11. März 2016

L’Armonica: Musik mit Glasharmonika

Die Glasharmonika wurde 1761/62 von Benjamin Franklin erfunden. Er weilte zu der Zeit in London und besuchte dort das Konzert eines Gläserspielers. Unter der Bezeichnung "Musical Glasses" waren solche Instrumente damals sehr populär. Fasziniert vom Klang, wünschte sich Franklin, seines Zeichens auch Physiker und Erfinder, zur Erleichtenmg des Musizierens die Gläser, welche die Töne produzieren, dichter bei einander und eine Art mechanische Drehung. Zu diesem Zweck ließ er halbkugelförmige Glasschalen mit einem kleinen Halsansatz in der Mitte fertigen und auf eine Achse montieren. Die Glasschalen nahmen in der Größe immer ab, so dass sie, exakt montiert, jeweils ineinander passten. Zwischen dem Glas und der Achse wurde ein genauestens geschliffener Kork angebracht. Die Rotation wurde durch ein Pedal und Schwungrad erzeugt.

Franklin gab ein Instrument an die Davies-Schwestern. Cecilia, eine in ganz Europa gefeierte Sängerin, und Marianne kamen mit der Glasharmonika nach Wien und waren zu Gast im Hause Johann Adolph Hasses. Anlässlich der Hochzeit der Erzherzogin Maria Amalia mit dem Infanten Ferdinand, Herzog von Parma, komponierte Hasse 1769 "L'Armonica". Das Werk verlangt nicht nur einen großen Tonumfang bis zum kleinen c, sondern auch virtuose Fähigkeiten. Es ist erstaunlich, dass erst wieder Wolfgang Amadé Mozart in seinem Werk für Glasharmonika, Flöte, Oboe, Viola und Violoncello (1791) ähnliche Anfordenmgen an das Instrument stellte. Beide Werke haben im Vergleich zu den übrigen Stücken für Glasharmonika herausragende kompositorische Qualitäten und markieren so auch Anfang und Ende der Blütezeit dieses Instruments.

Benjamin Franklin's Glasharmonika
 (Druck Italien, um 1762)
Karl Leopold Röllig, geboren um 1754 in Hamburg, war 1771 bis 1773 Musikdirektor der Ackermannischen Theatergruppe in Hamburg. Diese Gruppe führte am 10. Oktober 1771 in Hamburg und am 30. April 1773 in Hannover Rölligs nun verschollene Oper "Clarisse oder das unbekannte Dienstmädchen" auf. 1780 bis 1788 unternahm er als Glasharmonikaspieler Konzertreisen, die ihn auch nach Dresden führten. Er lebte dort mehrere Monate bei Johann Gottlieb Naumann, der ab 1776 in Dresden als Komponist und Kapellmeister tätig war. Röllig konzertierte in Berlin, Hamburg und Wien, wo er sich 1792 niederließ und hauptberuflich als Offizial der Wiener Hofbibliothek tätig war. Laut Totenbuch der Wiener Stadtpfarre St. Augustin starb Röllig am 4. März 1804 in Wien. Röllig bemühte sich um die spieltechnische Verbesserung der Franklinischen Harmonika, die er mit einer Tastatur ausstattete. 1782 trat er dem Freimaurerorden bei, wo er mit seiner Harmonika eine große Rolle spielte. Er konstruierte auch ein mit Draht- oder Darmsaiten bezogenes Tasteninstrument, das er Orphika nannte.

Johann Adolph Hasse, getauft am 25. März 1699 in Bergedorf bei Hamburg. 1718 debütierte er als Tenor an der Hamburger Oper, 1721 sang er - inzwischen in Braunschweig - die Titelrolle in seiner ersten Oper "Antioco". Der zeitüblichen Italianisierung folgend wandte er sich bald darauf nach Neapel und gelangte als Opernkomponist zu Ansehen. 1730 heiratete er in Venedig die Primadonna Faustina Bordoni, mit der er 1731 in Dresden ein erstes Gastspiel gab und ab 1734 als "Kgl. Polnischer und Kurfürstlieh Sächsischer Kapellmeister" Triumphe feierte. Da man ihm genügend Urlaub gewährte, wuchs sein Ansehen als "compositore scritturato" durch Gastspiele in Wien, Paris, Venedig, München, Warschau und anderen Orten noch zusätzlich. Den Lebensabend verbrachte das gefeierte Künstlerpaar zurückgezogen in Venedig, wo Hasse am 16. Dezember 1783 starb und in der Kirche San Marcuola beigesetzt wurde.

„Il caro Sassone", wie er in Italien genannt wurde, komponierte ca. 60 Opere serie, davon viele mit Libretti von Pietro Metastasio, sowie Oratorien, Kirchenmusik und Kammermusiken. In Wien komponierte Hasse 1769 die auf "obrigkeitlichen Befehl" verfasste Ode von Pietro Metastasio "L'Armonica" fur die Hochzeitsfeierlichkeiten ihrer königlichen Hoheiten Infant Ferdinand, Herzog von Parma, und Erzherzogin Maria Amalia von Österreich. Die Kantate wurde im Grossen Saal von Schönbrunn mit den Schwestern Marianne (Glasharmonika) und Cäcilia Davies (Gesang) aufgeführt.

Wolfgang Amadé Mozart, geboren am 27. Jänner 1756 in Salzburg im Hause Nr. 9 der Getreidegasse als Sohn des "fürsterzbischöflichen Kammermusicus" Leopold Mozart und der Frau Maria Anna, geborene Pertl. Die erste Komposition - ein Menuett mit Trio - entstand 1761, am 15. November 1791 trug er als letztes vollendetes Werk "Eine kleine Freymaurer-Kantate" in sein Werkverzeichnis ein. Das "Köchel- Verzeichnis" zählt 839 Kompositionen. Nach 11 Reisen wurde Mozart am 16. März 1781 in Wien sesshaft: "... hier ist ein Herrlicher Ort ... und für mein Metier der beste ort von der Welt.“ Am 4. August 1782 heiratete er die aus Zell im Wiesental gebürtige Constanze Weber im Dom von St. Stephan. Von sechs Kindern blieben Karl Thomas und Franz Xaver Wolfgang am Leben. 1787 wurde er als Kammerkompositeur am Wiener Hof mit 800 fl. Gehalt angestellt. Mozart starb am 5. Dezember 1791 in Wien im Hause Rauhensteingasse, Stadt Nr. 970.

Am 23. Mai 1791 hat Mozart das "Adagio und Rondeau" in sein Werkverzeichnis eingetragen. Er komponierte es fur die in früher Jugend erblindete Marianne Kirchgeßner, geboren 1770 in Waldhäusel bei Bruchsal, gestorben 1809 in Schaffhausen, die auf der Glasharmonika ungewöhnliche Virtuosität erlangt hatte. Das Werk wurde von ihr in der Akademie im "Kärntnerthortheater" am 19. August 1791 uraufgeführt.

Die Opera buffa "La finta giardiniera" komponierte Mozart zwischen September 1774 und Januar 1775 in Salzburg und München. Der Vater Leopold war auch in München anwesend und schreibt am 28. Dezember 1774 an seine Frau nach Salzburg: Eben den Tag als ihr bey Sr:Eigr Sauerau waret, war morgens um 10 uhr die erste Prob von des Wolfg: opera, die so sehr gefallen, daß sie bis auf den 5ten Jenner 1775 verschoben worden, damit die sänger solche besser lernen, und wenn sie die Musik recht im Kopf haben, sicherer agieren können, damit die opera nicht verdorben wird, welches bis den 29 Decemb: eine übereilte sache gewesen wäre. Kurz! die Composition der Musik gefällt erstaunlich, und wird also den 5ten Jenner aufgeführt werden. Nun kommt es nur auf die production im Theater an, die wie hoffe gut gehen soll, weil die acteurs uns nicht abgeneigt sind. Und Wolfgang schreibt endlich am 14. Januar 1775 an seine Mutter: Gottlob! Meine opera ist gestern als den 13. in scena gegangen; und so gut ausgefallen, dass ich der Mama den lärmen ohnmöglich beschreiben kan.

Glasharmonika, Ende des 19.Jahrhundert
(Museo Nazionale degli Strumenti Musicali, Rom)
Joseph Haydn, geboren am 31. März 1732 in Rohrau. Sein Vater Mathias, gebürtig aus Hainburg, war Marktrichter und Wagnermeister, die Mutter Anna Maria Koller herrschaftliche Köchin in Schloss Rohrau. Joseph erhielt 1737 den ersten Musikunterricht in Hainburg beim Schulrektor Franck. 1740 holte ihn der Hofkapellmeister Georg Reutter nach Wien als Chorknaben nach St. Stephan. 1749 wurde er entlassen, wohnte zunächst in einer Dachkammer des Hauses Kohlmarkt 11 ("Michaelerhaus") und verdiente sich als Bedienter, als Begleiter in den Gesangsstunden Niccolò Porporas sowie als Tanzgeiger, Serenadenspieler und Organist seinen Unterhalt. Durch Vermittlung Pietro Metastasios wurde Marianne Martinez seine Klavierschülerin. 1758 wurde Haydn Kapellmeister beim Grafen Morzin in Lukavec bei Pilsen, 1761 Vizekapellmeister und 1766 Kapellmeister des Fürsten Esterházy in Eisenstadt. Er starb am 31. Mai 1809 in seinem Haus in Gumpendorf (Vorstadt Obere Windmühle), Kleine Steingasse 73 (heute Haydngasse 19).

Die Symphonie Nr. 48 komponierte Haydn im September 1773 anlässlieh eines Besuchs der Kaiserin Maria Theresia in Esterháza - so erhielt sie den Beinamen "Maria Theresia". Nach anderen Quellen komponierte Haydn diese Symphonie 1769 und spielte sie 1770 für die Kaiserin im Schloss Kittsee. Tatsache ist der Ausspruch Maria Theresias nach einem Besuch in Esterháza: Wenn ich eine gute Oper hören will, gehe ich nach Esterház.

Quelle: Paul Angerer, im Booklet

Track 1: Karl Leopold Röllig: Rondeau A-Dur für Glasharmonika und Streicher


TRACKLIST

L'Armonica
Musik mit Glasharmonika

Karl Leopold Röllig (1754-1804) 

01 Rondeau A-Dur für Glasharmonika und Streicher       5:02

Johann Adolph Hasse (1699-1783) 

"L'Armonica", Kantate fur Sopran, Glasharmonika
und Orchester                                         26:40
02 Introduzione                                        4:09 
03 Aria                                                6:09
04 Recitativo                                          5:13
05 Aria                                               11:09

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)

06 Adagio und Rondeau für Glasharmonika, Flöte, 
   Oboe, Viola und Violoncello KV 617                 12:31

07 Arie der Arminda aus 
   "La finta giardiniera", KV 196                      4:16 

Joseph Haydn (1732-1809) 

Sinfonie C-Dur Nr. 48 "Maria Theresia" Hob. I.48      21:47 
08 Allegro                                             7:57
09 Adagio                                              6:10
10 Menuetto. Allegretto                                4:26 
11 Finale. Allegro                                     3:14

                                               Total: 70:41
Concilium musicum Wien (auf Originalinstrumenten) 
Ursula Fiedler, Sopran - Sascha Reckert und Philippe Marguerre, Glasharmonika 
Konzertmeister: Christoph Angerer - Leitung und Cembalo: Paul Angerer 
Mitschnitt des Konzertes in der Allerheiligen-Hofkirche zu München am 21. Mai 2005 
Unterstützt durch die Johann-Adolph-Hasse-Gesellschaft München e.V.

Cover: J.F.A. Tischbein: "De zusters van Sanders met glasharmonika",
Gemeente-Museum Den Haag

(P)+(C) 2005 

Theodor Fontane: Realismus



Aus: »Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848«

Emanuel Gottlieb Leutze (1816-1868):
Portrait einer Dame mit ihren zwei Söhnen, 1844,
Öl auf Leinwand, 103 x 82 cm. Auktion Lempertz 16.05.2009
Es gibt neunmalweise Leute in Deutschland, die mit dem letzten Goetheschen Papierschnitzel unsere Literatur für geschlossen erklären. Forscht man näher nach bei ihnen, so teilen sie einem vertraulich mit, daß sie eine neue Blüte derselben überhaupt für unwahrscheinlich halten, am wenigsten aber auch nur die kleinsten Keime dazu in den Hervorbringungen der letzten zwanzig Jahre gewahren könnten. Wir kennen dies Lied. Die goldenen Zeiten sind immer vergangene gewesen. Wollten jene Herren, die so grausam über alles Neue den Stab brechen, nach der eigensten Wurzel ihres absprechenden Urteils forschen, sie würden sie in selbstsüchtiger Bequemlichkeit und in nichts Besserm finden. Gerechtigkeit gegen Zeitgenossen ist immer eine schwere Tugend gewesen, aber sie ist doppelt schwer auf einem Gebiete, wo das wuchernde Unkraut dem flüchtigen Beschauer die echte Blüte verbirgt. Solche Blüten sind mühsam zu finden, aber sie sind da.

Was uns angeht, die wir seit einem Dezennium nicht müde werden, auf dem dunklen Hintergrunde der Tagesliteratur den Lichtstreifen des Genius zu verfolgen, so bekennen wir unsere feste Überzeugung dahin, daß wir nicht rückwärts, sondern vorwärts schreiten und daß wir drauf und dran sind, einem Dichter die Wege zu bahnen, der um der Richtung willen, die unsere Zeit ihm vorzeichnet, berufen sein wird, eine neue Blüte unserer Literatur, vielleicht ihre höchste, herbeizuführen.

Johann Gottfried Schadow (1764-1850):
Leopold von Anhalt-Dessau, 1798-1800,
Bronze, 62 x 17,5 cm.
Nationalgalerie, Staatliche Museen Berlin
Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus. Die Ärzte verwerfen alle Schlüsse und Kombinationen, sie wollen Erfahrungen; die Politiker (aller Parteien) richten ihr Auge auf das wirkliche Bedürfnis und verschließen ihre Vortrefflichkeitsschablonen ins Pult; Militärs zucken die Achsel über unsere preußische Wehrverfassung und fordern »alte Grenadiere« statt »junger Rekruten«; vor allem aber sind es die materiellen Fragen, nebst jenen tausend Versuchen zur Lösung des sozialen Rätsels, welche so entschieden in den Vordergrund treten, daß kein Zweifel bleibt: Die Welt ist des Spekulierens müd und verlangt nach jener »frischen grünen Weide«, die so nah lag und doch so fern.

Dieser Realismus unserer Zeit findet in der Kunst nicht nur sein entschiedenstes Echo, sondern äußert sich vielleicht auf keinem Gebiete unsers Lebens so augenscheinlich wie gerade in ihr. Die bildende Kunst, vor allem die Skulptur, ging hier mit gutem Beispiel voran. Als Gottfried Schadow die Kühnheit hatte, den Zopf in die Kunst einzuführen, nahm er ihr zugleich den Zopf. So wurde der »Alte Dessauer«, an dessen Dreimaster und Gamaschen wir jetzt gleichgültig vorübergehen, zu einer Tat von unberechenbarer Wirkung. Jener Statue zur Seite stehen Schwerin und Winterfeldt in antikem Kostüme, und wahrlich, wenn es Absicht gewesen wäre, das Ridiküle der einen Richtung und das Frische, Lebensfähige der andern zur Erscheinung zu bringen, die Zusammenstellung hätte nicht sprechender getroffen werden können. Seit fünfzig Jahren sind wir auf dem betretenen Wege fortgeschritten in Malerei, Skulptur und Dichtkunst, und es war ein Triumphtag für jene neue Richtung, von der wir uns eine höchste Blüte moderner Kunst versprechen, als die Hülle vom Standbild Friedrichs des Großen fiel und der »König mit dem Krückstocke« auf ein jubelndes Volk herniederblickte. Dieser »Alte Fritz« des genialen Rauch ist übrigens nicht das Höchste der neuen Kunst; er gehört jenem Entwicklungsstadium an, durch das wir notwendig hindurch müssen; es ist der nackte, prosaische Realismus, dem noch durchaus die poetische Verklärung fehlt.

Johann Gottfried Schadow (1764-1850):
Friedrich der Große, Bronze,
Pommersches Landesmuseum, Greifswald
Wir haben bei der Skulptur (in der Malerei würden wir als besonders charakteristisch Adolf Menzel und den Amerikaner Emanuel Leutze zu nennen haben) mit vollem Vorbedacht so lange verweilt, einmal um an bekannten Beispielen darzutun, wie bedeutsam und in die Augen springend das Grundstreben unserer Zeit sich bereits auf einzelnen Kunstgebieten geltend gemacht hat, andererseits um verstanden zu werden, wenn wir in bezug auf die Dichtkunst ausrufen: Was uns zunächst nottut, ist ein Meister Rauch unter den Poeten. Er, als der entschiedenste, wennschon nicht höchste Ausdruck einer neuen Kunstrichtung, fehlt uns noch, aber es fehlt uns nicht die Richtung überhaupt. Die moderne Kunst ist auf allen Gebieten dieselbe, und ihre Unterschiede sind nur quantitativer Natur, wie sie durch ein verschiedenes Maß von Kraft und Talent bedingt werden. Wir haben im Romane einen Jeremias Gotthelf, im Drama einen Hebbel, in der Lyrik einen Freiligrath. Bevor wir indes dazu übergehen, diesen Realismus teils an den einzelnen Erscheinungen unserer modernen Literatur nachzuweisen, teils darzutun, was wir auf diesem Gebiete unter Realismus verstehen, sei uns noch gestattet, eine Art Genesis desselben zu geben.

Der Realismus in der Kunst ist so alt als die Kunst selbst, ja noch mehr: Er ist die Kunst. Unsere moderne Richtung ist nichts als eine Rückkehr auf den einzig richtigen Weg, die Wiedergenesung eines Kranken, die nicht ausbleiben konnte, solange sein Organismus noch überhaupt ein lebensfähiger war. Der unnatürlichen Geschraubtheit Gottscheds mußte, nach einem ewigen Gesetz, der schöne, noch unerreicht gebliebene Realismus Lessings folgen, und der blühende Unsinn, der während der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts sich aus verlogener Sentimentalität und gedankenlosem Bilderwust entwickelt hatte, mußte als notwendige Reaktion eine Periode ehrlichen Gefühls und gesunden Menschenverstandes nach sich ziehen, von der wir kühn behaupten: Sie ist da. Aus dem Gesagten ergibt sich von selbst eine nahe Verwandtschaft zwischen der Kunstrichtung unserer Zeit und jener vor beinahe hundert Jahren, und, in der Tat, die Ahnlichkeiten sind überraschend. Das Frontmachen gegen die Unnatur, sie sei nun Lüge oder Steifheit, die Shakespeare-Bewunderung, das Aufhorchen auf die Klänge des Volksliedes - unsere Zeit teilt diese charakteristischen Züge mit den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und es sollte uns nicht schwerfallen, die Persönlichkeiten zu bezeichnen, welche die Herder und Bürger unserer Tage sind oder zu werden versprechen.

Carl Wilhelm Hübner (1814-1879): Die Schlesischen Weber, 1844,
Öl auf Leinwand, 77 x 104 cm. Museum Kunstpalast, Düsseldorf
Das klingt wie Blasphemie und ist es doch keineswegs. Man warte ab, was sich aus unsern jungen Kräften entwickelt, und überlasse es dem Jahre 1900, zwischen uns und jenen zu entscheiden. Aber, gesetzt auch, daß die poetische Kraft und Fülle derer, die wir für berufen erachten, das angefangene und wieder unterbrochene Werk der hervorragenden Geister des vorigen Jahrhunderts fortzusetzen, sich als zu schwach für solche Aufgabe erweisen sollte, so sind wir doch entschieden der Meinung, daß unser Irrtum sich lediglich auf die Personen beschränken wird und daß neben diesen notwendig sich Talente entwickeln müssen, die bei gleicher dichterischer Begabung den Göttinger Dichterbund und selbst die Heroen der Sturm- und Drangperiode um so weit überflügeln werden, als sie ihnen an klarer Erkenntnis dessen, worauf es ankommt, voraus sind. Es ist töricht, Autoritäten im Glanze unfehlbarer Götter zu erblicken. Dem Guten folgt eben das Bessere. Unsere Zeit weiß mehr von Shakespeare, als man vor hundert Jahren von ihm wußte, und selbst Tieck und Schlegel werden sich nächstens Verbesserungen gefallen lassen müssen. Der alte Isegrim Wolf stach den Voß aus, und es ist keine Frage, daß man sich auf englische und spanische Volksgesänge heutzutage besser versteht als zu den Zeiten Bürgers und Herders. Man weiß mehr von den Sachen, und mit dem Wissen ist größere Klarheit und Erkenntnis gekommen; einem kommenden Genius ist vorgearbeitet; er wird sich nicht zersplittern, nicht rechts und links umherzutappen haben; er wird seine Stelle finden, wie sie Shakespeare fand. Das ist der Unterschied zwischen dem Realismus unserer Zeit und dem des vorigen Jahrhunderts, daß der letztere ein bloßer Versuch (wir sprechen von der Periode nach Lessing), ein Zufall, im günstigsten Falle ein unbestimmter Drang war, während dem unserigen ein fester Glaube an seine ausschließliche Berechtigung zur Seite steht.

Es dürfte vielleicht eben hier an der Stelle sein, mit wenigen Worten auf das Verhältnis hinzuweisen, das die beiden Träger unserer sogenannten klassischen Periode jener Richtung gegenüber einnehmen, die wir in vorstehendem nicht Anstand genommen haben entschieden als die unserige zu bezeichnen. Beide, Goethe wie Schiller, waren entschiedene Vertreter des Realismus, solange sie »unangekränkelt von der Blässe des Gedankens« lediglich aus einem vollen Dichterherzen heraus ihre Werke schufen. »Werther«, »Götz von Berlichingen« und die wunderbar-schönen, im Volkstone gehaltenen Lieder der Goetheschen Jugendperiode, so viele ihrer sind, sind ebenso viele Beispiele für unsere Behauptung, und Schiller nicht minder (dessen Lyrik freilich den Mund zu voll zu nehmen pflegte) stand mit seinen ersten Dramen völlig auf jenem Felde, auf dem auch wir wieder, sei's über kurz oder lang, einer neuen reichen Ernte entgegensehen. Die jetzt nach Modebrauch (und auf Kosten des ganzen übrigen Mannes) über alle Gebühr verherrlichten »Räuber« gehören dieser Richtung weniger an als »Fiesco« und »Kabale und Liebe«, denn der Realismus ist der geschworene Feind aller Phrase und Überschwenglichkeit; keine glückliche, ihm selber angehörige Wahl des Stoffs kann ihn aussöhnen mit solchen Mängeln in der Form, die seiner Natur zuwider sind.

Carl Wilhelm Hübner (1814-1879): Das Jagdrecht, 1846,
 Öl auf Leinwand, 94 x 130,5 cm.
- Im übrigen blieben ihm unsere großen Männer nicht treu fürs Leben; Schiller brach in seinen letzten Arbeiten vollständig mit ihm, und Goethe (der in der Form ihn immer hatte und immer bewahrte) verdünnte den Realismus seiner Jugend zu der gepriesenen Objektivität seines Mannesalters. Diese Objektivität ist dem Realismus nahe verwandt, in gewissen Fällen ist sie dasselbe; sie unterscheiden sich nicht im Wie, sondern im Was, jene ist das Allgemeine, dieser das Besondere; die »Braut von Korinth« hat Objektivität, das jede Herzensfaser erschütternde »Ach neige, du Schmerzensreiche« hat Realismus. Wir werden bald Gelegenheit finden, uns des weiteren hierüber auszulassen. An dieser Stelle nur noch die Beantwortung der Frage: war der »Torquato Tasso« (die Vollendung der Dichtung in ihrem Genre wird niemand bekämpfen) oder gar die »Jungfrau von Orleans« ein Fortschritt oder nicht? Wir beantworten diese Frage mit einem bloßen Hinweis auf Lessing oder auf Shakespeare, der übrigens (weil er als Poet und nicht als Kritiker dichtete) das Prinzip, um das es sich hier handelt, in minder ausschließlicher Reinheit vertritt. Der »Nathan«, diese reifste Frucht eines erleuchteten Geistes, der - gleichviel ob Dichter oder nicht - wie keiner, weder vor ihm noch nach ihm, wußte, worauf es ankommt, liefert uns den sprechenden Beweis, daß dreißig Jahre voll eifervollen Studiums, voll Nachdenkens und Erfahrung außerstande gewesen waren, die Anschauungen von einer ausschließlichen Berechtigung des Realismus innerhalb der Kunst im Herzen unserer großen kritischen Autorität zu erschüttern, und, wenn es irgendwo gestattet ist, auf Autoritäten zu schwören, so dürfte hier die Stelle sein. Wir wiederholen, auch der »Nathan« ist auf dem Boden des Realismus gewachsen, und, weil wir nicht eben überrascht sein würden, diese unsere Behauptung selbst von halben Richtungsgenossen angezweifelt zu sehen, zögern wir nunmehr nicht länger, unsere Ansicht darüber auszusprechen, was wir überhaupt unter Realismus verstehen.

Adolph Menzel (1815-1905): Théâtre du Gymnase in Paris, 1856,
Öl auf Leinwand, 46 x 62 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin
Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. Traurig genug, daß es nötig ist, derlei sich von selbst verstehende Dinge noch erst versichern zu müssen. Aber es ist noch nicht allzu lange her, daß man (namentlich in der Malerei) Misere mit Realismus verwechselte und bei Darstellung eines sterbenden Proletariers, den hungernde Kinder umstehen, oder gar bei Produktionen jener sogenannten Tendenzbilder (schlesische Weber, das Jagdrecht und dergleichen mehr) sich einbildete, der Kunst eine glänzende Richtung vorgezeichnet zu haben. Diese Richtung verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: Die Läuterung fehlt. Wohl ist das Motto des Realismus der Goethesche Zuruf:

Greif nur hinein ins volle Menschenleben,
Wo du es packst, da ists interessant;

aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muß eine künstlerische sein. Das Leben ist doch immer nur der Marmorsteinbruch, der den Stoff zu unendlichen Bildwerken in sich trägt; sie schlummern darin, aber nur dem Auge des Geweihten sichtbar und nur durch seine Hand zu erwecken. Der Block an sich, nur herausgerissen aus einem größern Ganzen, ist noch kein Kunstwerk, und dennoch haben wir die Erkenntnis als einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen, daß es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des Wirklichen, zu allem künstlerischen Schaffen bedarf. Diese Erkenntnis, sonst nur im einzelnen mehr oder minder lebendig, ist in einem Jahrzehnt zu fast universeller Herrschaft in den Anschauungen und Produktionen unserer Dichter gelangt und bezeichnet einen abermaligen Wendepunkt in unserer Literatur. Ein Gedicht wie die in ihrer Zeit mit Bewunderung gelesene »Bezauberte Rose« könnte in diesem Augenblicke kaum noch geschrieben, keinesfalls aber von Preisrichtern gekrönt werden; der »Weltschmerz« ist unter Hohn und Spott längst zu Grabe getragen; jene Tollheit, die »dem Felde kein golden Korn wünschte, bevor nicht Freiheit im Lande herrsche«, hat ihren Urteilsspruch gefunden, und jene Bildersprache voll hohlen Geklingels, die, anstatt dem Gedanken Fleisch und Blut zu geben, zehn Jahre lang und länger nur der bunte Fetzen war, um die Gedankenblöße zu bergen, ist erkannt worden als das, was sie war. Diese ganze Richtung, ein Wechselbalg aus bewußter Lüge, eitler Beschränktheit und blümerantem Pathos, ist verkommen »in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle«, und der Realismus ist eingezogen wie der Frühling, frisch, lachend und voller Kraft, ein Sieger ohne Kampf.

Adolph Menzel (1815-1905): Fronleichnamsprozession in Hofgastein, 1880,
 Öl auf Leinwand, 51 x 70 cm, Neue Pinakothek, München
Wenn wir in vorstehendem - mit Ausnahme eines einzigen Kernspruchs - uns lediglich negativ verhalten und überwiegend hervorgehoben haben, was der Realismus nicht ist, so geben wir nunmehr unsere Ansicht über das, was er ist, mit kurzen Worten dahin ab: er ist die Wiederspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst; er ist, wenn man uns diese scherzhafte Wendung verzeiht, eine »Interessenvertretung« auf seine Art. Er umfängt das ganze reiche Leben, das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus, der der Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertierchen, dessen Weltall der Tropfen ist; den höchsten Gedanken, die tiefste Empfindung zieht er in sein Bereich, und die Grübeleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind sein Stoff. Denn alles das ist wirklich. Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre. Er schließt nichts aus als die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene - vier Dinge, mit denen wir glauben, eine ganze Literaturepoche bezeichnet zu haben. Der Realismus wünscht nicht »totgeschossen zu werden«, wie Heine in einem seiner berühmtesten Liedchen; er wünscht nicht wie Freiligrath »gelehnt an eines Hengstes Bug« zu stehen; er beschwört nicht wie Lenau »den Blitz, ihn zu erschlagen«; er nennt den Gram nie und nimmer wie Karl Beck »den roten Korsaren im stillen Meere der Tränen«: er hält nichts von Redwitzsehen »Harfensteinen« und belächelt jenen unerreichten Freiheitssänger aus der Herweghschen Schule, der »sich blind zu sein wünschte, um nicht die Knechtschaft dieser Welt tagtäglich mit Augen sehen zu müssen«.

Adolph Menzel (1815-1905): Feinbäckerei im Kurpark zu Kissingen, 1893,
 Gouache auf Papier, 17 x 25 cm.
Der Realismus hält auch nichts von dem, was unserm Interesse völlig fremd geworden ist. Der ganze La Motte-Fouqué ist ihm mit Haut und Haaren noch nicht das kleinste Uhlandsche Frühlingsliedchen wert, und ein deutscher Kernspruch ist ihm lieber als alle Weisheit des Hariri. Ob König Thor den Hammer schwingt oder nicht, ist ihm ziemlich gleichgültig, und Sesostris und Rhampsinit, ja, selbst die »Kraniche des Ibykus« mit der Schilderung des griechischen Bühnenwesens oder die »Braut von Korinth« mit ihrem wunderbar verzwickten Problema sind nichts weniger als angetan, dem Realismus seine heiterste Miene abzugewinnen. Noch einmal: Er läßt die Toten oder doch wenigstens das Tote ruhen; er durchstöbert keine Rumpelkammern und verehrt Antiquitäten nie und nimmer, wenn sie nichts anderes sind als eben - alt. Er liebt das Leben je frischer je besser, aber freilich weiß er auch, daß unter den Trümmern halbvergessener Jahrhunderte manche unsterbliche Blume blüht.

(1853)

Quelle: Theodor Fontane: Gesammelte Werke in vier Bänden. (Hrsgr Kurt Schreinert). Im Bertelsmann Lesering, 1960. Aus: Band IV, Seite 383-390

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Schon in der Mozart-Jubiläumsedition von 1956 war eine Glasharmonika im Einsatz - gespielt von Bruno Hoffmann (1913-1991).

Hans Leo Haßler, den ich eine Zeit lang mit Johann Adolph Hasse verwechselt hatte, hat 1601 in Nürnberg einen "Lustgarten neuer teutscher Gesäng" veröffentlicht. Im scharfen Kontrast dazu: Robert Capas Schnappschüsse aus dem Spanischen Bürgerkrieg.

Was Theodor Fontane 1853 vom Realismus in der Literatur erwartete, erhoffte sich 1959 Wolfdietrich Schnurre von der "kaum beachteten literarischen Kunstform" der Kurzgeschichte. (Musikprogramm: G. B. Vitali: Varie Sonate alla Francese e all'Italiana Op. XI.)


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