16. Dezember 2013

[Post Nummer 200] Aribert Reimann: Lear

Meinen 100. Post hatte ich mit hundertjährigen Aufnahmen bestritten; nun, zum feierlichen Anlass des 200. Posts präsentiere ich – als Ausnahme - eine Oper. Erst die zweite – und letzte? – innerhalb der Kammer, die eben keine Konzertmusikkammer, sondern kammermusikalisch gestimmt ist. (Übrigens: Die erste Oper ist für mich die schönste der Welt, auch weil sie nur eine Semi-Oper ist.)

Für die Zweihundertschaft habe ich 5 Jahre und ein halbes benötigt, was einen Schnitt von etwa 3 Ausgaben im Monat bedeutet. Auch für die Zukunft wird von mir kaum mehr zu erwarten sein. (Nun ja, in diesem Jahr habe ich den Schnitt auf 4 Ausgaben gesteigert.)

Seit Februar 2009 bin ich der »abendländischen Kunstmusik« in ihrem chronologischen Ablauf gefolgt, von der Frühen Musik im Mittelalter, Renaissance und Barock, über Klassik und Romantik bis in die Neue Musik. Nun bin ich – ganz zufällig gleichzeitig mit dem Jubiläum des 200. Posts – an das Ende meiner Musik-Sammlung gelangt. (Seit Beginn poste ich nur selbst gekaufte oder von Freunden gekaufte und mir geliehene und in beiden Fällen selbst gescannte CDs.)

Nun wäre eine gute Gelegenheit aufzuhören.

Dies ist jedenfalls die letzte Ausgabe in diesem Jahr 2013. Ich wünsche allen meinen Lesern, den regelmäßigen wie den zufälligen, einen erholsamen Urlaub und a happy new year.

WMS.Nemo



»Alle sind Einsame in diesem Dröhnen.«


Zu Aribert Reimann’s Lear


Shakespeares »Lear« nicht als Drama des Menschseins selbst zu verstehen, muss misslingen. »Wir Neugeborenen weinen, zu betreten die große Narrenbühne«, sagt Lear zu Gloster im vierten Akt des Königsdramas. Das klingt, als sei es ein neuzeitlicher Kommentar zu einem berühmten Ausspruch Salomons, des - so Heine - blasierten Königs von Judäa: »Ich fiel auf die Erde, die Gleiches von allen erduldet, und Weinen war mein erster Laut wie bei allen. (…) Alle haben den gleichen Eingang zum Leben; gleich ist auch der Ausgang.« Aribert Reimann formuliert ganz in diesem Sinne: »Alle sind Einsame in diesem Dröhnen.«

Shakespeares fünfaktige Tragödie, die »wahre Geschichte« vom Leben und Tod König Lears und seiner drei Töchter - »sowie das unglückliche Leben von Edgar, Graf Glosters Sohn und Erben, der vorgab, der wahnsinnige Tom zu sein« - wurde erstmals vor genau vierhundert Jahren gedruckt. Vor dreißig Jahren wurde Aribert Reimanns Vertonung des Stoffes – sie gehört zu den kaum ein Dutzend zählenden Werken der postmodernen Epoche, die deren Kurzlebigkeitsfetischismus widerstanden – im Münchner Nationaltheater uraufgeführt.

Dietrich Fischer-Dieskau, der erste Darsteller des Reimann’schen Lear, hatte recht, als er dem einen säkularen Rang attestierte: »Noch selten – vielleicht in Alban Bergs Wozzeck - ist die Einsamkeit des Menschen so überzeugend aus dem Faktrum her gezeichnet worden, dass er dem Mitmenschen gegenüber blind ist.«

Der Stoff ist so bekannt wie alt. Erstmals taucht er im 12.Jahrhundert in Geoffrey von Monmouth’s Historia Regum Britanniae auf. Darin wird erzählt von König Leir, der drei Töchter gehabt habe, von denen die jüngste, Cordelia, ihm die liebste war. Um die Töchter zu erproben, stellte er ihnen die Frage, wer von ihnen den Vater am leidenschaftlichsten liebe. Die beiden älteren Töchter überbieten sich in ihrer hypertrophen Rhetorik. Die Jüngste, Cordelia, verweigert solche bombastischen Floskeln. Ihre ersten Worte bei Shakespeare: »Was soll Cordelia tun? Sie liebt – und schweigt« und auch »meine Liebe wiegt schwerer als mein Wort« setzt die nun folgende zutiefst komplexe Geschehensfolge in Gang, an deren Ende die Tragödie der Familie, das blanke Desaster, der Untergang steht; wenn auch flankiert von Lears letzter Erkenntnis von der Sinnlosigkeit aller Macht.

Parallel zu Lears Töchterdrama vollzieht sich das Söhnedrama um den Grafen Gloster. Shakespeares Tragödie zeitigt einen desaströsen Raum, dessen Charakteristikum in der vollständigen Nivellierung von Gut und Böse vor dem Hintergrund eines alles gleichmachenden Schicksals besteht und wo noch nicht einmal Hiobs Prüfungsszenario mehr Rückhalt verspricht. »Ich bin der geborene Spielball des Schicksals«, sagt Lear und meint damit uns alle.

Aribert Reimann
Aus Reimanns Notizen zu Lear geht hervor, dass am Anfang seiner Arbeit genau dieses apokalyptische Grau stand: »Die dunkle Farbe, massive Ballungen im Blech, Flächen in den tiefen Streichern führen mich zur Person ‚Lear‘.« Solche Clusterschichten werden übereinandergeschichtet, erfüllen den Klanghorizont, werden in der Sturmszene zum Erdbeben. Reimann lässt auf dem Zenit dieser Verdichtung einen 48-tönigen Streicherakkord um zwei Halbtöne abstürzen bis auf den tiefsten Grund, wo nicht mehr unterschieden werden kann zwischen kosmologischem und menschlichem Abgrund.

Der Komponist erinnert sich daran: »Drei Wochen lebte ich in diesem Chaos. Nachts befand ich mich immer noch in diesem Klangstrudel, die Figuren und Akkorde weiteten sich ins Überdimensionale, wurden zu abstrakten Formen, von denen ich schrecklich gequält, bedroht, umfangen, erdrückt wurde.«

Das Verhängnis beginnt sogleich. König Lear verbindet Macht und Liebe bereits in den ersten Worten, die er im Drama Shakespeares spricht. Kaum sind die Einzugsfanfaren verhallt, verkündet er, was hernach zur irreversiblen Fügung geraten soll. Im festen Willen, Sorgen und Mühen des Alters aushaltbar zu machen, stellt er die unglückselige Bedingung für die Festsetzung der Mitgift, die seine drei Töchter erhalten sollen: »Von welcher unter euch Wir sagen können, / Sie liebe Uns am meisten.« Hier schon wird Unausweichlichkeit zum dramaturgischen Bewegungsgesetz. Vorgegeben ist jener tragische Gang, der weit über die Schmerzen des alten Leibes in die dämonischen Zwischenreiche führt, auf den psychopathologischen Grat von Wahn und Nichts, demgegenüber der schlichte Tod sein Schreckenspotenzial verliert.

Auf diesem Grat, der jenseits der Sprache, jenseits jeder grammatologischen Ordnung der Worte liegt, will in Aribert Reimanns Oper die Musik hinaus. Hier, im dunklen Grenzraum von aufschreiender Qual und geblendetem Verstummen, konstituiert sich die Farbe des Werkes, hervortretend aus einem abgründigen, tiefen Streicherakkord, ein tönender Nukleus gleichsam, der fast schon im zytologischen Sinne die Übertragung des Erbgutes auf die Tochterzellen bewerkstelligen soll, dabei aber die Selbstzerstörung heraufbeschwört. Reimann lässt diesen Akkord in eine Rotationsdynamik einmünden, worin er sich »dann so fast traumartig immer kreisend fortsetzt, und dieses Kreisen (…) wird nachher ein Teil von Lear selbst«.

An diesem Königsdrama hat inmitten des Ersten Weltkrieges Oswald Spengler in seinem epochalen geschichtsphilosophischen Werk Der Untergang des Abendlandes das griechische Fatum - auch buchstabierbar als Nemesis, Ananke oder Tyche - vom neuzeitlichen Schicksalsbegriff getrennt, der ganz und gar auf König Lear zutreffe. Ödipus sei in seinem Leibe getroffen, das Orakel habe seiner sinnlich-wirklichen Person gegolten, Übles für seinen Leib, für sein empirisches Ich geweissagt.

Albrecht Dürer: Nemesis, Kupferstich, 33 x 22 cm, 1501-02
Dagegen sei Lear der desperate Held eines Charakterdramas, eines Dramas des Innersten, einer Tragödie der Vaterexistenz aus tiefstem Grund, die sich nicht jäh auftut, sondern die sich im Gang der Zeit herauskehrt: »Unsere Tragik entstand aus dem Gefühl einer unerbittlichen Logik des Werdens. (…) Das Leben König Lears reift innerlich einer Katastrophe entgegen; das des Königs Ödipus stößt unversehens auf eine äußere Lage.«

Lear drückt das in der Sturmszene des dritten Aktes präzise aus. Nicht der Leib, sondern die Seele wird inthronisiert als Hoheitsraum des Desasters: »Es drückt dich arg, dass dies feindsel’ge Wetter / Uns bis zur Haut durchdringt. (…) Doch wo die schlimmre Krankheit steckt, da fühlt man / Die mindre kaum. (…) der Orkan in meinem Innern / Nimmt jedes andere Gefühl den Sinnen, / Nur das, was hier tobt, bleibt.«

Was hier tobt? Für Reimann wurde gerade diese Szene, die »Heideszene«, zum Initial, genau die Szene übrigens, die Verdi in ihrer Fremdheit verdross: also der desolate und ausgesetzte Lear »in seiner psychischen Verwirrtheit, in diesem Sturm, der nicht nur ein Sturm als Naturereignis ist, sondern mehr noch ein Aufruhr der Psyche, der Elemente des Kosmischen.«

In der Uraufführung und in den nachfolgenden Vorstellungen kam es zu lautstarken Protesten ob der Trostlosigkeit des Werkes. Der Kritik, die dem Werk den Wagemut hoch anrechnete, einen Stoff zur Oper zu machen, »dessen Entsetzlichkeit jeden Lichtblick ausschließt, der keine Liebeshandlung enthält und noch die Versöhnung im Zeichen des Todes statthaben lässt« (H.H.Stuckenschmidt, FAZ, 11.7.1978), stand das Veto der Unterhaltungsfreunde gegenüber. In einem Brief an Intendant Everding und Tonsetzer Reimann beschwerte sich ein Besucher mit Worten, die unsere eigene Wellnessepoche vorausnahmen: »Ich meine, in der Oper sollte man sich entspannen und das Leben schön finden, aber keinesfalls durch krankhaften, überspannten 'Musiklärm' traumatisiert werden.«

Quelle: Nobert Abels, im Booklet [Online-Version verfügbar]

CD 1, Track 1: 1.Szene: Lear: "Wir haben euch hierher befohlen..."


TRACKLIST


Aribert Reimann (* 1936):

LEAR
Opera in two Parts
Text by Claus H. Henneberg after William Shakespeare
First performance: July 9, 1978, Nationaltheater, Munich

Besetzung 

König Lear / King Lear (Bariton)                    ... Wolfgang Koch 
König von Frankreich / King of France (Bassbariton) ... Magnus Baldvinsson 
Herzog von Albany / Duke of Albany (Bariton)        ... Dietrich Volle 
Herzog von Cornwall / Duke of Cornwall (Tenor)      ... Michael McCown 
Graf von Kent / Earl of Kent (Tenor)                ... Hans-Jürgen Lazar 
Graf von Gloster / Earl of Gloucester (Bassbariton) ... Johannes Martin Kränzle 
Edgar (Tenor-Countertenor)                          ... Martin Wölfel 
Edmund (Tenor)                                      ... Frank van Aken 
Goneril (Dramatischer Sopran)                       ... Jeanne-Michele Charbonnet 
Regan (Sopran)                                      ... Caroline Whisnant 
Cordelia (Sopran)                                   ... Britta Stallmeister 
Narr / Fool (Sprechrolle)                           ... Graham Clark 
Bedienter / Servant                                 ... Chad Graham 
Ritter / Knight                                     ... Nicolai Klawa 

Chor der Oper Frankfurt 
Matthias Köhler, Choreinstudierung / chorus master 

Frankfurter Museumsorchester 
Sebastian Weigle, Dirigent / conductor 


CD 1                                               total: 71:31 

     1. Teil - 1. Szene 

[01] Lear: "Wir haben euch hierher befohlen ..."        (08:59) 
[02] Lear: "Frankreichs König ..."                      (07:37) 
[03] Edmund: "Mein Bruder Edgar, verzeih ... "          (04:11) 
[04] Gloster: "Mein Edmund, was gibt es?"               (04:36) 
[05] Zwischenspiel 1                                    (03:09) 

     1. Teil - 2. Szene 

[06] Lear: "Sauft, fresst, reißt Witze!«                (04:47) 
[07] Goneril: "So geht es nun."                         (05:57) 
[08] Lear: "Nun Töchter, beide so entschlossen?"        (10:47) 
[09] Lear: "Was steht ihr da und glotzt?"               (04:29) 
[10] Zwischenspiel 2                                    (02:30) 

     1. Teil - 3. Szene 

[11] Lear: "Blast, Winde, sprengt die Backen!"          (06:38) 
[12] Zwischenspiel 3                                    (04:46) 

     1. Teil - 4. Szene 

[13] Edgar: "Habe ich mein Leben retten können ... "    (02:57) 


CD 2                                               total: 79:08 

     1. Teil- 4. Szene       
     
[01] Kent: "Hier ist der Platz."                        (08:16)      
[02] Edgar: "Doch Ratten und Mäuse ..."                 (07:09)   

     2. Teil - 1. Szene      
     
[03] Cornwall: "Edmund, wir fingen deinen Vater ein."   (07:37)  

     2. Teil - 2. und 3. Szene  
     
[04] Goneril: "Es fließt viel Blut ..."                 (06:01)          
      
     2. Teil - 4. Szene        
     
[05] Edgar: "Welt, Welt, o Welt!«                       (03:11)   

     2. Teil - 2. Szene, Schluss     

[06] Albany: "O Goneril, wie fürchte ich ..."           (04:56)    
[07] Zwischenspiel 4                                    (01:33)         

     2. Teil - 5. Szene   

[08] Gloster: "Wann kommen wir zum  Gipfel dieser Höhe?"(05:29) 
[09] Lear: »Nein, nein, nein, nein!«                    (04:38)   
[10] Zwischenspiel 5                                    (01:45) 

2. Teil - 6. Szene

[11] Cordelia: "Mein lieber Vater!"                     (09:16)

2. Teil - 7. Szene

[12] Edmund: "Der König und Cordelia gefangen."         (05:27)   
[13] Edgar: "Edmund, Graf von Gloster ..."              (04:31)   
[14] Lear: "Weint! Weint! Weint! Weint!«                (09:13)     


Recorded live on September 28 and October 2, 12, 25, 2008, Oper Frankfurt
Executive Producer: Dieter Oehms, Bernd Loebe
Production Coordinator: Peter Tobiasch - Recording Producer: Christian Wilde 
Sound Engineer: Paul Baron, Margit Baruschka, Krishna Meindl 
Editing, mixing, mastering: Christian Wilde, Peter Tobiasch 
(P) 2008  (C) 2009 

CD 2, Track 9: 5.Szene: Lear: "Nein, nein, nein, nein"


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CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 68 MB
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Unpack x200.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue+Log Files 2 CDs [150:39] 8 parts 731 MB  

Reposted on August 12, 2018




1 Kommentar:

  1. Thanks for this wonderful opera. It would be possible that you post the Fischer-Dieskau rendition of the same work? Thanks in advance. Grreetings.

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