Von 1909 bis 1911 studierte Honegger im Zürcher Konservatorium, wo er die Musik von Wagner, Strauss und Reger entdeckte. 1912 setzte er seine Studien am Conservatoire de Paris fort, und unterzog sich sieben Jahre lang dem Training in Harmonie, Kontrapunkt, Dirigieren und Komposition. Letztendlich gab er das ernsthafte Violinstudium zu Gunsten des Komponierens auf. Während seines Studiums freundete sich Honegger mit den Komponisten an, mit denen er bald zur Gruppe Les Six gerechnet wurde: Milhaud, Poulenc, Tailleferre, Auric, und Durey. Ein weiteres Mitglied dieses musikalischen Kreises war die Komponistin und Pianistin Andrée Vaurabourg, die Honegger im Jahr 1926 heiratete. Sie gab oft Erstaufführungen von Honeggers Klavierwerken, und begleitete ihn in den 1930er Jahren auf Tourneen durch Europa und Amerika.
Obwohl Schweizer Staatsbürger, blieb Honegger während des Zweiten Weltkriegs in Frankeich, unterrichtete an der École Normale de Musique und schrieb fürs Radio. Seine Musik war in Nazi-Deutschland und den annektierten Ländern bis 1945 verboten, wurde aber weiterhin in der Schweiz aufgeführt, wohin er häufig reiste. Sein Schaffen, substantiell während der Kriegsjahre, umfaßte sowohl ernste Konzertmusik - darunter vier Sinfonien - als auch Radio- und Filmmusiken. 1947, während einer Konzertreise in Amerika, erlitt er einen Herzinfarkt, und seine nachlassende Gesundheit beschränkte seine musikalischen Aktivitäten bis zu seinem Tod 1955 in Paris, ein Jahr nachdem ihm die Französische Regierung die Auszeichnung Grand Officier de la Légion d'honneur verliehen hatte.
Joachim Patinir: Die Taufe Christi, 1510-1520, 59,5 x 77 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum |
Wegen der zwei Jahrzehnte zwischen den ersten drei Violinsonaten und der letzten, der Solo-Sonate, ist die anti-romantische Ästhetik von Les Six merklich abwesend; Bildung und Popularität der Avantgarde-Gruppe fallen in die 1920er Jahre. Les Six, getauft durch den Kritiker Henri Collet, war als Speerspitze von Erik Satie und Jean Cocteau eine Reaktion gegen nachwagnerische Romantik und Französischen Impressionismus und celebrierte stattdessen Einfachheit und Klarheit. Obwohl Honegger durch seine Zusammenarbeit mit Les Six breite Anerkennung gewann, hat er wenig mit deren Ästhetik gemein, und belegt damit die Tatsache, daß diese sechs Komponisten eher durch Freundschaft als durch gemeinsame Stilprinzipien verbunden waren. Obwohl er gelegentlich im unbeschwerten, neoklassizistischen Geist der Les Six komponierte, verdankt seine Musik viel der Chromatik von Wagner, Berg und Schönberg, aber auch der Modalität von Fauré und Debussy. Seine komplexe kontrapunktische Sensibilität, die von seiner lebenslangen Bewunderung für Bach herrührt, weist Honegger als den strengsten unter den sechs Komponisten aus, indem er die Deutsche und die Französische Schule mit klassischen Traditionen und modernen Trends kombiniert.
Die Sonate für Violine und Klavier in D-Moll (»Nr. 0«) wurde 1912 während des ersten Jahres Honeggers am Pariser Konservatorium komponiert, blieb aber zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht. Das langwierige Largo-Agitato-Largo assai ist in tiefernstes Pathos und wehmütige Suche getaucht. Häufig erhebt sich die Geige über bewegte Akkordpassagen des Klaviers, eine Textur, die Honegger in späteren Sonaten wieder aufnimmt. Im Wechsel zwischen einem nachhaltigen, sanften Thema und einem schwereren Marsch, wird das chromatische Molto adagio durch ein Sostenuto-Allegro-Maestoso-Finale fortgesetzt, in dem ein flüchtiger Kontrapunkt durch langsame, lyrische Zwischenspiele ausgeglichen wird. Das Thema des ersten Satzes kehrt im Finale als Coda wieder, unterbrochen von donnernden Klavierakkorden. Obwohl Honeggers harmonische Sprache noch nicht voll entwickelt ist, zeigt diese frühen Sonate solides Handwerk, einen natürlichen Sinn für Struktur und einen festen Griff für Instrumentierung.
Joachim Patinir: Die Versuchung des Hl. Antonius, c. 1515, 155 x 173 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado |
1919 komponierte Honegger die Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier und führte sie selbst, mit Andrée Vaurabourg am Klavier, auf. Mehrdeutig zwischen zwei tonalen Zentren B und F schwebend, zeigt diese kurze, strukturell prägnante Arbeit Honeggers gestiegenes Interesse an Polytonalität. Das Allegro cantabile ist verträumt und lyrisch, arpeggierte Klavierfiguren plätschern unterhalb des Violinstimme. Mit bedrohlichen Klavierakkorden eröffnend, über die die gedämpfte Violine wie Gaze schwebt, steigert sich das chromatische Larghetto zu einem gewichtigen Höhepunkt, der im schwachen Schimmer von D-Dur verschwindet. Eine kurzes Vivace assai folgt, abgeschnitten und ausgelassen und dann in eine schimmernde Melodie aufblühend. Eine frenetische Coda beendet die Sonate abrupt.
Im Winter 1940 stemmte Honegger sich gegen die trostlose Realität des Krieges, indem er mehrere von Bach inspirierte Werke schuf, darunter die Sonate für Violine Solo in d-Moll. Diese düstere, straff viersätzige Arbeit zahlt direkt Tribut an Bach, der selbst drei Sonaten für Violine Solo geschrieben hatte. Ein strenges Allegro, jede romantische Hoffnung zerstreuend, wird von einem klassischen, Sarabande-artigen Largo von tief herber Schönheit gefolgt. Mit gedämpft Violine enthält das Allegretto grazioso eine traurige Musette, dessen Melodie sich um ein pochendes Dröhnen windet. Das schillernde, Gigue-artige Presto ist fest in D-Moll geätzt, seine hektischen Arpeggien und Doppelgriffe geben Hinweise auf Honeggers eigene Meisterschaft auf der Violine.
In einer konfliktreichen Zeit, gewann Honegger (und seine Musik) ein Renommee von Anmut und Würde; er war sowohl Schweizer als Franzose, traditionell und avantgardistisch, Komponist und Violinist, Melodiker und Kontrapunktiker, Liebhaber der Eisenbahn und Anhänger von Bach. Nach Honeggers Tod, sagte Jean Cocteau: »Arthur, du konntest den Respekt einer respektlosen Zeit erringen. Du hast die Wissenschaft des mittelalterlichen Architekten mit der Praxis des bescheidenen Steinhauers vereint.«
Quelle: Anyssa Neumann, im Booklet [Übersetzung: WMS.Nemo]
Track 10: Sonata for Solo Violin in D minor (H.143) - I. Allegro
TRACKLISTArthur HONEGGER (1892-1955) Complete Violin Sonatas Sonata for Violin and Piano in D minor, H. 3 (1912) 24:35 [01] Largo - Agitato - Largo assai 10:36 [02] Molto adagio 5:28 [03] Sostenuto - Allegro - Maestoso 8:31 Sonata No. 1 for Violin and Piano, H. 17 (1916-18) 21:31 (dedicated to Andrée Vaurabourg) [04] Andante sostenuto 8:11 [05] Presto 5:02 [06] Adagio - Quasi allegro - Allegro assai - Adagio 8:18 Sonata No. 2 for Violin and Piano, H. 24 (1919) 11:56 (dedicated to Fernande Capelle) [07] Allegro cantabile 4:48 [08] Larghetto 4:22 [09] Vivace assai - Presto 2:46 Sonata for Solo Violin in D minor, H. 143 (1940) 14:59 [10] Allegro 6:13 [11] Largo 2:55 [12] Allegretto grazioso 1:51 [13] Presto 4:00 Playing Time: 73:02 Laurence Kayaleh, Violin Paul Stewart, Piano Recorded in Pollack Hall, Schulich School of Music, McGill University, Montreal, Canada, from 19th to 21st December, 2008 Producer, Engineer and Editor: Jason O'Connell Editing Engineer: Jeremy Tusz Cover Picture: Spiral staircase in the Arc de Triomphe, Paris DDD (P) 2009 (C) 2010
Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft
Joachim Patinir: Fahrt über den Styx in die Unterwelt, 1515-1524, 64 x 103 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado |
Ich beginne mit Vicos Theorie der geschichtlichen Erkenntnis. Sie entsprang seiner Polemik gegen Descartes' geometrische Methode und beruht auf dem Satz, daß man nur erkennen könne, was man selbst geschaffen habe. Die Geschichte der Menschen oder die «Welt der Völker» (im Gegensatz zur Welt der Natur, die Gott geschaffen habe) hätten die Menschen selbst geschaffen; also könnten die Menschen sie erkennen. Auch die von uns entferntesten, frühesten Formen des menschlichen Denkens und Handelns müßten in den Möglichkeiten (Vico sagt modificazioni) unseres eigenen menschlichen Geistes aufzufinden sein, so daß wir sie verstehen können. Vico wollte mit dieser Theorie seiner Vision von den Anfängen der Kultur, der Bildung der ersten Gesellschaftsformen und den dichterisch-ritualistischen Ursprüngen menschlichen Denkens und menschlichen Ausdrucks eine erkenntnistheoretische Grundlage geben. Sie ist wohl der erste methodische Versuch einer Theorie des historischen Verstehens; und, wo nicht die Legitimierung, so doch die Klarstellung eines Tatbestandes, dem wir uns nicht entziehen können: daß wir nämlich geschichtliche, ja überhaupt zwischenmenschliche Vorgänge (private, geschäftliche, politische) auf eine besondere, unmittelbare Weise, nach unserer inneren Erfahrung beurteilen; das heißt, indem wir «ihre Prinzipien innerhalb der Modifikation unseres eigenen menschlichen Geistes aufzufinden» suchen. Zwar sind seit der Zeit Vicos viele strenger wissenschaftliche Methoden entwickelt worden, die das Verhalten der Menschen zueinander beobachten und registrieren; aber sie haben das praktische Vertrauen in die spontane Fähigkeit zum Verstehen des anderen aus der eigenen Erfahrung weder erschüttert noch ersetzt (ihre Resultate haben diese Fähigkeit vielfach noch bereichert); auf geschichtliche Vorgänge, wie überhaupt auf Vorgänge, die nicht den besonderen Bedingungen des wissenschaftlichen Experiments unterworfen werden können, sind die gedachten Methoden in ihrer strengen Form auch gar nicht anwendbar. So bleibt die Erforschung geschichtlicher Vorgänge im weitesten Sinne (was alles in unserem Zusammenhange geschichtlich ist, wird gleich erörtert werden) eine Sache des urteilenden Verstehens oder des «Wiederauffindens» im Geiste des Erforschenden. Zwar hat die Geschichtsforschung eine exakte Seite, die man wohl eher gelehrt als wissenschaftlich nennen sollte, nämlich die Technik der Auffindung, Übermittlung, elementaren Deutung und Vergleichung der Zeugnisse; aber wo Auswahl, Sinndeutung, Beurteilung und Anordnung eingreifen, ist die Tätigkeit des Historikers weit eher einer Kunst als einer modernen Wissenschaft vergleichbar. Es ist eine mit gelehrtem Material arbeitende Kunst.
Joachim Patinir: Landschaft mit dem Hl. Hieronymus, 1515-1519, 74 x 91 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado |
Ein kleiner Schritt weiter führt von der Erkenntnistheorie Vicos zu seiner Begründung des Historismus. Er schrieb sein Buch in einer Epoche, die einer Würdigung der geschichtlichen Entwicklung nicht günstig gesinnt war. Schon allein wegen der verschiedenartigen, miteinander unvereinbaren, oft augenscheinlich widervernünftigen Lebensformen, die die Geschichte hervorgebracht hatte, strebten viele führende Geister von dem geschichtlich Gewordenen fort, und setzten ihm die eigentliche, vernünftige und ursprüngliche Natur des Menschen entgegen, die wiederherzustellen sei. Demgegenüber sagt Vico mit großer Schärfe, daß es keine andere Natur des Menschen gebe als seine Geschichte. Natura di cose, so heißt es bei ihm (Scienza Nuova 147), altro non è che nascimento di esse in certi punti e con certe guise, le quali sempre che sono tali, indi tali e non altre nascon le cose. Mit dem ersten Teile dieses Satzes - Natur der (menschlich-gesellschaftlichen) Dinge ist nichts anderes als ihr Entstehen zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen - ist der historische Relativismus oder Perspektivismus begründet; mit dem zweiten - immer wenn die Zeiten und Umstände so sind, entstehen daraus die Dinge so und nicht anders - wird die zur Geschichte gewordene Natur einer Gesetzmäßigkeit unterworfen. An vielen Stellen der Neuen Wissenschaft bedeutet natura nichts anderes als «geschichtliche Entwicklung» oder Stufe derselben; was die Völker gemeinsam haben, ihre Natur, ist nichts anderes als der gesetzmäßige Verlauf ihrer Geschichte; dieser Verlauf ist ihre gemeinsame Natur, la natura commune delle nazioni, von der die Neue Wissenschaft handelt.
Joachim Patinir: Der Hl. Hieronymus in der Wüste, c. 1520, 78 x 137 cm, Paris, Musée du Louvre |
Jedenfalls ist hier, zugleich mit dem Stilbegriff, der Historismus ins Leben getreten; er ist, so scheint mir, die kopernikanische Entdeckung der Geisteswissenschaften. Tatsächlich ist die Wirkung dieser Entdeckung, seit sie durch die Romantik allgemein zugänglich wurde, ungeheuer gewesen. Das absolute dogmatische Urteil nach einem festen Schema, das zwar auch im Neuklassizismus nicht unbedingt, aber doch nur durch den «guten Geschmack» eingeschränkt, geherrscht hatte, wurde gründlich zerstört. Der Horizont wurde gewaltig erweitert, und die Erforschung früher und fremder Kulturen, wie sie seit dem Beginn des 19.Jahrhunderts betrieben wird, beruht auf der historistischen Gesinnung des Verstehens. Unser Historismus in ästhetischen Fragen ist uns so selbstverständlich geworden, daß wir uns seiner kaum noch bewußt sind. Wir genießen die Kunst, die Dichtung, die Musik der verschiedensten Völker und Zeiten mit der gleichen Bereitschaft zum Verständnis. Die Kulturen, die wir primitiv nennen und die zu verstehen für Vico eine so große Anstrengung bedeutete (den meisten seiner Zeitgenossen waren sie weder verständlich noch auch nur interessant), haben für uns schon seit langem einen ganz besonderen Reiz. Die Verschiedenheit der Völker und Zeiten schreckt uns nicht mehr; weder die Gelehrten und Kritiker unter uns, noch selbst einen großen, ständig wachsenden Teil des allgemeinen Publikums. Das perspektivische Verstehen hört zwar sofort auf, sobald die Politik im Spiele ist; aber im Ästhetischen üben wir unsere Anpassung an verschiedene Kulturformen oder Epochen während eines einzigen Museumsbesuches, in einem einzigen Konzert, zuweilen sogar im Kino, beim Durchblättern einer illustrierten Zeitschrift oder selbst beim Anblick der Reklameschriften von Reiseagenturen. Das ist Historismus, genau wie in Molieres «Bourgeois gentilhomme» die tägliche Sprache von Monsieur Jourdain, zu seiner großen Überraschung, Prosa ist. Die meisten von uns sind sich ihres Historismus ebensowenig bewußt wie Monsieur Jourdain seiner Prosa. Es gibt sogar in den letzten Jahrzehnten wieder einflußreiche Kritiker, deren deskriptive und oft dogmatische Urteilskategorien absolute Geltung beanspruchen. Es gelingt freilich nicht mehr, die klare Prägnanz mancher großer vorhistoristischer Kritiker zu erreichen, die, innerhalb ihres Bezirkes, meisterhaft formuliert haben, welche Höhenlagen und Kunstarten es gibt, welchem Zweck sie dienen und wie sie beschaffen sein müssen.
Joachim Patinir: Hl. Hieronymus in felsiger Landschaft, c. 1520, 36,5 x 34 cm, London, National Gallery |
Vor allem aber ist es nicht richtig, daß der historische Relativismus zur eklektischen Urteilsunfähigkeit führt und daß man, um zu urteilen, außerhistorischer Maßstäbe bedürfe. Wer den Historismus eklektisch versteht, der hat ihn nicht verstanden. Die Eigentümlichkeit einer jeden Epoche und eines jeden Werkes sowie die Art ihrer Beziehungen untereinander sind durch Hingabe und Vertiefung zu erobern, eine unendliche Aufgabe, die jeder für sich, von seinem Standorte, zu lösen versuchen muß. Denn der historische Relativismus ist ein doppelter, er bezieht sich auf den Verstehenden ebenso wie auf das zu Verstehende. Es ist ein radikaler Relativismus; man sollte ihn deshalb aber nicht fürchten. Der Raum, in dem man sich bei dieser Tätigkeit bewegt, ist die Welt der Menschen, zu der der Verstehende selbst gehört. Das läßt ihm seine Aufgabe als lösbar erscheinen (denn alle Formen des Menschlichen müssen «dentro le modificazioni della medesima nostra mente umana» aufzufinden sein). Die Aufgabe aber zwingt ihn zugleich so fest in das gemeinsame Menschentum hinein, in solche Möglichkeiten desselben, die er vielleicht nie bemerkt, nie in sich selbst aktualisiert hätte, daß von Auswahl nach Gefallen und Laune, ohne Verantwortung, was man gewöhnlich Eklektizismus nennt, nicht gesprochen werden kann. Bei dieser Tätigkeit verlernt man das Urteilen nicht; man lernt es. Man verlernt freilich das Urteilen nach außergeschichtlichen und absoluten Kategorien, und man hört auf, nach ihnen zu suchen; eben weil das allgemeinste Menschliche oder Dichterische, welches den vollkommensten Werken der einzelnen Epochen gemeinsam ist und welches also die gedachten Kategorien des Urteils liefern müßte, nur in seinen besonderen geschichtlichen Formen zu fassen, in seiner Allgemeinheit aber nicht prägnant ausdrückbar ist. Man lernt allmählich, in den geschichtlichen Formen selbst die elastischen, immer nur provisorischen Ordnungskategorien zu finden, deren man bedarf. Und man beginnt zu lernen, was die verschiedenen Erscheinungen in ihren eigenen Epochen und was sie innerhalb der drei Jahrtausende, von deren literarischem Leben wir eine Vorstellung haben, bedeuten; so dann drittens, was sie für mich und uns, hier und jetzt bedeuten. Das ist genug, um zu urteilen, das heißt um den Erscheinungen, aus den Bedingungen ihres Entstehens, ihren Rang anzuweisen; genug auch, um darüber nachzudenken; was den bedeutendsten Erscheinungen gemeinsam ist. Das Resultat des Nachdenkens kann aber meiner Überzeugung nach niemals abstrakt und außergeschichtlich, sondern nur als ein dialektisch-dramatischer Vorgang ausgedrückt werden, wie es Vico gewiß unvollkommen, aber als Vorbild unersetzbar, versucht hat.
Joachim Patinir: Triptychon mit dem Hl. Hieronymus, c. 1520, 118 x 81 cm (Mitte) bzw. 121 x 36 (Seiten), New York, Metropolitan Museum of Art |
Durch seine Auffassung befreit Vico die Theorie der Dichtung von allen nur technischen, die äußere Form betreffenden und dogmatisch fordernden Kriterien. Er erkennt in ihr eine selbständige, ihren eigenen Gesetzen folgende Form der Anschauung und Selbstorientierung des Menschen. Zwar strebt Dichtung jederzeit, besonders aber in den Frühzeiten, nach rhythmischer und lautsymbolischer Rede; aber nicht äußere Kriterien sind für ihn entscheidend, sondern unmittelbare Intuition, ohne methodische Führung der Vernunft. Nun ist für Vico das eigentlich Dichterische auf die Frühzeiten beschränkt; dies Vorurteil von der poetischen Überlegenheit der «Urzeiten» teilt er mit Herder und dessen Nachfolgern. Es war überaus fruchtbar, wie viele Vorurteile. Aus ihm entstanden Sturm und Drang und die Romantik, aus ihm die Volksgeistidee und der Historismus, aus ihm auch entstand, hier zuerst bei Vico, die Idee des poetischen Symbols oder, was praktisch dasselbe besagt, die begründete Einsicht in den Unterschied zwischen poetisch-evokatorischer und vernünftig mitteilender Sprache. Aber freilich ist es ein Vorurteil. Die Dialektik zwischen Einbildungskraft und Vernunft ist keine rein zeitliche Folge, sie schließen einander nicht aus; es geschieht sogar, daß sie zusammenwirken und daß die Vernunft die Phantasie befruchtet. Übrigens erkennt Vico an, daß seine Einteilung der Zeitalter nicht unbedingt gilt; die Spuren vergangener Kulturzustände, so schreibt er, erhalten sich noch lange in späteren Zeiten, «so wie die großen reißenden Ströme sich weit ins Meer verbreiten und durch die Kraft ihrer Strömung die Süße des Wassers noch lange bewahren». Aber weitaus vorwiegend ist für ihn doch, in den Spätzeiten, der dichtungsfremde Rationalismus; und die wahre Poesie lebt für ihn wie für die Romantiker in den frühen Perioden der Kultur, die er das göttliche und das heroische Zeitalter nennt.
Joachim Patinir: Landschaft mit der Flucht nach Ägypten, c. 1524, 51 x 96 cm, St.Petersburg, Hermitage |
Dies ist die Idee der Philologie, die ich von Vico gelernt habe, und sie paßt, wie man leicht einsehen wird, zu der europäischen Aufgabe, von der zu Beginn dieser Einleitung die Rede war. Wie aber ist solche synthetische Aufgabe praktisch zu lösen? Schon Vico ist das nicht sehr gut gelungen. Der eigentlich gelehrt-technische Teil seines Werkes, seine Beweise und Interpretationen, sind oft falsch und sogar absurd; das liegt nicht nur an dem Stand der Forschung zu seiner Zeit, sondern auch an seiner Einseitigkeit und unbewußten Willkür. Besessen von seiner Vision, arm an Material, um sie zu beweisen (fehlte ihm doch alles Ethnologische, Orientalistische, Mittelalterliche, was seitdem zutage getreten ist), deutete er oft gewaltsam die antiken Zeugnisse, die ihm zur Verfügung standen: Mythen, Wortursprünge und -bedeutungen, Textstellen aus Dichtern, Historikern und Juristen. Zuweilen vergaß oder übersah er, was zeitgenössische Gelehrte schon besser erforscht hatten. Für uns heute, für die es auf seine Idee der Geschichtsstruktur ankommt, ist das nicht mehr von Wichtigkeit; wohl ist die Methode bedeutend, nämlich die Induktion aus dem einzelnen Zeugnis, aber nicht die Irrtümer der Durchführung, da ohnehin ein ähnliches Unternehmen jetzt auf ganz anderem Material aufgebaut werden müßte. Im Gegenteil, wir bewundern die Kraft der Idee, die mit so unzureichendem Material solch ein Werk zustande brachte; wir verfolgen mit Teilnahme den Kampf, den er um die Gestaltung seiner Gedanken führte; sein energischer Interpretationswille, der Vorurteil und teilweise Blindheit in sich schloß, gab ihm die Kraft dafür.
Quelle: Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Francke, Bern, 1958. Zitiert wurden Seite 10 bis 18
Joachim Patinir: Rast auf der Flucht nach Ägypten, c. 1520, 121 x 177 cm, Madrid, Museo Nacional del Prado |
Erichs Auerbach's Übersetzung der scienza nuova von 1924 ist 2000 neu aufgelegt worden: Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach. 2.Auflage. de Gruyter, Berlin-New York, 2000. ISBN 3-11-016890-1
CD bestellen von jpc
CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 29 MB
embedupload ---- MEGA ---- Depositfile --- bigfile
Unpack x165.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue+Log Files [73:02] 4 parts 299 MB
Reposted on July 9th, 2016
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen