiedlichen Gesellschaftsklassen innerhalb einer Ethnie. Der Austausch von Geschmacksvorlieben wäre die Folge gewesen.
Auch das von der Kunstwissenschaft für Europa entwickelte Modellschema einer "Kunstgeschichte nach Aufgaben" wäre, auf Afrika übertragen, hilfreich. Stil ist dann nicht ein Formkontinuum, das völlig gleichmäßig alle Gattungen, Techniken und Materialien überzieht, sondern jeweils nur auf bestimmte Gattungen anwendbar. Besondere Figuren etwa oder spezielle Gegenstände hätten ein Ausscheren aus dem stilistischen Grundmuster erforderlich gemacht. Die Homogenität von "Stammesstilen" ist eine Fiktion. Dies belegen auch die zahllosen Beispiele von Misch- und Übergangsstilen sowie jene Fälle, bei denen eine Zuordnung bis heute nicht gelungen ist. Methodisch führt der Tribalismus zu einem hermeneutischen Zirkel: Weil man jedes Objekt stammestypisch zuordnet, zementiert man die ethnische Stilverbindlichkeit aufs Neue. Dieses Modell basiert auf einem statischen Konzept, das Migrationen ebenso außer Acht läßt wie jede Form individueller Mobilität.
Wohlgemerkt: ein aufgeklärter Völkerkundler meidet heute den Begriff "Stamm" wie der Teufel das Weihwasser. Er weiß um dessen postkolonialistische Einfärbung. Einem Ersatzwort wie "Ethnie" kann aber keine Absolution erteilt werden, solange nur mit Etiketten geschwindelt wird. Ob Stamm oder Ethnie, die jüngeren monographischen Forschungen über einzelne Völkergruppen lassen - und das ist das Entscheidende - erkennen, daß das tribale Konzept nicht länger trägt: Seine Griffigkeit täuscht darüber hinweg, daß die soziologischen, sprachlichen und kulturellen Verhältnisse in den einzelnen Gesellschaften höchst komplex sind.
Aber nicht nur die Ideologie des Tribalismus setzt die Leistungen afrikanischer Künstlerinnen und Künstler herab. Auch das Geschütz des Traditionsbegriffs wurde aufgefahren, um ihre Kunst zu relativieren. Da sie angeblich nur überkommenen Schemata und Stilen folgen, ist ihre künstlerische Leistung von vornherein gering zu bewerten. Wo Innovation und Originalität angeblich nicht gefragt, ja unerwünscht seien, da dürfe in Zweifel gezogen werden, ob es sich bei diesen Hervorbringungen überhaupt um Kunst handelt. Innovationsgeschwindigkeit, Erfindungsdruck, ja Fortschrittshysterie, wie sie für die Industriegesellschaften typisch sind, tauchten unbemerkt auf der Ebene ästhetischer Reflexion auf. Das sich so immer rascher drehende Karrusell der Kunst-Ismen des 19. und 20. Jahrhunderts hatte sein Pendant im beschleunigten Takt der technischen Entwicklung. Von anderen Kulturen mit anderen Zeitbegriffen und einer anderen ästhetischen Evolution Gleiches zu erwarten und deren Kunst nach dem westlichen Innovationismus zu beurteilen, läßt uns deren Besonderheiten übersehen. Öfters wurde in Afrika beobachtet, daß man von einem Bildhauer auch Verbesserungen und Aktualisierungen erwartete. Ein vermeintlich vorgegebenes Schema hätte ein Meister nicht mit Leben erfüllen können, wäre er über Wiederholungen nicht hinausgelangt. Das Tempo dieser Innovationen folgte somit einem anderen Zeitbegriff. Afrika hat auch in diesem Zusammenhang eine ideale Projektionsfläche geboten. Der afrikanische Schnitzer wurde zum Gegentypus des westlichen Künstlers stilisiert. Während es von ersterem hieß, er bleibe anonym und beschränke sich auf die Wiederholung sattsam bekannter Schemata, die ihm die Tradition diktiert, besticht der europäische Künstler durch Originalität und Innovation. Ein Günstling Apollos und der Musen, ist er längst über alles Handwerkliche erhaben.
Abendländische Kunstphilosophie und -soziologie haben lange einer Überstrapazierung des Kunstbegriffs vorgearbeitet. Aber die europäische Unterscheidung zwischen Hochkunst und Alltagskunst, zwischen "fine arts" und "applied arts" gilt für Afrika in dieser Exklusivität nicht. Die Herauslösung der bildenden Kunst aus dem Verband der Handwerke ("artes") nahm in Europa mit der Diskussion des "disegno" -Begriffs im Italien des 16. Jahrhunderts seinen Anfang. Die künstlerische Idee begann sich gegenüber der Ausführung zu verselbständigen. Französischer Akademismus, deutscher Idealismus und romantischer Geniebegriff sind die Stationen auf dem Weg des Künstlers in eine von der Gesellschaft abgekoppelte Autonomie, aus der heraus sich im 19. und 20. Jahrhundert eine privilegierte Sonderrolle entwickelte.
Abb.5 Meister von Kasadi (?), Gesichtsmaske, um 1840-80, Holz, Farbpigmente, Tierhaut, Polsternägel, Höhe: 23 cm, Yombe, Demokratische Republik Kongo, Musée royal de l'Afrique centrale, Tervuren |
In Afrika hingegen haben Kunst und Handwerk einander nie so krass entfremdet, gehen zwanglos ineinander auf. "Zweckfreiheit" gilt nicht als Kategorie, die eine Tätigkeit aufwertet oder ihr einen Sonderstatus verleiht. Alle Kunst wurde benutzt: ob zur Ahnenverehrung oder zum Bedecken des Körpers, ob zur physischen Abwehr von Feinden (im Falle eines Schildes) oder zum spirituellen Schutz vor Schadenszauber (z. B. bei den magischen Figuren). Die Gegenstände hatten eine Aufgabe zu erfüllen, und wenn sie ihr nicht gerecht wurden, zog man sie aus dem Verkehr. Ein zerbrochenes Tongefäß war dann genauso nutzlos wie eine hölzerne Statue, die ihren Eigentümer nicht vor Unheil bewahrt hat. Ein "Dorffetisch" setzte sich gar öffentlicher Beschimpfung aus, wenn er die erwartete Leistung nicht erbrachte. Eine Sonderstellung begründete in Afrika nicht der besondere Kunstcharakter einer Figur, sondern ihre Wirksamkeit im Gebrauch. Nicht die "schönsten" Figuren - die "Meisterwerke" für westliche Augen - waren zwingend die mächtigsten, sondern auch unscheinbare, geradezu kunstlos anmutende Gegenstände und Zeichen konnten es sein. Wenn es in der transkulturellen Gruppenpsychologie ein den kommunizierenden Gefäßen vergleichbares Phänomen gibt, dann ist es hier wirksam. Während sie ihre eigenen Künstler einen wahren Kult um ihre Person zu treiben erlaubten, sprachen die Europäer den Afrikanern jegliches Künstlertum ab und deklarierten ihre Werke als "Stammeskunst". Empfahlen sie sich selbst als Avantgardisten, so galten die anderen als traditionsverhaftet. Man kann aus solchen Gegensatzpaaren auch scheinbar positive Wertungen ableiten: Befindet sich im Westen alle Tradition in Auflösung, so wird Afrika - der vermeintliche Kontinent der Feldbauern, Jäger und Sammler - zum Garten Eden nostalgischer Rückschau. Während Technisierung und Industrialisierung seit der Gründerzeit unaufhaltsam voranschritten, suchte das europäische Auge Erholung am Idyll afrikanischer Handwerklichkeit.
Ist afrikanische Kunst tatsächlich Kunst? Kaum eine Debatte in den Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte war so überflüssig und ermüdend wie diese. Im deutschsprachigen Raum wurde sie mit besonderer Ausdauer geführt. Insbesondere aus den Reihen der Ethnologie erhob man massiv Einwände gegen die Nobilitierung von "Artefakten" zu Kunstwerken. Dieses Fach, das sich traditionell als Sozialwissenschaft versteht, betrachtet alle Erzeugnisse - gleich ob Löffel, Pflug oder Kultfigur - als Zeugnisse, um über deren Interpretation zum Verständnis einer Gesellschaft zu gelangen. Für einen Ethnologen vom alten Schlag bedeutete ein Kunstwerk keinen Wert an sich. Es diente ihm als reines Hilfsmittel und gehörte zum Inventar der Feldforschung. Entsprechend wurden und werden die Werke afrikanischer Kunst in herkömmlichen völkerkundlichen Sammlungen auch ähnlich wie in Belegsammlungen präsentiert: wie aufgespießte Schmetterlinge und Käfer. Das Einzelwerk ist dabei nichts - was zählt, ist der soziale Kontext.
Abb.6 Meister der Leopardenjagd, Leopardeniagd, 16. Jh., Gelbguß, Höhe: 55 cm, Königreich Benin, Nigeria, Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz |
Die ausländische Ethnologie hat sich bei vielen dieser grundsätzlichen Überlegungen leichter getan, erging sich weniger in Skeptizismus und Prinzipienreiterei. Ob Afrika "Kunst" hervorgebracht habe, die diesen Namen auch verdient, war kein abendfüllendes Thema. Auch kommt die Erforschung der hinter den Kunstwerken stehenden Meister, war sie erst einmal in Gang gekommen, hier auf breiter Front voran. Die angelsächsische Ethnologie hat sich seit William Fagg insbesondere um die Identifizierung der Künstler Nigerias verdient gemacht, belgische Fachleute um die Luba und andere Völker des Kongo, aber auch die Dogon (Mali), die zugleich eine Domäne von den Franzosen sind. Obwohl die deutschsprachige Forschung mit den Arbeiten von Hans Himmelheber in den dreißiger Jahren führend war (neben dem erwähnten Olbrechts), fand dieser Vorstoß keine Nachfolge, und selbst heute besteht von Hamburg bis Basel und von Berlin bis Wien kaum Interesse an Meisterfragen. Hans-Joachim Koloss ist bei seinen umfangreichen, imponierenden Feldstudien im Königreich Oku (Kamerun) vielen Fragen nachgegangen, für Namen hat er sich nicht interessiert. Ähnliches gilt für Till Försters Forschungen bei den Senufo. In einem Land, in dem die Kunstethnologie ohnehin einen schweren Stand hat, verwundert es kaum, wenn die Meisterforschung im internationalen Vergleich ins Hintertreffen geraten ist. Eine Sonderstellung nimmt das Museum Rietberg in Zürich ein, das seine Projekte über die Dan, Lobi oder Yoruba als Kunstausstellungen ausrichtete. Was Nordamerika betrifft, so hat sich ein angeborenes Talent zum wissenschaftlichen Pragmatismus als fruchtbar erwiesen - im Gegensatz zu Deutschand, wo über all diese Fragen bis heute scholastische Grundsatzdiskussionen geführt werden. Daß viele Nachfahren von Afrikanern in den USA lben, hat dort ein anderes Verhältnis zu dem Thema Autorschaft ebenso begünstigt wie die Tatsache, daß die Beziehung der Amerikaner zu Afrika historisch in einem Punkt weniger belastet war: Die USA gehörten hier nie zu den Kolonialmächten.
Abb.7 Meister von Lataha, Weibliche Figur, frühes 20. Jh., Holz, Höhe: 95 cm, Senufo, Côte d'lvoire, Museum Rietberg, Zürich |
Die Meisterforschung ist derzeit eines der wichtgsten Projekte in der afrikanischen Kunstwissenschaft. Sie ist eine "Schule des Sehens" geworden für alle, die daran beteiligt sind. Vielen hat sie die Augen für die ästhetische Dimension afrianischer Kunst geöffnet. Die Methode schärft den Blick für individuelle Eigenheiten, wo früher angeblich nur ein numinoser Einheitsstil waltete. Bislang verstreute Werke sind in einen engen Zusammenhang gerückt und formieren sich zu eindrucksvollen Werkkomplexen. Bernard de Grunne hat anläßlich seiner Ausstellung Masterhands / Mains de maitres - À la découverte des sculpteurs d'Afrique den derzeitigen Forschungsstand souverän zusammengefaßt und mit ca. 300 Namen ein eindrucksvolles Verzeichnis der bekannten Bildhauer Afrikas geliefert, nicht eingerechnet die nur mit Notnamen bekannten: eindrucksvolles Manifest des afrikanischen Individualismus!
Für die nächsten Jahre wird es wichtig sein, statt der pauschalen Afrika-Ausstellungen unter Überschriften wie Magie, Geister, Ahnen, Fetische usw., die obsolet geworden sind, weitere monographische Einzeldarstellungen in Angriff zu nehmen. Bei alledem geht es darum, den Besteckkasten der Stilkritik mit Bedacht dort einzusetzen, wo sich unsere Wahrnehmung durch Händescheidung differenzieren läßt. Und verlieren wir die Prioritäten nicht aus dem Auge: Das eigentliche Problem in der Afrikanistik liegt nicht darin, daß wir den Namen des Schöpfers einer Figur nicht kennen, sondern uns verborgen ist, wen oder was diese darstellt! Den Westen in seinem jedes Maß sprengenden Künstlerkult einholen zu wollen, wäre fatal. Gerade in der euroamerikanischen Kunstszene der Gegenwart hat es oft den Anschein, als ersetzten inzwischen magisch klingende Künstlernamen die tatsächliche Bedeutung eines Œuvres. Die Namen teuer gehandelter Marktführer treten wie "Labels" oder "Markennamen" fetischhaft an die Stelle wirklich überzeugender Kunst. Dieses "name dropping" hat schon obsessiven Charakter angenommen und vernebelt auch so manchem Museumsleiter bei seinen Ankäufen die Sicht. Die westliche Liebe zur Individualität künstlerischen Ausdrucks ist kunstpolitisch durch ästhetischen Konformismus und bereitwillige Uniformität bedroht.
Zweifellos wird künftig ein afrikanisches Objekt, dessen Urheber namentlich ausgewiesen ist, gegenüber einem anonymen Werk Marktvorteile genießen. Die Preise für afrikanische Kunst sind im Kunsthandel in den letzten Jahren für hochrangige Stücke ohnedies nach oben geschnellt. Im Vergleich zu Werken euro-amerikanischer Kunst allerdings nehmen sie sich nach wie vor bescheiden aus. Die Signatur gehört zu den unverzichtbaren Bestandteilen des Kunst-Investments. Durch die "Meisterforschung" , die erst in ihren Anfängen steht, sind nur die Schwerpunkt-Werke von Œuvres zu erfassen; das Gros des künstlerischen Erbes Afrikas wird, machen wir uns nichts vor, anonym bleiben.
Quelle: Peter Stepan: "Donatellos afrikanische Brüder. Zu einem Paradigmenwechsel in der afrikanischen Kunstwissenschaft." In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. Heft 2/2001. Seite 36 - 47
PETER STEPAN ist Autor des Afrika-Bandes in der im Prestel-Verlag erschienenen Reihe "Ikonen der Weltkunst" und Koautor von "Mein Afrika - Die Slg. Fritz Koenig". Forschungsschwerpunkt ist die westliche Wahrnehmung außereuropäischer Kunst. Peter Stepan war von 2012 bis 2014 Direktor des Goethe Instituts in Kigali (Ruanda).
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Reposted on April 25, 2019
Thanks so much for such a beautiful version of KdF!!
AntwortenLöschenCheers Daniel, from Spain...
Please
AntwortenLöschenupdate link
Thanks
Bitte um Re-up! Danke!
AntwortenLöschenHerzlichen Dank für die Re-Up. Eine wunderbare Komposition Bachs.
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