23. Juli 2013

Dmitri Schostakowitsch: 24 Präludien und Fugen, Op. 87

In den 25 Jahren seit seinem Tod hat der Ruf Dmitri Schostakowitschs als musikalischer Chronist der sowjetischen Ära derartige Kontroversen ausgelöst, dass fast jedes Werk auf seine tiefere oder versteckte Bedeutung untersucht worden ist. Wenn die 24 Präludien und Fugen in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellen, so ist dies jedoch kein Zufall: sie entstanden zu einem Zeitpunkt, als abstrakte Komposition in der Sowjetunion nicht nur unerwünscht, sondern auch gefährlich war.

Der berüchtigte Schdanow-Erlass von 1948 sorgte dafür, dass Schostakowitschs Instrumental- und Vokalkompositionen unaufführbar wurden. Die in den vier darauf folgenden Jahren geschriebenen Werke, darunter so bedeutende wie das 1. Violinkonzert, das 4. und 5. Streichquartett sowie der Liedzyklus Aus der Hebräischen Volkspoesie, entstanden mehr oder weniger für die Schublade. Filmmusik war zu dieser Zeit Schostakowitschs einzige zuverlässige Einnahmequelle.

Ironischerweise fiel das effektive Verbot seiner Musik in eine Zeit ausgedehnter Reisetätigkeit, u.a. im Juli 1950 nach Leipzig anlässlich der Feierlichkeiten zur 200. Wiederkehr von Johann Sebastian Bachs Todesjahr. Als Schostakowitsch dort kurzfristig einen Solopart in Bachs Konzert d-moll für drei Klaviere übernahm, beeindruckte die junge Pianistin Tatjana Nikolajewa ihn derart, dass sie der eigentliche Auslöser für seinen Zyklus der 24 Präludien und Fugen Op. 87 wurde, die zwischen dem 10. Oktober 1950 und dem 25. Februar 1951 entstanden.

Bereits 17 Jahre zuvor hatte Schostakowitsch sein Interesse an abstrakter Komposition signalisiert, und zwar mit den 24 Präludien, kurzen aber abwechslungsreichen Stücken, die sich fast wie von selbst zu einem Zyklus reihen. Die 24 Präludien und Fugen sind dagegen vielmehr das Ergebnis eines vorgezeichneten Plans: interessanterweise nicht wie bei Bachs Wohltemperiertem Klavier in der Folge von Halbtonschritten, sondern in Quintenzirkelfolge wie bei Chopins 24 Préludes. Ob sich aus dieser Wahl ein musikalischer Stammbaum ableiten lässt, bleibe dahingestellt; vielmehr gab der Zyklus dem Komponisten unschätzbare Möglichkeiten, seine Kreativität ungeachtet sozialer oder politischer Strömungen unter Beweis zu stellen.

Schostakowitsch ging selbst so weit, den Zyklus beim Komponistenverband einzureichen und ihn im Mai 1951 einem Gremium vorzuspielen. Dennoch wurde das Werk nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen. Doch immerhin durfte er während der folgenden 18 Monate Teile daraus öffentlich aufführen, wenn auch meist nur für ein »geladenes« Publikum aus Parteifunktionären und Mitgliedern der Streitkräfte. Im Sommer 1952 setzte sich Tatjana Nikolajewa mit Erfolg für eine öffentliche »Absegnung« und Veröffentlichung ein. Am 23. und 28. Dezember gab sie die Uraufführung des vollständigen Zyklus. Trotz ihrer Überzeugung, dass das Werk nur in seiner Gesamtheit beurteilt werden könne, wurden während der folgenden drei Jahrzehnte Teilaufführungen zur Norm. Swjatoslaw Richters Aufnahme ausgewählter Stücke von 1963 wurde davon am berühmtesten. Der Komponist selbst nahm nur 16 Stücke des Zyklus auf. Seit Mitte der achtziger Jahre jedoch spielen viele Pianisten - nach Nikolajewas Beispiel - wieder den vollständigen Zyklus, gewöhnlich an zwei Abenden, wo sich die Dimensionen des Werks am eindrucksvollsten offenbaren.

Tatjana Nikolajewa, 1955
Die 24 Präludien und Fugen sind paarweise nach Tonartenfolge angeordnet.

Nr. 1, C-Dur: Das Präludium ist ein nachdenklicher Choral im Sarabandenrhythmus, gefolgt von einer Fuge, die mit Bachscher Gewissheit innerhalb der Tonart verharrt.

Nr. 2, A-Moll: Das in raschen Sechzehnteln dahineilende Präludium geht einer leicht ironisierenden, frei modulierenden Fuge voraus.

Nr. 3, G-Dur: Ein ernstes Präludium, mit einem sanglichen Thema in Oktaven, bildet den Kontrast zum spielerischen Humor der Fuge.

Nr. 4, E-Moll: Das zarte Präludium verströmt eine an Tschaikowsky erinnernde Melancholie, während die Fuge auf einen kraftvollen Höhepunkt zusteuert.

Nr. 5, D-Dur: Leichte, arpeggierte Akkorde verleihen dem Präludium einen besonderen Reiz. Tonrepetitionen charakterisieren die Fuge.

Nr. 6, H-Moll: Die kernige Rhetorik des Präludiums wirkt gleich einer Folie für die besonnene Ruhe der Fuge.

Nr. 7, A-Dur: Ein elegant-klassisches Präludium geht einer zweistimmigen Fuge im Diskantregister des Klaviers voraus.

Nr. 8, Fis-Moll; Die gegenrhythmischen Figuren des Präludiums bilden den Kontrast zur seriösen Kontrapunktik der Fuge.

Nr. 9, E-Dur: Das neckische Frage-und Antwort-Spiel zwischen Bass und Diskant geht einer lebendigen, nahezu klassischen Fuge voraus.

Nr. 10, Cis-Moll: Das Präludium stellt wiederum einen Dialog zwischen linker und rechter Hand dar, diesmal in klassischer Eleganz. Die Fuge wirkt nachdenklich und zurückhaltend.

Nr. 11, H-dur: Ein herrlich spielerisches Präludium leitet fast ohne Pause in eine vorwärtstreibende Fuge über.

Nr. 12, Gis-Moll: Der ernste Gestus der Passacaglia des Präludiums geht einer eindrucksvollen Fuge voller emotionaler Tiefe und geballter Energie voraus. Hier ist deutlich erkennbar, dass der Mittelpunkt des Zyklus erreicht ist.

CD 1 Track 23: Präludium Nr. 12 in Gis-Moll


CD 1 Track 24: Fuge Nr. 12 in Gis-Moll


Nr. 13, Fis-Dur: Ein sanft wogendes Präludium geht einer gemessenen, nachdenklichen Fuge - der einzigen fünfstimmigen des Zyklus - voraus.

Nr. 14, Es-Moll: Die aufgeladene Atmosphäre und Sprunghaftigkeit des Präludiums sowie die zurückhaltende Reflektivität der Fuge haben die Wirkung einer dramatischen scena mit Postludium.

Nr. 15, Des-Dur: Die spöttische Ironie dcs Präludiums ist die ideale Einleitung zum frenetischen Ablauf der Fuge, wobei die instabile Tonalität optimal ausgenutzt wird.

Nr. 16, B-moll: Ein völliger Kontrast: das Präludium präsentiert sich als ein ruhiger, tonal statischer Variationensatz: die Fuge hingegen ist von ornamenthafter Textur und rhythmischer Souplesse.

Nr. 17, As-dur: Das erfrischende Präludium leitet ganz natürlich in eine keck-imaginative Fuge über.

Nr. 18, F-Moll: Ein scheu anmutendes Präludium geht einer gleichsam schweigsamen Fuge voraus.

Nr. 19, Es-Dur: Das Präludium, eines der kürzesten des Zyklus, lebt vom Kontrast zwischen Choral und Capriccio, während die Chromatik der Fuge eine absichtsvol1e Ruhe verströmt.

Nr. 20, C-Moll: Ein bizarres, an Mussorgsky gemahnendes Präludium, reich an modaler Akkordik, bildet die thematische Grundlage für die sich harmonisch und emotional langsam öffnende Fuge.

Nr. 21, B-Dur: Das Präludium ist ein rhythmisches moto perpetuo, während die Fuge mit synkopierten Tanzrhythmen aufwartet.

Nr. 22, G-Moll: Das Präludium kombiniert kreisende melodische Muster mit einer schreitenden Begleitung: Volksmusikelemente bestimmen die thematische Substanz der Fuge.

Nr. 23, F-Dur: Dem Präludium eignet eine an Bach erinnernde ruhige Ausgewogenheit, während die gedankentiefe Fuge einen bejahenden Schlusspunkt setzt.

Nr. 24, D-Moll: Hier wird die Summe des Zyklus gezogen: das Präludium, abwechselnd ernst und intim, bereitet die Fuge vor, die vom Temperament her so vielgestaltig ist wie der Form nach. Der triumphale Höhepunkt ist umso überzeugender, als er mit Mühe errungen wird.

CD 2 Track 23: Präludium Nr. 24 in D-Moll


CD 2 Track 24: Fuge Nr. 24 in D-Moll


Quelle : Richard Whitehouse (Deutsche Fassung: Bernd Delfs), im Booklet

TRACKLIST

Dmitri Schostakowitsch
(Dmitry Shostakovich)

24 Preludes and Fugues, Op. 87 

Konstantin Scherbakov, piano

CD 1                                            64:01

01. Prelude No. 1 in C major: Moderato
02. Fugue No. 1 in C major: Moderato
03. Prelude No. 2 in A minor: Allegro 
04. Fugue No. 2 in A minor: Allegretto
05. Prelude No. 3 in G major: Moderato non troppo
06. Fugue No. 3 in G major: Allegro molto      
07. Prelude No. 4 in E minor: Andante      
08. Fugue No. 4 in E minor: Adagio  
09. Prelude No. 5 in D major: Allegretto
10. Fugue No. 5 in D major: Allegretto
11. Prelude No. 6 in B minor: Allegretto
12. Fugue No. 6 in B minor: Moderato
13. Prelude No. 7 in A major: Allegro poco moderato
14. Fugue No. 7 in A major: Allegretto
15. Prelude No. 8 in F sharp minor: Allegretto
16. Fugue No. 8 in F sharp minor: Andante
17. Prelude No. 9 in E major: Moderato non troppo
18. Fugue No. 9 in E major: Allegro 
19. Prelude No. 10 in C sharp minor: Allegro
20. Fugue No. 10 in C sharp minor: Moderato
21. Prelude No. 11 in B major: Allegro 
22. Fugue No. 11 in B major: Allegro 
23. Prelude No. 12 in G sharp minor: Andante24. Fugue No. 12 in G sharp minor: Allegro

CD 2                                            77:49

01. Prelude No. 13 in F sharp major: Moderato con moto
02. Fugue No. 13 in F sharp major: Adagio
03. Prelude No. 14 in E flat minor: Adagio
04. Fugue No. 14 in E flat minor: Allegro non troppo
05. Prelude No. 15 in D flat major: Moderato non troppo
06. Fugue No. 15 in D flat major: Allegretto
07. Prelude No. 16 in B flat minor: Allegro molto
08. Fugue No. 16 in B flat minor: Andante
09. Prelude No. 17 in A flat major: Allegretto
10. Fugue No. 17 in A flat major: Allegretto
11. Prelude No. 18 in F minor: Moderato
12. Fugue No. 18 in F minor: Moderato con moto
13. Prelude No. 19 in E flat major: Allegretto
14. Fugue No. 19 in E flat major: Moderato con moto
15. Prelude No. 20 in C minor: Adagio
16. Fugue No. 20 in C minor: Moderato
17. Prelude No. 21 in B flat major: Allegro
18. Fugue No. 21 in B flat major: Allegro non troppo
19. Prelude No. 22 in G minor: Moderato non troppo
20. Fugue No. 22 in G minor: Moderato
21. Prelude No. 23 in F major: Adagio
22. Fugue No. 23 in F major: Moderato con moto
23. Prelude No. 24 in D minor: Andante24. Fugue No. 24 in D minor: Moderato

Playing Time:                                  141:50

This recording is dedicated to Nina, whose love, patience and everyday support
made possible this, and other works of mine. - Konstantin Scherbakov 

Recorded in St.Martin's Church, East Woodhay, Berkshire, UK
from 15th to 18th June, 1999
Producer: Andrew Walton - Engineer: Eleanor Thomason
Post-production: Arthur Ka Wai Jenkins, Andrew Walton
Cover Painting: Tim Smith: Once Upon a Red Sky
DDD (P) + (C) 2000 

Gustave Flaubert: Das Wörterbuch der Gemeinplätze

Ideal. Völlig unnütz. Ideologen. Alle Journalisten.

Ilias. Immer gefolgt von »und Odyssee«.

Illusionen. Man gebärde sich, als habe man viele gehabt; man bedauere, sie verloren zu haben.

Imbroglio. Die Grundlage aller Theaterstücke.

Imperialisten. Durch die Bank ehrliche, friedliche, höfliche, vornehme Leute.

Impfen. Man verkehre nur mit geimpften Personen. Import. Volkswirtschaftsschädling.

Impresario. Künstlerwort, das »Direktor« bedeutet. Immer »wendig«.

Industrie. Als Laufbahn nobler denn Handel (vgl. Handel).

Industrie, Handel. Gute Laufbahn. Bietet alle Möglichkeiten. - Z. B. Aristoteles: Er war Parfümhändler in Athen.

Infinitesimal. Man weiß nicht, was das ist; es hat aber irgendwas mit Homöopathie zu tun.

Ingenieur. Der schönste Titel, das muß der Neid lassen; aber es genügt ja auch schon, Brillen zu verkaufen, um sich »staatlich geprüfter Optiker« zu nennen. - Die beste Laufbahn für einen jungen Mann - was man von allen Berufen sagen kann. Kennt alle Wissenschaften. - »Dem Ingenieur ist nichts zu schwör.«

Inkognito. Reisekleidung von Fürsten.

Inquisition. Man hat ihre Verbrechen stark übertrieben.

Inspiration. Was sie hervorruft: die Natur, die Frauen, der Wein etc.

Instinkt. Wiegt Intelligenz auf.

Institut (de France). Die Mitglieder des Institut de France sind alle Greise und tragen Augenschirme aus grünem Taft. - Man witzele darüber.

Integrität. Ist vor allem den Richtern eigen.

Intrige. Einzige Möglichkeit hochzukommen. Alles weitere ergibt sich daraus.

Italien. Ziel aller Hochzeitsreisen. - Italiam! Italiam! Ziemlich enttäuschend: nicht so schön, wie man immer sagt. - In Anwesenheit von Damen sage man nie: »Sie zogen gen Italien.«

Italiener. Alles Musikanten, alles Verräter.

Ius primae noctis. Nicht daran glauben.

Jäger. Alle Jäger sind Aufschneider. - Wenn man sie »Nimrod« nennt, sind sie immer geschmeichelt, ohne zu wissen, warum; desgleichen »großer Jäger vor dem Herrn«. - Das ganze Brimborium. »Morgenstund ... « - Das Schuhwerk ist besonders schwer und unbequem, da man ja viel gehen muß. - Gebärdet sich bäuerisch.

Jagd. Edles Waidwerk. Ausgezeichnet für die Gesundheit. - Man muß immer so tun, als sei man davon begeistert. - Ist Teil der Prachtentfaltung der Souveräne. - Hält die Gerichte in Atem.

Jagdhorn. Wirkt gut in den Wäldern (und abends auf dem Wasser). - »Trara, es tönt wie Jagdgesang.«

Jansenismus. Man weiß nicht, was das ist, aber es ist sehr chic, davon zu sprechen.

Japan. Dort ist alles aus Porzellan.

Jaspis. Alle Vasen aller Museen sind aus Jaspis.

Jesuiten. Söhne von Loyola. Haben bei allen Revolutionen die Hände im Spiel. Man ahnt ja nicht, wie viele es von ihnen gibt. - Kein Wort über die »Jesuitenschlacht«.

Jockey. Man bedaure die Gattung der Jockeys. Jockey-Club. Die Mitglieder sind alles leichtlebige, reiche junge Leute. Einfach »der Jockey« sagen, sehr chic, läßt denken, man gehöre dazu.

John Bull. Fällt einem der Name eines Engländers nicht ein, nenne man ihn so.

Jude. Sohn Israels. - Alle Juden handeln mit Opernguckern. - Dienten den Römern zur Zerstreuung.

Jugend. Schön ist die. - Kehrt nie zurück. - Schnell fertig mit dem Wort.

Junger Mann. Muß sich immer die Hörner abstoßen. Man wundere sich, wenn er es nicht tut. »Was! Sie als junger Mann ... « - Zu seinen Pflichten gehört: singen, tanzen, Schulden haben, allerdings nicht zu große.

Jungfrau. Immer »von Orleans«.

Junggesellen. Alles Egoisten und Wüstlinge, gehen mit ihren Dienstmädchen ins Bett. Man wettere dagegen. - Müßten eine Extrasteuer zahlen. - »Was für ein trauriges Leben die mal haben werden!«

Junggesellenbude. Immer schmutzig, verstaubt, unordentlich. Obszöne Bilder an den Wänden. Überall liegt Frauenkram herum. Abgestandener Zigarettenrauch. Und das Bett immer ungemacht. - Da käme allerhand zum Vorschein.

Kälte. Gesünder als Hitze.

Käse. Man zitiere den Aphorismus von Brillat-Savarin: »Ein Essen ohne Käse ist wie eine schöne Frau, der ein Auge fehlt.«

Kaffee. Nur gut, wenn er aus Le Havre kommt. - Verleiht Esprit. - Bei einem großen Diner im Stehen zu trinken. - Man trinke ihn ohne Zucker; sehr chic, erweckt den Eindruck, man habe im Orient gelebt.

Kahlköpfigkeit. Immer zu früh, verursacht durch jugendliche Ausschweifungen oder durch das Wälzen großer Gedanken.

Kaiserinnen. Alle schön.

Kaleidoskop. Man verwende das Wort nur im Zusammenhang mit Gemäldegalerien.

Kamel. Hat zwei Höcker und das Dromedar nur einen, oder: Das Kamel hat einen Höcker und das Dromedar zwei. Man vertut sich da leicht. - »Ausdauernd wie ein Kamel.«

Kamin. Qualmt immer. - Diskussionsgegenstand im Zusammenhang mit dem Heizen.

Kamm. Verursacht Haarausfall.

Kammerzofen. Oft hübscher als ihre Herrinnen. Kennen deren Geheimnisse und verraten sie. - Immer vom Sohn des Hauses entehrt.

Kaninchenfrikassee. Immer aus Katzenfleisch. Kanonade. Verändert das Wetter.- Man lege das Ohr auf die Erde, um eine weit entfernte zu hören.

Kanonenkugel. Der Luftzug einer vorbeifliegenden Kanonenkugel verschlägt einem den Atem. Macht blind.

Kartäuser. Verbringen ihre Zeit damit, Chartreuse herzustellen, ihr Grab zu schaufeln und zu sagen: »Bruder, es muß gestorben sein.«

Kastanie. Mutter der Kastagnette.

Kastell. Ist immer unter Philippe-Auguste belagert worden.

Katholizismus. Hat auf die Künste einen sehr günstigen Einfluß gehabt. - Man beweise das Gegenteil.

Katzen. Sind falsch. - Sie »Salontiger« nennen (chic). - Ihnen den Schwanz abschneiden, um die Drehkrankheit zu vermeiden. - Daher das Wort »katztrieren«.

Kauderwelsch. Sprechweise der Ausländer. - Man lache immer über den Ausländer, der schlecht Französisch spricht. - Mit Ausländern spreche man immer Kauderwelsch, egal aus welchem Land sie kommen; etwas anderes verstehen sie nicht. - Wird auch für Telegramme verwendet.

Kavallerie. Nobler als die Infanterie.

Keim. Keimende Ideen. - Schlummernde Keime wecken. - Aufkeimende Leidenschaft.

Kerker. Das Stroh darin ist immer feucht. - Immer »schaurig«. Ein heimeliger ist einem noch nie untergekommen.

Kiesel. Vom Strand immer welche mitbringen.

Kinder. Man schütze geradezu lyrische Zärtlichkeit für sie vor - wenn jemand dabei ist.

Kindsmord. Wird nur im einfachen Volk begangen.

Kiosk. Pavillon der Lustbarkeiten in einem Park.

Klarinette. Man wird arm und blind, wenn man sie spielt. Beweis: Alle blinden Bettler spielen Klarinette.

Klassiker. Sollte man kennen.

Klavier. Unerläßlich in einem Salon.

Knoblauch. Tötet Bauchwürmer ab und schafft Stimmung für Liebesgefechte. - Als Heinrich IV. zur Welt kam, rieb man ihm damit die Lippen ein.

Knoten, gordischer. Antike Form, die Krawatte zu binden.

Knüppel. Furchtbarer als das Schwert.

Knute. Wort, das die Russen ärgert.

Körper. Wenn wir wüßten, wie unser Körper gebaut ist, würden wir keine Bewegung wagen.

Körpersäfte. Sich freuen, wenn sie austreten, und sich wundern, daß der Körper derartige Mengen davon enthält.

Kollegium, Lyzeum. Feiner als »Internat«.

Kolonien (unsere). Betrübt dreinblicken, wenn davon die Rede ist.

Kometen. Man lache über die Leute, die sich davor fürchteten.

Komfort. Kostbare moderne Entdeckung.

Komisch. Bei jeder Gelegenheit verwenden. - »Nein, wie komisch!«

Kommunion. Die Erste Kommunion: der schönste Tag des Lebens.

Komödiant. Immer »Schmieren-« davorsetzen.

Komödie. Castigat ridendo mores. - Verskomödie: nicht mehr zeitgemäß. - Indessen muß man die große Komödie gelten lassen.

Kompilation. Kann jeder zusammenschustern.

Konditor. Alle Bewohner von Rouen sind Konditoren.

Konkurrenz. Belebt das Geschäft.

Konservativer. Politiker mit dickem Bauch. - »Sie Stockkonservativer!« - »Ja, mein Herr; der Stock hält mir die Kläffer vom Leibe.«

Kontra-Alt. Da klingelt gar nichts.

Kontur. Von jeder Statue, die man betrachtet, sagen: »Es fehlt ihr nicht an harmonischer Kontur.«

Konversation. Politik und Religion sind auszuklammern.

Konzert. Gesellschaftsfähiger Zeitvertreib.

Konzertreihe. Ein Konzertabonnement ist unerläßlich.

Konzession. Nie welche machen; sie haben Ludwig XVI. den Kopf gekostet.

Kopaivabalsam. So tun, als ob einen das nicht jucken könnte.

Kopfkissen. Man gebrauche nie eines, macht bucklig.

Kopulation/Koitus. Man vermeide diese Wörter. Man sage: »Sie hatten eine intime Beziehung ... «

Koran. Buch von Mohammed, in dem es nur um Frauen geht.

Korsett. Da kriegt man keine Kinder.

Kosaken. Fressen Kerzen.

Kranker. Um einen Kranken aufzuheitern, lache man über seine Erkrankungen und leugne seine Leiden.

Krebs. Krebse gehen rückwärts. - Reaktionären immer »Krebsgang« nachsagen.

Kreise. Man sollte »besseren« angehören.

Kreole. Lebt in einer Hängematte.

Kreuzzüge. Nur nützlich für den Handel Venedigs.

Krieg. Man wettere dagegen.

Kritiker. Literaturpapst. Großkritiker. - Soll alles kennen, alles wissen, alles gelesen, alles gesehen haben. - Wenn er einem mißfällt, nenne man ihn einen Beckmesser, Kritikaster oder Eunuchen (sie wissen wie, aber sie können nicht).

Kröte. Weibchen des Frosches. - Ihr Gift ist sehr gefährlich. - Lebt im Innern eines Steins.

Krokodil. Aussprache: nicht Kokodrill oder Korkidyll. - Ahmt Kindergeschrei nach, um Menschen anzulocken. - Seine Haut eignet sich vorzüglich für die Herstellung von Handschuhen. - Krokodilstränen.

Kruzifix. Macht sich gut überm Bett - und der Guillotine.

Küche. Im Restaurant: liegt immer schwer im Magen. - Bürgerliche: immer gesund. - Im Süden: zu stark gewürzt oder alles in Öl. - Der Eintopf schmeckt nur hausgemacht.

Künstler. Man muß über alles lachen, was sie sagen. Alles Faxenmacher. - Ihre Uneigennützigkeit rühmen (veraltet). - Sich wundern, daß sie angezogen sind wie jedermann (veraltet). - Eine Künstlerin ist sowieso ein Flittchen oder ein Blaustrumpf. - Verdienen ungeheure Summen, werfen sie aber zum Fenster raus. - Was die tun, kann man nicht arbeiten nennen. - Sind oft zum Essen eingeladen.

Kunst. Führt ins Armenhaus. - Völlig unnütz, da sie ohnehin durch Maschinen ersetzt wird, die auch noch »schneller und besser« sind. - Schöne Künste, Kunstgewerbe.

Kuppel. Architektonischer Kraftakt. - »Wie das bloß hält?« - Man nenne zwei Beispiele: die Kuppeln des Invalidendoms und der Peterskirche in Rom.

Kurtisanen. Man bezeichne sie als: Kreaturen, Hetären, Liebesdienerinnen, Schlampen. - Ein notwendiges Übel. - Schutz und Schirm unserer Töchter und Schwestern (solange es Junggesellen gibt). Oder: Die müßten unbarmherzig verjagt werden. Man kann ja mit seiner Frau nicht mehr ausgehen, die Boulevards wimmeln dermaßen von ihnen. - Es sind immer Mädchen aus dem Volk, die von reichen Bürgern verführt worden sind.

Kuß. Man sage Umarmung, das ist dezenter. - Ein Kuß wird »geraubt« oder appliziert auf die Stirn des Mädchens, die Wange der Mama, der Hand der schönen Frau, den Hals des Kindes, die Lippen der Geliebten.

Laboratorium. Auf dem Lande muß man einfach eines haben.

La Fontaine. Man betone, daß man seine Erzählungen nie gelesen habe. - Man nenne ihn: »der Gute« - »der unsterbliche Fabulist«.

Lagune. Stadt an der Adria.

Laken. Die genormten kommen alle aus Dinslaken.

Lakonismus. Tote Sprache.

Land. Die Leute vom Land: besser als die aus der Stadt; man beneide sie um ihr Los. - Auf dem Land ist alles erlaubt: Man muß es sich immer bequem machen, alte Klamotten, dröhnende Fröhlichkeit, derbe Scherze, man sitzt auf der Erde, raucht Pfeife.

Landjunker. Krautjunker. Man zeige für ihn tiefste Verachtung.

Landmann. Immer »fröhlich« und »wohlgemuth«.

Landschaften (von Malern). Immer »lauter Grünzeug«.

Landwirte. Alle wohlhabend.

Landwirtschaft. Eine der Zitzen des Staates (der Staat ist männlichen Geschlechts, macht aber nichts). Sollte gefördert werden. - Es fehlt ihr an Arbeitskräften. - Aktuelles Gesprächsthema.

Languste. Weibchen des Hummers.

Latein. Natürliche Sprache des Menschen. - Verdirbt den Stil. - Ist nur nützlich, um die Inschriften an öffentlichen Brunnen zu lesen. - Aufgepaßt bei lateinischen Zitaten, sie bergen immer irgend etwas Schlüpfriges. Cum grano salis sollte man einige Zitate beherrschen.

Leder. Immer russisch.

Legalität. Legalität würde uns umbringen; strikte Gesetzestreue macht jedes Regieren unmöglich.

Lehrer. Nichts ist hehrer als ein Lehrer.

Lehrerinnen. Müssen immer sehr häßlich sein. Tragen alle dunkle Brillen.

Leibesübung. Stählt die Gesundheit. - Bewahrt vor allen Krankheiten. - Kann man nie genug machen.

Lethargie. Man hat welche gesehen, die Jahre dauerten.

Libertinage. Gibt es nur in Großstädten.

Licht. Man sage immer Fiat lux!, wenn man eine Kerze anzündet.

Linkshänder. Furchtbarer Gegner beim Fechten. Geschickter als Rechtshänder.

Literatur. Beschäftigung für Müßiggänger.

Littré. Man lache höhnisch, wenn man seinen Namen hört: »Dieser Herr, der sagt, wir stammten von den Affen ab!«

Löwe. Gut gebrüllt, Löwe! - Brüllt, wenn er nicht schweigt. - »Und wenn man bedenkt, daß Löwen und Tiger Katzen sind!« - Großmütiger als der Tiger. - Spielt immer mit einem Ball. - Gefährlich ist's, ihn zu wecken.

Lorbeeren. Sind kein gutes Ruhekissen.

Lord. Reicher Engländer.

Lorgnon. Hochmütig und vornehm.

Luchs. Tier, berühmt für seine Augen.

Ludwig XVI. Man sage immer: »Dieser glücklose Monarch«.

Lüneburger Heide. Da wächst kein Gras.

Luft. Vor Zugluft soll man immer auf der Hut sein. Die Luft steht im Grunde unweigerlich im Widerspruch zur Temperatur: wenn diese warm ist, ist jene kalt, und umgekehrt.

Gustave Flaubert (1821-1880)
Nachwort von Julian Barnes

Na, hat Ihnen gefallen, was sie gerade gelesen haben? Haben Sie es verstanden? Hat es Ihnen vielleicht gefallen, ohne daß Sie es verstanden haben, oder haben Sie es verstanden, ohne daß es Ihnen gefallen hat? Beides wären ehrenwerte Reaktionen, denn das Wörterbuch ist ein eigenartiges und schwer faßbares ... Werk. Beinahe hätte ich »Buch« gesagt, doch nach normalen Kriterien kann es sich kaum als Buch ausweisen. Zunächst einmal ist es nur Teil eines Buches; oder, um genauer zu sein, Teil eines Teils eines Buches, denn letztendlich sollte es einen Abschnitt der 'Copie', des zweiten Bandes von Bouvard et Pécuchet bilden. Es sollte eine gewaltige Materialsammlung sonderbarer und beispielhafter Dummheiten werden, welche die beiden Schreiber sich herauskopieren, nachdem sie den Versuch, die Welt zu verstehen, aufgegeben haben. Und diese Materialien wollte Flaubert mit einem Pokerface hinblättern.

Fernerhin liegt uns dieses Fragment auch nicht in einer fertigen Gestalt vor. Es existieren zwei Manuskripte; nichts weist auf eine endgültige Fassung hin; und eine beträchtliche Anzahl der Definitionen existiert nicht einmal in Flauberts eigener Handschrift, sondern in der seines Freundes Edmond Laporte. (Der Status dieser Definitionen ist unklar: Hat Flaubert sie Laporte diktiert, hat Laporte sie geschrieben und dann Flaubert zur Absegnung oder Verbesserung unterbreitet, oder dokumentieren sie irgendeine Form von Zusammenarbeit?) Und schließlich werden einige der Flaubertschen Definitionen, die er im Manuskript eigenhändig gestrichen hat, in modernen Ausgaben des Wörterbuchs weiterhin gedruckt: so groß ist die Gier, die Liebe und die ungehorsame Neugier der Flaubertisten.

Warum also sollten wir uns für dieses vagabundierende Fragment mit wechselndem Manuskriptstatus interessieren? Erstens, weil das Wörterbuch nicht nur ein intellektuelles jeu d'esprit, sondern ein zentrales und sein ganzes Schriftstellerleben hin anhaltendes Anliegen des Autors war. Zweitens, weil kaum je ein Werk geschrieben worden ist, dessen Ironie so rein war: Die Welt kommt in Flauberts Olivenpresse und wird ausgequetscht, bis das reine Öl der Ironie herausrinnt. Drittens, weil es bei aller Kürze und Eingeschränktheit als ein Werk angesehen werden kann, in dem die Flaubertsche Methode in ihrer sarkastischen Fülle verwirklicht ist.

Maxime du Camp sagt, Flaubert habe ab seinem zwanzigsten Lebensjahr vom Wörterbuch-Projekt gesprochen; als es zum ersten Mal in der Korrespondenz auftaucht - 1850 in einem Brief aus Damaskus an Louis Bouilhet -, da ist die Idee zweifellos schon ausgereift: »Du tust gut daran, an das Dictionnaire des idées reçues zu denken. Dieses Buch, wenn man es vollständig macht und mit einem guten Vorwort versieht, in dem man angibt, das Werk sei in der Absicht geschaffen worden, die Leserschaft zurückzuführen zu Tradition, Ordnung und allgemeinen Konventionen; und wenn man das so einrichtet, daß der Leser nicht weiß, ob er verarscht wird oder nicht - das wäre vielleicht ein seltsames Werk und könnte auch noch Erfolg haben, denn es wäre ja absolut aktuell.« […]

Zwei Jahre nach dem Brief an Bouilhet beschreibt Flaubert Louise Colet das Projekt ausführlicher: »Mir ist ein alter Gedanke wieder in den Kopf gekommen, nämlich der zu meinem Dictionnaire des idées reçues (weißt du, was das ist?). Das Vorwort reizt mich ungemein, und so wie ich es konzipiert habe (es soll ein ganzes Buch werden), könnte mir kein Gesetz etwas anhaben, obwohl ich alles attackieren würde. Es wäre die historische Glorifizierung all dessen, was allgemein als richtig gilt. Ich würde demonstrieren, daß die Mehrheiten immer recht und die Minderheiten immer unrecht haben. Ich würde die großen Männer allen Dummköpfen opfern, die Märtyrer allen Henkern, und das in einem aufs äußerste, zu einem Feuerwerk gesteigerten Stil.« Nach dem Vorwort, »dieser Apologie der menschlichen Gemeinheit in all ihren Zügen, ironisch und brüllend von Anfang bis Ende«, käme dann das Wörterbuch selbst. Von den Beispielen, die Flaubert gibt, bleiben die Definitionen von »Languste«, »Erektion«, und »Negerin« über die nächsten dreißig Jahre unverändert. »Ich glaube«, fährt er fort, »das Ganze wäre von ungeheurem Schrot. Im ganzen Buch dürfte kein einziges auf meinem Mist gewachsenes Wort vorkommen, und nach der Lektüre dürfte man gar nicht mehr zu reden wagen vor Angst, aus Versehen einen der Sätze zu gebrauchen, die darin stehen.«

Gustave Flaubert (Statue von Léopold
 Bernhard Bernstamm, 1907, Rouen,
 Place des Carmes)
Wie begegnet der Schriftsteller der Dummheit seines Zeitalters? Das ist eine zentrale Frage, denn die himmelschreiende, sich blähende, selbstgefällige Dummheit der Welt kann keinem Schriftsteller - es sei denn einem unverzeihlich desinteressierten - entgehen. […] Aber wenn sie einem nicht entgangen ist, wie stellt man sich dann dazu? Wie begegnet man ihr einerseits ästhetisch, andererseits mit welcher persönlichen Haltung? Als vergnügte Optimistin wie George Sand? Als vorsichtige Melioristin wie George Eliot? Vielleicht als Satiriker? Wollen Sie der Welt Vernunft einbleuen, ihre Torheiten lächerlich machen, ihr ein gigantisches Furzkissen unter den dicken Hintern schieben? Wir plazieren die Satiriker gern am äußersten Rand des ästhetischen Spektrums: als Pessimisten, die die Verzweiflung mit schwarzem Humor in Schach alten, die am Galgen baumelnd darüber diskutieren, wo man ein billigeres und strapazierfähigeres Seil kaufen könnte. In der Satiregleichung ist jedoch ein Faktor automatisch mit drin: Die Welt, hielte sie inne und hörte auf den Satiriker, würde, könnte, möchte sich vielleicht gerade noch ändern; die Schlinge des Henkers würde sich in einen magischen Knoten verwandeln, der aufschlüpft, sobald er zugezogen wird. Somit steht der Satiriker doch nicht ganz am äußersten Rand des Spektrums. Sicher, er leuchtet in einem dramatischen Indigo. Aber es gibt eine Farbe jenseits von Indigo. Violett ist die Farbe des Ironikers. Ein Violett, das ins Ultraviolett übergeht - jenen Farbton, den die Welt nicht sehen kann. […]

Der Satiriker schiebt die Welt auf die Bühne, bewirft sie mit Sahnetorten, läßt ihr die Hosen runter und verhöhnt ihren Schmerbauch. Der Ironiker schiebt die Welt auf die Bühne, bietet ihr eine Quiche Lorraine an, lobt den modischen Schnitt ihrer Hosen und macht die Bemerkung, daß nur wirklich seriöse Leute große Bäuche haben. Der Satiriker ist ein Boxer, der versucht, seinen Gegner längelang vor sich auf die Bretter zu schicken; der Ironiker kann Judo und nutzt das Gewicht des anstürmenden Gegners, indem er ausweicht und ihm hinterrücks ein Bein stellt. Das ist Flauberts Methode im Wörterbuch. Was weiß die Welt über Spanien? Sie weiß, daß es dort dunkelhäutige Señoritas gibt, die Spitzenmantillas tragen, auf Balkonen sitzen und Kavalieren, die in engen Hosen unten im Staub die Mandoline zupfen, Blumen aus ihrem Haar zuwerfen. Stimmt, sagt Flaubert zur Welt, stimmt ganz genau; jeder, den ich von Spanien erzählen höre, sagt, daß es genau so ist, und deshalb muß es so sein. Paganini hat seine Geige nie gestimmt? Zuviel Schlaf verdickt das Blut? Hätte Napoleon sich nicht scheiden lassen, säße er noch immer auf dem Thron? Sie haben bestimmt recht, sagt Flaubert, tritt beiseite, winkt die wohlbeleibte Idee zur Verbeugung nach vorn und bleibt wie ein dezenter Theaterdirektor im Hintergrund.

Im Hintergrund bleiben: Die Idee der Unsichtbarkeit des Autors ist zentral in Flauberts Ästhetik. (»Es wäre recht angenehm für mich, meine Meinung zu sagen und Herrn Gustave Flauberts Gefühlen durch solche Äußerungen Luft zu verschaffen; jedoch was soll uns dieser Herr?«) Im Wörterbuch erreicht Flaubert das Maximum an Unsichtbarkeit. Seine Abwesenheit als Autor ist so total, daß man fast sagen könnte, das Wörterbuch sei die Arbeit von anderen. Er hat bloß den Stimmen der rechtdenkenden Leute gelauscht und aufgeschrieben, was sie sagten; er hat ihre Äußerungen weder geändert noch übertrieben, sondern sie bloß mit der Pinzette (keine Fingerabdrücke!) aufgesammelt und für uns in einem Sammelalbum alphabetisch geordnet. Sie möchten wissen, was Flaubert gedacht hat? Was er »wirklich« gedacht hat? Das ist nirgendwo sichtbar und überall gegenwärtig.

»Der arme große Mann, die Ironie weicht ihm nicht von der Seite«, schrieb Flaubert 1878, als er erfuhr, daß die Feierlichkeiten anläßlich von Voltaires hundertstem Todestag von einer Schokoladenfirma organisiert wurden. Erwartete er, daß er selbst von der Ironie verschont bleiben würde? Der Eintrag im Wörterbuch für DREIZEHN lautet: »Man vermeide es, dreizehn bei Tisch zu sein, das bringt Unglück. Freigeister dürfen keinesfalls zu witzeln versäumen: 'Was soll's, dann eß ich halt für zwei'; oder, wenn Damen anwesend sind, zu fragen, ob eine von ihnen schwanger sei.« Nach Flauberts Beerdigung setzte sich eine Gruppe trauernder Schriftsteller in Rouen zu Tisch. Als der Dichter Théodore de Banville bemerkte, daß sie dreizehn waren, bestand er als rechtdenkender Mensch darauf, einen weiteren Gast zu finden. Man durchkämmte die Straßen, und schließlich ließ sich ein Soldat auf Urlaub überreden, am Leichenschmaus teilzunehmen. Der Soldat hatte nie von Flaubert gehört, war aber ganz wild darauf, den Dichter François Coppée kennenzulernen.

Quelle: Gustave Flaubert: Das Wörterbuch der Gemeinplätze. (Übersetzt von Gisbert Haefs, Irene Riesen, Thomas Bodmer, Gerd Haffmans. Nachwort übersetzt von Michael Walter.) Haffmans, Zürich, 1987, ISBN 3 251 20307 X

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Reposted on July 7th, 2015



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