Für Kammermusik-Komponisten der romantischen Ära verkörperten Saiteninstrumente - mit oder ohne Hinzufügung eines Klaviers - das klangliche Ideal. Abgesehen von den Quintetten von Franz Danzi (1763-1826) und Anton Reicha (1770-1836) war das Repertoire für reine Bläserensembles schmal. Umso bedeutender sind Reineckes geniales Sextett und Oktett für Bläser. zumal es sich um substantielle und gut gearbeitete Werke handelt. Das traditionelle Bläserquintett kann tonal etwas „kopflastig“ sein. Reineckes Hinzufügung eines zweiten Horns in op. 271 und zusätzliche Parts für Klarinette und Fagott in op. 216 schaffen jedoch eine klangliche Gewichtung und Mischung, die dem romantischen Ideal näher kommen.
In der romantischen Kammermusik war das Streichquartett, wie es von Haydn, Mozart und Beethoven überliefert war, die Gattung schlechthin. Schubert, Schumann, Brahms und ihre Zeitgenossen erfüllten die klassischen Formen mit romantischem Ausdruck und mit Dramatik. Häufig wurde ein Klavier hinzugenommen, um die Streichergruppe zu erweitern und zu verstärken, doch Holzbläser traten nur selten auf - und wenn, dann zumeist solistisch. Von den Holzbläsern wurde die Klarinette bevorzugt, deren warmen, harmonischen Ton und weiches Legato die Romantiker priesen. Weber, Schumann und Brahms schrieben wunderbare Kammermusiken für die Klarinette, vergleichbare Werke mit Flöte, Oboe, Horn oder Fagott sind jedoch selten. Die Rückkehr der Holzbläser in die Kammermusik als gleichwertige Instrumente war den revolutionären Bestrebungen des 20. Jahrhunderts vorbehalten.
Carl Reinecke, Fotographie, Visitformat, Leipzig, o. J., Brahms-Nachlass, 6,3 x 10,6 cm, Bildmaße: 5,5 x 9,0 cm Quelle: Brahms-Institut, Musikhochschule Lübeck
Carl Reinecke, frühreifes Kind eines Provinz-Musiklehrers, war ein talentierter Violinist und Bratschist; darüber hinaus gehörte er zu Deutschlands prominentesten Konzertpianisten. Schon im Alter von sieben Jahren begann er zu komponieren und brachte es im Laufe eines langen und enorm produktiven Lebens auf einen Katalog von 288 Opus-Nummern in allen Genres. Als ein wirklicher Vollblutmusiker durchlief Reinecke zudem eine prominente und erfolgreiche Laufbahn als Dirigent. Im Jahr 1860 wurde er zum Direktor des Gewandhausorchesters zu Leipzig berufen sowie zum Professor für Klavier und Komposition am dortigen Konservatorium, wo er so unterschiedliche Komponisten wie Max Bruch, Isaac Albéniz und Leos Janácek unterrichtete. Heute ist Reinecke vor allem für seine herrliche Sonate für Flöte und Klavier „Undine“ von 1882 bekannt, ein Werk, das mit Sicherheit auch in dieser Einspielung enthalten wäre, gäbe es nicht schon Dutzende von Aufnahmen.
Seit den 1840er Jahren waren Mendelssohn und Schumann die Leitsterne des blühenden Leipziger Musiklebens. Reinecke verehrte beide und profitierte von ihnen - sein Kompositionsstil und seine künstlerischen Ziele sind stark von diesen beiden älteren Meistern beeinflusst. Doch seit etwa l890 ging Brahms´ Stern auf, und Reineckes Fähigkeiten, obwohl hoch geschätzt, wurden allmählich von denen des größeren Komponisten überschattet. Etwa in jener Zeit begannen Blasinstrumente im Werk Reineckes eine größere Rolle zu spielen - eine Entwicklung, die in seinem Wunsch begründet sein mag, nicht mit Brahms in dessen Domäne zu konkurrieren.
Seite 613 aus "Die Gartenlaube", 1885 Quelle: Wikimedia.
Jüngst wurde Brahms` Dominanz damit erklärt, dass Klangreichtum nicht zu Reineckes Stärken gehört habe. Doch sowohl im Sextett als auch im Oktett vermeidet er mühelos solche Schwächen; seine jahrzehntelange Erfahrung als Dirigent hatte ihm eine intime Kenntnis der Blasinstrumente vermittelt, so dass die Musik durchweg gut klingt. Im Adagio des Oktett etwa schafft sein gekonnter Satz eine zugleich reiche, noble und vorzüglich ausbalancierte Klangfülle. Wenn auch die Fertigkeit, mit der er sein Material durchführt und behandelt, zuweilen stärker in Erinnerung bleibt als die Melodien selbst, ist seine Formbeherrschung doch unstrittig, sein harmonisches Vokabular ausgeklügelt, wenn nicht sogar innovativ.
So ist das einzige wirkliche Geheimnis dieser genialen Stücke jenes, dass sie so lange und so weithin übersehen wurden und dass die erste Aufnahme hundert Jahre auf sich warten ließ.
Gleich die Eröffnungsphrasen des Oktetts zeigen den reichen, warmen und gemischten Klang, den Paare von Fagotten, Hörnern und Klarinetten zusammen mit den hohen Stimmen von Oboe und Flöte erreichen können - eine Klangfülle, die selbst Brahms neidisch gemacht haben könnte. Der erste Satz hat die zu erwartende Sonaten-Allegro-Form - alle Wiederholungen werden in dieser Aufnahme ausgeführt -, doch anstelle des üblichen langsamen Satzes lässt Reinecke ein charmantes Scherzo von Mendelssohnscher Leichtigkeit folgen, das spitzbübisch mit den beiden Hörnern allein endet. Das Adagio, das ausdrucksmäßige Zentrum des Oktetts, ist auf drei breite, klangvolle Höhepunkte hin angelegt, dessen letzten die Oboe trägt. Das folgende Rondo mit der Bezeichnung Allegro molto bildet einen denkbar starken Kontrast. Es ist ein geistvoller Klamauk, angeführt von Flöte und Klarinette, und bietet allen Musikern Gelegenheit, ihre Virtuosität und ihren Elan unter Beweis zu stellen.
Carl Reinecke, Foto von Alfred Naumann, 1893, mit Reineckes Autograph von 1908 Quelle: Wikimedia
Das Sextett, rund dreizehn Jahre nach dem Oktett entstanden, ist im ersten Satz stärker kontrapunktisch gestaltet als das frühere Werk. Der ganze Satz beruht auf einem fallenden melodischen Motiv, das bereits im ersten Takt erklingt und am Ende des Satzes dreimal vom Horn wiederholt wird. Reinecke lenkt im Satz nur ganze achtzehn Sekunden die Aufmerksamkeit auf dieses Motiv, wenn es in kurzer Abfolge von fünf unterschiedlichen Instrumenten zu hören ist - eine Art mikroskopische Durchführungspassage. Die übrigen Sätze sind dreiteilig oder in A-B-A-Form. Das Adagio ist um ein von der Flöte dominiertes munteres Vivace ma non troppo zentriert: im Zentrum des Finales steht eine beschwingte, walzerartige Episode mit der Bezeichnung Moderato con grazia - geeignet, die wilde Coda zu etablieren.
Reineckes sechzehnteiliger Klavierzyklus Von der Wiege bis zum Grabe op. 202 erschien 1888 und wurde ein durchschlagender Erfolg. Vier Jahre später erschien eine Biographie des Komponisten von seinem Hauptverleger J. H. Zimmermann, an deren Ende Reineckes neueste Werke angezeigt wurden. Eine ganze Seite ist op. 202 gewidmet - mit begeisterten Kritikerstimmen, einem Hinweis darauf, dass es bereits in zehnter Auflage vorlag und Beschreibungen zahlreicher Arrangements des Werkes - darunter die hier eingespielte für Flöte und Klavier - ohne Angabe des jeweiligen Urhebers. Es war für erfolgreiche Komponisten wie Reinecke eine übliche Praxis, solche Arrangements weniger bekannten Komponisten anzuvertrauen. So hatte Schumann, von seinem Verleger gedrängt, eine vierhändige Klavierfassung seiner Dritten Sinfonie zu erstellen, einige vierzig Jahre zuvor den jungen Reinecke damit beauftragt.
Spiegelkanon, eigenhändisches musikalisches Albumblatt mit Unterschrift "Carl Reinecke", Eisenach, 22. Juli 1903 Widmung "Zu freundlichem Erinnern", an unbekannten Widmungsträger, Notation mit brauner Tinte auf 1 System; Querformat (13,4 x 20,3 cm); das dreistimmige Notat umfasst 9 Takte im 3/4-Takt. - Durch die zweifache Widmung wird auf die Charakteristik des Spiegelkanons hingewiesen. Quelle: Brahms-Institut, Musikhochschule Lübeck
Die vorliegende Fassung hat der Flötist und Komponist Ernesto Köhler geschaffen. Er wählte acht der sechzehn Stücke aus, deren Reihenfolge und selbsterklärende Titel er beibehielt. In diesen bezaubernden Miniaturen im Geiste Schumanns ist Reineckes Dankesschuld gegenüber dem älteren Meister durch das Zitat des Großvatertanzes unterstrichen. Diese Melodie des 17. Jahrhunderts hatte Schumann in seinen eigenen Werken zitiert, sie war traditionell der letzte Tanz eines Balls. Reinecke führt diese Melodie in Abendsonne ein und baut sie zu einer Klimax von beachtlicher Vitalität auf, wie man es von einem Komponisten erwarten mag, der bis ins hohe Alter seine kreative Energie behielt.
Quelle: Fenwick Smith (Deutsche Fassung: Thomas Theise), im Booklet
Track 3: Bläseroktett op 216 - III. Adagio ma non troppo
TRACKLIST
Carl Reinecke (1824-1910): Musik für Blasinstrumente TT: 67:52
Bläseroktett in B Dur, Op. 216 (c. 1892) 22:55
[01] Allegro moderato 8:43
[02] Scherzo: Vivace 3:04
[03] Adagio ma non troppo 5:53
[04] Finale: Allegro molto e grazioso 5:15
Von der Wiege bis zum Grabe, Op. 202 (1888) 24:30
arrangiert für Flöte und Klavier von Ernesto Köhler
[05] Spiel und Tanz: Vivace 2:32
[06] Rüstiges Schaffen: Allegro 2:35
[07] O schöne Maiennacht: Andante con grazia 3:49
[08] Hochzeitszug: Moderato 3:19
[09] Trost: Con moto 1:40
[10] Geburtstagsmarsch: Vivace 3:15
[11] Im Silberkranze: Andante sostenuto 3:42
[12] Abendsonne: Andante 3:38
Bläsersextett in B Dur, Op. 271 (c. 1905) 20:25
[13] Allegro moderato 8:07
[14] Adagio molto 6:42
[15] Finale: Allegro moderato, ma con spirito 5:36
Members of the Boston Symphony Orchestra:
Fenwick Smith, Flöte (Tracks 1-15) - Keisuke Wabo, Oboe (1-4 & 13-15)
Thomas Martin, Klarinette (1-4 & 13-15) - Craig Nordstrom, Klarinette (1-4)
Jonathan Menkis, Horn (1-4 & 13-15) - Daniel Katzen, Horn (1-4)
Richard Ranti, Fagott (1-4 & 13-15) - Roland Small, Fagott (1-4)
Hugh Hinton, Klavier (5-12)
Recorded:
[01]-[04] 19.08.1992 in Chapin Hall, Williams College, Williamstown, Massachusetts, USA
[05]-[12] 13.12.1992 in Pain Hall, Harvard University, USA
[13]-[15] 01.06.1992 in Jordan Hall, New England Conservatory, USA
Producers:
[01]-[04] Michael Webster
[05]-[12] Fenwick Smith
[13]-[15] Randall Hodgkinson
Engineer: Joel Gordon
Cover Picture: Brian Stablyk: Sunset over Forest
DDD (P) 1993 & (C) 2008
Rogier van der Weyden, (1399/1400-1464): Die Kreuzabnahme, um 1435, Öl auf Holz, 220 x 262 cm, Madrid, Museo de Prado
Rogier van der Weyden: Die Kreuzabnahme, um 1435
Das Bild der Kreuzabnahme wurde um 1435 für die Kapelle der Löwener Schützengilde in der Kirche St. Marien vor der Mauer geschaffen. Die Tafel ist auf Eichenholz gemalt und mißt 220 x 262 cm. Der Erhaltungszustand ist gut; bei der letzten Restaurierung wurden die Vertikalfugen gekittet und die Oberfläche gereinigt. Die Farben haben weitgehend ihr ursprüngliches Erscheinungsbild, bis auf das Blau des Mantels der Frau links und des Rockes von Josef von Arimathia, im wesentlichen wohl ein Azuritpigment, das nachgedunkelt ist. Der Rahmen ist nicht ursprünglich.[…]
Das Rogierbild besaß wohl nie Flügel; der Auszug soll dem Kreuz nach oben Platz schaffen und zugleich die Mitte betonen, im Sinne der Altartafeltradition. Doch ist das Kreuz verkleinert und - kaum erkennbar - in den Hintergrund gerückt; es erhält seine Bedeutung erst durch Christi Leib, der davor durch Josef von Arimathia dem Betrachter und Beter präsentiert wird. Der Mensch ist ausschließlicher Maßstab, nicht irgend ein Ding, und sei es ein noch so heiliges wie das Kreuz. Die räumliche Staffelung vermittelt Bedeutung, trotz der Zusammendrängung der Bildelemente auf schmalem Raum: Was im Vordergrund ist und nicht überschnitten wird, hat die größte Präsenz und folglich höchsten Rang, anders als im Bild Campins. Das klingt banal, doch sind die bildnerischen Grundideen Rogiers einfach und werden leicht verständlich gehandhabt.
Ein schon nach den ersten Schritten erkennbarer Grundsatz ist, daß jeder Rogiers Kunst mißverstehen muß, der sie nicht als darstellend begreift. Bedeutung wird nicht zeichenhaft, sondern über die Gestaltung vermittelt; sie ist also nur über deren Analyse zu erfassen. Verknappt gesagt: Form- und Bedeutungsanalyse können nicht getrennt werden.
So sind z. B. Zentrierung und Symmetrie nicht nur als Form zu lesen, sondern als Bedeutung; sie sind Thema einer höchst kunstvollen formalen Durcharbeitung, die die Bedeutungsaspekte erst entfaltet: Christus ist, soweit möglich, nicht überschnitten, und dies, obwohl er als Leichnam gehalten und getragen werden muß. Sein Leib wird nicht direkt berührt; zwischen ihm und den Händen der beiden Träger, Josef von Arimathia links und Nikodemus rechts, befindet sich immer ein Tuch. Es ist zwar als Grabtuch gemeint, erinnerte aber jeden Kundigen daran, daß der Priester die Monstranz mit verhüllten Händen trägt und daß die Hostie nie auf den Altarstein, sondern auf ein besonders gestaltetes Corporale gelegt wird. Christus wird also auch als Hostie präsentiert, eine sakramentale Deutung des Themas, die bei einem Altarbild naheliegt und unmittelbar einleuchtet. Auch ist der Leib Christi vor den Goldgrund gehoben, nicht auf dem Boden liegend dargestellt; und die Gewandpracht seiner Träger unterstützt die Wirkung seiner Erscheinung. Dies ist nicht allein als Abnahme vom Kreuz (depositio), sondern zugleich als eine Erhebung des Leichnams (elevatio) zu lesen, in sinnfälliger Angleichung an die Elevation der Hostie in der Messe; damit wird der sakramentale Sinn des Geschehens noch deutlicher. Es ist zudem ansatzweise eine Summe der Passion: Die vorangegangene Kreuzigung wirkt in der ausgebreiteten Haltung der Arme und des Leibes Christi nach; die Anteilnahme Magdalenas sowie die Tränen auf den Wangen der Teilnehmer nehmen die Beweinung vorweg; und es ist andeutungsweise eine Grabtragung, so in der Drehfigur des Nikodemus und der Einführung seines in der Bibel nicht genannten Begleiters mit Salbgefäß. Und doch ist die Tafel so konzipiert, daß man jede einzelne Figur, ihren Blick, ihre Gesten, kurzum jedes Bildelement für sich aufzunehmen und zu bedenken hat. In dieser Isolierung der Elemente mag man eine Nachwirkung des zeichenhaftesten aller Passionsbilder, der Arma Christi, sehen. Es ist aber ebensosehr Ergebnis der Bemühungen des Künstlers, das Eigentliche jedes am Geschehen Beteiligten herauszufinden.
Christi Leib wird am strengsten frontal präsentiert; dabei werden seine Hauptwunden auffällig vorgezeigt, die >Fünf Minnezeichen<, d. h. Zeichen der göttlichen Liebe, wie sie in der mystischen Theologie genannt werden; ihre Betrachtung galt als besonders heilswirksam. Nikodemus und Magdalena schauen auf diese Wunden Christi und werden somit dem Bildbetrachter als vorbildliche Beter vorgeführt. Die größte Verehrung wurde der Herzwunde zuteil. Die Theologen hatten ihr eine doppelte sakramentale Ausdeutung gegeben: Bei ihrer Öffnung durch den Speer des Longinus floß erstens Blut, das als Stiftung des Altarsakraments verstanden wurde, und zweitens Wasser zur Begründung des Sakraments der Taufe, so daß insgesamt der Lanzenstich als Moment der Entstehung der Kirche gefeiert wurde. Das Herz Jesu als Sitz der Göttlichen Liebe ist das eigentliche, bezeichnenderweise auch geometrische Zentrum des Bildes, so daß die Mitte nicht nur in Befolgung der Altarbildkonvention betont ist, sondern ebenso im Sinne der Herz-Jesu-Frömmigkeit; zugleich ist dies ein Hinweis auf den Grad der Konstruiertheit der Bildkomposition. Daß hier kunstreich Kultbild- und Andachtsbildmotive verschmolzen sind, wird nur den verwundern, der in herkömmlicher Weise meint, ein Bild könne nur eine einzige Funktion gehabt haben. Kommen wir deshalb noch einmal kurz auf den Auftrag zurück: Die niederländischen Schützengilden waren ursprünglich geistliche Bruderschaften hochrangiger adliger und patrizischer Männer und verweltlichten erst später. Ihre Kapelle hatte zwar Altäre, war aber keine Kirche im üblichen Sinne, sondern vor allem Andachtsraum; das Altarbild war also immer für die liturgische wie die private Andacht gedacht. Zugleich war sie ein anspruchsvolles und wahrscheinlich sehr teures Kunstwerk, ein Bild zum Vorzeigen, das den Rang bzw. die Prätentionen der Auftraggeber demonstrieren sollte. Verschiedene, sogar gegensätzliche Intentionen mußten also im selben Werk verwirklicht werden. Die Lehre vom christlichen Bild, die Papst Gregor der Große um das Jahr 600 entworfen hatte, war im 15. Jahrhundert noch keineswegs außer Kraft. In ihr hatte der Kirchenlehrer festgehalten, daß Bilder als >stumme Predigt< - so sagt er selbst - für die literaturunkundigen Laien die Erinnerung an die Taten Gottes sowie der Heiligen wachhalten sollen, daß sie bei der kultischen Verehrung Gottes dienen sowie die Andacht entzünden sollten. Waren die Funktionen von Lehre, Kult und Andacht in der Theorie also vermischt, zeichnete sich in der Praxis bald eine Trennung ab: Seit dem 11. Jahrhundert wurde aus der allgemeinen, liturgisch geprägten Kunst eine speziell didaktische und eine eher der Andacht dienende herausgelöst. […] Bis ins 18. Jahrhundert finden wir immer wieder die Verbindung verschiedener Funktionen in einem Bild, zumeist bei gleichzeitiger Akzentuierung einer Forderung.
Dennoch sind zunächst einmal die Bildgattungen zu unterscheiden: Altarbilder werden tendenziell so konzipiert, daß sie Schranken aufbauen und Distanz zum Betrachter schaffen, durch Geschlossenheit, parataktische Reihung, Monumentalität, Symmetrie, aber auch die Wahrung zeremonieller Formen, wie z. B. Frontalität; angemessen ist architektonischer Schmuck. Die Eigenschaft, ein >Gegenüber< zu sein, wird durch die Abriegelung und Vergoldung des Hintergrundes verstärkt. Andachtsbilder aber bauen die Distanz zum Betrachter ab: Christus und Maria werden >demonstrativ< vorgezeigt; deshalb wird oft die Raumgrenze des Gemäldes nach vorne hin durchbrochen, die Figuren werden ihm nahegerückt, er wird also nicht nur angesprochen, sondern nachdrücklich überredet. Vom Bild soll starke Wirkung, ja Erschütterung ausgehen, Mitleid wird eingefordert. Die einzelnen Figuren bieten, wie James Marrow gezeigt hat, einen >set of responses<, d. h., sie eröffnen vielfältige Möglichkeiten der Anteilnahme, sogar der Identifizierung, je nach Alter, Geschlecht und Mentalität der Betrachtenden sowie ihrer jeweiligen Stimmungslage. Das ist u. a. ein Grund dafür, warum jede Person im Bilde anders am Geschehen teilnimmt und warum wirklichkeitsnahe Gestaltung und Vergegenwärtigung der einzelnen Charaktere angestrebt ist: warmherzig-eifrig der Johannes, bis zur Ohnmacht leidenschaftlich Magdalena, auf unterschiedliche Weise trauernd, bekümmert, gefaßt die anderen. Rogier betreibt die Mischung der Funktionstypen sehr subtil. Der Hintergrund, das Maßwerk in den Ecken und die Rahmung des Bildes beziehen sich auf einen gemalten Altarschrein; die Figuren erscheinen zugleich als Skulpturen und als nach dem Leben gemalt. Sie sind >historia<, also Erzählung, und streng repräsentative, statuarische Aufreihung. Das belegt, daß sich Rogier mit der aus der antiken Kunsttheorie stammenden Idee des >Paragone<, d.h. des Wettstreits zwischen den Gattungen Skulptur und Malerei beschäftigt hat. Die Ausdruckssteigerung einzelner Figuren, so des Johannes und der Magdalena, ist vor allem aus den Forderungen der Andachtsmalerei zu erklären; die Stillstellung und die angedeutete Symmetrisierung der Genannten bezieht sich jedoch auf skulpturale Kultbild-Traditionen. Die Reduktion des Raumes mag für beide Aufgaben gleichermaßen gelten; aber die Herausarbeitung einiger Gedanken zur frommen Betrachtung stammt aus der Andachtskunst und deren Tendenz zu Vertiefung und Verdichtung. Die genaue Malweise Rogiers zieht den Betrachter ganz nah an das Dargestellte heran, läßt ihn daran haften, nimmt ihm zeitweise den Überblick. Das Bild hat auf der einen Seite eine erstaunliche Einfachheit der Wirkung, aber es fordert auch den langsamen, immer wieder innehaltenden, ja sich verlierenden Blick, der nicht mehr das Ganze im Auge hat.
Otto von Simson hat darauf aufmerksam gemacht, wie einfach und gedankenreich zugleich Rogiers Erfindung der zusammengebrochenen, von Johannes und einer der Marien gehaltenen Muttergottes ist. In ihr wird verdeutlicht, daß niemand unterm Kreuz so gelitten hat wie die mater dolorosa. In der Annäherung ihrer Haltung an diejenige Christi, die man fast schon eine Parallelisierung nennen kann, wird ihre >compassio< (das Mit-Erleiden) als der >passio< ihres Sohnes ähnlich gezeigt und zugleich ihre Rolle als Co-Redemptrix (Miterlöserin) sichtbar gemacht. Dies ist subtil ausgeführt, wie man z. B. an den Händen beobachten kann, der Annäherung und Angleichung der inneren, der spiegelbildlichen Wiederkehr der äußeren Hände von Mutter und Sohn, auch als Zeichen der Zuwendung beider zueinander. Marias Compassio wird als >mystisches Hängen am Kreuz< gedeutet. Das Auf-den-Boden-gesunken-Sein ist Ausdruck ihrer >humilitas<. Die Angleichung Mariens an Christus geht jedoch absichtsvoll nicht bis zu echter Parallelisierung, so wie auch Tod und Ohnmacht nur gleich zu sein scheinen: Der Sohn bleibt der Mutter übergeordnet, deshalb wird er höher und weiter vorn gehalten und nimmt die Mitte ein. Er bleibt in der Vorderfläche, während Mariä Füße nach hinten bis zum Kreuzesholz reichen. Bei Maria ist der Kopf frontal zum Betrachter gedreht, bei Christus aber der gesamte Leib, wobei in der Kopfhaltung feinsinnig sowohl Zuwendung wie Leiden ausgedrückt sind. Christus ist vom Licht fast zur Gänze bestrahlt und erscheint sehr hell, Maria aber ist dunkel gekleidet und liegt teilweise im Schatten ihres Sohnes. Das Blau Mariens ist eine Farbe hohen symbolischen Ranges, weshalb für sie das teure Lapislazuli-Pigment verwendet wurde. Aber das von Christus ausgehende Licht gilt mehr als jede Farbe.
Das Werk erweist sich also nicht nur als vielschichtig, sondern als Verknüpfung von Gegensätzen, z. T. sogar Paradoxen: Tod und Lebendigkeit, Moment und Dauer, Nähe und Distanz, Wirklichkeitsnachahmung und Idealisierung zugleich usw. Derartiges Insistieren auf dem Paradox ist ein Zug des Neuen Testamentes, wird seit Augustinus' Exegese aber zum Kennzeichen seiner Schule. Rogier folgt diesem augustinischen Denkstil; er malt gleichsam als augustinischer Theologe. Hulin de Loo äußerte zuerst die Ansicht, Rogier, der erst im Alter von 27 Jahren in Tournai als Lehrling bei Robert Campin genannt wird, jedoch kurz zuvor als Magister (ohne Nennung in welchem Fach oder Beruf) vom Rat der Stadt geehrt wurde, habe eine geistliche bzw. akademische Ausbildung genossen. Das konnte nicht bewiesen werden. Auch konnte sich ein bildungswilliger Maler leicht theologische Kenntnisse aneignen. Immerhin stand Rogier dem strengsten Orden der Kirche, den Kartäusern, nahe, wie seine Schenkungen an verschiedene Klöster und der Eintritt seines Sohnes Corneille in die Kartause Herinnes belegen. Ich halte es für denkbar, daß er selbst - vielleicht nur eine Zeitlang - Novize bei den Kartäusern war; da das Noviziat sechs Jahre dauert, wäre auch die biographische Lücke z.T. erklärt.
Wir müssen dies Bild eine thematische Verdichtung nennen, zugleich ein Werk von neuartiger Eindringlichkeit. Die Gestaltung steht unter dem Primat des Denkens. Aber der gedankliche Reichtum bzw. die Genauigkeit von Rogiers Denken werden erst durch die Analyse seiner Kunst sichtbar. Die intellektuellen Qualitäten zeigen ihn als >denkenden Künstler<, die gestalterische Umsetzung als >Bilderfinder<, als >inventar<. Sein neuer theoretischer Ansatz ist mit einer intensivierten Reflexion und Rezeption der Rhetorik verbunden.
Quelle: Robert Suckale: Roger van der Weydens Bild der Kreuzabnahme und sein Verhältnis zu Rhetorik und Theologie. In: Reinhard Brandt (Hsgr): Meisterwerke der Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Andy Warhol, Reclam, Leipzig 2001, ISBN 3-379-20013-1 (zitierte Teile aus Seiten 13-22)
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Reposted on November 23, 2014
Diesen Post widme ich meinem langjährigen Freund und Kollegen Anchusa, dem Betreiber von Harmoniemusik und Coautor von Meeting in Music. Seine Blüten sind enzianblau bis himmelblau, ähneln dem etwas helleren Vergissmeinnicht, und erscheinen im Frühsommer. Seine Musik, die viel zu selten erklingt, erfreut mein Herz.
FUNDSTÜCKE
Die ausführlichsten Informationen über Carl Reinecke bieten seine "offizielle Website", der notorische Wikipedia-Eintrag, und die Werksverzeichnisse bei IMSLP und bei Bach-Cantatas.
In seinem Blog hält Meister Ramus ein leidenschaftliches Plädoyer für Carl Reinecke.
2005 sind Carls Reineckes "Erlebnisse und Bekenntnisse. Autobiographie eines Gewandhauskapellmeisters" erschienen, herausgegeben von Doris Mundus, Lehmstedt Verlag Leipzig, wozu eine interessante Rezension erschienen ist.
Ein weiteres Buch stammt von Katrin Seidl: "Carl Reinecke und das Leipziger Gewandhaus". Mit dieser Arbeit, in der bisher vernachlässigte Quellen berücksichtigt werden, entsteht ein differenziertes Bild von Reineckes Wirken, in dem auch das vielschichtige Bedingungsgefüge des Leipziger Musiklebens berücksichtigt wird.
Auch historische Notenausgaben sind digitalisiert verfügbar.
Dictionary of Art Historians: Biographische und methodologische Informationen über Kunsthistoriker sind oft schwer zu finden. Sie sind versteckt in schwer zugänglichen Nachrufen oder Festschriftenin fremden Sprachen, und so bleibt meist verborgen, wo ein Kunsthistoriker ausgebildet wurde, wer ihn beeinflußte, ja sogar was seine methodologischen Prämissen waren. Diese Datenbank will Forschern als Ausgangspunkt für ihre Arbeit zum Hintergrund wichtiger Kunsthistoriker der westlichen Kunstgeschichte dienen.
Ein Artikel "Rogier van der Weyden" aus "Oxford Art Online" liegt zum Download als Bonus dem CD-Info-Paket bei.
Da bin ich jetzt aber platt! Ganz herzlichen Dank!
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