20. Oktober 2017

Chopin: Klaviersonaten Nr. 2 & 3, Fantasie, Barcarolle (Daniel Barenboim, 1974)

Chopin schrieb fast ausschließlich für das Klavier als Soloinstrument; Ausnahmen sind die beiden Klavierkonzerte mit Orchester sowie einige Lieder und kammermusikalische Stücke. Dank seiner Konzentration auf das Kleinformat konnte er mit diesen Werken, die bei aller Einfachheit äußerst subtil waren, ein Höchstmaß an Perfektion erzielen. Selbst im Ausland war Chopin seiner Heimat leidenschaftlich zugetan; dementsprechend ist sein ganzes Œuvre von einer gewissen melancholischen Note beseelt. Auch die Melodien und Rhythmen beliebter polnischer Tänze, so die Polonaise und Mazurka, übten ihren Einfluss auf ihn aus, während seine Impromptus, Balladen, Scherzi, Walzer und Variationen von abstrakterer Natur sind, wie auch die Fantasie (1841) und Barcarolle (1845-46). Das Nocturne, ein vom irischen Komponisten John Field geprägter Titel, eignete er sich völlig an — verträumte Stücke mit langen, ruhigen, kantablen Melodien im Stil von Bellini. Chopin komponierte drei Klaviersonaten, von denen zwei hier eingespielt sind: Nr. 2 entstand 1839 (der dritte Satz, der berühmte Trauermarsch, stammt aus dem Jahre 1837) und Nr. 3 1844. Ganz allgemein findet sich in Chopins Œuvre eine beispiellose Harmonik und Rhythmik, die sich auf seine Nachfolger deutlich auswirkte.

George Dunlop Leslie (1835-1921): Rosen [Info]
Klaviersonate Nr. 2 b-moll, op. 35

“So fängt nur Chopin an und so schließt nur er: mit Dissonanzen durch Dissonanzen in Dissonanzen.” Mit diesen Sätzen begann Robert Schumann seine Rezension der b-Moll-Klaviersonate von Chopin, die 1840 im Druck erschienen ist. Zum Verständnis ihrer vier “tollen” Sätze genügt es, Schumann zu zitieren, denn eine treffendere Beschreibung der Sonate ist nicht gegeben worden:

Nach jenem “hinlänglich Chopin’schen Anfange folgt einer jener stürmischen leidenschaftlichen Sätze, wie wir deren von Chopin schon viele kennen. Aber auch schönen Gesang bringt dieser Theil des Werkes; ja es scheint, als verschwände der nationelle polnische Beigeschmack, der den meisten der früheren Chopin’schen Melodien anhing, mit der Zeit immer mehr, als neige er sich (über Deutschland hinüber) gar manchmal Italien zu… Aber, wie gesagt, nur ein leises Hinneigen nach südlicher Weise ist es; sobald der Gesang geendet, blitzt wieder der ganze Sarmate in seiner trotzigen Originalität aus den Klängen heraus.

Der zweite Satz ist nur die Fortsetzung dieser Stimmung, kühn geistreich, phantastisch, das Trio zart, träumerisch, ganz in Chopin’s Weise: Scherzo nur dem Namen nach, wie viele Beethoven’s. Es folgt, noch düsterer, ein Marcia funebre, der sogar manches Abstoßende hat; an seine Stelle ein Adagio, etwa in Des, würde ungleich schöner gewirkt haben. Denn was wir im Schlußsatze unter der Aufschrift ‚Finale’ erhalten, gleicht eher einem Spott, als irgend Musik. Und doch gestehe man es sich, auch aus diesem melodie- und freudlosen Satze weht uns ein eigener grausiger Geist an, der, was sich gegen ihn auflehnen möchte, mit überlegener Faust niederhält, dass wir gebannt und ohne zu murren bis zum Schlusse zuhorchen.”

Heute ist Chopins Opus 35 vor allem aus einem Grund berühmt: wegen des Trauermarschs, der zum berühmtesten Beispiel dieses Genres wurde. In unzähligen Bearbeitungen, besonders für Blaskapelle zu Beerdingungen und Prozessionen, ist die Melodie dieses Satzes so verbraucht, dass man sich ihrem Original doppelt aufmerksam zuwendet. Von dieser “Marche funebre” aus erschließen sich die übrigen Sätze des Werkes, die freilich keinen Anspruch auf “ordentlichen Sonatenstil” erheben. Schumann hielt es für eine “Caprice”, dass Chopin dieses Stück eine “Sonate” nannte, ja gar “einen Uebermuth, dass er gerade vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte”.

Auf plastisch-anekdotische Weise hat Robert Schumann das Ausmaß an “Zukunftsmusik” in Chopins b-Moll-Klaviersonate deutlich gemacht: “Man nehme an, irgend ein Cantor vom Lande kommt in eine Musikstadt, da Kunsteinkäufe zu machen - man legt ihm Neustes vor - von nichts will er wissen - endlich hält ihm ein Schlaukopf eine ‚Sonate’ entgegen - ja, spricht er entzückt, das ist für mich und noch ein Stück aus der guten alten Zeit - und kauft und hat sie. Zu Hause angekommen, fällt er her über das Stück - aber sehr irren müßt’ ich mich, wenn er nicht, noch ehe er die erste Seite mühsam abgehaspelt, bei allen Musikgeistern darauf schwörte, ob das ordentlicher Sonatenstyl und nicht vielmehr wahrhaft gottloser (sei). Aber Chopin hat doch erreicht, was er wollte: er befindet sich im Cantorat, und wer kann denn wissen, ob nicht in derselben Behausung, vielleicht nach Jahren erst, einmal ein romantischerer Geist geboren wird und aufwächst, die Sonate abstäubt, und spielt und für sich denkt: ‚der Mann hatte doch so Unrecht nicht.’”

Zum Ende dieses Werkes – dem geisterhaft vorüberhuschenden, zweiminütigen Finale in lauten Oktaven ohne erkennbaren tonalen Zusammenhang – meinte Schumann zusammenfassend: “So schließt die Sonate, wie sie angefangen, rätselhaft, einer Sphinx gleich mit spöttischem Lächeln.”

George Dunlop Leslie (1835-1921): Beim Apfelschälen [Info]
Klaviersonate Nr. 3 h-moll, op. 58

1844, fünf Jahre vor Chopins frühem Tod, entsteht ein Werk, das so farbenreich und so monumental ist wie kaum eine andere Komposition des Polen. Chopin gibt ihr den Beinamen "Konzert ohne Orchester".
"Chopin hat das Klavier revolutioniert irgendwo. Vor ihm hat niemand Fingersätze verwendet, die er verwendet hat oder den Klavierklang so ausgereizt wie er es getan hat, also er hat eine ganze neue Ära eingeleitet. Und für das Klavier ist er wahrscheinlich sogar der ideale Komponist." (Ingolf Wunder)

Nach seiner ungestümen ersten Klaviersonate aus Jugendtagen und seiner aufsehenerregenden, zukunftsweisenden zweiten, richtet Chopin das Augenmerk in seiner letzten Sonate erstmals stärker auf die klassische Sonatenform. Ihr Aufbau erinnert an die Werke der Vorbilder. Doch Chopin, Freigeist und Querdenker, lotet zugleich die Grenzen der Sonatenform neu aus: Da, wo sonst ein langsamer Satz kommt, findet sich bei Chopin ein lebendig-bewegtes Scherzo mit perlenden Achtel-Figuren. Frei, intuitiv und gefühlsbetont ist Chopins Umgang mit den musikalischen Mitteln. Seine dritte Klaviersonate brennt vor romantischem Pathos. Ernste musikalische Figuren und zarte Melodielinien erzeugen eine geradezu meditative Stimmung. Doch am Ende lichtet sich die Schwermütigkeit dann doch: Im Finale mündet die Sonate in einen ungezügelten, rauschhaften Ausbruch.

Quellen: Ein Anonymus im Booklet | Kammermusikführer Villa Musica Rheinland-Pfalz | Kristin Amme in BR Klassik


Weiterlesen: Trauermarsch in b-moll - "Marche funèbre" - 3. Satz der Sonate op.35



Track 8 Klaviersonate Nr. 3 h-moll op. 58 - IV. Finale: Presto non tanto


TRACKLIST


Frédéric Chopin  
1810-1849 


Klaviersonate Nr. 2 b-moll op. 35
01 I:   Grave - Doppio movimento        7:46
02 II:  Scherzo                         6:36
03 III: Marche funèbre: Lento          10:23
04 IV:  Finale: Presto                 11:27

Klaviersonate Nr. 3 h-moll op. 58
05 I:   Allegro maestoso                8:55
06 II:  Scherze: Molto vivace           2:42
07 III: Largo                           9:27
08 IV:  Finale: Presto non tanto        5:00

09 Fantasie f-moll op. 49*             12:57

10 Barcarolle Fis-dur op. 60* .         9:25

                              Total:   75:25
                              
Daniel Barenboim Klavier

Aufgenommen: VI.1974, bzw. *VI. 1973, Abbey Road Studios, London
Produzent: Suvi Raj Grubb - Tonmeister. Neville Boyling  
Abbildung: George Dunlop Leslie (1835-1921): "Rosen"
(P) + (C) 2004 



Der gezähmte Tod


Graf Friedrich VII. von Toggenburg auf dem Totenbett auf der Schattenburg in Feldkirch, 1436 [Quelle]
Die neuen Wissenschaften vom Menschen — und die Linguistik — haben die Begriffe Diachronie und Synchronie in Gebrauch gesetzt, die uns möglicherweise zu Hilfe kommen können. Wie zahlreiche Elemente der allgemeinen Geistesverfassung, deren Entwicklung erst vor dem Hintergrund eines langen Zeitraumes zutage tritt, scheint auch die Einstellung zum Tode im Rahmen sehr großer Zeitspannen nahezu unveränderlich zu sein. Sie mutet gleichsam zeitlos an. Dennoch treten zu bestimmten Zeitpunkten Veränderungen in Erscheinung, sehr häufig langsam und zuweilen unbemerkt, heute jedoch schneller und zielstrebiger. […]

Diese Vorbemerkung ist durchaus erforderlich, um deutlich zu machen, in welchem Sinne ich die Themen dieser Abhandlungen ausgewählt habe. Die erste orientiert sich eher im Sinne der Synchronie. Sie umfaßt eine lange Abfolge von Jahrhunderten, etwa in der Größenordnung eines Jahrtausends. Ihr Gegenstand ist der des gezähmten Todes. Mit der zweiten treten wir in den Bereich der Diachronie ein: Welche Veränderungen haben im Mittelalter, ungefähr vom 12. Jahrhundert an, die zeitlose Einstellung zum Tode zu modifizieren begonnen, und welcher Sinn läßt sich diesen Veränderungen abgewinnen? […]

Beginnen wir mit dem gezähmten Tod und fragen wir uns zunächst, wie die Ritter des Heldenliedes oder der späteren mittelalterlichen Romane starben.

Zunächst haben sie eine Vorahnung. Man stirbt nicht, ohne Zeit gehabt zu haben, sich damit vertraut zu machen, daß man sterben wird. Andernfalls handelte es sich um den schrecklichen Tod, etwa den Pest-Tod oder den plötzlichen Tod, und der mußte als außergewöhnlich hingestellt werden, man durfte nicht von ihm sprechen. Normalerweise kündigte er sich dem Menschen jedoch an.

Hans Burgkmair (1473-1531): Sterbeszene mit Testamentaufsetzung
»So erfahrt denn«, sagt Gauvain (Gâwân), »daß ich nurmehr zwei Tage leben werde.« […]

In Roncevaux fühlt Roland, »daß der Tod ihn ganz übermannt. Vom Kopfe steigt er nieder nach dem Herzen«. Er »fühlt‚ daß seine Zeit zuende ist«. Tristan »fühlte, daß sein Leben dahinschwand, er verstand, daß er werde sterben müssen«. Die frommen Mönche gebärdeten sich nicht anders als die Ritter. Im 10. Jahrhundert fühlte ein ehrwürdiger Einsiedler in Saint-Martin de Tours nach vier Jahren Klausnerdasein, »daß er, wie uns Raoul Glaber erzählt, diese Welt würde verlassen müssen«. Derselbe Autor berichtet, daß ein anderer medizinisch erfahrener Mönch, der andere kranke Brüder versorgte, sich beeilen mußte: »Er wußte, daß sein Ende nahe war.«

Festgehalten sei, daß die Ankündigung sich aus natürlichen Zeichen ergab, oder, häufiger noch, eher aus einer inneren Überzeugung als aus einem übernatürlichen oder magischen Vorgefühl hervorging. Es war das etwas sehr Einfaches, sich durch alle Zeiten Hindurchziehendes, das noch in den heutigen Industriegesellschaften zum Teil überlebt hat. Etwas, das sowohl der Sphäre des Wunderbaren wie der der christlichen Frömmigkeit fremd ist: das spontane Erkennen. Da gab es nichts zu mogeln oder so zu tun, als hätte man nichts bemerkt. […]

Im 17. Jahrhundert versuchte Don Quichotte, verstiegen wie er war, dennoch nicht, in den Träumen, mit denen er sein Leben verbrauchte, dem Tode zu entfliehen. Im Gegenteil: Die Vorzeichen des Todes bringen ihn zur Vernunft. »Liebe Nichte«, sagt er sehr einsichtig, »ich fühle mich dem Tode nahe.« […]

Abbildung aus: Bericht, wie es gehe Gar nach dem A,B,C,...
Peter Isselburg, Nürnberg 1616 [Quelle]
So trug sich das auch noch ungezählte Male im rational-positivistischen oder im romantischen, exaltierten Frankreich des 19. Jahrhunderts zu. Es handelt sich um die Mutter von Monsieur Pouget: »Im Jahre 1874 erkrankte sie an der colerine [einer bösartigen Krankheit]. Nach vier Tagen: geht und sucht mir den Herrn Pfarrer, ich werde euch sagen, wenn es soweit ist. Und zwei Tage später: geht und bittet den Herrn Pfarrer, mir die letzte Ölung zu bringen.« Und Jean Guitton — der das 1941 schrieb — kommentiert: »Man sieht, wie die Pougets in diesen alten Zeiten [1874!] aus dieser in die andere Welt hinübergingen, als praktische und einfache Leute, als Beobachter der Zeichen, und zwar zunächst an sich selbst. Sie hatten es mit dem Sterben nicht eilig, aber wenn sie ihre Stunde nahen fühlten, starben sie, nicht zu früh und nicht zu spät, genau wie es sich gehörte, als Christen.« Aber auch andere, Nicht-Christen, starben ebenso einfach.

Wenn er sein Ende nahen fühlte, traf der Sterbende seine Verfügungen. Und alles nimmt, ganz schlicht, seinen Lauf wie bei den Pougets oder bei den Muschiks Tolstois. In einer so vom Wunderbaren geprägten Welt wie der der Romans de la Table ronde ist der Tod eine durchaus einfache Sache. Als Lancelot, verwundet und im wüsten Wald verirrt, gewahr wird, daß »alle Kraft seinen Körper verlassen hat«‚ sieht er ein, daß er sterben muß. Was also tun? Gesten, wie alte Bräuche sie ihm vorschreiben, rituelle Gebärden, wie man sie vollführt, wenn der Tod nahe ist. Er legt seine Waffen ab, streckt sich ruhig auf dem Boden aus: im Bett sollte er eigentlich ruhen (»auf dem Krankenbett«, wiederholen für mehrere Jahrhunderte die Testamente). Er formt seine Arme zum Kreuz — das ist ungewöhnlich. Dem Brauch aber tut er folgendermaßen Genüge: er liegt so, daß sein Gesicht nach Osten und Jerusalem zugewendet ist. […]

In Roncevaux erwartet der Erzbischof Turpin den Tod auf der Erde liegend, »mitten auf der Brust hält er seine schönen weißen Hände gekreuzt«. Das ist, vom 12. Jahrhundert an, die Stellung der liegenden Grabfiguren. Im Urchristentum wurde der Tote mit ausgestreckten Armen in der Haltung des Betenden dargestellt. Man erwartet den Tod ruhend, liegend. Diese rituelle Stellung wird von den Liturgisten des 13. Jahrhunderts vorgeschrieben. »Der Sterbende«, sagt Gulielmus Durandus, Bischof von Mende, »soll auf dem Rücken ausgestreckt liegen, damit sein Gesicht immer dem Himmel zugewendet ist.« Diese Haltung ist durchaus verschieden von der der Juden, wie sie aus Beschreibungen des Alten Testamentes ersichtlich wird: sie kehrten sich, um zu sterben, der Wand zu.

Tod Norberts von Xanten; aus dem Norbert-Zyklus
 im "Traditionskodex" aus Kloster Weißenau
[Quelle]
Derart vorbereitet, kann der Sterbende die letzten Akte des traditionellen Zeremoniells hinter sich bringen. Als Beispiel greifen wir das von Roland heraus, aus dem Rolandslied. Der erste Akt ist der bedauernde Rückblick, trauriges, aber sehr zurückhaltendes Gedenken an geliebte Wesen und Dinge, auf einige wenige Bilder reduzierter kurzer Abriß des Lebens. Roland »begann sich an mancherlei Dinge zu erinnern«. Zunächst »an manche Länder, die der Held erobert hatte, an das holde Frankreich, an die Männer seiner Familie, an Karl den Großen, seinen Herrn, der ihn erzog, seinen Meister und seine Gefährten«. Kein Gedanke an seine Mutter noch an seine Braut. Traurige, bewegende Erinnerung. »Er kann sich der Tränen und Seufzer nicht erwehren.« Aber diese Gemütsregung ist nicht von Dauer — wie später die Trauer der Hinterbliebenen. Sie ist ein Moment des Rituals.

Auf die wehmütige Klage über den Abschied vom Leben folgt die Abbitte bei den immer zahlreichen Gefährten und Angehörigen, die das Bett des Sterbenden umringen. Olivier bittet Roland um Vergebung für den Hieb, den er ihm versehentlich zugefügt hat: »›Und ich verzeihe es Euch hier und vor Gott‹. Bei diesen Worten verneigten sie sich voreinander.« Der Sterbende empfiehlt Gott die Überlebenden: »Gott segne Karl und das holde Frankreich«‚ fleht Olivier‚ »und vor allen anderen seinen Gefährten Roland.« Im Rolandslied ist weder vom Grab noch von der Wahl eines Grabes die Rede. Die Wahl eines bestimmten Grabes kommt erst in den späteren Liederzyklen der Table ronde vor.

Herzog Magnus von Württemberg auf dem Totenbett,
 mit den in der Schlacht von Wimpfen, 1622 erhaltenen
 Hieb- und Schusswunden Kupferstich [Quelle]
Es ist jetzt an der Zeit, die Welt zu vergessen und an Gott zu denken. Das Gebet setzt sich aus zwei Abschnitten zusammen: dem Schuldbekenntnis, »Gott, meine Schuld, durch Deine Gnade zur Strafe für meine Sünden...«, einer verkürzten Form des künftigen confiteor. »Beide Hände gefaltet zum Himmel erhoben, bekennt Olivier laut seine Sünden und bittet Gott, daß er ihm das Paradies schenke.« Das ist die Gebärde der Bußfertigen. Der zweite Abschnitt des Gebetes ist die commendacio animae [Empfehlung der Seele], eine Paraphrase eines sehr alten, möglicherweise bei den Juden der Synagoge entlehnten Gebetes. Im Französisch des 16. bis 18. Jahrhunderts heißen diese Gebete die recommendaces. »Wahrer Gott Vater, der Du niemals gelogen hast, Du hast Lazarus vom Tode erweckt und Daniel von den Löwen gerettet. Rette auch meine Seele wegen der Sünden, die ich in meinem Leben beging.«

Zu diesem Zeitpunkt vollzog sich der einzige religiöse — oder eher kirchliche — Akt (denn alles war religiös), die Absolution. Sie wurde vom Priester erteilt, der die Psalmen las, das Libera, Weihrauch op- ferte und den Körper mit Weihwasser besprengte. Diese Absolution wurde über dem Körper des nunmehr Verstorbenen wiederholt. Wir nennen sie »absoute«. Das Wort hat jedoch keinen Eingang in die Umgangssprache gefunden: In den Testamenten nannte man sie die recommendaces, das Libera […]

Später, in den Romans de la Table ronde, reicht man den Sterbenden das Corpus Christi. Die letzte Ölung blieb den Klerikern vorbehalten, sie wurde in der Kirche feierlich den Mönchen ausgeteilt.

Nach dem letzten Gebet bleibt nur noch das Harren auf den Tod, und der läßt für gewöhnlich nicht lange auf sich warten. Bei Olivier geht das folgendermaßen vor sich: »Sein Herz setzt aus, der Helm sinkt ihm vornüber, sein ganzer Körper streckt sich auf dem Boden. Der Graf ist tot, er weilt nicht mehr (unter uns).« Wenn es vorkommt, daß der Tod sich verzögert, so erwartet ihn der Sterbende schweigend: »Er spricht [sein letztes Gebet] und gibt fürderhin kein Wort mehr von sich« […]

Callixtus-Katakombe in Rom (Rekonstruktion).
Aus: G. B. DeRossi: La Roma sotterranea
cristiana, 1867 [Quelle]
Der Tod war auch eine öffentliche Zeremonie. Das Zimmer des Sterbenden wandelte sich zur öffentlichen Räumlichkeit mit freiem Eintritt. Die Ärzte, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts den ersten hygienischen Grundregeln auf die Spur kamen, erhoben Klage über die Überfüllung der Sterbezimmer. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts trugen Passanten, die auf der Straße dem kleinen Gefolge des Priesters mit dem Viatikum begegneten, ihm ihre Begleitung an und folgten ihm auf dem Fuße bis ins Zimmer des Kranken.

Wichtig war, daß Eltern, Freunde oder Nachbarn zugegen waren. Man führte die Kinder herein: Keine Darstellung eines Sterbezimmers bis zum 18. Jahrhundert ohne einige Kinder.

Man vergegenwärtige sich die Sorgfalt, mit der Kindern heute die gesamte Sphäre des Todes vorenthalten wird.

Schließlich ein letzter Aspekt, der bedeutsamste: Die Einfachheit, mit der die Todesriten hingenommen und vollzogen wurden, auf zeremoniöse Weise zwar, aber doch ohne dramatischen Charakter, ohne exzessive emotionale Regung. […] So ist man im Laufe von Jahrhunderten oder Jahrtausenden gestorben. In einer der Veränderung unterworfenen Welt hat die traditionelle Einstellung zum Tode den Anschein eines Komplexes von Trägheit und Unveränderlichkeit.

Diese alte Einstellung, für die der Tod vertraut und nahe und abgeschwächt, indifferent in eins war, stellt sich in schroffen Gegensatz zur unsrigen, bei der der Tod uns Angst einflößt, bis zu dem Grade, daß wir nicht mehr wagen, ihn beim Namen zu nennen. Deshalb heiße ich jenen vertrauten Tod den gezähmten Tod. Ich will damit nicht sagen, daß er früher wild gewesen sei, zumal er ja aufgehört hat, es zu sein. Ich will im Gegenteil sagen, daß er heute wild geworden ist.

Der eingefriedete Hof um die Kirche, Ort der Toten. Buchillustration von 1513
 (Die Leiche blutet, weil der Mörder sie berührt)
Wir wollen uns jetzt einem anderen Aspekt der alten Vertrautheit mit dem Tode zuwenden: der Koexistenz von Lebenden und Toten. Ein neues und überraschendes Phänomen. Es war im heidnischen und sogar im christlichen Altertum unbekannt. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist es uns überdies gänzlich fremd geworden.

Trotz ihrer Vertrautheit mit dem Tode scheuten die Alten die unmittelbare Nachbarschaft der Toten und hielten sie abseits. Sie verehrten die Grabstätten: Unsere Kenntnis der alten vorchristlichen Kulturen erwächst uns zum größten Teil aus der Grab-Archäologie, aus den in Gräbern gefundenen Objekten. Eines der Ziele der Grabkulte war es jedoch, die Verstorbenen daran zu hindern, wiederzukehren und die Lebenden zu belästigen.

Die Welt der Lebenden sollte von der der Toten geschieden sein. Deshalb untersagte das Zwölftafel-Gesetz in Rom Bestattungen in urbe, innerhalb der Bannmeile der Stadt. Der theodosianische Codex wiederholt dasselbe Verbot, um die sanctitas der Wohnstätten der Lebenden zu schützen. […] Deshalb lagen die Friedhöfe auch außerhalb der Städte, an den Rändern der Ausfallstraßen wie der Via Appia in Rom, der Alyscamps in Arles.

Der Heilige Johannes Chrysostomus empfand dieselbe Abneigung wie seine heidnischen Vorfahren, als er in einer Homilie die Christen aufforderte, sich einem neuen und noch wenig verbreiteten Brauch entgegenzustellen: »Trage dafür Sorge, nie ein Grab in der Stadt anzulegen. Wenn man einen Leichnam da bettete, wo du schläfst und ißt, was würdest du tun? Und gleichwohl bettest du die Toten nicht da, wo du schläfst und ißt, sondern in den Gliedern Christi«‚ d. h. in den Kirchen.

Dennoch sollte sich der von Johannes Chrysostomus angeprangerte Brauch verbreiten und große Anziehungskraft ausüben, den Verboten des kanonischen Rechtes zum Trotz. Die Toten sollten in die Städte eindringen, aus denen sie für Jahrtausende ferngehalten worden waren.

Der Friedhof Cimetière des Innocents im Paris, um 1550:
Treffpunkt und Begräbnisstätte.
Das hat nicht so sehr mit dem Christentum, sondern mit dem Märtyrerkult afrikanischen Ursprungs seinen Anfang genommen. Die Märtyrer waren in außerstädtischen, für Heiden und Christen gemeinsam zugänglichen Nekropolen bestattet. Die Lageplätze der verehrten Märtyrergräber übten ihrerseits eine starke Anziehungskraft auf andere Grablegungen aus. Der Heilige Paulus ließ den Leichnam seines Sohnes in die Nähe der Märtyrer von Aecole in Spanien überführen, um ihn »den Märtyrern durch das Bündnis des Grabes zuzugesellen‚ damit er in der Nachbarschaft des Blutes der Heiligen von ihnen jene Tugend entlehne, die unsere Seelen reinigt wie das Feuer.« […]

Dieses Streben nach Vereinigung hat mit den außerstädtischen Friedhöfen eingesetzt, auf denen die ersten Märtyrer begraben worden waren. Über der confessio des Heiligen wurde eine von Mönchen betreute Basilika errichtet, in deren Umkreis die Christen bestattet sein wollten. Die Ausgrabungen römischer Städte in Afrika und Spanien bieten außergewöhnliches Anschauungsmaterial, das anderswo durch Elemente späterer Städtegründungen wieder unkenntlich gemacht wird: Anhäufungen von Steinsarkophagen in mehreren Stockwerken übereinander, die insbesondere die Wände der Apsis umschließen, die der confessio am nächsten liegen. Diese Häufung legt Zeugnis ab von der Macht des Wunsches, in der Nähe der Heiligen, ad sanctos, beigesetzt zu sein.

Es trat ein Zeitpunkt ein, zu dem die Trennung zwischen den Vorstädten, wo man ad sanctos bestattete, weil man sich extra urbem befand, und dem für Grablegungen noch immer unzugänglichen Stadtkern hinfällig wurde. Wir wissen, wie sich das im 6. Jahrhundert in Amiens abspielte: Der im Jahre 540 gestorbene Heilige Vaast, Erzbischof von Amiens, hatte sich sein Grab außerhalb der Stadt gewählt. Als aber die Träger den Leichnam aufheben wollten, konnten sie den plötzlich zu schwer gewordenen Körper nicht von der Stelle bringen. Darauf bat der Erzpriester den Heiligen, Anweisung zu geben, »daß Du an den Ort geschafft werdest, den wir [d. h. der Klerus der Kathedrale] für dich vorbereitet haben.« Er deutete den Willen des Heiligen richtig, da der Körper alsbald leicht wurde. Damit der Klerus das traditionelle Verbot derart umkehren und Vorsorge dafür treffen konnte, daß er die heiligen Gräber — und die Grabstätten, die sie nach sich ziehen würden — in der Kathedrale selbst zu umsorgen hätte, bedurfte es einer deutlichen Abschwächung der alten Abneigungen.

Der Friedhof Cimetière des Innocents im Paris im 18. Jahrhundert
Die Trennung zwischen Friedhofsabtei und Kathedralkirche war also dahingeschwunden. Die Toten, die sich bereits mit den Lebenden der vorstädtischen Wohnviertel verquickt hatten, wie sie im Umkreis der Abteien aufgeschossen waren, drangen auch ins historische Herz der Städte vor. Zwischen Friedhof und Kirche gab es jetzt keinen Unterschied mehr.

In der Sprache des Mittelalters bezeichnete das Wort Kirche (église) nicht nur ausschließlich die Baulichkeiten der Kirche, sondern auch den sie umgebenden Raum: dem Sprachgebrauch im Hennegau zufolge umfaßte die église paroichiale (paroissiale [Pfarrkirche]) »das Schiff, den Glockenturm und den Friedhof«.

Man predigte, man teilte an den großen Festtagen die Sakramente aus, man unternahm Prozessionen im Hof oder im atrium der Kirche, das ebenfalls geweiht war. Umgekehrt fanden Beisetzungen zugleich in der Kirche, an ihren Mauern und in deren unmittelbarer Nähe, in porticu, und unter den Dachtraufen, sub stillicidio, statt. Das Wort cimetière meinte insbesondere den äußeren Raum um die Kirche, das atrium oder aître. Aître ist deshalb eines der von der Umgangssprache benutzten Worte zur Bezeichnung des Friedhofs, während der Ausdruck cimetière bis zum I5. Jahrhundert eher dem Kirchenlatein zugehört. […] Es gab im Französischen ein anderes, als Synonym für aître benutztes Wort: charnier (Beinhaus). Es kommt, in der Form carnier, bereits im Rolandslied vor. […]

Schädelkapelle aus dem 30jährigen Krieg,
 Tscherbenei im Riesengebirge
Ursprünglich war charnier synonym mit aître. Es bezeichnete gegen Ende des Mittelalters lediglich einen Teil des Friedhofes, d. h. die Galerien, die, den Hof der Kirche umlaufend, mit Beinhäusern überbaut waren. Auf dem cimetière des innocents in Paris des 15. Jahrhunderts befindet sich »ein großer Friedhof, der dicht von Beinhäuser genannten Gebäuden eingeschlossen ist, in denen die Toten zusammengepfercht werden.« Derart läßt sich also der Friedhof vorstellen, wie er im Mittelalter und noch im 16. und 17. Jahrhundert bis hin zur Zeit der Aufklärung existierte.

Immer ist er der rechteckige Hof der Kirche, deren Mauerwerk im allgemeinen eine seiner vier Seiten bildet. Die drei anderen werden häufig von Bogengängen oder Beinhäusern eingenommen. Über diesen Galerien sind kunstvoll die Gebeine oder Schädel und Gliedmaßen angeordnet: Die Suche nach dekorativen Effekten mit Gebeinen als Material führte mitten im 18. Jahrhundert zu der makabren und barocken Bildkunst, wie man sie beispielsweise noch heute in der Kapuzinerkirche in Rom oder in der hinter dem Palazzo Farnese gelegenen Chiesa della Orazione e della Morte sehen kann — Lüster und Ornamente, die aus nichts als kleinen Knöchelchen verfertigt sind.

Kapuzinerfriedhof in der Kirche
Immacolata Concezione, Rom
Woher kamen diese in den Beinhäusern ausgestellten Gebeine? Hauptsächlich aus den großen Gemeinschaftsgräbern, den sogenannten »Armengräbern«, die mehrere Meter breit und tief waren und in denen die nur einfach in ihre Leichentücher gehüllten Körper, ohne Sarg, zusammengeschichtet wurden. Wenn ein Grab gefüllt war, schloß man es und öffnete ein anderes, älteres, nachdem man die ausgetrockneten Gebeine in die Beinhäuser geschafft hatte. Die sterblichen Überreste sehr Wohlhabender, die im Kircheninneren, nicht in den Gruftgewölben, sondern zu ebener Erde, unter den Steinfliesen des Fußbodens beigesetzt worden waren, hatten eines Tages auch den Weg in die Beinhäuser zu nehmen. Noch war die moderne Vorstellung nicht verbreitet, daß der Tote in einer Art eigenem Haus Wohnung finden sollte, dessen immerwährender Eigentümer — oder wenigstens langfristiger Mieter — er wäre, und daß er damit über ein eigenes Zuhause verfügen sollte, aus dem er nicht verdrängt werden könnte. Im Mittelalter und noch im 16. und 17. Jahrhundert war am genauen Schicksal der Gebeine wenig gelegen, vorausgesetzt, daß sie in der Nähe der Heiligen oder der Kirche, dicht beim Altar der Heiligen Jungfrau oder des Heiligen Geistes ihre Ruhe fanden. Es verschlug wenig, was die Kirche damit anfing, wenn sie sie nur in ihren geheiligten Mauern aufbewahrte.

Daß die Toten Eingang in die Kirche und ihren Hofbezirk gefunden hatten, hinderte beide nicht daran, zu öffentlichen Örtlichkeiten zu werden. Der Begriff des Asyls und des Refugiums steht am Ursprung dieser nicht-funeralistischen Bestimmung des Friedhofs. Für den Lexikographen, wie Du Cange einer war, war der Friedhof nicht immer zwangsläufig der Ort, an dem Bestattungen vorgenommen wurden; er konnte auch, unabhängig von jeder funeralistischen Bestimmung, Ort des Asyls sein und war durch diesen Begriff definiert: azylus circum ecclesiam.

Deshalb entschloß man sich, auf diesem Friedhof genannten Asylbezirk — ob dort nun Beisetzungen stattfanden oder nicht — Häuser zu bauen und sie zu bewohnen. Der Friedhof bezeichnete damit wenn nicht ein Wohnviertel, so doch wenigstens eine inselartige Ansammlung von Häusern, die in den Genuß bestimmter fiskalischer oder Domänen-Privilegien kamen. Schließlich wurde dieser Asylbezirk zu einer Stätte der öffentlichen Begegnung und Versammlung wie das Forum der Römer, die piazza major oder der corso mediterraner Städte, mit dem Zweck, dort Handel zu treiben, zu tanzen und zu spielen oder einfach nur gesellig beisammenzusein. Seitwärts der Beinhäuser richteten sich Gewerbetreibende und Läden ein. […]

Katakomben der Kapuziner in Palermo
Hier jedoch ein Text von 1657, der deutlich macht, daß das unmittelbare Nebeneinander von Gräbern und »fünfhundert nichtigen Tändeleien, wie man sie unter diesen Galerien zu Gesicht bekommt«‚ als lästig empfunden zu werden begann. »Inmitten dieses Gewühls [öffentlicher Schreiber, Wäscherinnen, Buchhändler, Altkleiderhändlerinnen] mußte man eine Bestattung vornehmen, ein Grab öffnen und Leichname ausheben, die noch nicht gänzlich verwest waren, während, selbst bei großer Kälte, der Erdboden des Friedhofes mephitische Geruchsschwaden ausströmen ließ.« Wenn man jedoch gegen Ende des 17. Jahrhunderts Anzeichen von Intoleranz wahrzunehmen beginnt, muß doch eingeräumt werden, daß man diese Promiskuität von Lebenden und Toten für mehr als ein Jahrtausend bereitwillig in Kauf genommen hat.

Das Schauspiel der Toten, deren Gebeine an der Erdoberfläche der Friedhöfe zutage traten wie Hamlets Schädel, beeindruckte die Lebenden nicht mehr als die Vorstellung ihres eigenen Todes. Sie waren an die Toten ebenso gewöhnt, wie sie sich mit dem eigenen Tod vertraut gemacht hatten. […]

Quelle: Philippe Ariès: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland. (Übersetzt von Hans-Horst Henschen). (Hanser Anthropologie, Hrsgr Wolf Lepenies u. Henning Ritter.) Hanser, München/Wien 1976. ISBN 3-466-12284-2. Seiten 19 bis 30 (gekürzt)


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