15. April 2013

Die »Tallis Scholars« singen Messen von Josquin des Prés

»Mit seinem beispiellosen Prestige und seiner unumstrittenen Bedeutung in den Augen seiner Zeitgenossen und der Nachwelt hat Josquin die heutigen Historiker stets an Beethoven erinnert, der 300 Jahre später ein ähnliches Ansehen genoss und der ebenfalls von einer fast legendären Aura umgeben ist.« (Richard Taruskin).

Wenn man unter den Komponisten der Renaissance einen Superstar suchte - das Identifizieren solcher Menschen an sich tut ja keinen Schaden - so wäre Josquin zweifellos der Spitzenreiter. Schon zu seinen Lebzeiten war er ein Star, der größere Reisen unternahm, besser bezahlt wurde und begehrtere Posten innehatte als alle anderen Musiker. In letzter Zeit hat er wiederum den Status eines Stars erreicht. Es ist wohl wahr, dass die Werke von Palestrina und Tallis in der Zwischenzeit öfter und regelmäßiger aufgeführt wurden während Josquin in Vergessenheit geriet, doch lag das daran, dass ihre Werke simpler gehalten sind und von praktisch allen Chören gesungen werden können. Josquin hingegen schrieb keine simple Musik. Alle seine Werke haben komplexe Strukturen, sowohl auf intellektueller als auch vokaler Ebene, und werfen Schwierigkeiten auf, die erst seit Kurzem als enorme Herausforderungen betrachtet werden. Ebenso wie bei Beethoven ist man sich heutzutage einig, dass die Beschäftigung mit Josquin einzigartig und besonders lohnenswert sein kann. Zudem ist es nun erwiesen, dass Josquin seine Botschaft am deutlichsten in seinen Messevertonungen formuliert.

Es gibt vielleicht fünfzehn Messevertonungen von Josquin, die praktisch alle für vier Stimmen angelegt sind. Schon in dieser Besetzung unterscheiden sie sich von vielen seiner anderen Werke - anderswo kostete Josquin durchaus eine größere Klangfülle aus. Praeter rerum seriem (Track 12 der ersten CD der vorliegenden Sammlung) bezeugt das. Es handelt sich hierbei um eine Motette für sechs Stimmen, deren Anfangstakte die gleiche Klangfülle haben wie der gesamte Streicherapparat eines romantischen Orchesters (diese Passage erinnert mich immer an den Totenmarsch aus Mahlers erster Symphonie). Eine solche Reichhaltigkeit ist in der Messemusik nur selten anzutreffen; hier konzentriert Josquin sich eher auf wenige Details, intensive Dialoge zwischen den Stimmen sowie das Verarbeiten winzigster Melodiefetzen - es ist in diesem Fall also eher die Intimität eines Streichquartetts anzutreffen als die Grandezza eines ganzen Streicherapparats. Für diese Zwecke waren vier Stimmen mit weitem Umfang gefragt, die sowohl in Duetten und Terzetten als auch im Quartett eingesetzt werden konnten, ohne dabei den Klang zu sehr zu verändern. Die wichtigste Voraussetzung war, dass die Stimmumfänge jeweils besonders weit sein mussten, so dass musikalische Annäherungen sozusagen auf allen Ebenen stattfinden konnten: je nach Belieben entweder im oberen oder unteren Register, im Unisono oder eine Oktave auseinander. Diese weite Spanne der Stimmen stellt für heutige Ensembles eine Herausforderung dar - an keinem Konservatorium wird den jungen Sängern die Leichtigkeit vermittelt, die Josquin über fast zwei Oktaven verlangt - doch stellt man sich dieser Herausforderung zunehmend und sowohl in Europa als auch Amerika behilft man sich mehr und mehr mit einer modernen Lösung.

Der Findungsprozess einer solchen Methode war schon relativ weit fortgeschritten als die beiden Messen, die auf der ersten CD dieser Sammlung vorliegen, 1987 den Preis »Platte des Jahres« der Zeitschrift Gramophone erhielten und oft gespielt wurden. Es war natürlich förderlich, dass diese beiden Messen zu den besten Kompositionen Josquins überhaupt zählen. Die Missa Pange Lingua war möglicherweise seine letzte Messevertonung, vielleicht sogar sein Schwanengesang, und wurde erst nach seinem Tod im Jahre 1539 herausgegeben. Das Werk weist jedenfalls einige der typischen Charakteristika auf, die mit »Spätwerken« in Verbindung gebracht werden - nicht zuletzt auch bei Beethoven - so etwa das Auflockern strenger mathematischer Regeln zugunsten von freieren Motiven und Ideen, oft im Stil einer Fantasie. Gustave Reese hat die Missa Pange Lingua als »Fantasie über einen gregorianischen Choral« bezeichnet; Josquin unterteilt die Pange lingua-Melodie in kleinere Phrasen, Motive und rhythmische Einheiten, die von den Stimmen durch eine Art polyphonen Dialog (wie oben erläutert) umgesetzt werden. In keinem anderen Werk dieses Repertoires kommt dieser unendlich geschmeidige Stil besser zum Ausdruck als hier. Nachdem fast das gesamte Stück über das Material in seine Bestandteile zerlegt und von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet worden ist, erklingt die Choralmelodie - die ursprünglich als Fronleichnamshymnus gesungen wurde - zum ersten Mal in vollständiger Form in der Sopranstimme im dritten Agnus Dei: der Höhepunkt des gesamten Werks.

Die Missa La sol fa re mi wurde 1502 herausgegeben und ist damit ein relativ frühes Werk. Hier scheint Josquin besonders fasziniert davon gewesen zu sein, das Werk in einen äußerst einschränkenden mathematischen Rahmen einzupassen, doch war eine solche Vorgehensweise für ihn zu der Zeit nicht ungewöhnlich, wie weiter unten erläutert wird. Praktisch die gesamte Messe bezieht sich auf ein Fünfton-Motiv, bestehend aus den mittelalterlichen Noten la, sol, fa, re und mi, was in der modernen Tonleiter A, G, F, D und E entspricht. Dieses Motiv ist mit verschiedenen Notenwerten und zuweilen auch auf verschiedenen Tonhöhen in der ein oder anderen Stimme zu hören, doch tritt es am häufigsten im Tenor auf. Insgesamt wird das Motiv vielleicht zweihundert Mal wiederholt, wobei die Höhepunkte jeweils im ersten und dritten Agnus Dei sind, wo die Notenwerte immer kürzer werden und die Jenseits-Stimmung, die sich allmählich aufgebaut hat, intensiviert wird.

Rogier van der Weyden: Die lesende Magdalena, vor 1438.
 62 x 54 cm, National Gallery, London
Von den beiden Motetten (die beiden restlichen Werke der ersten CD) entspricht das Ave Maria eher dem sparsamen musikalischen Stil der Messen. Die schlichte und doch enorm einflussreiche Vertonung eines zentralen Texts des katholischen Glaubens ist für vier Stimmen angelegt, doch anders als in den Messen kommt hier keinerlei argumentative Tonsprache zum Ausdruck. Stattdessen besteht das Werk hauptsächlich aus Duetten und Terzetten, die aus ausgedehnten musikalischen Phrasen und schlichten Sequenzen bestehen. Hier ist der Höhepunkt nicht eine Intensivierung des musikalischen Materials sondern eine ungewöhnlich lang ausgehaltene Schlusspassage, die aus denkbar gemächlichen Akkorden (bei den Worten »O Mater Dei, memento mei. Amen« - »O Mutter Gottes, gedenke meiner. Amen«) besteht.

Im Gegensatz dazu steht Praeter rerum seriem, eine Weihnachtsmotette für sechs Stimmen, die faszinierende Klangfarben und komplexe musikalische Details vorweist. Die Motette basiert auf einer Melodie eines erbaulichen Lieds. Die Polyphonie wird in dem Werk zumeist antiphonisch zwischen den drei oberen Stimmen dargestellt, wenn das Lied im ersten Sopran erklingt, und in den drei unteren Stimmen, wenn es in der Tenorstimme ist. Die zweite Hälfte der Motette ist weniger von der Melodie abhängig als die erste und wird mehr zu einer sechsstimmigen Struktur. Wenn im Text auf das Mysterium der Dreifaltigkeit angespielt wird, geht die Motette in einen Dreierrhythmus über.

Zwischen den beiden L‘homme armé-Messen, die die zweite CD ausfüllen, scheinen auf den ersten Blick Welten zu liegen: man könnte annehmen, dass Super voces musicales eine mittelalterliche Komposition sei und Sexti toni aus der Hochrenaissance stamme. Untersuchungen der Manuskripte haben jedoch ergeben, dass sie wohl etwa zur gleichen Zeit entstanden sind; zudem wurden die beiden Werke zusammen von Petrucci im Jahre 1502 herausgegeben (in derselben Sammlung wie die Missa La sol fa re mi). Mit seiner Paraphrase der L‘homme armé-Melodie führte Josquin eine Tradition fort, die bereits seit mehreren Jahrzehnten gepflegt wurde und noch lange weiterbestehen und schließlich 31 Vertonungen von Komponisten aus ganz Europa erreichen sollte.

Der Titel Super voces musicales weist darauf hin, dass die Melodie nacheinander auf jedem Ton des Hexachords erklingt, fast immer in der Tenorstimme. Es ist faszinierend, die so entstehenden, inhärenten Komplikationen zu beobachten. Der Zyklus beginnt im Kyrie auf C, geht im Gloria auf D über, auf E im Credo, F im Sanctus (was nochmals in beiden »Osannas« vollständig wiederholt wird), G im ersten Agnus Dei (unvollständig) und A im dritten Agnus Dei (inzwischen ist sie für die »Tenöre« zu hoch und erklingt daher in der Oberstimme). Die einzigen Teile, in denen die Melodie nicht vorkommt sind die »Pleni sunt caeli«-Passagen im Sanctus, das Benedictus und das zweite Agnus Dei, wobei die letzteren beiden Mensuralkanons für jeweils zwei, beziehungsweise drei Stimmen sind. Das zweite Agnus Dei hat insofern eine komplexe Anlage, als dass die Oberstimme den Kanon im Dreiertakt hat und gegen verschiedene Zweiertakte der beiden darunter liegenden Stimmen gesetzt ist. In den jeweils zweiten Hälften des Gloria und des Credo (die bei »Qui tollis«, beziehungsweise bei »Et incarnatus est« beginnen) erklingt die Melodie im strengen Krebsgang, wobei sie im Credo auch noch einmal in der ursprünglichen Version erscheint, angefangen bei »Confiteor« und im synkopierten Rhythmus. Es ist dieses mathematische Grundgerüst, das der Messe einen mittelalterlichen Charakter verleiht; solche Techniken waren im 16. Jahrhundert relativ selten und tauchen in Josquins Sexti toni-Messe so nicht auf.

Die Sexti toni Messe (»Messe im sechsten Modus«) heißt so, weil Josquin die Melodie so transponierte, dass der Schlusston ein F (statt des üblicheren G) ist und das Werk somit Durcharakter erhält. Diese Messe wirkt sehr viel entspannter als die anderen Messen in der Sammlung, jedoch versucht Josquin sich darin an neuen Tempi, Rhythmen und Besetzungen für die Melodie, die hier vollständig und dort mit nur ein paar Noten erklingt, die als Grundlage für ein Ostinato oder einen Kanon dienen. Doch verleiht der große Gesamtumfang der vier Stimmen dem Werk eine Klangfülle, die eher mit Palestrina und der Hochrenaissance als mit den engeren Strukturen von Dufay und Ockeghem in Verbindung gebracht wird, und der Gesamteindruck ist insgesamt großzügiger. Die einzige Ausnahme bildet das letzte Agnus Dei, in dem nicht nur zwei Stimmen hinzugefügt werden (insgesamt also sechs erklingen) sondern auch eine Kompositionstechnik verwendet wird, die sich auf die »mittelalterliche« Welt von Super voces musicales zurückbezieht. Er greift hier eine Idee aus dem Werk auf - nämlich dass die
L‘homme armé-Melodie nacheinander in ihrer eigentlichen Form und dann rückläufig erklingt - und lässt sie hier gleichzeitig in beiden »Richtungen« erklingen. Dies findet in den beiden Unterstimmen der sechsstimmigen Struktur statt, während die Oberstimmen jeweils paarweise einen Kanon im Unisono singen. Auf diese Weise entsteht eine ganz eigene Klangwelt - die seit der Erstveröffentlichung dieser Aufnahme 1989 viel diskutiert worden ist - die die Hörer nicht nur auf Josquin und das beginnende 16. Jahrhundert verweist sondern auch auf Techniken von modernen minimalistischen Komponisten wie etwa Philip Glass. Eine Definition von Superstars ist ja, dass sie nicht nur ihre Zeit in besonderer und tiefgehender Weise repräsentieren sondern dass diese besondere Tiefgründigkeit auch für alle Zeit relevant bleibt. In dem letzten Agnus Dei von Josquins Missa Sexti toni wird diese Maxime auf eindrucksvolle Art und Weise umgesetzt.

Quelle: Peter Phillips, im Booklet (Übersetzung Viola Scheffel)

Pange lingua
Pange lingua gloriosi
Corporis mysterium,
Sanguinisque pretiosi,
Quem in mundi pretium
Fructus ventris generosi
Rex effudit gentium.

Nobis datus, nobis natus
Ex intacta virgine,
Et in mundo conversatus,
Sparso verbi semine,
Sui moras incolatus
Miro clausit ordine.

In supremae nocte coenae
Recumbens cum fratribus,
Observata lege plene
Cibis in legalibus,
Cibum turbae duodenae
Se dat suis manibus.

Verbum caro, panem verum
Verbo carnem efficit:
Fitque Sanguis Christi merum,
Et si sensus deficit,
Ad firmandum cor sincerum
Sola fides sufficit.

Tantum ergo Sacramentum
Veneremur cernui:
Et antiquum documentum
Novo cedat ritui:
Praestet fides supplementum
Sensuum defectui.

Genitori, Genitoque
Laus et iubilatio,
Salus, honor, virtus quoque
Sit et benedictio:
Procedenti ab utroque
Compar sit laudatio. Amen.
Meine Zunge, verkünde das Geheimnis
des ruhmvollen Leibes
und des kostbaren Blutes,
das der König aller Völker,
die Frucht eines edlen Schoßes,
zur Erlösung der Welt verströmte.

Von einer reinen Jungfrau
uns gegeben, uns geboren,
verkehrte er in der Welt,
streute den Samen des Wortes aus
und beschloss seine Erdenzeit
auf wunderbare Weise.

Beim letzten Abendmahl
ruhte er mit seinen Brüdern,
nachdem er die Regel über die
vorgeschriebenen Speisen voll befolgt hatte,
und gab der Schar der Zwölfen sich selbst
zur Speise mit seinen eigenen Händen.

Das fleischgewordene Wort verwandelt
durch sein Wort wahres Brot in Fleisch:
und der Wein wird zum Blut Christi,
und wenn die Sinne ermatten,
genügt der Glaube allein,
um ein reines Herz zu stärken.

Deshalb wollen wir uns vor einem
solchen Sakrament ehrerbietig verneigen.
Und die alten Lehren
sollen der neuen Satzung weichen:
Der Glaube soll die Schwäche
der Sinne wettmachen.

Vater und Sohn
sei Preis und Frohlocken,
Heil. Ehre, Kraft
und Segen,
und [der Geist], der von ihnen ausgeht,
soll gleiche Lobpreisungen empfangen. Amen.

CD 2 Track 6: Josquin des Prés: Missa L'homme armé super voces musicales - V. Agnus Dei



TRACKLIST

THE TALLIS SCHOLARS SING JOSQUIN


DISC 1

 1 Plainchant: Pange lingua                  3.45 

Josquin des Prés (c.1440-1521) 

Missa Pange lingua                          29.41
 2 Kyrie                                     2.56  
 3 Gloria                                    4.23
 4 Credo                                     7.07 
 5 Sanctus + Benedictus                      8.01
 6 Agnus Dei                                 7.14 

Missa La sol fa re mi                       28.44
 7 Kyrie                                     2.32
 8 Gloria                                    4.56
 9 Credo                                     9.11
10 Sanctus + Benedictus                      6.44
11 Agnus Dei                                 5.19 

12 Praeter rerum seriem                      7.22 

13 Ave Maria (4vv)                           5.29 


DISC 2 

 1 Anonymous chanson: L'homme armé           0.47 

Josquin des Pres 

Missa L'homme armé Super voces musicales    40.24 
 2 Kyrie                                     5.00 
 3 Gloria                                    7.05 
 4 Credo                                     8.24 
 5 Sanctus + Benedictus                      9.28 
 6 Agnus Dei                                10.26 

Missa L'homme armé Sexti toni               33.05 
 7 Kyrie                                     3.37 
 8 Gloria                                    6.41 
 9 Credo                                     9.34 
10 Sanctus + Benedictus                      5.03 
11 Agnus Dei                                 8.07 


                Total Playing Time: 2 hrs 29 mins

The Tallis Scholars 
Directed by Peter Phillips 

Recording Engineers and Venues: 
Disc 1: 1-11 Mike Clements in Merton College Chapel, Oxford, 1986
Disc 1: 12   Philip Hobbs in Salle Church, Norfolk, England, 1994
Disc 1: 13   Mike Clements in Salle Church, 1986
Disc 2       Mike Clements and Mike Hatch in Salle Church, 1989
Produced By Steve C. Smith and Peter Phillips 
Cover picture: Rogier van der Weyden: The Magdalen Reading,
The National Gallery, London
DDD
(c) + (p) 2006

Praeter rerum seriem
Praeter rerum seriem
Parit Deum hominem
Virgo mater.
Nec vir tangit virginem,
Nec prolis originem
Novit pater.

Virtus Sancti Spiritus
Opus illud caelitus
Operatur.
Initus et exitus
Partus tui penitus
Quis scrutatur?

Dei providentia
Quae disponit omnia
Tam suave:
Tua puerperia
transfer in mysteria,
Mater ave.
Entgegen den Gesetzen der Dinge
gebar die Jungfrau
Gott als Menschen.
Kein Mann berührte die Jungfrau:
der Vater kannte den Ursprung
seines Sohnes nicht.

Dieses Werk wurde
durch die Macht des Heiligen Geistes
vollbracht.
Wer kann Anfang und Ende
deiner Geburt
ganz ergründen?

Gottes Vorsehung,
die alles so vollkommen
geordnet hat:
Weihe deine Kinder
in die Geheimnisse ein.
Gegrüßet seist du, Mutter.

CD 1 Track 12: Josquin des Prés: Praeter rerum seriem



La Tour und der Humanismus
Georges de la Tour: Maria Magdalena vor dem Spiegel, ca 1640,
134 x 92 cm, Metropolitan Museum of Art - Sammlung Wrightsman, New York
Zweifellos hat es Georges de La Tour gegeben. Er wurde 1593 in Lorraine geboren und ist 1682 gestorben. Wahrscheinlich hat er die meisten - oder alle - der Bilder gemalt, die wir ihm heute zuschreiben, und noch weitere, die zerstört wurden. Doch die Persönlichkeit und das Werk La Tours sind, in gewisser Hinsicht, eine moderne Schöpfung.

Als er starb, hat man sein Werk und seinen Namen fast drei Jahrhunderte lang vergessen oder ignoriert. In den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts begannen ein oder zwei französische Kunsthistoriker sich für einige Werke zu interessieren, die ihm - einem obskuren französischen Provinzmaler - damals zugeschrieben wurden. Vielleicht hing ihr Interesse mit einer gewissen formalen Ähnlichkeit zwischen La Tour und dem Werk der Nach-Impressionisten zusammen. Im Winter 1934 fand in der Orangerie in Paris eine Ausstellung mit dem Titel Maler der Wirklichkeit statt. Dort waren elf seiner Gemälde zu sehen. Ihre Wirkung war unmittelbar und nachhaltig. Nach dem Krieg fingen Kunsthistoriker und Kuratoren überall in der Welt an, nach neuen Werken und Informationen zu suchen, bis sie schließlich 1972 imstande waren, in derselben Orangerie 31 Bilder auszustellen, die man dem Meister selber zuschrieb, und 20 Kopien oder Bilder, bei denen man sich nicht sicher war.

Der Genius La Tours ist im zwanzigsten Jahrhundert wiedergeboren worden. In welcher Beziehung steht der wiedergeborene Genius zum ursprünglichen? Man kann die Frage nur mit annähernder Wahrscheinlichkeit, nicht mit Sicherheit beantworten, doch ich bin skeptisch in bezug auf das, was man allgemein annimmt. La Tour war nicht ganz so, wie wir ihn wahrhaben wollen.

Die Verzerrungen ergeben sich teilweise aus der neueren französischen Geschichte. La Tour wurde zur Zeit der Volksfront wiederentdeckt und mußte sogleich als Beispiel für die Idee einer volkstümlich-demokratischen Kulturtradition in Frankreich herhalten. Nach dem Krieg gab es eine große La-Tour-Ausstellung in New York, wo man ihn dem Ausland erfolgreich als Symbolfigur der siegreichen französischen Volksseele präsentierte. Hier ein typisches Zitat aus einem damals auf französisch erschienenen Buch:

Georges de la Tour: Der Drehleierspieler, ca 1635,
162 x 105 cm, Musée des Beaux-Arts, Nantes
»Aus den vergangenen Jahrhunderten ließen sich zahlreiche illustre Namen zitieren. Drei werden genügen. Poussin, Watteau, Delacroix ... aber neben diesen großen Künstlern, für die die Malerei eine magische Wiedergabe ihrer tiefsten Gedanken und ihrer schönsten Träume ist, gibt es noch einen anderen Typus des Künstlers, offensichtlich weniger erhaben, der aber Frankreich nicht weniger Ehre macht. Tatsächlich zählt es zu Frankreichs größten Leistungen, gerade solche Künstler hervorgebracht zu haben, die man sonst nirgendwo findet. Diese Künstler sind zutiefst bescheiden. Sie entscheiden sich dafür, dicht bei der Natur zu bleiben; sie entscheiden sich für Sujets, die sonst verachtet, verspottet oder nur rhetorisch behandelt werden, und sagen damit etwas sehr Einfaches, dessen Originalität zunächst kaum auffällt. Doch diejenigen, die Augen haben zu sehen und Herzen zu fühlen, werden schließlich das Edle ihrer Bemühungen erkennen: sie suchen vorurteilslos und kompromißlos nach der Wahrheit, angetrieben von einem Gefühl der Sympathie, das alle Menschen vereint.«

Dabei ist es geblieben. Das Titelblatt der Ausstellung von 1972 zeigt eine brennende Kerze vor einem Spiegel. Sie strahlt Heiligkeit aus. Reproduktionen und Weihnachtskarten nach Werken La Tours überzeugen das Publikum einer Konsumgesellschaft, daß es in Wirklichkeit nach Einfachheit und humanistischer Ehrfurcht strebt.

Doch inwiefern stimmt dies mit La Tours Leben oder mit seinem Werk wirklich überein? Die Fakten sind dürftig aber bedenkenswert. La Tour war der Sohn eines Bäckers aus einer Bauernfamilie. Er war in der Lage - vielleicht aufgrund seiner offensichtlich vielversprechenden Aussichten als Maler - die Tochter eines kleinen lokalen Aristokraten zu heiraten. Er zog in ihre Stadt, Lunéville, um dort zu leben und zu arbeiten, war als Maler äußerst erfolgreich, verdiente sehr viel Geld und wurde einer der reichsten Grundbesitzer im Ort. Als der Dreißigjährige Krieg die ländlichen Gebiete verwüstete, war er anfangs dem Herzog von Lorraine verpflichtet, und später, nach dem französischen Sieg über den Herzog, dem König von Frankreich. In den Urkunden der Stadt findet sich ein deutlicher Hinweis darauf, daß er während der durch den Krieg verursachten Hungersnot Getreide verschoben hat. 1646 wandte sich die Bevölkerung in einer Bittschrift an ihren im Exil lebenden Herzog, in der sie sich über die Arroganz, den Reichtum und die ungerechten Privilegien des Malers La Tour beklagte. Unterdessen war die gleiche Bevölkerung gezwungen, für jedes einzelne seiner größeren Gemälde, die dem französischen Gouverneur von Nancy als Geschenk überreicht wurden, zu bezahlen. Eine Urkunde belegt, daß La Tour 1648 einem Mann, den er in nicht weiter bekannten Umständen zusammengeschlagen hatte, zehn Francs Schadenersatz zahlen mußte. Zwei Jahre später wurde er, einem anderen Aktenstück zufolge, dazu verurteilt, 7,20 Francs für die ärztliche Behandlung eines Bauern zu zahlen, den er tätlich angegriffen hatte, als dieser sich unbefugt auf seinem Grundbesitz aufhielt.

Georges de la Tour: Büßender Hl. Hieronymus, mit
Kardinalshut, 153 x 106 cm, Nationalmuseum Stockholm
Die äußeren Umrisse seines Lebens scheinen darauf hinzuweisen, daß La Tour ehrgeizig, rücksichtslos, gewalttätig, ziemlich skrupellos und erfolgreich gewesen ist. Man muß sich allerdings vor unhistorischen moralischen Urteilen hüten. Ein Gutteil der landbesitzenden Klasse in diesem Teil Frankreichs hat in ähnlicher Weise vom Dreißigjährigen Krieg profitiert. Außerdem ist ein großer Maler nicht dazu verpflichtet, ein beispielhaft moralisches Leben zu führen. Dennoch besteht ein gewisser Widerspruch zwischen La Tour, dem verhaßten reichsten Einwohner von Lunéville, und La Tour, dem Maler der einfachen Bauern, der Bettler, von asketischen Heiligen und Magdalenen, die der Welt entsagen.

Seit seiner Wiedergeburt ist La Tour stets als »Caravaggiste« bezeichnet worden. Und tatsächlich deuten seine »populären« Sujets und die Art, wie er mit dem Licht umgeht, auf den direkten Einfluß Caravaggios hin. Was ihre Geisteshaltung angeht, so könnte das Werk der beiden Maler jedoch kaum gegensätzlicher sein.

Trotzdem kann das Beispiel Caravaggios den oben erwähnten Widerspruch etwas deutlicher werden lassen. Nehmen wir Caravaggios Tod der Jungfrau. Caravaggio war in unzählige Streitereien und Schlägereien verwickelt. Er hat sogar einen Mann getötet. Er lebte in der Unterwelt von Rom, und er malte diejenigen, mit denen er zusammenlebte. Er bildete an ihnen seine eigenen Gefühle ab, in ihrem Zustand sah er seine Exzesse. Das heißt: er befindet sich in der Situation, die er malt. Ihm fehlt jedes Gefühl der Selbsterhaltung, und darin stimmte er so sehr mit den Personen und Situationen, die er malte, überein, daß er den Bildern sein eigenes Leben verlieh. Hier kann man nicht mehr von konventioneller Moral sprechen. Wir gehen entweder am Tod der Jungfrau vorbei, oder wir betrauern sie. Das zeigt, wie wenig widersprüchlich Caravaggio in dieser Hinsicht ist. La Tour dagegen befindet sich nie in der Situation, die er malt. Er hat sich von ihr distanziert. Die Distanz dient ihm als Selbstschutz. Und im Rahmen dieses Abstands sind moralische Fragen legitim.

Georges de la Tour: Das gute Schicksal, ca. 1635,
102 x 123 cm, Metropolitan Museum of Art, New York
Auf La Tours frühen Gemälden sieht man arme Bauern (manchmal als Heilige dargestellt), Straßenmusikanten, Bettler, Falschspieler und Wahrsagerinnen. Besonders frappierend ist das Bild eines sitzenden alten halb blinden Mannes mit offenem Mund, dessen arthritische Hände auf einem Leierkasten auf seinen Knien liegen, aus drei Gründen: Weil die Konfrontation mit dem Elend, das sich hier mitteilt, schmerzt; wegen der formalen Farbharmonie des Gemäldes; und weil das Fleisch des Mannes so gemalt ist, als ob es von derselben Substanz wäre wie das Leder seiner Schuhe, die Steine zu seinen Füßen oder der Stoff seines Gewandes. In zwei Bildern vom Hl. Hieronymus ist diese »Negierung« des Fleisches noch expliziter; der nackte Heilige kniet am Boden, seine Haut gleicht dem Papier der vor ihm aufgeschlagenen Bibel, in der Hand hält er eine blutbefleckte Geißelschnur, mit der er sich gezüchtigt hat. Ist die Losgelöstheit solcher Bilder heilig oder einfach nur gefühllos? Sind sie das Ergebnis einer Konfrontation mit der Verzweiflung und dem Leiden, das überall in der Lorraine zu sehen war, oder dienten sie dazu, den Anblick solcher Leiden erträglicher zu machen? Den Anblick, nicht die Erfahrung, denn wie ich betont habe, stellen diese Bilder ausschließlich eine Sicht von außen dar; sie gleichen Stillleben.

Vielleicht können die anderen frühen Bilder von Kartenspielern und Schwindlern eine Antwort auf diese Frage geben. Wieder ist die Malerei sauber und harmonisch. Wieder ist das Fleisch so gemalt, als sei es ein unbelebter Stoff - wie Wachs oder Holz oder Teig - mit Fruchtstücken als Augen. Aber hier wird nicht gelitten. Es werden einfach zwei Spiele gespielt. Das Kartenspiel (oder das Spiel des Handlesens), und, darin versteckt, ein Spiel des Betrügens oder Beraubens eines reichen jungen Mannes, der als solcher genau den Spielregeln entspricht, der sozusagen »zum Abschuß freigegeben« ist. Diese Bilder decken keine psychologische Einsicht auf. In diesen Gemälden geht es um Schematik im wahrsten Sinne des Wortes. (»Scheme« = deutsch »Schema« bedeutet im Englischen nicht nur Entwurf, Plan, sondern auch: abgekartetes Spiel, Intrige, Projekt, Vision, Utopie.) Da ist das formale Schema des Gemäldes. Das Schema des Spiels - seine Regeln, seine symbolische Spraehe; und schließlich das Schema des Neppens eines reichen jungen Mannes; seine Planung, seine Zeichensprache aus Gesten und Worten, seine Unentrinnbarkeit.

La Tour hat, glaube ich, das Leben insgesamt als eine Art Schema betrachtet, das außerhalb jeder irdischen Kontrollmöglichkeit lag, ein Schema, das sich in Prophezeiungen und heiligen Schriften enthüllte. So wird die Existenz von Bettlern nur noch ein Zeichen, der Hl. Hieronymus nur noch eine moralische Ermahnung; Menschen werden in Chiffren verwandelt. Doch der absolute Glauben des Mittelalters ist verlorengegangen. Die Individualität des Denkers und Künstlers kann nicht abgetan oder wieder zunichte gemacht werden. Daraus folgt, daß sich der Maler nicht einfach einer gottgegebenen Ikonographie unterordnen kann. Er muß erfinden. Doch wenn er sich einem solchen Weltbild unterordnet (das heißt, die Welt als Schema betrachtet, das man nicht in Frage stellen kann), bleibt ihm nur die Möglichkeit, bescheiden und fromm, innerhalb der begrenzten Domäne seiner Kunst erfindend, Gott zu imitieren. Er akzeptiert die Welt als Schema und macht aus ihr seine eigenen harmonischen visuellen Schemata. Nur als Hersteller von Bildern ist er der Welt gegenüber nicht hilflos. Die abstrakte Formalität von La Tour tröstete ihn über eine moralische Niederlage hinweg.

Georges de la Tour: Der Hl. Josef als Zimmermann,
ca. 1640, 81 x 120 cm, Musée des Beaux-Arts et
 d'Archéologie, Besançon, France
La Tours spätere Arbeiten scheinen diese Interpretation zu bestätigen. 1636 legte der französische Gouverneur Feuer an die Stadt, weil er sie nicht in die Hände der herzoglichen Truppen fallen lassen wollte. Die Stadt brannte die ganze Nacht hindurch. Ein Augenzeuge bestätigt, daß die Flammen so hell waren, daß man in den Straßen lesen konnte. Einen Monat später nahmen die französischen Truppen die Stadt ein und plünderten sie. Diese Ereignisse bedeuteten einen Wendepunkt in La Tours Leben. Viele seiner Bilder müssen zerstört worden sein, ebenso ein Teil seines Besitztums. Als er sich wieder in der Stadt eingerichtet hatte, begann er, seine Nachtstücke zu malen, seine Kerzenlicht-Bilder, mit denen er - damals wie heute - am meisten bekannt wurde.

Die meisten dieser Nachtszenen lassen auf eine anders gelagerte - aber nicht andersartige - religiöse Grundhaltung schließen. Das Kerzenlicht entkörperlicht und entrationalisiert. Und die Grenzen zwischen Sein und Nicht-Sein, Erscheinung und Illusion, Bewußtsein und Traum verfließen. Kommt mehr als eine Gestalt vor, kann man nur schwer entscheiden, ob beide Wirklichkeit sind, oder ob die eine nur eine traumhafte Projektion der anderen ist. Eine erleuchtete Form läßt sich stets auch als bloße Erscheinung deuten. Habe ich sie gesehen? Oder habe ich sie geträumt? Wenn ich meine Augen schließe, ist es wieder dunkel. La Tour versucht, seine Zweifel durch eine Beschwörung zu zerstreuen. (Könnte das Bild des weinenden St. Peter nicht vielleicht ein Selbstbildnis sein?) Die Bilder sind wie Monologe oder Gebete. Sie führen keinen direkten Diskurs mit der Welt. Und damit wird das Problem der gemalten Person, die als bloße Chiffre im Schema Gottes oder des Malers zu betrachten ist, eliminiert - denn wir werden nicht länger der Welt gegenübergestellt, sondern der seelischen Nacht des Künstlers.

In dieser Begrenzung sind drei der Nachtbilder Meisterwerke. Die Magdalena mit einem Spiegel. Bis auf das, was das Schema des Gemäldes und das Schema der Aussage (Heilige Schrift) unbedingt verlangen, ist alles weggelassen worden. Wir sehen ihren Kopf im Profil. Ihre Hand berührt einen Schädel auf einem Tisch, vor dem sie sitzt. Sowohl Hand wie Schädel heben sich als dunkle Silhouetten gegen das Licht ab. Ihr ausgestreckter Arm ist angeleuchtet und lebendig. So ist sie wie zweigeteilt. Sie blickt in einen Spiegel. Im Spiegel sehen wir den Schädel. Ein mathematisches, traumhaftes Gleichgewicht.
Georges de la Tour: Frau mit dem Floh, ca. 1640,
 120 x 90 cm, Musée Historique Lorrain, Nancy
Das zweite Meisterwerk zeigt den Hl. Joseph als Zimmermann. Er beugt sich bei der Arbeit vor. Das Kerzenlicht überglänzt sein Fleisch, das so undurchsichtig ist wie Holz. Das Jesuskind hält die Kerze hoch. Seine kindliche Hand, die die Kerze schützt, erscheint im Licht transparent, sein angestrahltes Gesicht ist wie ein Fenster, das man in der Nacht von außen sieht. Wieder sind das formale Gemälde und seine Aussage (der Kontrast zwischen Kindheit und Alter, zwischen dem Undurchsichtigen und dem Transparenten, zwischen Erfahrung und Unschuld) ganz aus einem Guß und vollendet ausgewogen.

Das dritte Meisterwerk ist eines, das ich nicht erklären kann. Es ist die sogenannte Frau mit einem Floh. Sie sitzt halbnackt im Kerzenlicht. Ihre Hände sind unterhalb ihrer Brüste zusammengepreßt. Einige sagen, sie zerdrücke einen Floh zwischen ihren Daumennägeln. Mir scheint ihre Haltung eine Geste der Überzeugung zu sein. Dieses Gemälde ist von seiner Geisteshaltung her anders als alle anderen heute bekannten Gemälde von La Tour. Die Frau, die dort sitzt, ist weder Symbol noch Chiffre. Das Kerzenlicht ist mild; es gibt keine Erscheinungen. Sie ist da. Die Stimmung ihres Körpers erfüllt den Raum. Vielleicht war La Tour in sie verliebt.

Diese drei Meisterwerke schätzen heißt jedoch nicht, »einem Gefühl der Sympathie, das alle Menschen vereint« zu begegnen. Die formale ästhetische Perfektion, um die sich La Tour bemühte, war seine spezielle Lösung für ein religiöses und soziales Problem, das sich exakt mit der Bedeutung der anderen Menschen befaßte: Ein Problem, das ihm innerhalb des eigentlich vorgegebenen Bezugssystems unlösbar erschien.

Quelle: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin, 1989, ISBN 3 8031 1114 5, zitiert wurde Seite 55-62

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Reposted on March 15, 2015


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