Im Jahre 1800 wird Edward Onslows Verbannung aufgehoben. Er darf wieder französischen Boden betreten und kehrt mit seinem Sohn in die Auvergne zurück. Während der nächsten Jahre besucht George mehrfach den englischen Teil seiner Familie, und er vervollkommnet sich bei Johann Baptist Cramer, bekanntermaßen einem der Begründer des modernen Klavierspiels. Bei diesem zweiten Meister lernt er die Werke von Clementi, Bach, Scarlatti kennen…
Schnell trägt der Wunsch, zu komponieren, den Sieg über die reine Exekution davon. Onslow erweist sich als talentiert, und Pleyel veröffentlicht seine ersten Opera (1 bis 4) in der Zeit um 1807. Er bittet Anton Reicha, der damals gerade nach Paris kommt, ihm Unterricht zu erteilen. Dieser unterweist ihn im Kontrapunkt und in der Fugenkomposition und verhilft ihm zu genaueren Kenntnissen der Wiener Klassiker. Diese Unterweisung wirkt sich entscheidend auf die Laufbahn des Komponisten aus, der sein Leben lang dem klassischen Modell treu bleibt und sich als große Begabung auf einem Gebiet erweist, das man in Frankreich wenig praktizierte - auf dem Gebiete der Kammermusik.
Tatsächlich ist die französische Musik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine fast absolute Herrschaft der Oper gekennzeichnet. Neben Boely, Berlioz, Alkan und Onslow vermögen nur wenige französische Komponisten ihren Ruhm auf einem andern Terrain als demjenigen des lyrischen Theaters zu begründen. In der Musiklandschaft der französischen Romantik übernimmt es Onslow, das Erbe der klassischen Kammermusik zu verwalten, weshalb die Entwicklung seiner Karriere auch von etlichen Paradoxa begleitet ist.
Sobald man die Details seines schöpferischen Lebens betrachtet, wird man bemerken, daß das Bild, das man so lange von ihm gepflegt hat, eine Illusion ist. Onslow war alles andere als der »amateur distingué« und ein vom Schicksal begünstigter Komponist, der nur zu seinem Vergnügen arbeitete, ohne sich um den musikalischen Geschmack seiner Zeitgenossen zu kümmern. Ganz im Gegenteil versuchte er, sein Publikum vorzugsweise mit Opernarien und nicht mit ernsthafteren Kompositionen zu entzücken: »Ich habe mit Vergnügen gesehen, daß man in meinen Melodien eine gewisse Leichtigkeit und jenen populären Charakter erkannte, der mich hoffen läßt, daß ich das Anrecht an jenem Epitheton verliere, das man mir ständig an die Nase wirft.«
Leider hat sich dieser Wunsch nicht erfüllt. Mit seinen Opern erzielt er nicht mehr als vage Achtungserfolge. Die von possierlicher Unterhaltung erfüllten Melodien, die sein OEuvre durchziehen, erzielten bei den Amateuren nicht die erhoffte Wirkung. Mehr oder weniger widerstrebend akzeptierte Onslow - von Ehrungen überhäuft und von seinesgleichen als »compositeur serieux« anerkannt - einen Status, durch den er sich eingeengt fühlte. Auf der anderen Seite wußte er um den Wert seines Schaffens und wünschte sich eine Anerkennung, die sich schließlich 1842 konkretisierte, als er ins Institut de France aufgenommen wurde. Damit war er der erste Komponist, der im Kreise der berühmten Akademie der schönen Künste ganz offiziell die Instrumentalmusik repräsentierte.
Georges Onslow |
Lange nach Onslows Tod erinnert sich Antoine Marmontel: »Der Name von Onslow, der seit langem berühmt und beliebt war in Deutschland […], wurde in den ersten Rang der Symphoniker gestellt; und als Verfasser von Kammermusik rückte man seinen Namen in die Nähe der unsterblichen Namen Haydn, Mozart und Beethoven. In Frankreich hingegen kannte die große Mehrheit der Hörer, die sich selbst als Musikfreunde bezeichnen, nichts als die lyrischen, mittelmäßig aufgenommenen Werke George Onslows - von wenigen Musikern mit Geschmack einmal abgesehen. Der Kammermusik-Komponist war der Menge unbekannt, die nichts als die Musik der Bühne mag.«
George Onslow verbrachte den Rest seines Lebens in einer gleichgültigen Epoche, die sich musikalisch völlig im Umbruch befand. Als Spiegel einer Tradition, die man für zu klassisch hielt, fielen seine Trios, Quartette und Quintette dem Vergessen anheim. Bald anderthalb Jahrhunderte mußte man warten, bis Musikwissenschaftler und Musiker mit der unverzichtbaren Wiederentdeckungsarbeit begannen, die es heute gestattet, die überraschend vielfältige Musik mit neuem Leben zu erfüllen - eine Musik, in der sich eine starke, warmherzige Persönlichkeit artikuliert. Das neuerliche Auftauchen seines Schaffens erlaubt es uns außerdem, eine Dimension zu erfassen, die schon Marmontel nicht entgangen war: »George Onslow ist auf einmal vergangen und vergessen, diese sympathische Figur, dieser angebliche ‚Amateur‘, der begabter und fruchtbarer war als viele Leute seines Berufs; aber er behält in der Ansicht des Jahrhunderts einen bescheidenen, wenngleich legitimen Platz als Vorläufer…«
Während nämlich durch 8eethovens Schaffen in Deutschland sehr bald die moderne Vorstellung vom Trio mit ihrer Gleichbehandlung aller Instrumente eingeführt wurde, war das in Frankreich nicht der Fall: Hier ging die Entwicklung der Form langsamer vonstatten, weil ähnlich markante Werke fehlten. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, mithin in jener Epoche, in der Onslow seine sämtlichen Trios (mit Ausnahme des Opus 83) komponiert hot, lassen sich die Grenzen zwischen der Sonate für Klavier mit Begleitung der Violine und des Basses und dem echten Trio für Klavier, Violine und Violoncello schwer bestimmen. Die Jahre 1810 bis 1815 sahen den Fortbestand eines musikalischen Typus, in dem die Klavierpartie dominierte. Diese bewegte sich im Dialog mit der Violine, indessen die Begleitung des Violoncellos darin bestand, daß es die Baßstimme des Klavieres verdoppelte.
Wie auf allen Gebieten der französischen Kunst, so ging auch hier die Klassik weniger ungezwungen und natürlich in die Romantik über als in den deutschsprachigen Ländern. Im Bereich der Instrumentalmusik brach Onslow seit der Veröffentlichung seines Opus 3 mit diesen Archaismen: Die Klavierstimme ist zwar am weitesten entwickelt, doch sie überdeckt nicht die Rolle der Saiteninstrumente, die gleichberechtigt mit ihr im Dialog stehen.
Ein halbes Jahrhundert trennt Onslows erste Trio-Kollektion von seinem letzten Klaviertrio. Man wird heute nicht verkennen können, daß viele dieser Stücke die Kreationen eines bedeutenden Künstlers und eine große Zahl von ihnen echte Meisterwerke sind. Sie erhöhen damit andererseits eine verkannte Linie der Instrumentalmusik, die in Frankreich zu einer Zeit, die wir praktisch nur durch die Werke des deutschen Sprachraums kennen, kultiviert wurde. Aufgrund seines Respekts vor dem empfangenen Erbe schreibt Onslow die letzten Worte der Klassik, was ihn aber keineswegs daran hindert, durch die Eingebungen, Neuerungen und Erfahrungen, die seine Sprache miteinander verbinden, den Weg für die nachromantische Bewegung in Frankreich zu bereiten.
Quelle: Viviane Niaux (Übersetzung: Eckhardt van den Hoogen), im Booklet
TRACKLIST George Onslow (1784-1853) Piano Trios Vol. 1 Piano Trio op. 14 No 2 28'34 [1] Allegro 10'44 [2] Minuetto 4'06 [3] Andante con variazioni 8'17 [4] Finale 5'27 Piano Trio op. 27 27'06 [5] Allegro grazioso 7'46 [6] Andante contabile 6'43 [7] Minuetto 5'47 [8] Finale 6'50 T.T.: 55'45 Trio Cascades: Thomas Palm, Piano Katrina Schulz, Violin Inka Ehlert, Violoncello Recording: Stadthalle Meinerzhagen 2004/05 Recording Supervisor + Digital Editing: Hans-Ulrich Wachtmann Executive Producer: Inka Ehlert + Katrina Schulz Cover Painting: John Atkinson Grimshow, "Abendlicher Garten mit Blick auf ein erleuchtetes Wohnhaus", Christie's London (P) 2007
Jane Austen
Verstand und Gefühl
Erstes Kapitel
Die Dashwoods waren eine alteingesessene Familie in Sussex. Sie hatten ein großes Besitztum und wohnten auf Norland Park inmitten ihrer Ländereien, wo sie seit vielen Generationen ein so achtbares Leben geführt hatten, daß sie im ganzen Bekanntenkreis in hohem Ansehen standen. Der letzte Eigentümer dieses Besitzes war ein Junggeselle, der ein sehr hohes Alter erreichte und viele Jahre seines Lebens hindurch seine Schwester als ständige Gefährtin und Haushälterin bei sich hatte. Doch ihr Tod - sie starb zehn Jahre vor ihm - zog große Veränderungen in seinem Hause nach sich; denn um ihren Verlust zu ersetzen, nahm er die Familie seines Neffen Mr. Henry Dashwood bei sich auf, welcher der rechtmäßige Erbe des Besitzes Norland war und dem er ihn auch zu vermachen gedachte. In der Gesellschaft seines Neffen und seiner Nichte sowie ihrer Kinder verbrachte der alte Herr behaglich seinen Lebensabend. Er schloß sie alle in sein Herz. Die ständige Aufmerksamkeit Mr. und Mrs. Henry Dashwoods gegenüber seinen Wünschen, die nicht etwa bloßem Eigennutz, sondern echter Herzensgüte entsprang, gewährte ihm alle Labsal, die ihm bei seinem Alter noch zuteil werden konnte, und das fröhliche Treiben der Kinder verschönte seine Tage.
Aus erster Ehe hatte Mr. Henry Dashwood einen Sohn, von seiner jetzigen Frau drei Töchter. Der Sohn, ein gesetzter, achtbarer junger Mann, war durch das große Vermögen seiner Mutter, dessen eine Hälfte ihm bei Erlangung der Volljährigkeit zufiel, reichlich versorgt. Überdies hatte er durch seine Ehe, die er bald darauf schloß, seinen Reichtum noch vermehrt. Für ihn war daher das Erbe von Norland nicht so lebenswichtig wie für seine Schwestern; denn deren Vermögen konnte nur klein ausfallen, wenn nicht dadurch etwas hinzukam, daß ihr Vater dieses Besitztum erbte. Ihre Mutter hatte nichts, und ihr Vater verfügte bloß über siebentausend Pfund; denn die verbleibende Hälfte des Vermögens seiner ersten Frau war gleichfalls ihrem Kind vermacht, und er bezog daraus nur eine Lebensrente.
Der alte Herr starb; sein Testament wurde verlesen, und wie fast jedes Testament rief es ebensoviel Enttäuschung wie Freude hervor. Er war weder so ungerecht noch so undankbar, sein Gut einem andern zu hinterlassen als seinem Neffen, doch er hinterließ es ihm unter Bedingungen; die den halben Wert der Erbschaft zunichte machten. Mr. Dashwood hatte sie sich mehr um seiner Frau und seiner Töchter als um seiner selbst und seines Sohnes willen gewünscht; aber sie war seinem Sohn und dessen Sohn - einem Kind von vier Jahren - auf eine Weise sichergestellt, daß ihm selbst keine Möglichkeit blieb, diejenigen zu versorgen, die er am meisten liebte und die auf eine Versorgung, sei es durch eine Hypothek auf das Gut oder durch den Verkauf seiner wertvollen Wälder, am meisten angewiesen waren. Das Ganze war zugunsten dieses Kindes festgelegt, das bei einigen Besuchen mit seinem Vater und seiner Mutter auf Norland das Herz seines Onkels durch reizvolle kleine Eigenheiten, die bei zwei- bis dreijährigen Kindern beileibe nichts Ungewöhnliches sind - mangelnde Sprechfertigkeit, einen ausgeprägten Willen, zahlreiche listige Streiche und viel Lärm -, so sehr für sich eingenommen hatte, daß sie bei ihm mehr ins Gewicht fielen als alle Aufmerksamkeiten, die ihm jahrelang von seiner Nichte und ihren Töchtern erwiesen worden waren. Er wollte sich jedoch keineswegs lieblos zeigen, und so hinterließ er jedem der drei Mädchen eintausend Pfund als Zeichen seiner Zuneigung.
Im ersten Augenblick war Mr. Dashwoods Enttäuschung groß, doch er war von Natur aus heiter und ein Optimist, und er durfte mit Recht hoffen, noch viele Jahre zu leben und, wenn er sparsam lebte, eine ansehnliche Summe aus dem Ertrag eines Besitzes zurückzulegen, der an sich schon groß war und in allernächster Zeit noch vergrößert werden konnte. Aber der Reichtum, der so lange hatte auf sich warten lassen, gehörte ihm nur ein Jahr. Länger überlebte er seinen Onkel nicht, und zehntausend Pfund einschließlich der jüngst hinzugekommenen Legate waren alles, was seiner Witwe und seinen Töchtern verblieb.
Sobald man erkannte, daß er in Lebensgefahr schwebte, schickte man nach seinem Sohn, und ihm legte Mr. Dashwood mit aller Kraft und allem Nachdruck, die er bei seiner Krankheit noch aufbringen konnte, das Wohl seiner Stiefmutter und -schwestern ans Herz.
Mr. John Dashwood hatte kein so empfindsames Gemüt wie die übrigen Mitglieder der Familie, doch eine derartige Bitte in einem derartigen Augenblick ging ihm nahe, und er versprach, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um für ihr Auskommen zu sorgen. Eine solche Versicherung beruhigte seinen Vater, und dann hatte Mr. John Dashwood Muße, zu überlegen, wie viel wohl bei gebührender Umsicht in seiner Macht stehen mochte.
Er war kein übel gearteter junger Mann, es sei denn, man hielte ein ziemliches Maß an Kaltherzigkeit und Selbstsucht für üble Art; aber er war im allgemeinen gut angesehen, weil er sich seiner üblichen Pflichten mit Anstand entledigte. Hätte er eine liebenswertere Frau geheiratet, dann wäre aus ihm vielleicht ein noch angesehenerer Mann geworden: vielleicht wäre er sogar selbst liebenswert geworden; denn er war noch sehr jung, als er heiratete, und hatte seine Frau sehr gern. Aber Mrs. Dashwood war ein bloßes Zerrbild seiner selbst - noch engstirniger und selbstsüchtiger.
Als er seinem Vater das Versprechen gab, erwog er innerlich, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Geschenk von tausend Pfund für jede zu vergrößern. In diesem Augenblick glaubte er sich wirklich dazu in der Lage. Bei der Aussicht auf jährlich viertausend zusätzlich zu seinem jetzigen Einkommen, neben der verbleibenden Hälfte des Vermögens seiner Mutter, wurde ihm warm ums Herz, und er hatte das Gefühl, freigebig sein zu können. Jawohl, er würde ihnen dreitausend Pfund geben - das wäre großzügig und anständig von ihm! Damit könnten sie reichlich auskommen. Dreitausend Pfund! Eine beträchtliche Summe, die er ohne große Schwierigkeit erübrigen könnte. Den ganzen Tag dachte er darüber nach, und noch eine Reihe von Tagen, und bereute seinen Vorsatz nicht.
Kaum war sein Vater beerdigt, da traf Mrs. John Dashwood, ohne ihre Schwiegermutter von ihrer Absicht zu benachrichtigen, mit ihrem Kind und ihren Bediensteten ein. Niemand konnte ihr Recht zu kommen bestreiten: das Haus gehörte ihrem Mann von dem Augenblick an, da sein Vater verschieden war; die Taktlosigkeit ihres Benehmens aber war um so größer und mußte auf eine Frau in Mrs. Dashwoods Lage, selbst wenn sie nur normal empfand, höchst abstoßend wirken; in ihrem Innern jedoch lebten ein so ausgeprägtes Ehrgefühl, eine so romantische Seelengröße, daß eine derartige Kränkung, wer immer sie begangen oder erfahren haben mochte, für sie eine Quelle unüberwindlicher Abneigung war. Mrs. John Dashwood war bei keinem aus der Familie ihres Mannes je besonders beliebt gewesen, aber bisher hatte sie noch nie Gelegenheit gehabt, zu zeigen, mit welcher Rücksichtslosigkeit gegenüber den Gefühlen anderer Menschen sie handeln konnte, falls es die Umstände geraten erscheinen ließen.
Als so kränkend empfand Mrs. Dashwood dieses schroffe Benehmen und so heftig verachtete sie deshalb ihre Schwiegertochter, daß sie bei deren Ankunft das Haus für immer verlassen hätte, wäre sie nicht durch die dringenden Bitten ihrer ältesten Tochter veranlaßt worden, erst zu bedenken, ob es auch schicklich sei; und ihre zärtliche Liebe zu ihren drei Kindern bestimmte sie hernach, zu bleiben und um ihretwillen einen Bruch mit ihrem Stiefsohn zu vermeiden.
Elinor, die älteste Tochter, deren Ratschlag so wirksam gewesen war, besaß eine Verstandeskraft und eine Nüchternheit des Urteils, die sie befähigten, trotz ihrer neunzehn Jahre bereits die Ratgeberin ihrer Mutter zu sein, und sie häufig in die Lage versetzten, zu ihrer aller Wohl der überschwenglichen Gemütsart Mrs. Dashwoods entgegenzuwirken, die doch meist zu Unbesonnenheiten führen mußte. Sie besaß ein vortreffliches Wesen - ihr Herz war zärtlich, und ihre Gefühle waren stark, doch sie wußte sie zu beherrschen; das war etwas, was ihre Mutter noch lernen mußte und was die eine ihrer Schwestern nie zu lernen entschlossen war.
Mariannes Fähigkeiten entsprachen in vieler Hinsicht durchaus denen Elinors. Sie war verständig und intelligent, doch in allem überschwenglich: ihr Kummer, ihre Freude kannten kein Maß. Sie war hochherzig, liebenswert, anziehend - sie war alles, nur nicht besonnen. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter war verblüffend.
Elinor sah das Übermaß der Empfindsamkeit ihrer Schwester mit Besorgnis, Mrs. Dashwood aber schätzte und förderte es noch. Jetzt bestärkten beide einander in ihrem bitteren Weh. Der heftige Schmerz, der sie im ersten Augenblick überwältigt hatte, wurde aus freiem Entschluß erneuert, herbeigesehnt, ständig neu erzeugt. Sie gaben sich ganz ihrem Kummer hin, suchten ihr Leid mit jedem geeigneten Gedanken zu vertiefen und waren fest entschlossen, sich nie wieder trösten zu lassen. Auch Elinor war tief betrübt, aber sie war dennoch imstande, zu kämpfen, sich zu bemühen. Sie war imstande, sich mit ihrem Bruder zu beraten, ihre Schwägerin bei ihrer Ankunft zu empfangen und mit der gebührenden Aufmerksamkeit zu behandeln und ihre Mutter zu gleichen Bemühungen aufzurütteln und zu gleicher Nachsicht zu bewegen.
Margaret, die andere Schwester, war ein gutmütiges, freundliches Mädchen, doch da sie bereits einen beträchtlichen Teil von Mariannes romantischen Vorstellungen in sich aufgenommen hatte, ohne indes Mariannes Verstand zu besitzen, erweckte sie mit ihren dreizehn Jahren nicht den Eindruck, daß sie in einem späteren Lebensalter ihren Schwestern gleichen würde.
Zweites Kapitel
Mrs. John Dashwood richtete sich jetzt als Herrin von Norland ein, und ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerinnen wurden zu Besuchern degradiert. Als solche jedoch wurden sie von ihr mit gelassener Höflichkeit behandelt und von ihrem Mann mit so viel Freundlichkeit, wie er für jemand anders als sich selbst, seine Frau und sein Kind aufbringen konnte. Er nötigte sie sogar - nicht ohne einigen Eifer -, Norland als ihr Heim zu betrachten, und da sich Mrs. Dashwood nichts Besseres bot, als zu bleiben, bis sie in einem Haus in der Nähe unterkommen könnte, nahm sie seine Einladung an.
An einem Ort zu verweilen, wo alles sie an einstige Freuden erinnerte, war genau das richtige für ihr Gemüt. In heiterer Laune konnte niemand heiterer sein als sie oder ein höheres Maß an schwärmerischer Vorfreude auf das Glück empfinden, die allein schon Glück ist. Im Kummer aber erlag sie in gleicher Weise ihrer Stimmung und ließ sich dann ebensowenig trösten wie in der Freude zügeln.
Mrs. John Dashwood war ganz und gar nicht damit einverstanden, was ihr Mann für seine Schwestern zu tun gedachte. Dreitausend Pfund von dem Vermögen ihres lieben Kleinen wegzugeben hieße ja, ihn ganz entsetzlich in Armut zu stürzen. Sie bat ihn, die Sache doch noch einmal zu bedenken. Wie könnte er es vor sich selbst verantworten, sein Kind, und noch dazu sein einziges Kind, einer so großen Summe zu berauben? Und welches Recht hätten die Misses Dashwood, die doch nur halbe Blutsverwandte von ihm seien, was sie überhaupt nicht als Verwandtschaft betrachte, von seiner Großmut eine so beträchtliche Summe zu erwarten? Bekanntlich gebe es zwischen Kindern aus verschiedenen Ehen eines Mannes keinerlei Zuneigung, und wieso wolle er da sich selbst und ihren lieben kleinen Harry dadurch ruinieren, daß er sein ganzes Geld an seine Halbschwestern wegschenkte?
»Es war der letzte Wunsch meines Vaters«, erwiderte ihr Mann, »daß ich seine Witwe und seine Töchter unterstützen sollte.«
»Wahrscheinlich wußte er gar nicht mehr, was er sprach; ich möchte wetten, er war schon nicht mehr ganz richtig im Kopf. Wäre er noch bei klarem Verstand gewesen, dann wäre er nicht auf den Einfall gekommen, dich zu bitten, das halbe Vermögen deines Kindes wegzuschenken.«
»Er nannte keine bestimmte Summe, meine liebe Fanny; er bat mich bloß ganz allgemein, sie zu unterstützen und ihre Situation angenehmer zu gestalten, als es ihm selbst möglich war. Vielleicht wäre es richtig gewesen, wenn er das völlig mir überlassen hätte. Er konnte ja wohl kaum annehmen, daß ich nicht für sie sorgen würde. Aber da er mir das Versprechen abverlangte, blieb mir nichts weiter übrig, als es ihm zu geben - wenigstens glaubte ich das in dem Augenblick. Ich habe ihm also mein Versprechen gegeben und muß es auch halten. Etwas muß man für sie tun, wenn sie Norland verlassen und sich ein neues Heim einrichten.«
»Na, dann wird man eben etwas für sie tun; aber dieses Etwas müssen ja nicht gleich dreitausend Pfund sein. Überlege doch mal«, fügte sie hinzu, »ist das Geld erst fort, kommt es nie wieder. Deine Schwestern werden heiraten, und dann ist es für immer dahin. Ja, wenn es eines Tages wieder unserem armen Kleinen zufallen würde ...«
»Allerdings«, sagte ihr Mann sehr ernst, »das wäre freilich etwas ganz anderes. Es kann einmal eine Zeit kommen, wo es Harry leid tun wird; daß wir eine so bedeutende Summe weggegeben haben. Wenn er zum Beispiel später eine große Familie hat, wäre das Geld ein sehr angenehmer Zuschuß.«
»Und ob.«
»Dann wäre es vielleicht für alle Beteiligten besser, wenn die Summe um die Hälfte verringert würde. Fünfhundert Pfund wären doch eine gewaltige Erhöhung ihres Vermögens!«
»Oh, eine ganz ungeheure Erhöhung! Finde erst mal einen Bruder auf der Welt, der auch nur halb soviel für seine Schwestern täte, selbst wenn es seine richtigen Schwestern wären! Und unter diesen Umständen - bloß Halbverwandte! - Aber du hast ja einen so großzügigen Charakter!«
»Ich möchte mich keinesfalls schäbig benehmen«, erwiderte er. »Bei solchen Anlässen tut man lieber zuviel als zuwenig. Zumindest kann mir dann niemand nachsagen, ich hätte nicht genug für sie getan - nicht einmal sie selbst können mehr erwarten.«
»Niemand weiß, was sie erwarten«, sagte seine Frau, »aber wir können uns sowieso nicht nach ihren Erwartungen richten, sondern es geht allein darum, wieviel du dir leisten kannst, wegzugeben.«
»Gewiß, und ich denke, ich werde es mir leisten können, jeder fünfhundert Pfund zu geben. Schon so, ohne daß ich etwas dazulege, werden sie nach dem Tode ihrer Mutter jede über mehr als dreitausend Pfund verfügen - für ein junges Mädchen ein sehr stattliches Vermögen.«
»Das ist es in der Tat, und eigentlich finde ich, daß sie überhaupt keinen Zuschuß brauchen. Sie werden sich einmal zehntausend Pfund teilen können. Wenn sie heiraten, dann sind sie versorgt oder stehen sich sogar gut, und wenn sie nicht heiraten, dann können sie mit den Zinsen von zehntausend Pfund alle zusammen sehr angenehm leben.«
»Sehr richtig, und deshalb frage ich mich auch, ob es nach alledem nicht ratsamer wäre, statt für sie lieber etwas für ihre Mutter zu tun, solange sie noch lebt - ich denke zum Beispiel an eine Art Rente. Das würde meinen Schwestern ebenso zugute kommen wie ihr. Von hundert Pfund im Jahr könnten sie alle sehr angenehm leben.«
Seine Frau hatte jedoch einige Bedenken, diesem Plan zuzustimmen.
»Allerdings«, sagte sie, »es ist jedenfalls besser, als fünfzehnhundert Pfund auf einmal wegzugeben. Aber laß andererseits Mrs. Dashwood noch fünfzehn Jahre leben, dann sind wir ganz schön hereingefallen.«
»Noch fünfzehn Jahre? Meine liebe Fanny, sie wird nicht mehr halb so lange leben!«
»Sicher nicht; aber das wird dir auch schon aufgefallen sein: Leute, denen eine Rente gezahlt wird, leben ewig, und sie ist sehr kräftig und gesund und kaum vierzig. Eine Rente ist eine sehr ernste Angelegenheit: jedes Jahr erscheint sie von neuem, und man wird sie nie wieder los. Du ahnst nicht, auf was du dich da einläßt. Mit Renten habe ich schon große Scherereien erlebt; denn meine Mutter war gezwungen, drei auf einmal zu zahlen, die ihr mein Vater durch sein Testament aufgebürdet hatte - an alte, ausgediente Domestiken, und es ist kaum zu glauben, was ihr das für Unannehmlichkeiten bereitete. Zweimal im Jahr mußten diese Renten gezahlt werden, und dann die Umstände, den Leuten das Geld zuzustellen, und dann hieß es, einer von ihnen sei gestorben, und hinterher stellte sich heraus, daß es gar nicht an dem war. Meiner Mutter hing das Ganze zum Halse heraus. Ihre Einkünfte gehörten ihr ja gar nicht, sagte sie, wenn diese ewigen Ansprüche darauf lasteten, und es war um so herzloser von meinem Vater, als meine Mutter andernfalls frei hätte über das Geld verfügen können, ohne jede Einschränkung. Das hat in mir eine derartige Abneigung gegen Renten entwickelt, daß ich mich um nichts in der Welt darauf festnageln lassen würde, jemandem eine zu zahlen.«
»Es ist bestimmt sehr unangenehm«, erwiderte Mr. Dashwood, »wenn einem jedes Jahr die Einkünfte auf diese Weise beschnitten werden. Man ist nicht mehr Herr seines Vermögens, wie deine Mutter sehr richtig sagt. Auf die regelmäßige Zahlung einer solchen Summe an jedem Fälligkeitstag festgelegt zu sein ist alles andere als wünschenswert: man verliert dadurch seine Unabhängigkeit.«
»Zweifellos, und außerdem dankt es dir auch keiner. Sie betrachten sich als gesichert; du tust bloß das, was man von dir erwartet, und das erweckt keinerlei Dankbarkeit. Ich an deiner Stelle würde alles, was ich für sie tue, von meinem eigenen Ermessen abhängig machen. Zu einem jährlichen Unterhalt würde ich mich nicht verpflichten. Manches Jahr kann es uns sehr ungelegen kommen, hundert oder auch bloß fünfzig Pfund von unsern eigenen Ausgaben einsparen zu müssen.«
»Ich glaube, du hast recht, meine Liebe; es ist also besser, wir sehen keine Jahresrente für sie vor. Wenn ich ihnen gelegentlich etwas gebe, dann ist ihnen damit weit mehr gedient als mit einer jährlichen Unterhaltssumme, denn sie würden doch bloß größeren Aufwand treiben, wenn sie sich eines höheren Einkommens sicher wüßten, und am Jahresende wären sie um keinen Penny reicher. Bestimmt ist das die beste Lösung. Ein gelegentliches Geschenk von fünfzig Pfund wird verhindern, daß sie jemals in Geldverlegenheit kommen, und ich denke, damit erfülle ich großzügig das Versprechen, das ich meinem Vater gegeben habe.«
»Natürlich. Zudem bin ich, offen gestanden, innerlich überzeugt, daß dein Vater gar nicht die Absicht hatte, ihnen Geld zu geben. Er hat dabei doch wohl nur an solche Unterstützung gedacht, wie man sie vernünftigerweise von dir erwarten kann - zum Beispiel, daß du dich nach einem gemütlichen kleinen Haus für sie umsiehst, ihnen beim Umzug hilfst und ihnen Fische und Wild und dergleichen schickst, wenn gerade die Jahreszeit danach ist. Ich möchte meine Hand dafür ins Feuer legen, daß er nicht mehr damit gemeint hat; es wäre ja auch sehr seltsam und unvernünftig von ihm gewesen. Überlege doch nur mal, mein lieber Dashwood, wie außerordentlich angenehm deine Stiefmutter und ihre Töchter von den Zinsen der siebentausend Pfund leben können, ganz abgesehen von den tausend Pfund, die jedes der Mädchen besitzt und die ihnen pro Kopf fünfzig Pfund im Jahr bringen, und natürlich werden sie ihrer Mutter davon Kostgeld geben. Alles in allem werden sie fünfhundert im Jahr für sich haben, und was in aller Welt könnten sich vier Frauen mehr wünschen? - Sie werden ja so billig leben! Ihre Haushaltung wird rein gar nichts kosten. Sie werden keine Kutsche, keine Pferde und kaum Personal haben; sie werden keine Gesellschaften geben und können überhaupt keine Ausgaben haben! Denk doch bloß, wie gut sie es haben werden! Fünfhundert Pfund im Jahr! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie auch nur die Hälfte davon verbrauchen wollen, und daß du ihnen noch was dazuschenken willst, ist eine völlig absurde Idee! Viel eher werden sie in der Lage sein, dir etwas abzugeben.«
»Auf mein Wort«, sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, du hast völlig recht. Mein Vater kann bestimmt nichts weiter mit seiner Bitte gemeint haben, als was du sagst. Jetzt ist mir alles klar, und ich werde mich genau an meine Verpflichtung halten und ihnen die Unterstützung und die Wohltaten angedeihen lassen, die du mir geschildert hast. Wenn meine Mutter in ein anderes Haus zieht, will ich ihr bei ihrer Einrichtung gern behilflich sein, soweit ich dazu in der Lage bin. Ein paar Möbelstücke wären dann vielleicht ein passendes Geschenk.«
»Gewiß«, erwiderte Mrs. John Dashwood. »Eins mußt du dabei allerdings bedenken. Als dein Vater und deine Mutter nach Norland zogen, verkauften sie zwar das Mobiliar von Stanhill, aber das ganze Porzellan, das Tafelgeschirr und die Wäsche behielten sie, und das alles fällt jetzt deiner Mutter zu. Deshalb wird ihr Haus bereits nahezu komplett eingerichtet sein, wenn sie es übernimmt.«
»Das ist zweifellos ein wichtiger Punkt, den wir bedenken sollten. Ein wertvolles Legat, das kann man wohl sagen! Und dabei wäre einiges von dem Tafelgeschirr unserem eigenen Bestand hier gut zustatten gekommen.«
»Ja, und das Frühstücksservice ist noch mal so schön wie das, was zu diesem Haus gehört. Meiner Ansicht nach viel zu schön für jede Wohnung, die sie sich je werden leisten können. Aber so ist es nun mal. Dein Vater hat ja bloß an sie gedacht. Und eins muß ich dir sagen: du hast keine Veranlassung, ihm besonders dankbar zu sein oder dich in übertriebenem Maße um seine Wünsche zu kümmern; denn das wissen wir doch: wenn er gekonnt hätte, dann hätte er so gut wie alles auf der Welt ihnen hinterlassen.«
Dieses Argument war zwingend. Es verlieh seinen Vorsätzen die Entschiedenheit, die noch gefehlt hatte, und so gelangte er denn endlich zu der Ansicht, daß es absolut unnötig, wenn nicht sogar unpassend wäre, für die Witwe und die Kinder seines Vaters mehr zu tun als jene Akte der Nächstenliebe, die ihm seine Frau vorschlug.
Quelle: Jane Austen: Verstand und Gefühl. Roman. Aus dem Englischen Erika Gröger. Anaconda Verlag, Köln, 2008. © der Übersetzung: Aufbau-Verlag, Berlin, 1972. Ausgezogen wurden die ersten beiden Kapitel des Ersten Buches, Seiten 5 bis 17
Die Illustrationen stammen aus der von Hugh Thomson illustrierten Ausgabe von Sense and Sensibility (Macmilan, 1911).
Im Blog Austenonly finden Sie noch mehr zu Jane Austen und Hugh Thomson.
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Aus Onslows "Monumentalwerk" habe ich bisher nur ein Sextett und ein Septett aus der letzten Schaffensperiode veröffentlicht, gemeinsam mit einer Hommage an Ferdinand Georg Waldmüller (1793-1865).
Das Trio Cascades dagegen debütiert mit diesem Post. Daher ein Link zum Trio Opus 8 mit Klaviertrios von Joachim Raff - und die Hommage geht dort an Alexandre Calame (1810-1864).
Ebenfalls der Beginn eines berühmten Romanes um 1810: "Dr. Katzenbergers Badereise" von Jean Paul. Mit den Dresdner Konzerten von Johann David Heinichen, dargeboten von Musica Antiqua Köln.
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