23. Dezember 2016

Ferdinand Ries: Klavierquintett und Sextette

Das Werk des Beethoven-Schülers Ferdinand Ries (1784-1838) umfasst alle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gängigen musikalischen Gattungen; er komponierte drei Opern, zwei Oratorien, acht Sinfonien, fünf Konzertouvertüren, weit über 100 Werke für Klavier, daneben Kammermusik für die unterschiedlichsten Besetzungen. Zwar pflegte Ries mit der Komposition von 26 Streichquartetten und 28 Sonaten für Violine und Klavier vor allem jene Gattungen, die durch Haydn, Mozart und Beethoven ihre klassische Ausprägung erhalten hatten; aber er begann auch, wie die auf der vorliegenden CD eingespielten Werke beweisen, mit verschiedenen Besetzungen zu experimentieren.

In der Kammermusik für Klavier und Streicher ist auffällig, dass Ries sich als Streicherbass des Kontrabasses bediente, und nicht, wie sonst üblich, sich auf das Violoncello beschränkte; eine Besetzung übrigens, die erstmals 1799 von Jan Ladislaus Dussek (1760-1812) verwandt wurde, in der gängigen Repertoire-Literatur aber nur aus Schuberts »Forellen«-Quintett bekannt ist. Die späteren Klavierquintette von Spohr (D-Dur op.130), Schumann (Es-Dur op.44) und Brahms (f-Moll op. 34) indes stellen dem Klavier nur ein Streichquartett gegenüber.

Einer der Gründe für das Bemühen, das Gewicht des Streichercorpus gegenüber dem Klavier durch die Verwendung des Kontrabasses zu verstärken, dürfte darin gesehen werden, dass die Technik des Klavierbaus in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts enorme Fortschritte machte, die das Klangvolumen des Instrumentes in bis dahin ungeahnte Dimensionen steigerten, aber in der Klavierkammermusik auch die Notwendigkeit eines klanglichen Gegengewichtes fühlbar werden ließ. […]

Die Verwendung des Kontrabasses in der Klavierkammermusik wurde indes in der zeitgenössischen Musikpublizistik als nicht unproblematisch angesehen; so heißt es etwa in einer Rezension von Ries' Klavierquintett op. 74 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung im Dezember 1817: »Dem Contrabass würde Rec. weniger, und nur die entscheidendsten Grundnoten gegeben haben, da dieses Instrument […] durch die Lage seiner Octaven […] in dieser Gattung von Musik und solchem Styl, doch nur einen in entfernter Tiefe ruhenden Grund vorstellt und vorstellen kann.«

Ferdinand Ries (1784-1838)
Eine weitere Auffälligkeit besteht in der quantitativen Ausweitung der Besetzung in der Klavierkammermusik mit Streichern. Hatte Mozart seinen Versuch, neben der Gattung des Klaviertrios auch das Klavierquartett beim Publikum zu etablieren, nach der Komposition von zwei Werken Mitte der 1780er Jahre als gescheitert betrachten und abbrechen müssen, so ging Beethoven - außer in einigen Jugendwerken und in einer Bearbeitung seines Bläserquintetts op.16 - erst gar nicht über die Klaviertrio-Besetzung hinaus. Ries hingegen erweiterte die Besetzung in op. 74 zum Quintett und in op. 100 zum Sextett. - Ähnliches gilt auch für die Klavierkammermusik mit Bläsern: hatte Mozart zur Gattung mit einem Quintett (Es-Dur KV 452) und Beethoven mit einem Quartett (das schon genannte op. 16) beigetragen, so komponierte Ries neben dem auf dieser CD zu hörenden Sextett op.142 noch ein Septett für Klarinette, 2 Hörner, Violine, Violoncello, Kontrabass und Klavier (op. 25 von 1812) und ein Oktett für Klarinette, Horn, 2 Fagotte, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass und Klavier (op. 128, komponiert 1815).

Alle drei auf der CD eingespielten Werke entstammen, wie erwähnt, Ries' Londoner Jahren; und die Vermutung, dass seine Experimentierfreude in Fragen der Besetzung mit den vielfältigen Bedürfnissen und Möglichkeiten der Haus- und Gesellschaftsmusik des Londoner Bürgertums in Zusammenhang steht, ist nicht von der Hand zu weisen. Ries konnte nach vergeblichen Versuchen, sich in Wien und später in Paris als Pianist und Komponist zu etablieren, als Dreißigjähriger in London endlich den Erfolg verbuchen, der ihm - bedingt wohl auch durch die politisch unsichere Lage auf dem Kontinent während der Zeit Napoleons und der Befreiungskriege - bisher vorenthalten geblieben war.

Aufgewachsen in Bonn im Umfeld des kulturell aufgeschlossenen Hofes von Erzbischof Ferdinand Franz genoss Ries von etwa 1801-05 den Unterricht des damals schon berühmten Beethoven und durfte sogar anlässlich eines Konzertes im Wiener Augarten als noch nicht Zwanzigjähriger den Solopart in dessen drittem Klavierkonzert c-Moll op. 37 übernehmen. Nach einer recht erfolglosen Zeit der Wanderschaft von Paris über Wien nach Bonn, von Stockholm nach Moskau und St. Petersburg, traf er im April 1813 in London ein, in dessen führende musikalische und gesellschaftliche Kreise er durch Johann Peter Salomon (der 20 Jahre vorher Haydn nach London geholt und so die Komposition von Haydns 12 Londoner Sinfonien veranlasst hatte) eingeführt wird.

Er kommt als Klavierlehrer bei reichen Bankiers und Kaufleuten in Mode und wird Mitglied der Londoner Philharmonic Society, deren Direktor er von 1815 bis 1821 war. Zunehmende Misshelligkeiten zwischen ihm und der Philharmonic Society ließen in Ries jedoch trotz seines Erfolges den Entschluss reifen, ins heimische Rheinland zurückzukehren. Im Juni 1824 zieht er sich in die Abgeschiedenheit von Bad Godesberg zurück und kann es sich aufgrund seines in London gemachten Vermögens leisten, verschiedene Stellenangebote abzulehnen; gleichwohl entfaltet er eine einflussreiche Tätigkeit als mehrmaliger Leiter der alljährlich stattfindenden Niederrheinischen Musikfeste. Nach 1830 gerät er jedoch zunehmend in Vergessenheit und stirbt 1838 verbittert in Frankfurt/Main.

Johann Peter Salomon (1745-1815)
Stich von 1792, National Portrait Gallery, London
Das Quintett für Klavier, Violine, Viola, Violoncello und Kontrobass h-Moll op. 74 entstand Anfang 1815 und wurde 1817 in London publiziert und umgehend in Leipzig und Paris nachgedruckt; es ist Erzherzog Rudolph von Österreich, Beethoven-Schüler wie Ries, und später Bischof von Olmütz, gewidmet, und zeigt so, dass Ries die Verbindung nach Wien und dessen herrschaftlichen Kreisen nicht vernachlässigen wollte. Vergleicht man die Satztechnik mit der des etwa vier Jahre später entstandenen »Forellen«-Quintetts von Schubert, so fällt auf, dass Ries den Klavierpart vergleichsweise virtuos gestaltet, während den Streicherstimmen vornehmlich kantable oder Tutti-Stellen zugedacht sind; möglicherweise hat Ries die Klavierstimme für den eigenen Gebrauch geschrieben, und bei der Gestaltung der Streicherstimmen an Dilettanten aus dem Londoner Bürgertum gedacht. […]

Das 1820 erschienene Grand Sextuor (Sextett) für Klavier, 2 Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass C-Our op. 100 wurde spätestens Anfang 1817 komponiert; denn am 18. April 1817 kündigt Ries gegenüber dem Musikkritiker William Ayrton an, er wolle sein »new Sestetto« proben, um es im Rahmen der Konzerte der Philharmonic Society aufzuführen; letzteres geschah am 28. April 1817. […]

Das Sextett für Klavier, Harfe, Klarinette, Horn, Fagott und Kontrabass g-Moll op. 142 ist trotz seiner hohen Opus-Nummer nach der autographen Datierung schon 1814 entstanden. Ries hatte erhebliche Schwierigkeiten, einen Verleger für das Werk zu finden; so bot er das Werk zusammen mit op. 74 im Herbst 1815 vergeblich dem Leipziger Verleger C. F. Peters an; acht Jahre später, im August 1823, versuchte er es erneut bei dem Londoner Verleger Boosey - wieder vergeblich. Offenbar schien den Verlegern das Risiko zu groß, ein Werk mit solch seltener Besetzung zu publizieren. Denn als es 1826 endlich in Mainz bei Schott erschien, war auf dem Titelblatt nicht nur angemerkt, dass man die Harfe durch ein zweites Klavier ersetzen könne, sondern es wurden gleichzeitig Stimmen für Violine, Viola und Violoncello herausgegeben, so dass das Werk auch als Quintett für 2 Klaviere und 3 Streicher gespielt werden konnte. Darüber hinaus wurde zusätzlich eine Version für 2 Klaviere allein angeboten. […]

Quelle: Bert Hagels, im Booklet [stark gekürzt]


TRACKLIST

Ferdinand Ries (1784-1838) 

Quintet op. 74 in B minor                             20'38 
for Violin, Violo, Violoncello, Double Boss, and Piano 

(1) Grave - Allegro con brio                           9'26
(2) Larghetto                                          4'58
(3) Rondo: Allegro                                     6'14

Grand Sextuor op. 100 in C major                      23'16 
for 2 Violins, Viola, Violoncello, Double Bass, and Piano 

(4) Allegro con brio                                  10'19 
(5) Andante - Air irlandois Andante                    6'11 
   (The lost Rose of Summer)
(6) Adagio - Allegro                                   6'46 

Sextet op.142 in G minor                              20'19 
for Harp, Piono, Clarinet, Bossoon, Horn, and Double Bass 

(7) Allegro non troppo                                 9'09  
(8) Adagio con moto                                    4'41 
(9) Rondo: Allegretto                                  6'29

                                                T.T.: 64'22 
Ensemble Concertant Frankfurt: 
   Peter Agoston, 1st Violin 
   Klaus Schwamm, 2nd Violin 
   Fred Günther, Viola 
   Sabine Krams, Violoncello 
   Timm-Johannes Trappe, Double Bass 

Fritz Walther, Piano 
Charlotte Cassedanne-Yoran, Harp 
Uli Mehlhardt, Clarinet 
Christian Lampert, Horn 
Wolfgang Buttler, Bassoon 


Recording: Studio 1, January 25, 28 & June 3, 1999 
Recording Supervisors: Hans-Bernhard Bätzing, Jens Schünemann (op. 74)
Recording Engineer: Thomas Eschler 
Executive Producers: Burkhard Schmilgun/Christian Esch 

Cover Painting: John Constable, "Dedham Vale von East Bergholt aus gesehen", 
c. 1815/1820, München, Pinakothek 
(P) + (C) 2000


Geplante Obsoleszenz


Giles Slade: Made to Break. Technology and
 Obsolescence in America
Es gehört zu den Alltagserfahrungen, dass das neue Mobiltelefon bereits nach ein oder zwei Jahren kaputtgeht, während man sich daran zu erinnern meint, dass die Geräte früher viel länger gehalten hätten. Unwillkürlich fragt sich der geplagte Konsument, warum dieselben Firmen, die ständig smarte neue Extrafunktionen entwickeln, es offensichtlich verlernt haben, Produkte so herzustellen, dass sie nicht schon nach kurzer Zeit auf dem Müll landen.

Dass man diese Erfahrung mit zahlreichen technischen Geräten machen kann, hat einen alten Mythos der Konsumkritik neu belebt, nämlich die These von der »geplanten Obsoleszenz«: Ihr zufolge verkürzen die Hersteller absichtlich die Lebensdauer ihrer Produkte, um die Kunden zu ständigem Nachkaufen zu zwingen. Bücher wie Made to Break oder Kaufen für die Müllhalde berichten über verkürzte Entwicklungszyklen, Sollbruchstellen und Technik, die so schwer zugänglich in Plastikgehäusen eingebaut ist, dass eine Wiederverwendung oder Reparatur der Produkte nicht mehr in Frage kommt. Der Kulturhistoriker Markus Krajewski hat die geplante Obsoleszenz sogar jüngst als ein Wesensmerkmal des Kapitalismus bezeichnet: Um die Nachfrage nach neuen Waren dauerhaft sicherzustellen, gelte es, ihren Verschleiß technisch zu garantieren.

Von Glühbirnen und Laserdruckern

Das große Problem der These von der geplanten Obsoleszenz besteht darin, dass sie sich nur schwer empirisch beweisen lässt. Aus Sicht ihrer Vertreter liegt das daran, dass die Produzenten so geschickt sind, keine schriftlichen Dokumente zu hinterlassen, wenn sie minderwertige Materialien verwenden oder elektronische Bauteile unterdimensionieren. Einmal immerhin haben sie sich offensichtlich erwischen lassen: Im Dezember 1924 trafen sich die führenden Glühbirnenhersteller der Welt (unter anderem General Electric, Philips und Osram) in Genf und schlossen dort den Phoebus-Kartellvertrag ab.

In diesem Vertrag, der das erste weltweit operierende Kartell überhaupt konstituierte, wurde festgelegt, die Lebensdauer von Glühbirnen auf 1000 Stunden zu begrenzen. Damals gab es allerdings bereits Glühbirnen, die eine Lebensdauer von mehr als 2500 Stunden erreichten, die »Centennial Bulb« in Livermore/Ohio brennt sogar bereits seit über 110 Jahren ununterbrochen. Die Lebensdauer von 1000 Stunden blieb indes, wie man bei Krajewski nachlesen kann, über Jahrzehnte Standard bei konventionellen Glühbirnen.

Philips war Teilnehmer am Phoebus Kartell von 1924
Markus Krajewski: The Great Lightbulb Conspiracy
Selbst dieses Beispiel ist allerdings längst nicht so eindeutig, wie man meinen könnte. Schließlich handelte es sich um einen Kartellvertrag - und es ist ein in der Kartellforschung gut bekannter Tatbestand, dass sich wirksame Preisabsprachen am besten für homogene Produkte treffen lassen. Für Rohstahl und Kohle kann man deshalb relativ einfach feste Preise festlegen, für Stereoanlagen eher nicht - eben weil es sie in zahllosen unterschiedlichen Ausführungen gibt. Die Lebensdauerbegrenzung von Glühbirnen war der Versuch, ein homogenes Produkt zu schaffen, über das sinnvolle Preisabsprachen überhaupt erst getroffen werden konnten. Das Glühbirnenkartell stellte insofern zwar sicherlich eine »Verschwörung« gegen die Konsumenten dar, aber letztlich auch nicht in stärkerem Maße, als das bei den Kartellen in der Zwischenkriegszeit generell der Fall war - und allein in Deutschland gab es zu Beginn der 1930er Jahre davon mehrere Tausend. Übrigens hatten die Konsumenten durchaus auch Vorteile von den Glühbirnen mit kürzerer Lebensdauer - sie brannten durch den dünneren Glühdraht heller und verbrauchten weniger Energie.

Überlegungen zur geplanten Obsoleszenz wurden besonders in den Vereinigten Staaten während der Weltwirtschaftskrise ab 1929 virulent. So wurde damals beispielsweise ernsthaft darüber diskutiert, ob man nicht Sollbruchstellen in neue Produkte einbauen sollte, um so den Konsum zu stimulieren (Krajewski). Aber auch hier sollte man etwas genauer hinsehen: Diese Diskussion reagierte nämlich auf die weitverbreitete Ansicht, die Große Depression sei das unerwünschte Resultat dauerhaft gesättigter Märkte gewesen. Die Automobil- und die Elektroindustrie gehörten zu den Boombranchen der zwanziger Jahre. Wenn aber erst jeder Amerikaner ein Auto und einen Kühlschrank hatte, musste die Wirtschaft dann nicht dauerhaft stagnieren? Vor dem Hintergrund solcher Debatten lagen Überlegungen zur geplanten Obsoleszenz nahe, in die Tat umgesetzt wurden sie jedoch höchstens punktuell. In der dafür geradezu berüchtigten Automobilindustrie reagierten die Firmen auf die Krise jedenfalls eher mit einer Steigerung der Qualitätsstandards als mit der Produktion billiger »depression cars«.

In den 1930er Jahren schien die geplante Obsoleszenz ein probates Mittel, den Verbrauch zu stimulieren. Als die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch auch ohne technische Sabotage viel konsumierten, bekamen solche Überlegungen eine andere Stoßrichtung und wurden zu einem Argument der Konsumkritik. Den Anfang machte dabei der Soziologe Vance Packard, der 1960 in The Waste-Makers (Die große Verschwendung) die These aufstellte, dass die Amerikaner viel mehr konsumierten, als sie eigentlich müssten. Durch Werbung, Radioprogramme und geplante Obsoleszenz seien die Menschen einem andauernden Konsumzwang unterworfen. Dieser führte Packard zufolge nicht allein zu einer gigantischen Ressourcenverschwendung, sondern hielt sie auch davon ab, ein sinnvolles, erfülltes Leben zu führen.

Die älteste noch brennende Glühbirne der Welt in der Feuerwehrstation
 von Livermore
Das war auch ein wichtiges Motiv der Konsumkritik der Studentenbewegung der 1960er und 1970er Jahre: Hier waren Überlegungen zur geplanten Obsoleszenz unter anderem deswegen populär, weil sie hervorragend mit der Kritik an der manipulierenden Kraft der Werbung zusammenpassten. Klassisch formulierte diesen Zusammenhang Wolfgang Fritz Haug in seiner Kritik der Warenästhetik von 1972. Er benannte mit marxistischen Begriffen, was bei Packard und anderen eher implizit vorausgesetzt wurde, dass nämlich die kapitalistische Konkurrenz nur vordergründig existierte. In Wirklichkeit hatte man es mit dem »Gesamtkapital« zu tun, das zu einer einheitlichen Willensbildung und damit auch zur Manipulation der breiten Masse fähig war. Geplante Obsoleszenz also als technisches Hilfsmittel, um immer neue Produkte verkaufen zu können.

Seit den 1980er Jahren wurde es zunächst ruhig um die geplante Obsoleszenz, erst in den letzten Jahren gewann die Debatte wieder an Attraktivität. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Zahl kurzlebiger elektronischer Geräte stark zugenommen hat. Die Innovationszyklen bei Mobiltelefonen, Laptops, Tablets und so weiter sind kurz, und die neuesten Produkte werden gekauft - sei es, weil die alten Geräte kaputtgehen oder auch nur, weil neue im Angebot sind. Die empirischen Nachweise für geplante Obsoleszenz bleiben allerdings weiterhin mehr als dünn. Von obskuren russischen Wissenschaftlern, die angeblich eine Software entwickelt haben, um die »programmierte« Lebensdauer von Laserdruckern zu verlängern, bis hin zu pauschalen Verdächtigungen über die Verwendung minderwertiger Materialien: Die Hinweise darauf, dass die Lebensdauer elektronischer Geräte tatsächlich immer kürzer wird (und dass der Grund dafür geplante Obsoleszenz ist), bleiben bislang äußerst vage. Offensichtlich deckt sich diese Beobachtung jedoch mit der Alltagserfahrung vieler Menschen. Anders ist die Virulenz des Konzepts jedenfalls kaum zu erklären.

Der ökonomische Sinn von Obsoleszenz

Das Problem lässt sich auch aus einer anderen Perspektive betrachten: Ist geplante Obsoleszenz ökonomisch überhaupt sinnvoll? Auf den ersten Blick spricht vieles dafür, denn ein kaputtes Ding muss schließlich ersetzt werden. Andererseits steht dem die marktwirtschaftliche Konkurrenzdynamik entgegen: Wenn das Auto der Firma X bereits nach kurzer Zeit nicht mehr fährt, wird beim nächsten Mal eher ein Auto der Firma Y gekauft. Zudem müssten Sollbruchstellen so geschickt eingebaut werden, dass sie nicht entdeckt werden können, ansonsten wäre der Reputationsverlust dramatisch.

Vance Packard (sitzend) beim Sigieren seines Bestsellers
"The Hidden Persuaders", State College, PA, 19.04.1958
Auch hier spielt die Konkurrenz der Unternehmen eine zentrale Rolle: Neue Produkte einer Firma werden gerade von deren Wettbewerbern bis in die kleinsten Details analysiert. Würde Samsung eine Sollbruchstelle in seine Geräte einbauen, die Apple- Techniker würden sie wohl finden. Oder ist es wirklich glaubhaft, dass sich diese miteinander in scharfem Wettbewerb stehenden Firmen untereinander absprechen?

Es ist überdies auffällig, dass geplante Obsoleszenz in den meisten Fällen für Produkte mit hoher technologischer Entwicklungsdynamik angenommen wird. Es geht um Mobiltelefone, Computer oder Fernseher, die immer komplexer und damit störungsanfälliger werden. Technisch ausgereifte Produkte hingegen mit einem geringeren Komplexitätsgrad, wie etwa Waschmaschinen oder Kühlschränke, erweisen sich in der Regel als durchaus langlebig.

Schließlich noch der Kritikpunkt, dass sich immer mehr Produkte nicht mehr reparieren lassen: Tatsächlich designen Unternehmen ihre Produkte mitunter so, dass sie sich Praktiken des Weiter- und Wiedernutzens verschließen. Radios beispielsweise wurden bereits ab den 1960er Jahren nicht mehr als langlebige Heimkonsolen gestaltet, sondern als mobile Geräte im Plastikgehäuse. Das private »Schrauben« an Autos hat durch ein verändertes Produktdesign stark abgenommen. Trotzdem kann von einem Bedeutungsverlust des Reparaturgewerbes eigentlich nicht gesprochen werden, hat doch ein Großteil des Handwerks sein Tätigkeitsfeld in den letzten Jahrzehnten von der Neuproduktion in die Reparatur verlagert.

Es ist mutmaßlich die schwache empirische Basis der These von der geplanten Obsoleszenz, die ihre Vertreter dazu bringt, sie mit der »funktionellen« und »psychologischen« Obsoleszenz in einen Topf zu werfen. Diese Unterscheidung hatte Vance Packard getroffen, um den technischen Fortschritt (funktionelle Obsoleszenz) von der Bevorzugung neuer und moderner Produkte durch die Konsumenten (psychologische Obsoleszenz) sowie der schlichten Sabotage (qualitative Obsoleszenz) abzugrenzen. Unter das Schlagwort der Obsoleszenz können dann auch Fälle gefasst werden, wo durch technischen Fortschritt sowie die Entwicklung neuer »Zusatznutzen« Bedürfnisse geschaffen werden, die die Menschen angeblich gar nicht haben.

Auswirkungen der Abwrackprämie
Tatsächlich ist Obsoleszenz in diesem Sinne ein Wesensmerkmal des modernen Kapitalismus und seiner technologischen Dynamik. Joseph Schumpeters Prinzip der »schöpferischen Zerstörung« gilt nicht nur für technisch avancierte Produkte, sondern auch für Waschmittel oder Biersorten. Von dieser Dynamik lebt der Kapitalismus, und die Debatte um geplante Obsoleszenz in der Weltwirtschaftskrise speiste sich ja gerade aus der Befürchtung, dauerhaft befriedigte Bedürfnisse könnten zu ökonomischer Stagnation führen.

Diese kapitalistische »Normalität« wird aus Sicht der Obsoleszenzkritiker jedoch deshalb zum Skandal, weil die Konsumenten sich diesem Spiel nicht freiwillig unterwerfen. Die Dinge ihres Alltags gehen kaputt, und die Werbung suggeriert, sie bräuchten immer neue und bessere Produkte. Es fragt sich aber, ob die Unternehmen nicht ebenso in die kapitalistische Konkurrenzdynamik hineingezwungen werden. Bereits in den 1970er Jahren, als die deutsche Wirtschaft von schweren Strukturkrisen erschüttert wurde, hätte es den meisten Unternehmern gut gefallen, wenn die Annahme, sie verfügten über eine nennenswerte »Produzentensouveränität« (John Kenneth Galbraith) zugetroffen hätte, sie den Menschen also tatsächlich weitgehend hätten diktieren können, was sie zu kaufen und zu begehren haben.

Wenn dem aber so wäre, wie lässt es sich dann erklären, dass so viele (beziehungsweise die meisten) Unternehmen scheitern? Offensichtlich besitzt ihre Manipulationskraft doch enge Grenzen - und das macht nicht zuletzt auch deutlich, warum die geplante Obsoleszenz keine Strategie darstellt, die ökonomischen Erfolg dauerhaft sicherstellen könnte.

Obsoleszenz und Wirtschaftskrise

In der These von der geplanten Obsoleszenz scheinen klassische Motive der Konsumkritik auf, wobei zugleich ökonomische wie moralische Argumente ins Spiel gebracht werden: Zunächst sollen die Konsumenten ihre Autonomie gegenüber dem Markt zurückgewinnen, indem sie frei entscheiden können, wofür sie Geld ausgeben und wofür nicht. Die Wirtschaft soll dadurch gerechter werden.

Es geht aber auch um die Verringerung von Ausschuss und Verschwendung, die mit einer schrankenlos wachsenden Produktion einhergehen. Dabei soll zugleich ein intensiverer Bezug zu den Gegenständen des Alltags entwickelt werden: Man eignet sich diese in einer neuen Weise an, wenn sie nicht weggeworfen, sondern gepflegt, repariert oder anders wiedergenutzt werden. Diese Form des nichtentfremdeten Umgangs mit den Dingen weckt Erinnerungen an linke Alternativkonzepte der 1970er Jahre, als mit handwerklicher Produktion und Selbermachen ein Gegengewicht zur industriellen Massenproduktion geschaffen werden sollte.

John Maynard Keynes (1883-1946)
Diese Konsumkritik ist allerdings mit einem Dilemma konfrontiert. Sie plädiert für Frugalität, die zugleich ein Entkommen aus dem »Wachstumswahn« ermöglichen soll. Was ist jedoch, wenn es gar kein Wachstum gibt? Bereits die Debatte um geplante Obsoleszenz während der Weltwirtschaftskrise reagierte darauf, dass Konsumabstinenz, als gewissermaßen privates Austeritätsprogramm, gesamtwirtschaftlich zu enormen Problemen führen kann.

Die Theorie des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, in den 1930er Jahren als Reaktion auf die Große Depression entwickelt, stellte nicht zuletzt den Versuch dar, durch wirtschaftspolitische Mittel die Konsumzurückhaltung der Menschen zu überwinden. In der Finanzkrise seit 2007 wurde darauf wiederholt zurückgegriffen. Die »Abwrackprämie« der Bundesregierung aus dem Jahr 2009 beispielsweise lässt sich durchaus als eine Form staatlich geförderter geplanter Obsoleszenz verstehen - hier allerdings durch finanzielle Anreize, nicht durch technische Sabotage.

Während dem Konsum also gravierende ökologische und individuelle Folgekosten unterstellt werden, führt Konsumabstinenz in die Krise. Im Übrigen fokussiert sich gerade die Kritik, die gegenwärtig aus dem linken Lager an der Austeritätspolitik geübt wird, stark auf keynesianische Rezepte. Die dabei erhobene Forderung nach höheren Staatsausgaben einhergehend mit einer »moderaten« Inflation von fünf bis zehn Prozent hat zur Konsequenz, dass weiter und verstärkt konsumiert werden soll, zumal sich Sparen bei einer solchen Inflationsrate bald kaum noch lohnt.

Das zeigt, dass die Einschätzung der These von der geplanten Obsoleszenz auch politisch keineswegs einfach ist. Gerade der Keynesianismus, mit dem sich so viele Hoffnungen auf eine gerechtere Ökonomie verbinden, erweist sich in gewisser Weise als »Müllideologie«, die die stete Verschwendung als notwendigen Brennstoff wirtschaftlicher Entwicklung propagiert. Aus dieser Sicht erscheint eine Kritik an geplanter Obsoleszenz kaum mehr zu rechtfertigen, stellt diese doch ein Mittel zur Förderung des Konsums und damit des allgemeinen Wohlstands dar. Unnötig würde sie erst werden, wenn sich Konsumzurückhaltung moralisch ächten ließe. Das wiederum ist erkennbar das Gegenteil dessen, was die Kritiker der geplanten Obsoleszenz im Sinn haben.

Quelle: Roman Köster: Ökonomiekolumne. Geplante Obsoleszenz. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 69. Jahrgang, September 2015, Heft 796, Seite 60-66.

ROMAN KÖSTER, geb. 1975, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Sozial- und Technikgeschichte der Universität der Bundeswehr München. 2014 hat er den Band Die Große Depression mitherausgegeben.


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Ferdinand Ries' Opera 25 ("Grand Septuor") und 128 ("Grand Otetto"), dargeboten vom Linos-Ensemble, visualisiert von Sarah Ferneley. Mit Pferdebildern von John E. Ferneley, John Ferneley junior, und Claude Lorraine Ferneley.

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Weitere Gemälde von John Constable zwischen Stücken mit Bratsche von Hindemith, Britten, Beethoven, Schumann, Händel/Halvorsen.


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12. Dezember 2016

Violine und Klavier: Yehudi und Hephzibah Menuhin

Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840-1893)

Klaviertrio a-moll, Op. 50

Tschaikowski widmete das Klaviertrio, Op. 50 (entstanden 1881/82) dem Andenken seines Freundes Nikolaj Rubinstein ("a la memoire d'un grand artiste"). Das Werk stellt - wenn man so will- ein sehr intimes, kammermusikalisches Requiem dar. Dies wird auch durch die, für ein Klaviertrio, ungewöhnliche Form unterstrichen: Zwei große Hauptteile stehen sich gegenüber - ein elegischer Eingangssatz, der um einen expressiven Klagegesang kreist, geht einem Variationssatz voraus, der zweimal elf Variationen eines russischen Liedes bringt. Das Finale des zweiten Teils bildet die eigenständige 23. Variation dieses Themas und führt resigniert in die Tonart a-moll des Anfangs zurück.


Pablo Sarasate (1844-1908)

Caprice basque für Violine und Klavier
Danzas espanolas für Violine und Klavier


Ausgehend von der durch Paganini begründeten Tradition der Virtuosenmusik schrieb Pablo Sarasate seine Salonstücke und Opernfantasien. Er bediente vor allem die - am Ende des 19. Jahrhunderts so große - Nachfrage nach pseudo-folkloristischen Werken. Bekannt geworden ist Sarasate vor allem mit seinen "Zigeunerweisen", Op. 20 von 1879 und den "Spanischen Tänzen" (Danzas espanolas), Op. 21, 22, 23 und 26 die in den Jahren 1878-82 entstanden.


Enrique Granados (1867-1916)

12 Danzas espanolas - Nr. 5 Andaluza

Enrique Granados gilt neben Albeniz und de Falla als bedeutendster Vertreter der spanischen Schule im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der hier vorgestellte Satz Andaluza aus den 12 Danzas espanolas für Klavier (entstanden zwischen 1892-1900) erklingt in einer Bearbeitung für Violine und Klavier.

Hephzibah und Yehudi Menuhin, 1963
Sergej Prokofjew (1891-1953)

Violinsonate Nr. 1 f-moll, Op. 80

Die erste Violinsonate Prokofjews entstand in einer Zeit der intensiven Beschäftigung mit der russischen Folklore in den Jahren 1938-46. Die vier Sätze gewinnen durch ihre scharfen Kontraste zueinander starken Eigencharakter: In ihrer intensiven "Bildlichkeit" erinnern sie an alte, russische Sagenstoffe. Die Sonate ist jedoch keineswegs als Programmmusik gedacht: Die Verarbeitung der volkstümlichen Themen geschieht in klassisch-romantischer Manier. Sie verlässt zeitweise sogar den intimen, kammermusikalischen Rahmen und erscheint geradezu "sinfonisch". Prokofjews Musik will nicht abbildend sein, sondern absolute Musik.


Karol Szymanowski (1882-1937)

Notturno e tarantella

Karol Szymanowski war eine der wichtigsten Persönlichkeiten der polnischen Musik des 20. Jahrhunderts. Der 1882 geborene Komponist machte zunächst als Pianist eigener Werke auf sich aufmerksam. 1905 gründete er zusammen mit G. Fitelberg die Gesellschaft jungpolnischer Komponisten. 1919 ließ sich Szymanowski nach mehreren Auslandsaufenthalten in Warschau nieder, wo er Professor und später Direktor des dortigen Konservatorium wurde. Als Komponist begann Szymanowski im spätromantischen Stil und entwickelte sich - unter dem Eindruck der Musik Debussys und Skrjabins - zum Impressionisten. Als Kammermusiker schuf Szymanowski, neben zwei Streichquartetten, vor allem Werke für Violine und Klavier, darunter auch das 1915 entstandene Notturno e tarantella.


George Enescu (1881-1955)

Violinsonate Nr. 3 a-moll, Op. 25 "dans le charactère populaire roumain"

Enescu erhielt seine Ausbildung als Komponist u.a. bei Fauré und Massenet und studierte wie sein Vorbild Bela Bartók die rumänische Folklore. So liegen auch der hier vorliegenden Violinsonate Motive volkstümlicher Musik zugrunde.

Quelle: Booklet


TRACKLIST

CD 1                                                  67:25

PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKI

Klaviertrio a-moll, Op. 50 / Piano Trio in A minor, op.50 
 1. I:   Pezzo Elegiaco (Moderato Assai)              15:42 
 2. II:  Tema Con Variazioni:                         16:29 
         Tema (Andante Con Moto) 
         Variation I 
         Variation II (Piu Mosso) 
         Variation III (Allegro Moderato) 
         Variation IV 
         Variation V 
         Variation VI (Tempo di Valse) 
         Variation VII (Allegro Moderato) 
         Variation VIII (Fuga: Allegro Moderato) 
         Variation IX (Andante Flebile Ma Non Tanto) 
         Variation X (Tempo di Mazurka) 
         Variation XI (Moderato) 
 3. III. Finale (Allegro Risoluto e con Fuoco)         7:32 
 4. IV.  Coda (Andante con Moto)                       4:20 

Hephzibah Menuhin, Klavier / piano - Yehudi Menuhin, Violine / violin 
Maurice Eisenberg, Cello / cello. Recorded in: 1936 

PABLO SARASATE 

 5. Caprice Basque, Op. 24 / Caprice Basque, Op.24     3:59

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Mareel Gazelle, Klavier / piano. 
Recorded in: 1935 

Danzas espanolas 
 6. Nr. 1 Malaguena, Op. 21,1                          4:51 
 7. Nr. 2 Habanera, Op. 21,2                           3:29
 8. Nr. 3 Romanza Andaluza, Op. 22,1                   4:40 
 9. Nr. 6 Zapateado, Op. 23,2                          3:12 

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Mareel Gazelle, Klavier / piano (6, 8, 9)
Henrik Endt, Klavier / piano (7). Recorded in: 1934-39 

ENRIQUE GRANADOS 

12 Danzas espanolas 
10. Nr. 5 Andaluza                                     2:54

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Marcel Gazelle, Klavier / piano
Recorded in: 1948 

CD 2                                                  59:16 

SERGEJ PROKOFIEV 

Violinsonate Nr. 1, Op. 80 / Violin Sonata No.1, op.80 
 1. I:   Andante Assai                                 6:11
 2. II:  Allegro Brusco                                6:53 
 3. III: Andante                                       6:57
 4. IV:  Allegrissimo (Andante Assai, Come Prima)      6:32 
 
Yehudi Menuhin, Violine / violin - Marcel Gazelle, Klavier / piano
Recorded in: 1948 

KAROL SZYMANOWSKI 

 5. Notturno e Tarantella, Op. 28                      8:51

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Marcel Gazelle, Klavier / piano
Recorded in: 1935 

GEORGE ENESCU 

Violinsonate Nr. 3 a-moll, Op. 25 'dans le charactère populaire roumain' 
Violin Sonata No.3 in A minor, op.25 'dans le charactère populaire roumain'  
 6. I:  Moderato Malinconico                           7:53 
 7. II: Andante Sostenuto e Misterioso                 8:21 
 8. III: Allegro Con Brio Ma Non Troppo Mosso          7:20  

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Hephzibah Menuhin, Klavier / piano
Recorded in: 1936 

(P)+(C) 2002 

Ist Kunst widerständig?


John Atkinson, Modern Art Simplified, 42 x 27 cm, 2015
(From the Wrong Hands Webside)
Museumsbesuch in Los Angeles

The Broad, erst vor wenigen Monaten in Downtown Los Angeles eröffnet, ist ein wunderbares Museum. Man kann hier wahnsinnig viel über Kunst lernen. Es ist ein in glasfaserverstärkten Beton gegossener Einführungskurs in die Kunst nach 1945 - »Post-War Art 101« heißen solche Kurse an amerikanischen Colleges. Sie hämmern den Studierenden im Schnelldurchlauf die »wichtigsten« Kunstwerke ein. Studienanfänger aller Länder, vergesst diese Kurse! Kommt stattdessen nach Los Angeles, ins Broad! Der Eintritt ist frei (Parken kostet allerdings 12 Dollar).

Insgesamt zweitausend Kunstwerke aus der Sammlung des Ehepaars Eli und Edythe Broad hat das Privatmuseum in seinen Beständen, zweihundertfünfzig »Meisterwerke« daraus sind in der ersten Ausstellung zu sehen. Alles hier ist ikonisch: Suppendosen von Warhol, Flaggen von Johns, Comicdetails von Lichtenstein. Der Wiedererkennungseffekt ist groß - bis hin zum typisch verrätselten Neo Rauch und einem eingelegten Schaf von Damien Hirst. Irgendwo steht ein Balloon Dog (in blau) von Jeff Koons herum und glänzt verstohlen vor sich hin. Alles Kunst, die man so oder so ähnlich schon hundertmal gesehen hat.

Man könnte sich jetzt darüber wundern, warum jemand für 140 Millionen Dollar und viel Schweiß ein Museum errichtet, in dem man exakt die gleichen Kunstwerke vorfindet wie in jedem anderen Museum für Moderne Kunst rund um den Globus auch. Aber damit würde man den pädagogischen Wert, den die Sammlung des Broad gerade aufgrund ihres schamlos generischen Charakters besitzt, unterschätzen. Wie einfach wäre es gewesen, eine ungewöhnliche, interessante und abwechslungsreiche Sammlung zusammenzustellen, die den Besucher überrascht. Solche Kunst kostet vergleichweise wenig, und man kann sie an jeder Ecke kaufen.

Thomas Struth, Semi Submersible Rig, DSME Shipyard, Geoje Island,
 280 x 349 cm, 2007
Wie viel aufwändiger, schwieriger und anspruchsvoller ist es hingegen, genau das zu sammeln, was alle anderen auch sammeln. Gerade bei der Suppendose, die jeder haben will, zu sagen: »Die will ich auch haben!« - das kostet Geld, viel Geld. Und es verlangt Mut, denn die Anfeindungen der Kulturwelt, die es dabei auszuhalten gilt, kann man sich leicht ausmalen. Allerdings: Das einzelne Kunstwerk selbst ist hier gar nicht wichtig, es ist austauschbar. Ob an der Wand eine Suppendose oder eine Marilyn von Warhol hängt, macht wirklich keinerlei Unterschied. Im Broad geht es um viel mehr: um Fragen des Kanons, des Zusammenhangs von Format und Bedeutung und um die Aktualität der Kategorie des Meisterwerks.

Einheitskunst

Man muss die feine Ironie, mit der das Broad bei allen drei Themen den akademischen Diskurs unterwandert, bewundern. Nehmen wir den Kanon. Seit Jahren wird sein »Verlust« bejammert. Die jungen Leute kennen ja nicht mal mehr Kleist und Droste-Hülshoff! Von Grünewald, Chodowiecki, Münter ganz zu schweigen. Pädagogen und Kulturpolitiker klagen über die drohende Orientierungslosigkeit und legen Bildungsprogramme auf. Literatur- und Kunstwissenschaftler veranstalten Tagungen und füllen DFG-finanzierte Sammelbände, um herauszufinden, ob wir wieder einen Kanon brauchen oder ob der Verlust nicht doch auch seine positiven Seiten hat (weniger wissen, mehr denken etc.).

Paolo Veronese, Die Hochzeit zu Kana, 660 x 990 cm, 1562
Während jedenfalls noch eifrig darüber gestritten wird, wie mit dem verschwundenen Kanon umzugehen sei, sind dort, wo über den Kanon nicht geredet, sondern wo er tatsächlich gemacht wird - im Museum nämlich -, diese Fragen längst entschieden worden. Und das überraschende Resultat ist, dass die Rede vom »Verlust des Kanons«, zumindest was die Bildende Kunst betrifft, Unsinn ist. Nie war der Kanon verbindlicher als heute. Offenbar erwartet das Publikum auch gar nichts anderes, als die Werke, die es ohnehin aus Reproduktionen und anderen Museen schon in- und auswendig kennt, immer wieder vorgeführt zu bekommen.

Im Bereich der modernen und zeitgenössischen Kunst hat das, trotz der äußerst vielfältigen künstlerischen Produktion, weltweit zu einer beeindruckenden Einheitlichkeit in den Museen geführt. Längst muss man sich ja besorgt fragen, wie viele von diesen Suppendosen-Bildern und Tieren in Formaldehydlösung es eigentlich geben kann. Beruhigend zu wissen, dass Künstler wie Hirst im Akkord arbeiten lassen, um den weltweiten Bedarf so lange zu bedienen, bis auch das letzte Provinzmuseum sein eigenes Schaf, seinen Hai oder seine zersägte Kuh hat. Mit seiner bedingungslosen Huldigung des Kanons liefert das Broad mehr Einsichten in diese aktuelle Debatte als ein ganzer Stapel Fachliteratur.

Fast alle Kunstwerke im Broad sind groß. Ach was, sie sind gigantisch. Wenn es ein Sammlungskonzept gibt - jenseits der Kanonizität -, dann ist es Format. Ein drei Meter hoher Sam Francis, ein vier Meter breiter Keith Haring, ein sechs Meter breiter Ellsworth Kelly und - yes, we can! - ein fast sieben Meter breiter Anselm Kiefer. (Leider beim ersten Durchgang Übersehen: ein fünfundzwanzig Meter breiter Takashi Murakami. Kein Kommentar.)

John Baldessari, Tips for Artists Who Want to Sell,
 173 x 143 cm, 1966-68
Bedeutende Kunst, das ist die zweite Lektion des Broad-Grundkurses, ist groß. Oder vielleicht doch andersherum: Große Kunst ist bedeutend. Thomas Struths riesiges Foto einer riesigen Ölplattform im Hafen von Geoje in Südkorea ist daher, der Audioguide weist darauf hin, nur mit Historienbildern aus dem Louvre vergleichbar. Veroneses Hochzeit zu Kana (1563) wird da genannt, sicherlich nicht zu hoch gegriffen. Obwohl, das muss man schon erwähnen, Veroneses Bild fast dreimal so breit ist wie das von Struth. Jedenfalls möchte man John Baldessaris Tips for Artists Who Want to Sell (1966) gerne um diese wichtige Empfehlung ergänzen: Große Bilder sind besser als kleine Bilder, und sie machen auch mehr Asche.

Ausschließlich Meisterwerke

Es gibt im Broad, diesem Louvre der Westküste, auch Künstler, die sich über den Gigantismus lustig machen, und das raffiniert - wiederum mit den Mitteln des Gigantismus. Angesichts der ins Groteske vergrößerten Tischgruppe von Robert Therrien (Under the Table) kommt sich der Besucher klein und unbedeutend vor, eher wie der Hund als das Kind des Hauses. Zweierlei kann man hier wiederum lernen: Kunst ist ungemein reflexiv und kritisch, unentwegt hinterfragt sie sich selbst, das ist amüsant und smart. Und: Diese Fähigkeit nützt der Kunst gar nichts, weil selbst das renitenteste Kunstwerk umgehend musealisiert und zum »Meisterwerk« ernannt wird.

Robert Therrien, Under the Table, 297 x 792 x 548 cm, 1994
Über das Meisterwerk als Instrument der bürgerlichen Selbstbestätigung hat sich ja schon Baudelaire vor hundertfünfzig Jahren lustig gemacht. Seitdem haben Generationen von Künstlern, Philosophen und Kunsthistorikern die Kategorie für tot erklärt. Allerdings haben zur gleichen Zeit Generationen von Kuratoren, Sammlern, Kunstfans und - wiederum - Kunsthistorikern eifrig am Mythos weitergebaut und aus dem Meisterwerk einen Götzen gebastelt, der den Museumsbesuchern Bewunderung und Ergriffenheit abverlangt.

Es war die Bereitwilligkeit und Routiniertheit, genau diese Haltung vor dem Kunstwerk einzunehmen, die schon Baudelaire so lächerlich fand. Ein Kunstwerk zu bewundern heißt wie ein Schaf davorzustehen (siehe Damien Hirst). Ein Kunstwerk zum Meisterwerk zu erklären ist also eine Machtgeste, die den Rezipienten zum Schaf macht und das Kunstwerk - indem sie vorgibt, es zu erhöhen - entkräftet. Vielleicht ist das auch das Ziel vieler großer Museen in Deutschland, von Hamburg bis München, die ihre Ausstellungen immer noch gerne mit diesem Begriff bewerben?

In Los Angeles jedenfalls wird dem Besucher subtil vorgeführt, wie wehrlos Kunstwerke gegenüber solchen Indienstnahmen sind. Barbara Krugers Bild Your Body is a Battleground ist 1989 im Kontext der erbitterten Kämpfe um das Recht auf Abtreibung entstanden - in Washington demonstrierten damals eine halbe Million Menschen. Im Broad hängt es brav eingereiht zwischen all den anderen »masterworks«, als sei es immer schon sein sehnlichster Wunsch gewesen, bloß niemandem weh zu tun. »An artwork confronts a viewer, and a viewer is forced, asked, maybe kicked into action«, flüstert uns die Künstlerin Kara Walker zu diesem Bild ins Ohr. Die einzige Aktion, zu der der Betrachter hier genötigt wird, ist allerdings, Krugers Bild zustimmend abzunicken.

Barbara Kruger, Untitled (Your Body is a Battleground),
 284 x 284 cm, 1989
Kunsttheorie vs. Kunstrealität

»Ist Kunst widerständig?« hat der französische Philosoph Jacques Rancière vor ein paar Jahren gefragt und die Frage erwartungsgemäß brav bejaht. Doch das muss der Wunschtraum einer ästhetischen Theorie sein, die sich von ihren Gegenständen längst entkoppelt hat. Es ist die letzte und vielleicht erhellendste Lektion des Broad, dass Kunstwerke sich im Gegenteil offenbar eher durch Widerstandslosigkeit auszeichnen. Geschmeidig passen sie sich jeder Umgebung an, sind je nach Bedarf kritisch oder affirmativ, protestieren für Bürgerrechte, dienen dem Kunstkenner als gefällige Bestätigung und dem Sonntagsredner als Material. Sie sind heilige Meisterwerke und schmucke Kaffeetassenmotive. Sie prangern den Kapitalismus an und machen Werbung für Konzerne, sie geben den Entrechteten eine Stimme und gleichzeitig dem Milliardär die Möglichkeit, sich als Philanthrop zu präsentieren.

Haben wir der Kunst also zu viel zugetraut? Seit dem späten 18. Jahrhundert ist sie von der Ästhetik als gesellschaftliche Gegeninstitution aufgebaut worden. Für Schelling befähigte sie zur »Erkenntnis des Wesens der Dinge«. Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Avantgarden sie zum Medium ihres Weltveränderungswillens erkoren. Adorno hat ihr utopiestiftendes Potential zugesprochen, für Rancière ist sie - großes Wort - »Politik«. Und irgendwie hat sie sich von all dem nie so richtig erholt.

WMS.Nemo, From the Shop at The Broad (Snapshot from Instagramm), 11 x 25 cm, 2016
In den heute in der Kunstwelt allgegenwärtigen, längst zum stereotypen Jargon erstarrten Formulierungen, die Kunst irritiere unsere Sehgewohnheiten, fordere uns heraus und hinterfrage die Wirklichkeit, zeigen sich noch der Glaube und die Hoffnung, die Kunst könne den Menschen und damit die ganze Gesellschaft verändern. Das ist eine hübsche Story, und sie aufrechtzuerhalten, scheint für den Erfolg am Kunstmarkt essentiell zu sein. Aber wenn wir nicht gerade Sammler oder Händler sind - welchen Grund haben wir noch, sie zu glauben?

Die Kunst verändert die Welt tatsächlich, aber wohl kaum so, wie die Erfinder dieser Ideologie es im Sinn gehabt haben. Sie verschafft Bilbao, Downtown L. A. und Herford das symbolische Kapital, das für die Generierung von realem Kapital offenbar unabdingbar ist. Die Kunst ist zwar, allen gutgemeinten Beteuerungen zum Trotz, immer mehr Dekoration als Revolution gewesen - und dennoch verändert sie Provinz- und Innenstädte, sorgt für millionenfachen Tourismus, erhöht den CO2-Ausstoß, verschiebt die kulturellen Gleichgewichte in der Welt und schafft politische Abhängigkeiten.

Die Ableger des Louvre und des Guggenheim, die derzeit in Abu Dhabi unter prekärsten Arbeitsbedingungen fertiggestellt werden, sind nur das vorerst letzte Kapitel in der Geschichte der Kunstrealität. Von dieser Kunstrealität hat sich die Kunsttheorie seit jeher erstaunlich unberührt gezeigt. In einer fast schizophrenen Geste glaubte sie, die Kunst gegen die Kunstwerke - die unter ihrem kritischen Blick dann meist doch nur Ware, Unterhaltung oder Kitsch zu sein schienen - verteidigen zu müssen. Noch in Christoph Menkes jüngsten ästhetischen Programmen unterbieten reale Kunstwerke zwangsläufig die ideale »Kraft der Kunst«, ja verringern sie geradezu. Wie schade, weil die Kunstrealität doch zeigt, dass wir der Kunst vielleicht gar nicht zu viel, sondern im Gegenteil viel zu wenig zugetraut haben. Welche Chancen böten sich da für die Ästhetik!

A Damien Hirst Quote
Solange diese Chancen brachliegen, machen Museen wie The Broad erfahrbar, was wir uns tatsächlich von der Kunst wünschen. Und das scheint nicht zu sein, von ihr irritiert und herausgefordert zu werden oder dass sie irgendwas auch nur im Geringsten in Frage stellte. Wir wollen, im Gegenteil, immer wieder, jeden Tag aufs Neue, von ihr in unseren Sehgewohnheiten bestätigt werden. So gesehen kommt die Kunst im Broad zu sich selbst. Barbara Krugers Bild kann man übrigens auch im Museumsshop erwerben - als T-Shirt. Es ist, wie gesagt, ein wunderbares Museum.

Quelle: Jan von Brevern: Ist Kunst widerständig? Museumsbesuch in Los Angeles. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken. Heft 806, Juli 2016. Seite 72 bis 77.

JAN VON BREVERN, geb. 1975, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin.


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Historische Aufnahmen vom Quator Calvet und Quator Pro Arte (Fauré, Franck, Debussy, Ravel). Ende Mai 1884 beginnt Georges Seurat seinen "Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte".


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2. Dezember 2016

Georges Onslow / Franz Hünten: Klavierwerke zu vier Händen

Der Stellenwert Georges Onslows im heutigen Musikbetrieb steht - und dies hat er bekanntlich mit vielen seiner Komponistenkollegen des 19. Jahrhunderts gemein - im krassen Widerspruch zur Reputation, die er zu Lebzeiten erfuhr: Einst weithin verehrt, ist er heute beinahe in Vergessenheit geraten. Stellvertretend für viele gleichartige Kommentare sei in diesem Zusammenhang ein längerer Ausschnitt eines Artikels aus der damals höchst einflußreichen Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung zitiert, der diesen Eindruck nachdrücklich bestätigt. Im November 1842 heißt es dort:

Es ist nunmehr 25 Jahre, daß dieser höchst talentierte Tondichter in die Öffentlichkeit getreten. Sein erstes Beginnen war aber nicht das eines Anfängers, eines Schülers, Onslow ist als vollendeter Meister vor das Forum der musikalischen Kritik hingetreten, und hat schon damals viele Beweise seiner Meisterschaft geliefert. Schnell hat sich sein Ruhm verbreitet, namentlich aber die Deutschen haben den Meister freundlich bei sich willkommen geheißen, ja sie haben ihm einen Ehrenplatz unter ihren ersten Componisten der Kammermusik angewiesen. Onslow's Compositionsweise ist aber auch eine durch und durch deutsche, nur zuweilen in dem stärkeren Hinneigen zum Trübsinne ist der melancholische Sohn des nebligen Insellandes nicht zu verkennen. Seine Werke […] sind klar und verständlich und wenn auch nicht immer heiter, so erklingen sie doch aus der Tiefe des Herzens herauf, ungeschminkt und ungeziert. Seine harmonische Durchführung ist großartig und originell und läßt überall die Einwirkung der deutschen Schule erkennen. Ja selbst dann, wenn er zuweilen bizarr wird, trägt seine Sonderbarkeit den Stämpel der Originalität und des ausgezeichneten Talents.

Georges Onslow wurde am 27. Juli 1784 in Clermont-Ferrand in der Auvergne geboren, wo er 1853 auch verstarb. Als Sohn des englischen Lords Sir Edward Onslow wurde ihm die seinem Stand angemessene, sorgfältige Erziehung zuteil, bei der die Musik zunächst keine allzu große Rolle spielte. Im Alter von zehn Jahren folgte er seinem Vater nach London, der in Frankreich aufgrund unklarer politischer Machenschaften in Ungnade gefallen war und das Land als "conspirateur" und "réacteur royaliste" zu verlassen hatte. In London genoß George bald den Unterricht führender Musiker wie Nikolaus Joseph Hüllmandel, Johann Ladislaus Dussek und Johann Baptiste Cramer. Eine sich anschließende zweijährige Reise durch Deutschland und Österreich erlaubte es ihm, seinen musikalischen Horizont auszubauen, und er wandte sich nun der Komposition eigener Werke zu. 1807 gelangten schließlich in Paris seine ersten Werke an die Öffentlichkeit, die drei Streichquintette op.1.

Erst jetzt erkannte Onslow die Notwendigkeit eingehender theoretischer Studien, die er 1808 beim berühmten Anton Reicha am Pariser Konservatorium aufnahm. Reicha vermittelte Onslow jenen ausgeprägten Sinn für Form und Struktur, der ihm immer wieder von zeitgenössischen Rezensenten bescheinigt wurde. Während der nächsten Jahrzehnte widmete sich Onslow fast ausschließlich der Komposition von Kammermusik, und das mit grossem Erfolg: Hector Berlioz beispielweise nannte Onslow den "französischen Beethoven", und Robert Schumann bezeichnete seine Kammermusikwerke gar mit denen Mozarts, Beethovens, Spohrs und Mendelssohn-Bartholdys als nachahmenswerte Muster.

Georges Onslow (1784-1853)
So verwundert es nicht, daß er mit seinen Kompositionen eine Reihe von Auszeichnungen erhielt: 1832 wurde er zum Ehrenmitglied der Philharmonic Society in London gewählt, noch spektakulärer war seine Aufnahme in die Pariser Académie des Beaux-Arts im Jahr 1842, als Nachfolger des verstorbenen Luigi Cherubini (zu den vergebens sich um diese Position mühenden Kandidaten zählte übrigens auch Hector Berlioz). Zu dieser Zeit lebte Onslow bereits zurückgezogen auf seinen Gütern in der Auvergne, wo er "über den wahren Sinn der Musik" grübelte, wie ein Biograph festhielt. Nur selten kam er in den Wintermonaten nach Paris, um in kunstliebenden Kreisen seine neuesten Werke vorzustellen.

Onslows Werkliste ist so vielseitig wie umfangreich: Er komponierte drei Opern, vier Sinfonien und zahlreiche kammermusikalische Werke, darunter 34 Streichquintette, 35 Streichquartette, zehn Klaviertrios, ein Nonett und zwei unterschiedlich besetzte Sextette. Zu seinen Klavierkompositionen zählen neben einigen Variationsreihen und Toccaten auch drei Klaviersonaten (die Opera 2,13 und 28) sowie die beiden auf dieser CD vereinten vierhändigen Werke, die Sonate in e-Moll, op.7 (1810) und die Sonate in f-Moll, op.22 (1820).

Gerade letztere waren zur Zeit ihrer Entstehung ausgesprochen beliebt, wie die beinahe unüberschaubare Anzahl ihrer Nachdrucke bei unterschiedlichen Verlagen belegt. Und nicht nur bei den damals so zahlreich praktizierenden "Liebhabern", sondern auch bei der gestrengen Fachkritik, Vertretern des "Kenner"-Standes also, stießen die Sonaten durchweg auf positive Resonanz. So stellte der französische Musikwissenschaftier André Marmontel in bezug auf die Kopfsätze beider Stücke ihre "perfekte stilistische Einheit, die Klarheit der Exposition und die logische Entwicklung der musikalischen Ideen" heraus (1889). Und bereits fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung bescheinigte ein Kritiker der Allgemeinen Musikalischen Zeitung der f-Moll-Sonate, sie sei "ein wahres Meisterstück" und eines der besten, ausgewogensten vierhändigen Werke "seit Mozarts Sonate in F" (1825).

Nicht viel anders sieht es übrigens die Musikforschung des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie sich bislang nur recht selten mit Onslows Werken auseinandersetzte. Walter Georgii jedenfalls hält die Beiträge Onslows mit denen Hummels für die wichtigsten zur vierhändigen Klaviersonate zu Lebzeiten Schuberts. Onslows Sonaten entfalteten weniger Glanz als die Hummelschen, überragten diese jedoch an "Ernst und Innerlichkeit". Der Mittelsatz der zweiten Sonate, das Moderato, sei "eine Perle" und nehme den Typus des "verhaltenen, leise bewegten, melancholisch angehauchten Charakterstücks vorweg" (1950). Walther S. Newmann bezieht sich auf beide Sonaten, wenn er feststellt, daß sich hier "wahre Originalität" auf jeder Seite offenbare aufgrund "harmonischer Streuung, unerwarteter Modulationen, der frischen Ideen und der klugen, oft kontrapunktischen Verteilung der Partien" (1969). In der Tat lassen sich diese Charakterisierungs- bzw. Wertungsversuche bei einer näheren Betrachtung der Partituren nachvollziehen. […]

Franz Hünten (1793-1878)
(Ur-)Aufgeführt wurden die Sonaten mit einiger Sicherheit in Pariser Salons, die als eine zentrale Institution der Virtuosenzeit fungierten. Nur solche Musiker, die dort auftraten, hatten die Chance auf eine öffentliche, internationale Karriere, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eben meist von Paris ausging. Nun sind Onslows Sonaten keine eigentliche Salonmusik. Zwar spricht die Besetzung für eine Verwendung im Salon, der kompositorische Anspruch geht jedoch darüber hinaus. Das Salonmusikrepertoire basierte nämlich zum großen Teil auf kleineren Formen, wie in einem zeitgenössischen Artikel nachzulesen ist:

Salonmusik nennt man bekanntlich die Fantasien, Lieder ohne Worte, Potpourris, Impromptus, Bagatellen, Etuden, Notturnos, Scherzos, Transcriptionen, Charakterstücke, Variationen, Balladen, Polonaisen, Walzer, Mazurkas. Boleros u.s.w.

Ein Komponist, der überaus erfolgreich den Bedürfnissen nach solchen Piecen nachkam, war Franz Hünten (1793-1878). Geboren in Koblenz, wuchs er in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Den ersten Musikunterricht erhielt er von seinem Vater Daniel Hünten, der als Amateurkomponist auch mit kleineren Werken hervorgetreten ist. Eine Musikerlaufbahn seines Sohnes aber wollte er verhindern. Dennoch begann Franz bereits im Alter von zehn Jahren zu komponieren und erteilte bereits als Jugendlicher Klavierunterricht. Auf Anregung eines Freundes ging er 1819 nach Paris, wo er Schüler am dortigen Konservatorium wurde (wie Onslow studierte er u.a. bei Anton Reicha). Er gab weiter Klavierunterricht und schrieb vor allem auf den Musikmarkt zugeschnittene Klavierstücke. Mit diesen kam er nach und nach so in Mode, daß er schließlich zu den bestbezahlten Komponisten seiner Zeit gehörte. So berichtet die Allgemeine Musikalische Zeitung 1837 von Hünten, er habe

den höchsten Gipfel des Honorars erstiegen, den ein sterblicher Klavierkomponist auf Erden bis auf diesen Tag erreicht hat, so dass sich ihm keiner hierin an die Seite stellen kann, auch nicht einer.

Es war ihm dadurch rnöglich, einen Lebensstil zu führen, um den ihn die meisten seiner Kollegen beneideten. Mit Kompositionsaufträgen wurde er zeitweise so überhäuft, daß er tatsächlich kaum in der Lage war, alle Bestellungen sofort anzunehmen bzw. auszuführen. Immer wieder verlangte man gleiches von ihm: virtuose, effektvolle Phantasien und Opernvariationen sowie elegante Salonstückchen, Pariser Modeware also. Konzerte oder Sonaten schrieb Hünten - vielleicht aus Zeitmangel, wie ein zeitgenössischer Kritiker bissig anmerkte - dagegen überhaupt nicht.

Zu den beliebtesten Beiträgen des Salonmusik-Genres zählten Phantasien oder Variationen über bekannte Opernmelodien. Ein Paradebeispiel dafür liefern Hüntens 1827 veröffentlichte Variationen über ein Thema aus Rossinis "Barbier von Sevilla" op. 17 für Klavier vierhändig, die alle typischen Mittel der Salonmusik aufweisen: Brillant-virtuoses Passagenwerk wechselt sich ab mit eingängigen und süßlichen Melodien. Der Reihe voran steht eine kurze Introduktion (Allegro moderato), die dramatische Spannung erzeugen soll. Ihr folgt das eigentliche Thema (Andante). Diesem schließen sich vier Variationen und ein sich davon abgrenzendes Finale an. Während die ersten drei Variationen vor allem der Zurschaustellung der technischen Möglichkeiten der Interpreten dienen, beruhigt die vierte Variation (Adagio) vorübergehend die musikalische Situation, wodurch das lebendige Finale (Allegretto) umso effektvoller die Variationen beschließt.

Quelle: Markus Bröhl, im Booklet

Dieses Tier, wahrscheinlich eine Birmakatze, war 1978 in einer russischen Fernsehsendung zu sehen. In Rußland weiß man
nicht viel über Katzenmalerei, und über diese spezielle Katze ist überhaupt nichts bekannt. Die bemerkenswerte Symmetrie
ihrer abstrakten Komposition weist sie aber als bereits arrivierte Künstlerin aus.

TRACKLIST

ONSLOW / HÜNTEN: Klavierwerke zu vier Händen


GEORGES ONSLOW (1784-1853) 

Sonate in e-Moll op.7 

[1] Allegro espressivo                                                   9:53 
[2] Romanze                                                              6:42 
[3] Finale: Agitato                                                      7:55 

FRANZ HÜNTEN (1793-1878) 

[4] Variationen über ein Thema aus Rossinis Barbier von Sevilla op. 17  10:11
Introduktion (Allegro moderato) - Variation I - Variation II - 
Variation III - Variation IV (Adagio - Vivace) - Finale: Allegretto 

GEORGES ONSLOW 

Sonate in f-Moll op.22 

[5] Allegra moderato                                                    11:46 
[6] Minuetto: Moderato                                                   6:33 
[7] Largo                                                                2:35 
[8] Finale: Allegro espressivo                                           7:55 

                                                             Insgesamt [64:03] 
Liu Xiao Ming und Horst Göbel, Piano 

Recording: 8/1998, Traumton-Studio Berlin - Producer: Horst Göbel 
Balance Engineer: Hartmut Bauer - Mastering: Horst Göbel 
Assistance/Digital Editing: Liu Xiao Ming 
(P) 2000 

Warum Katzen malen



Eine Theorie der Katzen-Ästhetik

Bonnie beim Bemalen einer Wand. Boston 1989. Wegen ihrer oft völlig
selbstvergessenen, hingebungsvollen Art zu malen haben Biologen den
Katzen die Fähigkeit zu echter, bewußter Kreativität abgesprochen und die
Katzenkunst als "Ausdruck eines zwanghaften Spieltriebs" und
"zufällige Farbschmiererei, die nichts bedeutet" diskriminiert.
An einem Vormittag im Frühjahr 1978, zwei Wochen nach einer Diskussion mit einem eher konservativen Kollegen darüber, was Kunst ist und was nicht, erhielten wir die abgebildeten Schnappschüsse aus einer russischen Fernsehsendung über eine Katze, die "malte". In dem Briefumschlag mit den Fotos lag ein Zettel unseres Kollegen mit der ironischen Bemerkung: "Ich nehme an, das ist auch Kunst, oder?" So wurden wir erstmals mit der Möglichkeit konfrontiert, daß Katzen vielleicht tatsächlich malen können. Das faszinierte uns. Die Entwürfe wiesen eine Symmetrie auf, die sogar für eine dressierte Katze bemerkenswert war, und es lag etwas darin, was zu den elementarsten Kriterien für die Beurteilung eines Kunstwerks gehört: eine potentielle Aussage.

Als unser Kollege aus Moskau zurückkam, überhäuften wir ihn mit Fragen über diese Katze. Aber er erinnerte sich nicht mehr so genau an die Sendung und hatte auch keine Ahnung, worum es da ging, weil er kein Russisch verstand. Er hatte die Fotos abends vor dem Fernseher in seinem Hotelzimmer gemacht, um uns zu provozieren, und wußte gar nicht, ob der Film in einem Labor entstanden war, ob ein Dresseur beteiligt war und wann er den Film in welchem Programm gesehen hatte. Er erinnerte sich nicht einmal mehr, welche Wodkamarke er an jenem Abend getrunken hatte. Unsere Versuche, vom russischen Fernsehzentrum in Ostankino Näheres zu erfahren, stießen auf ein kategorisches "njet". Wir waren schon nahe daran, aufzugeben, da erinnerte sich einer unserer Freunde an einen Leserbrief in der Zeitschrift Folkestone Star über eine Katze, die Küchenschranktüren bemalte.

Katzen hinterlassen nicht nur Duftmarken, ihr Revier zu kennzeichnen, sondern markieren es auch durch sorgfältige Linien,
die wie Pfeile darauf hinweisen. Andere Katzen erkennen diese Zeichen auch dann noch, wenn sich der Geruch verflüchtigt
hat. Die Erde, die dabei an ihren Pfoten hängenbleibt, benutzt die Katze, um noch deutlichere Reviermarkierungen an einem
Baumstamm zu hinterlassen. Dieses vertikale Markierungsverhalten ist wahrscheinlich der biologische Ursprung der Katzenmalerei.
In dem ausgezeichneten Archiv dieser Zeitschrift entdeckten wir den Brief, den eine gewisse Mrs. M. Smith aus Canterbury geschrieben hatte. Mühsam fragten wir uns zu ihr durch, bis es schließlich zu einem persönlichen Gespräch kam. Leider war ihr Muffy schon vor drei Jahren gestorben, aber einige seiner Bilder zierten immer noch die Tapete im Flur. Und ihre Freundin hatte einen rötlichen Tigerkater, der ab und zu sehr interessante Farbkompositionen auf dem Kühlschrank hinterließ. Wir wurden eingeladen, uns das einmal anzusehen. Als wir uns am nächsten Wochenende zu siebt in der besagten Küche drängelten, war das für "Tigger" einfach zuviel. Er dachte nicht daran, ins Haus zu kommen, geschweige denn, in der Küche zu malen. Doch drei Wochen später waren wir nur zu zweit und wurden mit einer kurzen, aber fesselnden Darbietung seiner Kunst belohnt.

Tigger starrte eine Weile auf die weiße Tür des Kühlschranks. Dann ging er zu einer der Untertassen mit dickflüssiger Farbe, die neben dem Kühlschrank standen. und strich mit dem Ballen einer Pfote vorsichtig darüber. Nun stellte er sich gekonnt auf die Hinterbeine und setzte einen sehr feinen, kommaähnlichen Farbfleck in Blau direkt unter den Griff der Kühlschranktür. Das wiederholte er noch dreimal mit verschiedenen Farben, jeweils ein Komma unter dem anderen. Dann warf er noch einen kurzen, fast gelangweilten Blick auf sein Werk und schlenderte nach draußen, um seine Pfoten zu putzen. Das Ganze dauerte nur ein paar Minuten und war von einer lässigen Anmut - als sei das alles das Selbstverständlichste von der Welt.

Rexkatze Pinkle sortiert die magnetischen Buchstaben am Kühlschrank systematisch nach Farbgruppen. Man weiß nicht, ob
 Farben für Katzen eine spezielle Bedeutung haben. Aber ganz offensichtlich können sie Primärfarben unterscheiden, und
 einigen macht es offenbar Spaß, damit zu spielen. Versuche, solche Kompositionen aus Gebrauchsgegenständen mit
Collagen und Skulpturen von Marcel Duchamp zu vergleichen, sind jedoch gescheitert.
Viele Leute, die zum erstenmal eine Katze beim Malen beobachten, empfinden das gleiche wie wir: Es wirkt so natürlich, daß sie sich erst später fragen, warum die Katze das tut. Aber dann stürmen mit einem Schlag gleich auch noch viele andere Fragen auf sie ein. Versucht das Tier etwas darzustellen, vielleicht einen Gegenstand oder eine Gemütsverfassung, und wenn ja, warum? Will die Katze uns oder einer anderen Katze etwas mitteilen, oder malt sie nur, um ihre eigene Gefühlswelt zu erforschen? Gibt es wirklich Katzen, die ein ästhetisches Empfinden haben, oder ist ihre Kunst einfach nur eine Form der Reviermarkierung, wie viele Biologen meinen? Heute sind wir der Antwort auf solche Fragen viel näher als damals vor fünfzehn Jahren, als wir die ersten Fotos sahen. Seitdem hat man viele neue Erkenntnisse über Katzenmalerei gewonnen. […]

Das Markierungsverhalten bei Katzen

Die Verhaltensforschung tut sich mit der These schwer, daß Katzen aus ästhetischen Motiven malen. Statt dessen versuchte man dieses Phänomen entweder als instinktives Verhalten zur Reviermarkierung oder als spielerisches Abreagieren überschüssiger Energie zu erklären. Diese letzte Einschätzung führte zu Aussagen wie: "Die völlig selbstvergessene, hemmungslose Art und Weise, in der manche Katzen sich auf die Leinwand stürzen und Farben in alle Richtungen verspritzen, beweist, daß die 'Katzenkunst' nur Ausdruck eines zwanghaften Spieltriebs ist. Die zufälligen Farbschmierereien, die dabei entstehen, haben nicht die geringste Bedeutung." (M. Gimlet).

Wenn man diesen Gedanken konsequent weiterdenkt, dürfte man aber auch einen Großteil der modernen menschlichen Malerei nicht als Kunst anerkennen. Die Werke eines Jackson Pollock, eines Willem de Kooning und vieler anderer abstrakter Expressionisten könnte man aus ähnlichen Gründen ablehnen.

Pinkle: Rot nach oben, 1992. Plastikbuchstaben auf
Kühlschranktür, 52 x 78 cm. Fotografische Sammlung des
Museums für Nicht-Primaten-Kunst, Tokio.
Nachdem Pinkle 45 Minuten lang sortiert hatte, vollendete
 sie ihr Werk, indem sie alle roten Buchstaben nach oben
 setzte. Es scheint sich hier um eine Tätigkeit zu handeln,
die ihren Lohn ausschließlich in sich selbst trägt - also
tierische Kunst als Selbstzweck im Sinne von Desmond
 Morris. Denn obwohl ihr Besitzer sie immer wieder dazu
zu ermuntern versucht: Pinkle tut das ausschließlich dann,
wenn sie es will. Hinter diesem Ordnen der Buchstaben
nach Farben scheint kein anderer Beweggrund zu
stecken als das rein ästhetische Vergnügen,
 das diese Tätigkeit ihr bereitet.
Schon ernsthafter ist der Ansatz jener Verhaltensforscher, die Katzenmarkierungen als Teil ihres Revierverhaltens betrachten. Sie verweisen darauf, daß Hauskatzen sich dabei nicht nur auf ihre Duftmarken aus Kot oder Urin beschränken, sondern ihre Gebietsansprüche zusätzlich auch noch markieren, indem sie mit der Pfote sorgfältig Linien ziehen, die von diesen Fäkalien ausgehen. Wir alle haben sicher schon einmal Gelegenheit gehabt, eine Katze dabei zu beobachten. Sie kratzen deutliche, lange Furchen in die Erde oder Katzenstreu, die wie ein Pfeil auf die Endprodukte ihrer Verdauung zeigen.

Diese Gebietsmarkierung können fremde Katzen auch dann noch gut erkennen, wenn der Geruch der Fäkalien sich schon längst verflüchtigt hat. Um diese Markierungen noch zu erweitern, bringen manche Katzen mit der Erde, die dabei an ihren Pfoten hängenbleibt, noch deutlicher sichtbare Zeichen an einer vertikalen Oberfläche an - zum Beispiel an einem Baumstamm oder an einer Mauer.

Viele Verhaltensforscher halten die Katzenmalerei lediglich für eine Erweiterung dieser instinktiven, vertikalen Markierungsaktivitäten. Wenn man sie nach den Gründen dafür fragt, bekommt man die Erklärung, daß Katzen dazu durch den Geruch der Ammoniaksalze angeregt werden, die Acrylfarben enthalten, damit sie schneller trocknen. Diese Ammoniaksalze riechen ähnlich wie Katzenurin. Diese Annahme ist sicherlich berechtigt; doch inzwischen scheinen Katzen hauptsächlich aus ästhetischen Motiven zu malen.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, daß Katzen etwa drei
Prozent der Zeit, in der sie spielen oder jagen, auf dem Rücken liegend
verbringen und dabei alles verkehrt herum betrachten. Neuerdings vermutet
 man, daß dies ein Grund dafür sein könnte, warum Katzen Gegenstände
 auf den Kopf stellen, wenn sie gegenständlich malen - eine Kunstrichtung
 namens "Invertismus", die man erst vor kurzem entdeckt hat.
Was den ersten Anstoß für die künstlerischen Äußerungen von Katzen gegeben hat, werden wir wohl nie wirklich ergründen können. Aber es spricht doch vieles für die Annahme, daß sich dieses Markierungsverhalten bei Hauskatzen, die es kaum noch nötig haben, ihr Revier abzugrenzen, in einigen seltenen Fällen zu einer Aktivität weiterentwickelt, die - so Desmond Morris im Zusammenhang mit malenden Schimpansen - "ihren Lohn in sich selbst trägt". Solche Aktivitäten dienen keinem elementaren biologischen Ziel, sondern sind eher Selbstzweck. Sie sind normalerweise bei Tieren zu beobachten, die ihre Überlebensprobleme unter Kontrolle haben und bei denen ein Überschuß an nervöser Energie besteht, der anscheinend irgendwie ausgelebt werden muß.

Hinter der Katzenmalerei scheint aber noch ein anderes Motiv zu stehen. In diesen Gemälden zeigt sich eine erstaunliche Fähigkeit, Formen und Strukturen wahrzunehmen und kreativ damit umzugehen. So wissen wir zum Beispiel, daß manche Hauskatzen offenbar Vergnügen daran finden, Gegenstände in verschiedenen Farben räumlich anzuordnen. 1992 veröffentlichte der Guardian Weekly einen Bericht über einen Kater in Seattle, der Gummibärchen nach Farben sortieren konnte. Und in San Francisco verbrachte eine Rexkatze zwei Stunden damit, sorgfältig magnetische Buchstaben an einer Kühlschranktür nach Farben zu ordnen. Beide Tiere gehen völlig in dieser Beschäftigung auf, die keinen anderen Zweck zu haben scheint als das ästhetische Vergnügen.

Busters Version der Sonnenblumen von Vincent van Gogh ist ein gutes
Beispiel für die Kunstrichtung des Invertismus. Wenn man das Bild aus einer
rein visuellen Perspektive betrachtet, stellt die gebogene braune Linie ganz
 oben deutlich die dunkle Linie von Tischkante und Vasenboden dar, wie
 die nächste Abbildung verdeutlicht.
Daß manche Katzen zu gegenständlichen Darstellungen fähig sind, wurde erst vor kurzem beinahe zufällig entdeckt. Wie bereits erwähnt, begann Arthur C. Mann im Jahr 1982 das kreative Markierungsverhalten eines rothaarigen Katers namens Orangello in Sussex zu untersuchen. Gegen Ende seiner Untersuchungen betrachtete er zufällig einige von Orangellos Gemälden verkehrt herum und entdeckte, daß sie zum Teil eine recht deutliche Ähnlichkeit mit Gegenständen im Haus aufwiesen. Weitere Untersuchungen an einer weiblichen Katze überzeugten ihn im Jahr 1983 schließlich, daß manche Katzen tatsächlich zu ungefähren Darstellungen von Gegenständen fähig sind. Aber aus unerfindlichen Gründen stellen sie die Dinge dabei immer auf den Kopf. Leider starb Dr. Mann, bevor er seine Forschungen zu diesem Thema abschließen konnte; doch obwohl er niemals eine befriedigende Erklärung für dieses Phänomen fand, prägte er dafür den Begriff "Invertismus".

Spätere Forschungsarbeiten von Dr. Peter Hansard mit "Ching Ching" in Cambridge (1987) und Dr. Delia Bird mit "Eliot" in Oxford (1990) haben Manns Thesen bestätigt, wenngleich sie zum Teil andere Erklärungen dafür fanden. Hansard baut seinen Erklärungsansatz auf der Tatsache auf, daß Katzen ungefähr drei Prozent der Zeit, in der sie spielen und jagen, auf dem Rücken liegend verbringen und dabei zwangsläufig alles verkehrt herum sehen. Durch Messungen der Erweiterung ihrer Pupillen konnte er nachweisen, daß Katzen sich in dieser Position in einem Zustand stärkerer gefühlsmäßiger Erregung befinden. Seine Begründung: "Die Katze nimmt das auf dem Kopf stehende Objekt als etwas Fremdes wahr, das in ihr Revier eindringt. Später malt und markiert sie es, um es sich gleichsam zu unterwerfen." Dabei "stellt sie zunächst das Objekt oder einen Teil davon in der ungewohnten Form - das heißt, verkehrt herum - dar, um es dann mit der bekannten pfeilförmigen Reviermarkierung zu versehen, wie sie es auch bei ihren Fäkalien tut. Damit erhebt die Katze Anspruch auf das ,eingedrungene' Objekt und ergreift Besitz davon, so daß es keine Bedrohung mehr für sie darstellt."

Die blauen Linien hingegen sind die Blumen. Verhaltensforscher sehen in
 diesen blauen Zeichen jedoch Reviermarkierungen, die eine ähnliche
 Funktion haben wie die pfeilförmigen Kratzspuren, mit denen Katzen auf
ihre Fäkalien hinweisen. Im Gemälde signalisieren diese Zeichen einen
 Besitzanspruch auf das auf den Kopf gestellte Motiv.
Delia Bird dagegen ist eher der Ansicht, daß der Invertismus ästhetisch begründet ist. Ihre Forschungen ergaben, daß die Gegenstände, die die Katze richtig herum betrachtet hat, in den späteren Zeichnungen der Katze ebenso häufig verkehrt herum dargestellt sind wie andere Gegenstände, die auf dem Kopf stehend betrachtet wurden. Darüber hinaus stellte sie fest, daß man viele Linien, die Hansard als Reviermarkierungen betrachtet, ebensogut als Teil des gemalten Objekts interpretieren könnte. Sie kommt zu dem Schluß, daß Katzen die Dinge möglicherweise immer dann auf den Kopf stellen, wenn sie gegenständlich malen, "... um Form und Struktur ihres Motivs aus einer neuen, unverbrauchten Perspektive zu erkunden und dabei abstrakte Gesichtspunkte hervorzuheben."

Letztendlich konnte bisher keine dieser beiden Thesen bewiesen werden. Interessant ist aber doch, daß der bekannte deutsche Maler Georg Baselitz seine Motive ebenfalls verkehrt herum malt und damit bewußt einen Gegensatz zu gewohnten Sichtweisen sucht. Dies scheint für Delia Birds These zu sprechen.

Wir sind sicherlich nicht mehr weit von einer schlüssigen Theorie des Markierungsverhaltens bei Katzen entfernt. Ein Stückchen näher ist sie bereits durch die Arbeit von Dr. Peter Williams gerückt, der die Abteilung für angewandte Ästhetik am Rudkin College in Dallas leitet. Interessante Beweise für ein ästhetisches Empfinden bei Katzen ergab eine Reihe von Versuchen, die er 1987 durchführte. Er wollte feststellen, inwieweit Hauskatzen eine Vorliebe für bestimmte menschliche Kunstwerke an den Tag legen. Dabei ergab sich, daß Katzen ein besonderes Interesse an Bildern von van Gogh zeigen. Vielleicht besteht zwischen ihrem Malstil und den spontanen, wirbelnden Pinselstrichen des holländischen Künstlers eine enge Verwandtschaft.

Katzen zeigen eine deutliche Vorliebe für Gemälde van Goghs. Man führt das unter anderem darauf zurück, daß sie sich
von dem spontanen, kräftigen Pinselstrich des Künstlers angesprochen fühlen.
Anscheinend regen Felder geringer elektromagnetischer Spannung Katzen zum Malen an. Peter Williams hat diese Felder
 "harmonische Resonanzpunkte" genannt. Obwohl van Goghs Sonnenblumen ganz in der Nähe hingen, wurde dieser
Harlekin-Kater wahrscheinlich sehr viel mehr durch eine Schwingungsresonanz inspiriert als durch das Kunstwerk des
 Holländers, zu dem seine Malerei übrigens auch kaum eine Beziehung hat.
Daher hängte Williams vier Van-Gogh-Poster an die Wand, und zwar so tief, daß die Katzen sie mühelos betrachten konnten. Sechs Wochen lang notierte er sich genau, wie lange jede Katze vor jedem einzelnen Bild saß. Das Ergebnis war erstaunlich: Alle drei Katzen, zwei Siamesinnen und ein Harlekin-Kater, verbrachten 83,3 Prozent der Zeit, die sie aufrecht saßen, vor van Goghs Sonnenblumen und starrten sie fasziniert an. Um ganz sicherzugehen, tauschte Williams die Bilder aus. Nun verbrachten die Katzen 81 Prozent ihrer Zeit vor dem Nachtcafé! Wieder hängte er nach sechs Wochen die Bilder um und stellte fest, daß jetzt die Kirche von Auvers am beliebtesten war. Was ging da vor?

"In experimentellen Situationen", schrieb Williams später, "ist man manchmal so besessen von seiner Hypothese, daß man auf die naheliegendsten Erklärungen gar nicht kommt. Ich hätte viel früher erkennen müssen, daß weder die Bilder noch ihre Position etwas mit dem Verhalten der Katzen zu tun hatten. In Wirklichkeit saßen die Tiere einfach aus irgendeinem Grund besonders gern an einem bestimmten Platz im Zimmer, unabhängig von dem Bild, das zufällig dort hing." Auch die Art, wie sie vor dem Bild saßen, erweckte den Eindruck, als hätten sie Freude daran: "Sie saßen mit halbgeschlossenen Augen da, schnurrten und wiegten ihren Oberkörper manchmal leicht vor und zurück, als sei das Bild vor ihnen einer der herrlichsten Anblicke der Welt - was van Goghsche Gemälde für uns Menschen ja auch tatsächlich sind."

Maxwell: Blaue Blumen, 1991. Textilfarbe auf gelbem
 Karton, 48 x 72 cm.
Vermutlich ließ Maxwell sich zu diesem Bild durch van
 Goghs berühmte Schwertlilien anregen. Ein Druck von
diesem Bild hängt über dem Bett der Besitzerin.
wo der Kater jede Nacht schläft.
Ein Schüler von Williams verfolgte die täglichen Wege von zehn Katzen mit Hilfe kleiner Funksender und fand heraus, daß vier der Tiere ganz bestimmte Lieblingsplätze hatten, wobei Wärme, Geruch oder Revieransprüche kaum eine Rolle spielten. Die Katzen machen hier einfach halt, bleiben gleichsam mitten im Nirgendwo sitzen und fangen an zu schnurren, als sei ihnen gerade eine höchst erfreuliche Idee gekommen. Das Faszinierende daran war: Genau zu diesem Zeitpunkt - und nur dann - wurden kleine Mengen niedrigfrequenter elektrischer Ströme von den kleinen Sendern registriert, die die Katzen trugen.

Allem Anschein nach sind Katzen fähig, solche geringen, örtlich begrenzten Spannungsfelder oder Meridiane wahrzunehmen und sich für ihre künstlerischen Aktivitäten zunutze zu machen. Peter Williams bezeichnet diese Orte als "harmonische Resonanzpunkte" und meint, daß sie bei der Motivation der Katzen zum Malen eine wichtige Rolle spielen könnten. Es scheint wohl so zu sein, denn inzwischen haben vier weitere Forschungsarbeiten unabhängig voneinander bestätigt, daß von den wenigen Katzen, die malen, fast alle lange Zeit an solchen Resonanzpunkten sitzen, ehe sie ans Werk gehen.

Zwar weiß man bisher nicht, warum das so ist - aber die Katze scheint eine gewisse Kraft aus diesen Feldern zu beziehen. Sicherlich gibt es Katzen, meist junge und unerfahrene, die ahnungslos in ein solches Energiefeld hineinstolpern und dann plötzlich von einer so überwältigenden Energie durchströmt werden, daß sie wie verrückt durch die Gegend rasen.

Die typische Haltung einer Katze, wenn sie an einem harmonischen
Resonanzpunkt sitzt. Die Augen sind halb geschlossen, meist schnurrt die
 Katze auch und wiegt sich sanft vor und zurück. Fast alle malenden Katzen
 verbringen mindestens zehn Minuten an einem solchen Punkt, ehe sie mit
einem neuen Werk beginnen. Das läßt darauf schließen, daß sie irgendeine
 Inspiration aus diesen unsichtbaren Niedrigfrequenz-Energiefeldern beziehen.
Möglicherweise lenkt die Katze diese Energie durch ihr Schnurren in die gewünschten Bahnen, oder sie imitiert damit die Schwingung des harmonischen Resonanzpunkts, was ihr eine Art Ersatzbefriedigung verschafft. Bis jetzt sind das alles nur Vermutungen. Aber die harmonischen Resonanzpunkte könnten sehr wohl der Schlüssel zu einer Erklärung dafür sein, wie ästhetische Reaktionen bei Katzen zustande kommen. Inspiriert diese Energie die Katzen zum Malen, oder stellen sie diese Kraft in ihren Gemälden lediglich dar? Und was vielleicht noch wichtiger ist: Liegt es womöglich an der Einwirkung sich kreuzender Ley-Linien, daß wir Dinge auf eine ganz bestimmte Art und Weise wahrnehmen und den Wunsch verspüren, sie zu malen? Vielleicht können wir noch viel über menschliche Kunst lernen, indem wir die Kunst von Katzen studieren.

Misty. Die formale Expansionistin

Misty wurde hauptsächlich durch den bildhaften, symbolträchtigen Charakter ihrer Werke bekannt. Die eleganten, zweifarbigen Motive von bis zu zehn Meter Länge wecken eine Vielfalt an Assoziationen und fordern unterschiedliche Interpretationen geradezu heraus. Bei ihrem neueren Bild Kleiner Sprung aus Übermut ist die Oberfläche über und über mit kurzen, schwarzen Vertikalen bedeckt, die eine längliche, gewundene Form voller Dynamik ergeben. Die Spannung sammelt sich unten, baut sich nach oben hin auf und strömt in den ovalen oberen Teil über, wo sie sich wieder abbaut (oder jäh abbricht?). Das Faszinierende an dieser Arbeit ist neben ihrer offenkundigen technischen Brillanz ihre starke Symbolik. Verbunden mit einer gewissen Unsicherheit im Hinblick auf den Kontext regt sie zu vielen verschiedenen Deutungen an.

Mit raschen Strichen legt Misty zuerst die rosafarbenen Spannungsbereiche an. - Die Aktionsstruktur des Gemäldes besteht
 aus dichtgedrängten schwarzen, senkrechten Linien, die eine Reihe miteinander verbundener Kurven bilden.
Misty bestand darauf, daß ihr Frauchen ihr einen Hocker an diese Stelle rückte, damit sie die obere Kurve zu ihrer
 Zufriedenheit fertigstellen konnte. Viele von Mistys Bildern reichen über die Leinwand hinaus, einige beziehen sogar
den Fußboden mit ein.
Mistys Besitzerin Zenia Woolf neigt zu der Ansicht, daß dieses Bild sich mit einem Vorfall auseinandersetzt, bei dem ihr vierjähriger Sohn Misty vom Balkon aus absichtlich mit einem Gartenschlauch naßgespritzt hat. Für Mrs. Woolf stellen die rosafarbenen Motive eindeutig den gekrümmten Rücken einer Katze dar, die sich mit raschen Sätzen vor einer Gefahr in Sicherheit bringt. Die langen schwarzen Striche dagegen geben das Wasser wieder, das von oben auf die Katze herniederprasselt. Mrs. Woolf ist überzeugt: Die Katze wußte, daß ihr Werk nicht verstanden werden würde, wenn es sich auf den Karton begrenzte. Als Misty die Wand nicht mehr weiter bemalen konnte, weil sie nicht so hoch hinaufreichte, miaute sie so lange, bis ihre Besitzerin ihr einen Hocker hinstellte. In den Augen der Besitzerin beabsichtigte Misty mit ihrem Gemälde, den erschreckenden Vorfall so klar wie möglich darzustellen und das Kind möglichst von weiteren Quälereien abzuhalten.

Michael Dover von der Orion Art Gallery in North York, Toronto, neigt jedoch eher zu einer anderen Deutung. Er findet, daß man es sich zu leichtmacht, wenn man traumatische Ereignisse aus dem Leben der Katze in dieses Werk hineininterpretiert. Mit Recht weist er darauf hin, daß Misty in der Woche, bevor sie das Bild fertigstellte, mit ihrer Familie nach Port Credit gefahren war. Auf der Rückfahrt zog der Sohn der Woolfs Misty am Schwanz. Sollten wir uns deshalb in Mutmaßungen über die Tatsache ergehen, daß die Form des Gemäldes fast genau den Verlauf der Küstenstrecke zwischen Port Credit und Toronto wiedergibt? Ganz sicher haben Katzen einen außergewöhnlichen Orientierungssinn. Dennoch ist es unwahrscheinlich, daß Misty die Küstenlinie auch aus der Vogelperspektive kennt - es sei denn, sie wäre die Strecke auch schon einmal geflogen.

Misty: Kleiner Sprung aus Übermut, 1993. Acrylfarben auf Karton und
 Wand. 120 x 170 cm. North York, Toronto.
Mistys Bilder werden vor allem wegen ihrer starken und zugleich
vieldeutigen Symbolik geschätzt, die zu sehr unterschiedlichen Auslegungen
 anregt. Die Faszination dieser Art von Katzenkunst liegt gerade in ihrer
 Unverständlichkeit, die den Betrachter herausfordert und neugierig macht.
Dover sucht deshalb lieber nach einem funktionelleren Zugang zu diesem Werk. Seiner Ansicht nach stellt das Bild wichtige Aspekte der Strategie einer Katze beim Springen dar. Die gekrümmten schwarzen Linien beschreiben den Sprung selbst. Die Darstellung beginnt mit der Kauerstellung einer Katze, die zum Sprung in die rechte Bildhälfte ansetzt. Der rosafarbene Bildteil stellt - auf einige wenige, aussagekräftige Pfotenhiebe reduziert - die Landung der Katze dar.

Die Kunstkritikerin Emma Way interpretiert das Werk ähnlich, in ihren Augen allerdings springt die Katze in die andere Richtung - von oben nach unten -, und die rosafarbenen Motive stellen die kritischen Absprungpunkte dar, die über Erfolg oder Mißerfolg der Aktion entscheiden. Andere Kritiker sehen darin einen nach rechts springenden Saurier, wieder andere ein Eichhörnchen, das von rechts nach links hüpft. Letztendlich können wir niemals hundertprozentig sicher sein, was Misty wirklich gemeint hat. Aber das ist auch nicht das eigentlich Entscheidende. Viel wichtiger ist, daß wir niemals aufhören, uns Gedanken darüber zu machen und unsere Deutungen zu hinterfragen: Durch die suggestive Vieldeutigkeit ihres Werks regt die Künstlerin uns bewußt zu immer neuen lnterpretationsansätzen an.

Quelle: Heather Busch und Burton Silver: Warum Katzen malen. Eine Theorie der Katzen-Ästhetik. Benedikt Taschen Verlag, Köln 1995. ISBN 3-8228-8812-5. Seiten 10-11, 26-35, 55-57


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