25. März 2013

Arthur Honegger: Alle Violinsonaten

Von seinen bürgerlichen Anfängen in Le Havre über seinen Auftritt auf der Pariser Szene als Mitglied der Les Six bis zu seinen letzten Jahren als Eckpfeiler der französischen musikalischen Aristokratie verbrachte der Französisch-Schweizer Komponist Arthur Honegger sein Leben – sowohl musikalisch als auch geografisch – in ungleichen Welten. 1892 in eine musikalisch gesinnte Schweizer Familie geboren, studierte Honegger die Geige und erhielt im Alter von dreizehn Jahren Harmonieunterricht. Unter seinen Kompositionen aus frühester Kindheit waren zwei Opern und eine Reihe von an Beethoven orientierten Sonaten für Violine und Klavier. Durch Bachs Kantaten beeinflußt, begann Honegger 1907 sein erstes Oratorium, ein Genre, welches ihm 1921 mit Le roi David dauerhafte Anerkennung verschaffen würde.

Von 1909 bis 1911 studierte Honegger im Zürcher Konservatorium, wo er die Musik von Wagner, Strauss und Reger entdeckte. 1912 setzte er seine Studien am Conservatoire de Paris fort, und unterzog sich sieben Jahre lang dem Training in Harmonie, Kontrapunkt, Dirigieren und Komposition. Letztendlich gab er das ernsthafte Violinstudium zu Gunsten des Komponierens auf. Während seines Studiums freundete sich Honegger mit den Komponisten an, mit denen er bald zur Gruppe Les Six gerechnet wurde: Milhaud, Poulenc, Tailleferre, Auric, und Durey. Ein weiteres Mitglied dieses musikalischen Kreises war die Komponistin und Pianistin Andrée Vaurabourg, die Honegger im Jahr 1926 heiratete. Sie gab oft Erstaufführungen von Honeggers Klavierwerken, und begleitete ihn in den 1930er Jahren auf Tourneen durch Europa und Amerika.

Obwohl Schweizer Staatsbürger, blieb Honegger während des Zweiten Weltkriegs in Frankeich, unterrichtete an der École Normale de Musique und schrieb fürs Radio. Seine Musik war in Nazi-Deutschland und den annektierten Ländern bis 1945 verboten, wurde aber weiterhin in der Schweiz aufgeführt, wohin er häufig reiste. Sein Schaffen, substantiell während der Kriegsjahre, umfaßte sowohl ernste Konzertmusik - darunter vier Sinfonien - als auch Radio- und Filmmusiken. 1947, während einer Konzertreise in Amerika, erlitt er einen Herzinfarkt, und seine nachlassende Gesundheit beschränkte seine musikalischen Aktivitäten bis zu seinem Tod 1955 in Paris, ein Jahr nachdem ihm die Französische Regierung die Auszeichnung Grand Officier de la Légion d'honneur verliehen hatte.

Joachim Patinir: Die Taufe Christi, 1510-1520, 59,5 x 77 cm,
Wien, Kunsthistorisches Museum
Die vier Sonaten auf dieser CD umspannen fast dreißig Jahre und illustrieren Honegger Karriere, die mit klassischen Strukturen begonnen hatte und am Ende wieder zu diesen zurückkehrte. Die 21-jährige Kluft zwischen der Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier (1919) und der Sonate für Violine Solo (1940) zeigt Honeggers Bewegung in den 1920er und 1930er Jahren weg von der Kammermusik und hin zu großformatigen Arbeiten. Trotz des außermusikalischen Charakters vieler Stücke, darunter sein bekanntestes Werk, Pacific 231 (1923), ein durch die Dynamik einer Dampflokomotive inspirierter sinfonischer Satz, wollte Honegger seine Werke von einem rein musikalischen anstatt einem programmatischen Standpunkt verstanden wissen. Sein Werk umfasst eine breite Palette von Genres, einschließlich religiöser Oratorien, mehrerer Opern, neun Ballette, fünf Sinfonien, 43 Filmmusiken, zahlreicher Kunstlieder und einer gehörigen Portion anderer Gelegenheitskompositionen.

Wegen der zwei Jahrzehnte zwischen den ersten drei Violinsonaten und der letzten, der Solo-Sonate, ist die anti-romantische Ästhetik von Les Six merklich abwesend; Bildung und Popularität der Avantgarde-Gruppe fallen in die 1920er Jahre. Les Six, getauft durch den Kritiker Henri Collet, war als Speerspitze von Erik Satie und Jean Cocteau eine Reaktion gegen nachwagnerische Romantik und Französischen Impressionismus und celebrierte stattdessen Einfachheit und Klarheit. Obwohl Honegger durch seine Zusammenarbeit mit Les Six breite Anerkennung gewann, hat er wenig mit deren Ästhetik gemein, und belegt damit die Tatsache, daß diese sechs Komponisten eher durch Freundschaft als durch gemeinsame Stilprinzipien verbunden waren. Obwohl er gelegentlich im unbeschwerten, neoklassizistischen Geist der Les Six komponierte, verdankt seine Musik viel der Chromatik von Wagner, Berg und Schönberg, aber auch der Modalität von Fauré und Debussy. Seine komplexe kontrapunktische Sensibilität, die von seiner lebenslangen Bewunderung für Bach herrührt, weist Honegger als den strengsten unter den sechs Komponisten aus, indem er die Deutsche und die Französische Schule mit klassischen Traditionen und modernen Trends kombiniert.

Die Sonate für Violine und Klavier in D-Moll (»Nr. 0«) wurde 1912 während des ersten Jahres Honeggers am Pariser Konservatorium komponiert, blieb aber zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht. Das langwierige Largo-Agitato-Largo assai ist in tiefernstes Pathos und wehmütige Suche getaucht. Häufig erhebt sich die Geige über bewegte Akkordpassagen des Klaviers, eine Textur, die Honegger in späteren Sonaten wieder aufnimmt. Im Wechsel zwischen einem nachhaltigen, sanften Thema und einem schwereren Marsch, wird das chromatische Molto adagio durch ein Sostenuto-Allegro-Maestoso-Finale fortgesetzt, in dem ein flüchtiger Kontrapunkt durch langsame, lyrische Zwischenspiele ausgeglichen wird. Das Thema des ersten Satzes kehrt im Finale als Coda wieder, unterbrochen von donnernden Klavierakkorden. Obwohl Honeggers harmonische Sprache noch nicht voll entwickelt ist, zeigt diese frühen Sonate solides Handwerk, einen natürlichen Sinn für Struktur und einen festen Griff für Instrumentierung.

Joachim Patinir: Die Versuchung des Hl. Antonius, c. 1515, 155 x 173 cm,
Madrid, Museo Nacional del Prado
Von 1916 bis 1920 schuf sich Honegger in den Pariser Kreisen seine Reputation als geschickter Komponist von Kammermusik. Geschrieben zwischen 1916 und 1918, enthält die Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier ein Scherzo anstelle eines langsamen Mittelsatzes. Das Andante sostenuto wächst aus atmosphärischer Melancholie zu einem chromatischen, akkordischen Höhepunkt, und verdampft schließlich in einem Nebel von sanft schaukelnden gebrochenen Oktaven und hohen, offenen Intervallen. Das temperamentvolle Presto wird von einem zarten Abschnitt mit gedämpfter Violine unterbrochen, aber die Ruhe wird schnell von einer panischen, fugierten Rückkehr zum Hauptthema gestört. Das düstere Adagio-Allegro assai basiert auf einem – an einen Grabgesang mahnenden - Ostinato im Klavier, während die Violine ein Lamento von Gegenstimmen webt. Nach einigem Poltern kocht der Übergang in eine kontrapunktische Entwicklung auf und die erhöhte rhythmische Fahrt kehrt in das eröffnende Klagelied zurück.

1919 komponierte Honegger die Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier und führte sie selbst, mit Andrée Vaurabourg am Klavier, auf. Mehrdeutig zwischen zwei tonalen Zentren B und F schwebend, zeigt diese kurze, strukturell prägnante Arbeit Honeggers gestiegenes Interesse an Polytonalität. Das Allegro cantabile ist verträumt und lyrisch, arpeggierte Klavierfiguren plätschern unterhalb des Violinstimme. Mit bedrohlichen Klavierakkorden eröffnend, über die die gedämpfte Violine wie Gaze schwebt, steigert sich das chromatische Larghetto zu einem gewichtigen Höhepunkt, der im schwachen Schimmer von D-Dur verschwindet. Eine kurzes Vivace assai folgt, abgeschnitten und ausgelassen und dann in eine schimmernde Melodie aufblühend. Eine frenetische Coda beendet die Sonate abrupt.

Im Winter 1940 stemmte Honegger sich gegen die trostlose Realität des Krieges, indem er mehrere von Bach inspirierte Werke schuf, darunter die Sonate für Violine Solo in d-Moll. Diese düstere, straff viersätzige Arbeit zahlt direkt Tribut an Bach, der selbst drei Sonaten für Violine Solo geschrieben hatte. Ein strenges Allegro, jede romantische Hoffnung zerstreuend, wird von einem klassischen, Sarabande-artigen Largo von tief herber Schönheit gefolgt. Mit gedämpft Violine enthält das Allegretto grazioso eine traurige Musette, dessen Melodie sich um ein pochendes Dröhnen windet. Das schillernde, Gigue-artige Presto ist fest in D-Moll geätzt, seine hektischen Arpeggien und Doppelgriffe geben Hinweise auf Honeggers eigene Meisterschaft auf der Violine.

In einer konfliktreichen Zeit, gewann Honegger (und seine Musik) ein Renommee von Anmut und Würde; er war sowohl Schweizer als Franzose, traditionell und avantgardistisch, Komponist und Violinist, Melodiker und Kontrapunktiker, Liebhaber der Eisenbahn und Anhänger von Bach. Nach Honeggers Tod, sagte Jean Cocteau: »Arthur, du konntest den Respekt einer respektlosen Zeit erringen. Du hast die Wissenschaft des mittelalterlichen Architekten mit der Praxis des bescheidenen Steinhauers vereint.«

Quelle: Anyssa Neumann, im Booklet [Übersetzung: WMS.Nemo]

Track 10: Sonata for Solo Violin in D minor (H.143) - I. Allegro



TRACKLISTArthur HONEGGER (1892-1955) 

Complete Violin Sonatas

Sonata for Violin and Piano in D minor, H. 3 (1912)   24:35

[01] Largo - Agitato - Largo assai                    10:36
[02] Molto adagio                                      5:28
[03] Sostenuto - Allegro - Maestoso                    8:31

Sonata No. 1 for Violin and Piano, H. 17 (1916-18)    21:31
(dedicated to Andrée Vaurabourg)

[04] Andante sostenuto                                 8:11
[05] Presto                                            5:02
[06] Adagio - Quasi allegro - Allegro assai - Adagio   8:18

Sonata No. 2 for Violin and Piano, H. 24 (1919)       11:56
(dedicated to Fernande Capelle)

[07] Allegro cantabile                                 4:48
[08] Larghetto                                         4:22
[09] Vivace assai - Presto                             2:46

Sonata for Solo Violin in D minor, H. 143 (1940)      14:59

[10] Allegro                                           6:13
[11] Largo                                             2:55
[12] Allegretto grazioso                               1:51
[13] Presto                                            4:00

                                        Playing Time: 73:02

Laurence Kayaleh, Violin 
Paul Stewart, Piano 

Recorded in Pollack Hall, Schulich School of Music, McGill University, 
Montreal, Canada, from 19th to 21st December, 2008
Producer, Engineer and Editor: Jason O'Connell 
Editing Engineer: Jeremy Tusz 
Cover Picture: Spiral staircase in the Arc de Triomphe, Paris 
DDD
(P) 2009 (C) 2010 

Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft
Joachim Patinir: Fahrt über den Styx in die Unterwelt, 1515-1524, 64 x 103 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado
Vicos Idee von der Philologie und von der «Welt der Völker» als Gegenstand der Philologie habe ich früh kennengelernt; sie hat die aus dem deutschen Historismus stammenden Motive meiner Tätigkeit auf eine besondere Weise ergänzt und ausgebildet. Die vichianischen Gedanken, so wie sie auf mich gewirkt haben, will ich nun aufzählen und besprechen, und zwar in freier Verbindung mit den Folgerungen, die ich für meine gegenwärtige Absicht aus ihnen gezogen habe.

Ich beginne mit Vicos Theorie der geschichtlichen Erkenntnis. Sie entsprang seiner Polemik gegen Descartes' geometrische Methode und beruht auf dem Satz, daß man nur erkennen könne, was man selbst geschaffen habe. Die Geschichte der Menschen oder die «Welt der Völker» (im Gegensatz zur Welt der Natur, die Gott geschaffen habe) hätten die Menschen selbst geschaffen; also könnten die Menschen sie erkennen. Auch die von uns entferntesten, frühesten Formen des menschlichen Denkens und Handelns müßten in den Möglichkeiten (Vico sagt modificazioni) unseres eigenen menschlichen Geistes aufzufinden sein, so daß wir sie verstehen können. Vico wollte mit dieser Theorie seiner Vision von den Anfängen der Kultur, der Bildung der ersten Gesellschaftsformen und den dichterisch-ritualistischen Ursprüngen menschlichen Denkens und menschlichen Ausdrucks eine erkenntnistheoretische Grundlage geben. Sie ist wohl der erste methodische Versuch einer Theorie des historischen Verstehens; und, wo nicht die Legitimierung, so doch die Klarstellung eines Tatbestandes, dem wir uns nicht entziehen können: daß wir nämlich geschichtliche, ja überhaupt zwischenmenschliche Vorgänge (private, geschäftliche, politische) auf eine besondere, unmittelbare Weise, nach unserer inneren Erfahrung beurteilen; das heißt, indem wir «ihre Prinzipien innerhalb der Modifikation unseres eigenen menschlichen Geistes aufzufinden» suchen. Zwar sind seit der Zeit Vicos viele strenger wissenschaftliche Methoden entwickelt worden, die das Verhalten der Menschen zueinander beobachten und registrieren; aber sie haben das praktische Vertrauen in die spontane Fähigkeit zum Verstehen des anderen aus der eigenen Erfahrung weder erschüttert noch ersetzt (ihre Resultate haben diese Fähigkeit vielfach noch bereichert); auf geschichtliche Vorgänge, wie überhaupt auf Vorgänge, die nicht den besonderen Bedingungen des wissenschaftlichen Experiments unterworfen werden können, sind die gedachten Methoden in ihrer strengen Form auch gar nicht anwendbar. So bleibt die Erforschung geschichtlicher Vorgänge im weitesten Sinne (was alles in unserem Zusammenhange geschichtlich ist, wird gleich erörtert werden) eine Sache des urteilenden Verstehens oder des «Wiederauffindens» im Geiste des Erforschenden. Zwar hat die Geschichtsforschung eine exakte Seite, die man wohl eher gelehrt als wissenschaftlich nennen sollte, nämlich die Technik der Auffindung, Übermittlung, elementaren Deutung und Vergleichung der Zeugnisse; aber wo Auswahl, Sinndeutung, Beurteilung und Anordnung eingreifen, ist die Tätigkeit des Historikers weit eher einer Kunst als einer modernen Wissenschaft vergleichbar. Es ist eine mit gelehrtem Material arbeitende Kunst.


Joachim Patinir: Landschaft mit dem Hl. Hieronymus, 1515-1519,
74 x 91 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado
Ein anderer Aspekt der vichianischen Erkenntnistheorie ist dieser, daß er das Geschichtliche mit dem Menschlichen gleichsetzt. Die Welt der Völker, il mondo delle nazioni, umfaßt bei ihm nicht nur die politische Geschichte, sondern auch Geschichte des Denkens, des Ausdrucks (Sprache, Schrift und bildende Kunst), der Religion, des Rechts, der Wirtschaft: weil alle diese Dinge aus den gleichen Bedingungen, nämlich dem jeweiligen Kulturzustande der menschlichen Gesellschaft, hervorgehen und somit entweder im Zusammenhang miteinander oder gar nicht verstanden werden können; die Einsicht in einen dieser Teile menschlichen Gestaltens in einem bestimmten Stadium der Entwicklung muß zugleich den Schlüssel zu allen anderen Gestaltungen des gleichen Stadiums liefern. Vico geht weiter, für ihn gibt es eine in drei Entwicklungsstufen verlaufende «ideale ewige Geschichte», einen Modellverlauf, der sich zyklisch wiederholt und der im Zusammenhang verstanden werden muß. Nun ist der wichtigste Gegenstand des Verstehens für ihn die Frühzeit der Entwicklung, weil er der schwierigste ist. Die äußerste Anstrengung, so etwa sagt er, sei erforderlich, um in den Modifikationen unseres schon zu voll entwickelter Vernunft gelangten Geistes die ganz von Instinkt und Phantasie beherrschten Frühformen der Gesittung wiederzufinden. Und in der Darstellung der Einheit der Frühkulturen bringt Vico auf eine unvergleichlich großartige Weise dasjenige zur Verwirklichung, was die moderne, Kritik Stil nennt: die Einheitlichkeit aller Gestaltungen einer jeden geschichtlichen Epoche. Es ist kürzlich geäußert worden, Vico bedeute wenig für die Ästhetik, er sei eher ein Geschichtsphilosoph oder ein Soziologe; das heißt ihm vorwerfen, daß er nicht eine besondere Ästhetik gründete, sondern eine Welt, in die sie hineingehört. Sein Ausgangspunkt ist Kritik der menschlichen Ausdrucksformen, der Sprachen, Mythen und Dichtungen («una nuova arte critica»).

Ein kleiner Schritt weiter führt von der Erkenntnistheorie Vicos zu seiner Begründung des Historismus. Er schrieb sein Buch in einer Epoche, die einer Würdigung der geschichtlichen Entwicklung nicht günstig gesinnt war. Schon allein wegen der verschiedenartigen, miteinander unvereinbaren, oft augenscheinlich widervernünftigen Lebensformen, die die Geschichte hervorgebracht hatte, strebten viele führende Geister von dem geschichtlich Gewordenen fort, und setzten ihm die eigentliche, vernünftige und ursprüngliche Natur des Menschen entgegen, die wiederherzustellen sei. Demgegenüber sagt Vico mit großer Schärfe, daß es keine andere Natur des Menschen gebe als seine Geschichte. Natura di cose, so heißt es bei ihm (Scienza Nuova 147), altro non è che nascimento di esse in certi punti e con certe guise, le quali sempre che sono tali, indi tali e non altre nascon le cose. Mit dem ersten Teile dieses Satzes - Natur der (menschlich-gesellschaftlichen) Dinge ist nichts anderes als ihr Entstehen zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen - ist der historische Relativismus oder Perspektivismus begründet; mit dem zweiten - immer wenn die Zeiten und Umstände so sind, entstehen daraus die Dinge so und nicht anders - wird die zur Geschichte gewordene Natur einer Gesetzmäßigkeit unterworfen. An vielen Stellen der Neuen Wissenschaft bedeutet natura nichts anderes als «geschichtliche Entwicklung» oder Stufe derselben; was die Völker gemeinsam haben, ihre Natur, ist nichts anderes als der gesetzmäßige Verlauf ihrer Geschichte; dieser Verlauf ist ihre gemeinsame Natur, la natura commune delle nazioni, von der die Neue Wissenschaft handelt.

Joachim Patinir: Der Hl. Hieronymus in der Wüste, c. 1520, 78 x 137 cm,
Paris, Musée du Louvre
Der Ablauf oder die natürliche Geschichte ist, nach Vico, das Werk der göttlichen Vorsehung. Obwohl sie nur mit innergeschichtlichen Mitteln wirkt, ist ihr Werk doch vollkommen; also ist auch jede der Entwicklungsstufen notwendig, in sich vollendet und gut. Vico liegt viel daran, zu zeigen, wie einfach und wohlgeordnet der von ihm der Vorsehung zugeschriebene Entwicklungsplan sei; das Ganze der Geschichte ist «ein ewiger platonischer Staat», trotz des ständigen Wechsels. Diese vichianische Form des historischen Relativismus bezieht sich also hauptsächlich auf die gesetzmäßig aufeinander folgenden Geschichtsstadien, weit weniger auf die Varianten, die die Entwicklung bei den einzelnen Völkern zeigt; die vichianische Form war darum weit weniger geeignet für die praktische Anwendung in der Philologie als die Herders und seiner Nachfolger, die vom individuellen Geist der Völker ausging. Vico leugnet die Varianten innerhalb der allgemeinen Entwicklung nicht, aber nicht ihnen gehört sein Interesse; ihm geht es um das allgemein Gesetzliche, das sich in der Entwicklung aller Völker zeigt; es sind die Stufen dieser Entwicklung, die jede aus ihren Voraussetzungen verstanden werden müssen und die, jede in ihrer Weise, als zeitlicher Ausdruck der ewigen Vorsehung, vollkommen sind.

Jedenfalls ist hier, zugleich mit dem Stilbegriff, der Historismus ins Leben getreten; er ist, so scheint mir, die kopernikanische Entdeckung der Geisteswissenschaften. Tatsächlich ist die Wirkung dieser Entdeckung, seit sie durch die Romantik allgemein zugänglich wurde, ungeheuer gewesen. Das absolute dogmatische Urteil nach einem festen Schema, das zwar auch im Neuklassizismus nicht unbedingt, aber doch nur durch den «guten Geschmack» eingeschränkt, geherrscht hatte, wurde gründlich zerstört. Der Horizont wurde gewaltig erweitert, und die Erforschung früher und fremder Kulturen, wie sie seit dem Beginn des 19.Jahrhunderts betrieben wird, beruht auf der historistischen Gesinnung des Verstehens. Unser Historismus in ästhetischen Fragen ist uns so selbstverständlich geworden, daß wir uns seiner kaum noch bewußt sind. Wir genießen die Kunst, die Dichtung, die Musik der verschiedensten Völker und Zeiten mit der gleichen Bereitschaft zum Verständnis. Die Kulturen, die wir primitiv nennen und die zu verstehen für Vico eine so große Anstrengung bedeutete (den meisten seiner Zeitgenossen waren sie weder verständlich noch auch nur interessant), haben für uns schon seit langem einen ganz besonderen Reiz. Die Verschiedenheit der Völker und Zeiten schreckt uns nicht mehr; weder die Gelehrten und Kritiker unter uns, noch selbst einen großen, ständig wachsenden Teil des allgemeinen Publikums. Das perspektivische Verstehen hört zwar sofort auf, sobald die Politik im Spiele ist; aber im Ästhetischen üben wir unsere Anpassung an verschiedene Kulturformen oder Epochen während eines einzigen Museumsbesuches, in einem einzigen Konzert, zuweilen sogar im Kino, beim Durchblättern einer illustrierten Zeitschrift oder selbst beim Anblick der Reklameschriften von Reiseagenturen. Das ist Historismus, genau wie in Molieres «Bourgeois gentilhomme» die tägliche Sprache von Monsieur Jourdain, zu seiner großen Überraschung, Prosa ist. Die meisten von uns sind sich ihres Historismus ebensowenig bewußt wie Monsieur Jourdain seiner Prosa. Es gibt sogar in den letzten Jahrzehnten wieder einflußreiche Kritiker, deren deskriptive und oft dogmatische Urteilskategorien absolute Geltung beanspruchen. Es gelingt freilich nicht mehr, die klare Prägnanz mancher großer vorhistoristischer Kritiker zu erreichen, die, innerhalb ihres Bezirkes, meisterhaft formuliert haben, welche Höhenlagen und Kunstarten es gibt, welchem Zweck sie dienen und wie sie beschaffen sein müssen.

Joachim Patinir: Hl. Hieronymus in felsiger Landschaft, c. 1520,
36,5 x 34 cm, London, National Gallery
Aber die Tendenz, den historischen Perspektivismus schweigend zu verleugnen oder ausdrücklich abzulehnen, ist weit verbreitet; sie hängt, besonders in der Literaturkritik, zusammen mit der Abneigung gegen die Philologie nach dem Muster des 19.Jahrhunderts, die als eigentliche Verkörperung des Historismus gilt. Der Historismus, so glauben viele, führe zur antiquarischen Kleinarbeit, zur Überbewertung biographischer Motive, zur Verkennung des Kunstwerks, zum Eklektizismus aus Mangel an Urteilskategorien. Dabei vergißt man zunächst, daß der große vichianische oder herderisch-romantische oder hegelische Historismus die philologische Spezialisierung zwar inspirierte, aber nicht identisch mit ihr ist; wenn viele Forscher, im Eifer des Spezialistentums, dem wir sehr viel verdanken, das Ziel ihrer Arbeit vergaßen, so ist das kein Einwand gegen eine Gesinnung, die ihnen eben leider abhanden gekommen war. Gewiß ist die Jagd nach biographischen Einzelheiten, und vor allem die Bemühung, alle dichterischen Äußerungen im wörtlichsten Sinne biographisch zu deuten, sehr naiv und zuweilen lächerlich. Aber man hat, so scheint mir, nun genug dagegen polemisiert und darüber gelacht. Die einfache Tatsache, daß das Werk eines Menschen ein Ding ist, das aus seinem Dasein entspringt, daß darum alles, was man über sein Leben in Erfahrung bringen kann, das Werk interpretiert, wird nicht entkräftet, weil Menschen ohne zureichende Erfahrung daraus alberne Schlüsse gezogen haben. Die jetzt häufig gestellte Forderung, man solle das Werk unabhängig von seinem Autor betrachten, ist nur insofern berechtigt, als sehr oft ein Werk ein besser integriertes, wahreres Bild von seinem Schöpfer gibt als die vielleicht zufälligen und irreführenden Informationen, die wir von seinem Leben besitzen. Eigene Erfahrung, Diskretion und eine auf Grund sehr genauer Kenntnis des Materials erworbene Großzügigkeit sind erforderlich, um Leben und Werk in die richtige Beziehung zu setzen. Jedenfalls aber ist das, was wir an einem Werk verstehen und lieben, das Dasein eines Menschen, eine Möglichkeit von uns selbst.

Vor allem aber ist es nicht richtig, daß der historische Relativismus zur eklektischen Urteilsunfähigkeit führt und daß man, um zu urteilen, außerhistorischer Maßstäbe bedürfe. Wer den Historismus eklektisch versteht, der hat ihn nicht verstanden. Die Eigentümlichkeit einer jeden Epoche und eines jeden Werkes sowie die Art ihrer Beziehungen untereinander sind durch Hingabe und Vertiefung zu erobern, eine unendliche Aufgabe, die jeder für sich, von seinem Standorte, zu lösen versuchen muß. Denn der historische Relativismus ist ein doppelter, er bezieht sich auf den Verstehenden ebenso wie auf das zu Verstehende. Es ist ein radikaler Relativismus; man sollte ihn deshalb aber nicht fürchten. Der Raum, in dem man sich bei dieser Tätigkeit bewegt, ist die Welt der Menschen, zu der der Verstehende selbst gehört. Das läßt ihm seine Aufgabe als lösbar erscheinen (denn alle Formen des Menschlichen müssen «dentro le modificazioni della medesima nostra mente umana» aufzufinden sein). Die Aufgabe aber zwingt ihn zugleich so fest in das gemeinsame Menschentum hinein, in solche Möglichkeiten desselben, die er vielleicht nie bemerkt, nie in sich selbst aktualisiert hätte, daß von Auswahl nach Gefallen und Laune, ohne Verantwortung, was man gewöhnlich Eklektizismus nennt, nicht gesprochen werden kann. Bei dieser Tätigkeit verlernt man das Urteilen nicht; man lernt es. Man verlernt freilich das Urteilen nach außergeschichtlichen und absoluten Kategorien, und man hört auf, nach ihnen zu suchen; eben weil das allgemeinste Menschliche oder Dichterische, welches den vollkommensten Werken der einzelnen Epochen gemeinsam ist und welches also die gedachten Kategorien des Urteils liefern müßte, nur in seinen besonderen geschichtlichen Formen zu fassen, in seiner Allgemeinheit aber nicht prägnant ausdrückbar ist. Man lernt allmählich, in den geschichtlichen Formen selbst die elastischen, immer nur provisorischen Ordnungskategorien zu finden, deren man bedarf. Und man beginnt zu lernen, was die verschiedenen Erscheinungen in ihren eigenen Epochen und was sie innerhalb der drei Jahrtausende, von deren literarischem Leben wir eine Vorstellung haben, bedeuten; so dann drittens, was sie für mich und uns, hier und jetzt bedeuten. Das ist genug, um zu urteilen, das heißt um den Erscheinungen, aus den Bedingungen ihres Entstehens, ihren Rang anzuweisen; genug auch, um darüber nachzudenken; was den bedeutendsten Erscheinungen gemeinsam ist. Das Resultat des Nachdenkens kann aber meiner Überzeugung nach niemals abstrakt und außergeschichtlich, sondern nur als ein dialektisch-dramatischer Vorgang ausgedrückt werden, wie es Vico gewiß unvollkommen, aber als Vorbild unersetzbar, versucht hat.

Joachim Patinir: Triptychon mit dem Hl. Hieronymus, c. 1520, 118 x 81 cm (Mitte) bzw. 121 x 36 (Seiten),
New York, Metropolitan Museum of Art
Es ist ihm auf diese dialektische Weise möglich gewesen, eine Definition des Dichterischen zu finden, indem er es nämlich als die vorwiegende oder sogar ausschließliche Denk- und Ausdrucksform der Frühzeiten auffaßt; in den Frühzeiten seien die Kräfte der Vernunft noch ganz unentwickelt, die der Phantasie ungeheuer gewesen. In dieser damals revolutionären Vorstellung ist Vico ein Vorgänger Herders und der vorromantisch-rousseauischen Bewegung. Aber während diese Späteren sich die dichterische Phantasie der Frühzeiten als schweifend, unpolitisch und aller gesetzten Ordnung fremd vorstellten, erscheint sie bei Vico, nach dem Plan der Vorsehung, als politisch konstruktiv. Sie führt durch selbstgeschaffene und dennoch für wahr gehaltene mythische Vorstellungen (fingunt simul creduntque) zur gesetzten Ordnung und zur Gesellschaftsbildung. Die geistige Tätigkeit der Menschen in den ersten «poetischen» Zeitaltern beruht zwar auf Leidenschaften, aber sie führt nicht zu schweifenden Gefühlen, sondern zur Bildung von festgestalteten Mythen, die Vico als «universali fantastici», phantasieentsprungene Allgemeinvorstellungen bezeichnet; also konkret vorgestellte, körperlich gestaltete Synthesen, wie sie aus der (Schutz vor dem Chaos suchenden, ritual formelhaft gerichteten) Einbildungskraft hervorgehen. Aus ihnen entstehen die ersten, von magischem Ritual beherrschten gesellschaftlichen Einrichtungen, die Vico ebenfalls als poetisch bezeichnet. Er entwickelt seine Ideen nicht wie die Späteren aus dem Gegensatz zur neuklassischen Rhetorik, sondern im Gegenteil unmittelbar aus dieser heraus. Er war ja selbst den größten Teil seines Lebens Professor der Rhetorik. Er sieht in den rhetorischen Figuren des Schulbetriebes Reste des ursprünglichen, konkret sinnlichen Denkens, das die Dinge selbst zu fassen meint; diese wahren, den Gegenstand selbst enthaltenden Symbole seien in rationalen und unpoetischen Zeiten zu bloßen Schmuckformen abgesunken. Neuerdings ist man bei den Versuchen, das Dichterische zu definieren, wieder zur Terminologie der Rhetorik zurückgekehrt. Man hat verschiedene rhetorische Ausdrücke vorgeschlagen, besonders aber das Wort Metapher, um das unausdrückbare eigentlich Dichterische, das zugleich konkret und allgemein bedeutend ist, doch noch auszudrücken. Vico sagt dafür universale fantastico. Auch das ist nur eine Chiffre. Aber sie scheint mir, vergleichsweise, sowohl umfassender als auch eigentümlicher und prägnanter.

Durch seine Auffassung befreit Vico die Theorie der Dichtung von allen nur technischen, die äußere Form betreffenden und dogmatisch fordernden Kriterien. Er erkennt in ihr eine selbständige, ihren eigenen Gesetzen folgende Form der Anschauung und Selbstorientierung des Menschen. Zwar strebt Dichtung jederzeit, besonders aber in den Frühzeiten, nach rhythmischer und lautsymbolischer Rede; aber nicht äußere Kriterien sind für ihn entscheidend, sondern unmittelbare Intuition, ohne methodische Führung der Vernunft. Nun ist für Vico das eigentlich Dichterische auf die Frühzeiten beschränkt; dies Vorurteil von der poetischen Überlegenheit der «Urzeiten» teilt er mit Herder und dessen Nachfolgern. Es war überaus fruchtbar, wie viele Vorurteile. Aus ihm entstanden Sturm und Drang und die Romantik, aus ihm die Volksgeistidee und der Historismus, aus ihm auch entstand, hier zuerst bei Vico, die Idee des poetischen Symbols oder, was praktisch dasselbe besagt, die begründete Einsicht in den Unterschied zwischen poetisch-evokatorischer und vernünftig mitteilender Sprache. Aber freilich ist es ein Vorurteil. Die Dialektik zwischen Einbildungskraft und Vernunft ist keine rein zeitliche Folge, sie schließen einander nicht aus; es geschieht sogar, daß sie zusammenwirken und daß die Vernunft die Phantasie befruchtet. Übrigens erkennt Vico an, daß seine Einteilung der Zeitalter nicht unbedingt gilt; die Spuren vergangener Kulturzustände, so schreibt er, erhalten sich noch lange in späteren Zeiten, «so wie die großen reißenden Ströme sich weit ins Meer verbreiten und durch die Kraft ihrer Strömung die Süße des Wassers noch lange bewahren». Aber weitaus vorwiegend ist für ihn doch, in den Spätzeiten, der dichtungsfremde Rationalismus; und die wahre Poesie lebt für ihn wie für die Romantiker in den frühen Perioden der Kultur, die er das göttliche und das heroische Zeitalter nennt.

Joachim Patinir: Landschaft mit der Flucht nach Ägypten, c. 1524,
51 x 96 cm, St.Petersburg, Hermitage
In der Behandlung dieser Zeitalter offenbart sich nun am deutlichsten, was aber für alle Zeitalter gilt: die Einheit von Vicos Betrachtungsweise. Bei den Menschen der Frühzeiten ist die Gesamtheit aller Handlungen und Anschauungen poetisch: ihre Metaphysik, ihre Logik, ihre Moral, ihre Politik, ihre Wirtschaft und so fort, sind poetisch. Die Wissenschaft, die das, was sie für wahr hielten, durch Deutung der Dokumente erforscht, heißt Philologie. Damit ist die Philologie erweitert zu dem, was man in Deutschland Geistesgeschichte nennt; alle geschichtlich-humanistischen Fächer, einschließlich Rechtsgeschichte und Wirtschaftsgeschichte, gehören zu ihr. Aber Vicos Idee der Philologie wird in ihrer eigentlichen Kraft erst dann erfaßt, wenn man sich seiner eigenen Terminologie bedient. Er stellt die Philologie der Philosophie gegenüber; die Philologie erforsche, was die Völker in ihrem jeweiligen Kulturzustande für wahr halten (obwohl es nur wegen ihres beschränkten Gesichtsfeldes für wahr gilt) und was demzufolge ihren Handlungen und Einrichtungen zugrundeliegt; Vico nennt es certum, das Gewisse oder Gesetzte; das certum ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Die Philosophie aber habe es mit der unveränderlichen und absoluten Wahrheit zu tun, dem verum. Nun aber erscheint in Vicos Werk diese Wahrheit niemals, wenigstens niemals in der Geschichte. Auch die voll entwickelte menschliche Vernunftgesinnung, das dritte Stadium der Geschichte, enthält sie nur als Möglichkeit; auch das dritte Zeitalter ist bei Vico nur ein Stadium, das notwendig der Verderbnis und dem Rückfall in die Barbarei unterworfen ist. Jenes platonische verum, das überall in der Geschichte als eines seiner Aspekte verwirklicht ist, ist doch in keiner der geschichtlichen Perioden ganz enthalten. Enthalten ist es nur in dem Plan der Vorsehung oder dem Ganzen des Geschichtsverlaufs; und nur in der Erkenntnis dieses Ganzen kann es erkannt werden. Damit ist die Wahrheit, welche die Philosophie sucht, gebunden an die Philologie, welche die certa sowohl als einzelne wie auch in ihrem Zusammenhange erforscht. Der Zusammenhang des Gesamtverlaufs der Menschengeschichte, la commune natura delle nazioni, ist der Gegenstand von Vicos Buch, das man also, nach Vicos Terminologie, ebensowohl eine Philologie wie eine Philosophie nennen kann. Es handelt sich in dieser philologischen Philosophie oder philosophischen Philologie nur um uns, die Menschen auf dem Planeten Erde.

Dies ist die Idee der Philologie, die ich von Vico gelernt habe, und sie paßt, wie man leicht einsehen wird, zu der europäischen Aufgabe, von der zu Beginn dieser Einleitung die Rede war. Wie aber ist solche synthetische Aufgabe praktisch zu lösen? Schon Vico ist das nicht sehr gut gelungen. Der eigentlich gelehrt-technische Teil seines Werkes, seine Beweise und Interpretationen, sind oft falsch und sogar absurd; das liegt nicht nur an dem Stand der Forschung zu seiner Zeit, sondern auch an seiner Einseitigkeit und unbewußten Willkür. Besessen von seiner Vision, arm an Material, um sie zu beweisen (fehlte ihm doch alles Ethnologische, Orientalistische, Mittelalterliche, was seitdem zutage getreten ist), deutete er oft gewaltsam die antiken Zeugnisse, die ihm zur Verfügung standen: Mythen, Wortursprünge und -bedeutungen, Textstellen aus Dichtern, Historikern und Juristen. Zuweilen vergaß oder übersah er, was zeitgenössische Gelehrte schon besser erforscht hatten. Für uns heute, für die es auf seine Idee der Geschichtsstruktur ankommt, ist das nicht mehr von Wichtigkeit; wohl ist die Methode bedeutend, nämlich die Induktion aus dem einzelnen Zeugnis, aber nicht die Irrtümer der Durchführung, da ohnehin ein ähnliches Unternehmen jetzt auf ganz anderem Material aufgebaut werden müßte. Im Gegenteil, wir bewundern die Kraft der Idee, die mit so unzureichendem Material solch ein Werk zustande brachte; wir verfolgen mit Teilnahme den Kampf, den er um die Gestaltung seiner Gedanken führte; sein energischer Interpretationswille, der Vorurteil und teilweise Blindheit in sich schloß, gab ihm die Kraft dafür.

Quelle: Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Francke, Bern, 1958. Zitiert wurden Seite 10 bis 18

Joachim Patinir: Rast auf der Flucht nach Ägypten, c. 1520, 121 x 177 cm,
Madrid, Museo Nacional del Prado
Erich Auerbach, 1892 in einer Berliner Kaufmannsfamilie geboren, studierte zunächst Jura und schloß dieses Studium 1915 mit einer juristischen Promotion ab. Im ersten Weltkrieg war er Soldat und wurde schwer verwundet. Anschließend setzte er das Studium fort, nun in den Fächern Romanistik, Latein, Philosophie. 1921 promovierte er in romanischer Philologie, 1925 trat er in den preußischen Bibliotheksdienst ein. 1924 erschien seine Übersetzung der "Scienza Nuova" von Giambattista Vico. Durch diese Arbeit kam er in Kontakt mit Benedetto Croce, dessen große Vico-Monographie er ebenfalls übersetzte. 1929 habilitierte er sich in Marburg mit "Dante als Dichter der irdischen Welt" und wurde Nachfolger Leo Spitzers. 1933 verlor er seine Marburger Professur; 1936 emigrierte er nach Istanbul und wurde auch dort Nachfolger Leo Spitzers, der nach Baltimore berufen worden war. In der türkischen Emigration schrieb Auerbach sein bedeutendstes Buch: "Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur" (zuerst 1947). Dieses Buch war das Pendant zu Ernst Robert Curtius' Werk "Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" (1947), dem geistesgeschichtlich vielleicht wichtigsten Buch der frühen deutschen Nachkriegszeit. In den USA lehrte er zunächst am Pennsylvania State-College, danach forschte er in Princeton am Institute for Advanced Study; zuletzt wirkte er in Yale. Nach einer Reise nach Deutschland, auf der er einen Schlaganfall erlitt, starb er am 13. 10. 1957 in Wallingford, Connecticut, USA

Erichs Auerbach's Übersetzung der scienza nuova von 1924 ist 2000 neu aufgelegt worden: Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach. 2.Auflage. de Gruyter, Berlin-New York, 2000. ISBN 3-11-016890-1

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