1936 schrieb er die Bühnenmusik für Jean Anouilh‘s Schauspiel Le Voyageur sans bagages, das im Pariser Théâtre des Mathurins inszeniert wurde. Aus dieser entwickelte er unmittelbar, mit ein wenig Nachbearbeitung hier und da, die Suite, Op. 157b, für Klarinette, Violine und Klavier. Die erste Aufführung dieser einfachen, entspannten Arbeit erfolgte am 19. Januar 1937 als Teil der Pariser Konzertreihe, die durch die Musikgesellschaft »La Sérénade« organisiert wurde. Das Hauptthema der Ouverture wird im unteren Register des Klaviers von einem typisch lateinamerikanischen Rhythmus (3+3+2) aufrechterhalten. Eine plötzliche Veränderung des Charakters tritt ein, indem Klarinette und Violine, eineinander abwechselnd, eine melodische Variante des Themas vor einer ganz anderen Klavierbegleitung spielen, piano, mit gefühlter Nähe zu einer Kaffeehausmusik, die weder Satie noch Poulenc verleugnet haben würden. Das Eröffnungsthema des Divertissements nimmt die Form eines Dialogs zwischen Geige und Klarinette an, während der Einsatz des Klaviers das Signal gibt für ein zweites Thema auf der Klarinette. Der Satz endet mit einer Rückkehr des ursprünglichen Themas, jetzt dem Klavier anvertraut und bereichert durch neue kontrapunktische Linien für die beiden anderen Instrumente. Jeu, während dessen das Klavier schweigt, folgt dem symmetrischen Muster ABCBA. Von seinen drei Themen, erinnert das erste (A) an Strawinsky‘s L'Histoire du soldat mit seinem Reichtum an Doppelgriffen auf der Geige und seinem rauhen Volksmusikcharakter. Das Finale, in 6/8, eingeleitet durch einen fünf-schlägigen Takt, führt zwei Hauptelemente ein: ein Thema im Stil eines ziemlich abgedroschenen Französischen Chansons, rasch gefolgt durch eine Komposition in bluesiger Atmosphäre.
Die äußeren Sätze von Scaramouche stammen aus der Bühnenmusik, die Milhaud im Mai 1937 für Le Médecin volant (Der fliegende Arzt) von Molière bzw. Charles Vildrac schrieb, und die von Anfang an für Klarinette oder Saxophon und Klavier konzipiert war. Für den Mittelsatz lieh er sich sein Ouvertürenthema für Jules Supervielle‘s Spiel Bolivar, komponiert 1935-36, aus. Milhaud schuf drei Versionen dieser Suite, der letzte von ihnen im Jahr 1941 für Klarinette und Orchester oder Klavier.
Der erste Satz, Vif, wird durch die Kürze der ersten musikalischen Figur charakterisiert, die mit Unfug und Humor über sich wiederholende harmonische Muster, ähnlich wie ein Kinderlied, ins Spiel gebracht wird, von Zeit zu Zeit gewürzt durch die Einführung von polytonal gekennzeichneten Harmonien. Eine zweite melodische Idee schreitet mittels Wiederholung der oberen Sekunde fort, während die Harmonie unverändert bleibt. Ein Marsch mit einem Motiv von vier wiederholten Noten, gefolgt von punktierten Rhythmen, liefert die Substanz des Mittelteils, bevor die Eröffnung variiert wiederholt wird. Modéré, der zweite Satz, basiert auch auf drei wesentlichen Ideen. Die erste, in einem gepunkteten 4/4 Rhythmus, wechselt zwischen Klarinette und Klavier in einem langsamen Marsch; dieser Austausch setzt sich mit der Ankunft des zweiten Idee fort, ein lyrisches, fast romantisches Motiv (ein paradoxes Milieu in Milhauds Arbeit …) über einer geschmeidigen, rhythmischen Begleitung. Der Mittelteil in 6/8 erinnert an eine Barcarole und erscheint, um die Reprise aufzubrechen, die in einer höchst originellen Weise variiert wird. Hier sind die ersten beiden Ideen subtil in ihrer Gleichzeitigkeit kombiniert. Brazileira, das Finale, ist ein Samba-Satz, mit einer ABCDCA-Struktur, in der die Sechzehntel-Klavierbegleitung des ersten Themas auf eine Toccata anzuspielen scheint. Abschließend gesagt, der Umstand, dass Milhaud diese Materialien ausgeliehen oder überarbeitet hat, ist von geringer Bedeutung, so virtuos und elegant ist sein Vorgehen in diesem Stück, wie auch in Le Boeuf sur le toit, seine Kunst der musikalischen Collage und Montage.
Die Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier, André Gide gewidmet, wurde im Mai 1917 in Rio de Janeiro komponiert. Der Kopfsatz, Pastoral (eine in Milhauds Werken häufige Atmosphäre), ist in freier Sonatenform und wird von fünf thematischen Elemente beherrscht. Er zeigt bemerkenswerten harmonischen, kontrapunktischen und formalen Einfallsreichtum. Die Geige ist durchgehend stummgeschaltet, und das Ende ist mit seinen Augmentationen und Kombinationen bemerkenswert für die schrittweise Art, in der die thematischen Elemente verblassen, vor der Rückkehr in die friedliche Atmosphäre des Anfangs.
Mit seiner Kürze, dem rasanten Tempo und optimistisch thematischen Material ist der zweite Satz seiner Natur nach ein Scherzo. Es basiert auf zwei Themen (A auf der Violine, B auf dem Klavier) von unterschiedlicher Bedeutung. Dem »Scherzo« fehlt jedoch ein echtes Trio, welches durch eine kurze Entwicklungssequenz ersetzt wird. Der letzte Abschnitt, Moins vif, vereint doppelte und dreifache Metren. Hier ist Thema A in Vergrößerung auf der Geige zu hören, während uns das Klavier eine kurze Präsentation von B bietet, im initialen Tempo, Vif.
In freier ternärer Form ist der dritte Satz um zwei Hauptideen entworfen, mit einer prägnanten zentralen Entwicklung. Die Geige eröffnet das Finale, Très vif, mit einem entschlossenen und wütenden ersten Thema über temperamentvoller, polytonaler Klavierbegleitung. Nach einer Klavierkadenz erscheint auf der Violine ein zweites Thema, in Fis-Dur und einem punktierten Rhythmus, begleitet von stetig fließenden Sechzehntel. Die kurze Coda vereinigt den Anfang des ersten Themas auf der Geige mit dem punktierten Rhythmus des zweiten Themas auf dem Klavier.
Geschrieben im Sommer 1927 in Aix-en-Provence, ist die Sonatine für Klarinette und Klavier, Op. 100, dem Klarinettisten Louis Cahuzac gewidmet. Von den hier präsentierten Stücken ist dieses zweifelsohne das im härtesten Idiom verfasste. Milhaud verwendet eine Polytonalität, die reichliche Verwendung von dissonanten Intervallen, wie kleinen Nonen und übermäßigen Quarten (Tritoni) macht, sowohl horizontal in den Melodien als auch vertikal in den Harmonien. Das komplexe Thema des Kopfsatzes verwendet freimütig verschiedene motivische Ideen, unter denen das intiale absteigende Motiv dominiert. Nach einer ruhigen Passage und einem ausgearbeiteten Crescendo, erscheint eine zweite, sehr ruhige, kontrastierende Idee, die wiederum durch die Entwicklung abgelöst wird. Eine kurze Zusammenfassung präsentiert die Materialien in invertierter und kondensierter Form. Der Mittelsatz ist in dreiteiliger Form gegossen, dessen erstes Thema, sanft und ruhig, von zarter und verträumter Natur ist. Die mittlere Episode, Un peu moins lent, ist düster und dramatisch und beginnt im unteren Register der Klarinette. Die letzten fünf Takte spielen kurz auf den mittleren Abschnitt an, bevor der letzte Satz zum energetischen Diskurs des ersten zurückkehrt. Das absteigende Motiv, gehört am Beginn des Werks, dominiert hier erneut, in unterschiedlichen Varianten.
Le Printemps (Frühling), Op. 18, für Violine und Klavier, wurde zu Ostern 1914 in Aix-en-Provence geschrieben. Kurz zuvor hatte Milhaud den Dichter Paul Claudel getroffen und die Arbeit an der Bühnenmusik für Protée begonnen. Le Printemps ist ein stimmungsvolles Werk, von der natürlichen Welt inspiriert. Die Fließfähigkeit der ständigen »geschmeidigen und mäßigen« Bewegung und des schwungvollen 5/8 Rhythmus ergänzen sich, um die Erneuerung und Blüte des neuen Lebens im Zusammenhang mit der Rückkehr des Frühlings zu vermitteln. Trotz seiner ungewöhnlichen harmonischen Sprache, die uns einen Einblick in den Milhaud der Zukunft bietet, stammt das Werk von einem etablierten französischen Ästheten, nüchtern und ätherisch. Diese Komposition wurde für den vierten Satz, Nocturne, der Suite symphonique Nr. 2 für großes Orchester, Op. 57, wiederverwendet (1919, aus der Bühnenmusik für Protée).
Le Boeuf sur le toit (Der Ochse auf dem Dach) wurde 1919 in Frankreich geschrieben. In einem Brief an Adolphe Nysenholc vom 14. Dezember 1986, erklärte Madeleine Milhaud (die Witwe des Komponisten): »Da Milhaud ein großer Bewunderer der Filme von Charlie Chaplin war, vertraute er Cocteau an, er wolle die Partitur an Chaplin senden, da er sie als brauchbar für einen seiner Filme hielte. Aber Cocteau brachte ihn davon ab und schlug stattdessen vor, die Partitur für ein Ballett zu verwenden, für das er das Szenario entwickeln benutzen … Bald darauf kam Milhaud die Idee, die Arbeit in ein Konzert für Violine und Orchester zu verwandeln … Ich denke, das war der Grund, daß Darius auf den Titel 'Cinéma-Fantaisie' kam.«.
Die Partitur für Violine und Klavier ist ein exaktes Abbild des originalen Balletts, während der Komponist für die Orchesterfassung eine Reihe von Schnitten vornahm. Die brasilianischen Musikwissenschaftler Aloysio de Alencar Pinto und Manoel Aranha Corrêa do Lago warfen kürzlich ein neues Licht auf die akribisch konzipierte Struktur des Balletts und erstellten ein detailliertes Inventar der musikalischen Quellen, aus denen Milhaud sein thematisches Material gezogen hatte. Fast alle seine musikalischen Anleihen konnten inzwischen identifiziert werden: Die meisten von ihnen stammen aus der brasilianischen Populärmusik der Zeit 1897-1919 oder von einigen brasilianischen Komponisten von sogenannter »ernster« Musik, wie Alberto Nepomuceno (1864-1920) oder Alexandre Levy (1864-1892).
Le Boeuf sur le toit ist als Rondo in vierzehn Episoden und einer Coda gesetzt, in der das Thema des Refrains (die ersten sechzehn Takte des Werkes) fünfzehn Mal zu hören ist. Dieser Refrain ist Milhauds einzige eigene Schöpfung. Der klangliche Fortschritt gehorcht einer sorgfältig geplanten Modulationsstruktur, mit dem Ergebnis, daß in den ersten zwölf Episoden, jedes Mal, wenn der Refrain wiederkehrt, er in einer anderen der zwölf Dur-Tonarten zu hören ist.
Arthur Honegger, selbst ein Geiger, komponierte (wahrscheinlich im Sommer 1920) eine Kadenz für die Cinéma-Fantaisie, basierend auf vier populären Themen und dem Refrain. Wie auch durch den neuen Titel Cinéma-Fantaisie ausgedrückt wird, distanziert sich das Werk ein wenig von Cocteaus Bühnenfarce und seinen starken Verbindungen zur brasilianischen Populärmusik. Milhaud wollte es klar in eine neue Richtung orientieren und aus dem choreographischen in einen filmischen Zusammenhang überführen, und er verfolgte damit seinen ursprünglichen Plan weiter, diese Musik auf die Leinwand zu bringen, über eine mögliche symbolische Verbindung zwischen dem Soloinstrument und einem imaginären Filmcharakter, für welchen Chaplin eines von vielen möglichen Gesichtern hätte liefern können.
Quelle: Gérald Hugon, im Booklet (übersetzt - aus der englischen Version von Susannah Howe - durch WMS.Nemo)
Track 4: Suite Op. 157b, IV. Introduction et final
TRACKLISTDarius MILHAUD (1892-1974) Suite, Op. 157b, for clarinet, violin and piano 11:21 (01) I. Ouverture 1:32 (02) II. Divertissement 2:56 (03) III. Jeu 1:38 (04) IV. Introduction et final 5:11 Scaramouche, Op. 165d 8:48 (05) I. Vif 2:49 (06) II. Modéré 3:42 (07) III. Brazileira 2:15 Violin Sonata No. 2, Op. 40 14:44 (08) I. Pastoral 4:31 (09) II. Vif 2:54 (10) III. Lent 3:43 (11) IV. Très vif 3:30 Clarinet Sonatina, Op. 100 10:27 (12) I. Très rude 4:26 (13) II. Lent 3:20 (14) III. Très rude 2:38 (15) Le Printemps, Op. 18 2:15 (16) Cinéma-Fantaisie d'après Le Boeuf sur le toit, Op. 58b 20:04 Playing time: 67:57 Jean-Marc Fessard, Clarinet 1-7, 12-14 Frédéric Pélassy, Violin 1-4, 8-11, 15-16 Eliane Reyes, Piano 1-16 Recorded at the Conservatoire Royal de Bruxelles, Belgium, 4-6 July 2008 (tracks 1-4, 12-15) and 14-16 October 2008 (5-11, 16) Producer: Michel Lysight - Engineer: Hughes Maréchal DDD (P) + (C) 2010
Nützlichkeit und Bedeutung
Die Sprache bringt das Unsichtbare hervor. Und zwar deshalb, weil sie den Individuen ermöglicht, ihre Phantasmen auszutauschen; sie verwandelt dabei die intime Überzeugung des Einzelnen, in Kontakt mit etwas nie im Gesichtsfeld Vorfindlichen gewesen zu sein, in eine soziale Tatsache. Doch sie bringt es auch deshalb hervor, weil schon das bloße Spiel mit den Worten zur Bildung von Aussagen führen kann, die zwar verständlich sind, aber etwas bezeichnen, das niemand je gesehen hat. Doch sie tut es vor allem deshalb, weil sie es erlaubt, von den Toten zu sprechen, als ob sie lebendig wären, von vergangenen Ereignissen, als ob sie gegenwärtig wären, vom Fernen, als wäre es nah, vom Verborgenen, als läge es vor Augen. Sie erlaubt es nicht nur, sondern zwingt sogar dazu, oder vielmehr sie führt in ganz natürlicher und spontaner Form zwangsläufig dazu.
Durch die Notwendigkeit, die sprachliche Kommunikation zwischen den Generationen aufrechtzuerhalten, wird den Jungen das Wissen der Alten übermittelt, das heißt ein Komplex von Aussagen, in dem von etwas die Rede ist, das die Jungen nie gesehen haben und vielleicht auch niemals sehen werden. Die Sprache bringt also das Unsichtbare hervor, weil sie in einer Welt, in der Phantasmen auftauchen, in der gestorben wird und Veränderungen vor sich gehen, einfach dadurch schon, daß sie gesprochen wird, die Überzeugung nahelegt, daß das, was man sieht, nur ein Teil von dem ist, was es gibt. Der Gegensatz zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem ist zunächst ein Gegensatz zwischen dem, wovon man spricht, und dem, was man wahrnimmt, zwischen dem Universum der Rede und der Welt des Blicks.
Als zwangsläufiges Produkt der gesprochenen Sprache ermöglicht der Gegensatz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem nicht nur, sondern suggeriert offenbar sogar, daß dem Unsichtbaren eine Überlegenheit über das Sichtbare zugesprochen wird, so etwas wie ein Vermögen der Fruchtbarkeit. Er bringt einen dazu, sich für alles zu interessieren, was mit dem Unsichtbaren auf diese oder jene Weise zusammenhängt, besonders natürlich für die Gegenstände, von denen man annimmt, daß sie es repräsentieren. Dennoch müssen die ökonomischen Aktivitäten, die für die Subsistenzmittel sorgen, der Gruppe oder einem Teil von ihr - oder auch nur einem Individuum - die Zeit lassen, um die Gegenstände, die das Unsichtbare repräsentieren, anzusammeln und aufzubewahren oder sogar herzustellen. Es mußte jedoch viel Zeit vergehen, bevor diese Bedingungen alle zusammen vorlagen. […]
Die Geschichte der Dinge wie der Menschen entwickelt sich in der erdgeschichtlichen Zeit. Auch das Interesse der Menschen für Gegenstände, die keine Dinge sind, hat seine Geschichte, und auch sie hat ihre Zeit, freilich eine unvergleichlich viel kürzere. Und doch sind die ersten Anzeichen für Beschäftigungen, die nicht an Nutzen gebunden sind, sehr alt. Davon zeugt wahrscheinlich ein Bruchstück von rotem Ocker und ein Stück grüner Lava, die in Olduwai gefunden wurden. Das bekunden wahrscheinlich auch die Funde, die in der Höhle Nr. 1 von Mas des Caves (Lunel-Viel, Hérault, Frankreich) gemacht wurden; »darunter sind einige Knochensplitter und Kalkkiesel; sie zeigen Einritzungen durch Steinwerkzeuge, die absichtlich erscheinen. Diese graphischen Zeichen auf Knochen und Steinen stellen die ältesten nicht figurativen Zeichnungen dar, die bis zur Stunde bekannt sind«.
Doch diese Gegenstände, denen man ein Alter von vierhunderttausend bis fünfhunderttausend Jahren zuschreibt, bilden zur Zeit noch eine Ausnahme. Erst während der klimatischen Abmilderungen vor vierzig- bis sechzigtausend Jahren tauchen die ersten Bruchstücke von rotem Ocker auf; und sie sind immer noch sehr selten. In den Schichten, die der letzten Phase der Klima-Abmilderung entsprechen, entdeckte Andre Leroi-Gourhan »eine Reihe von Gegenständen, Raritäten, die von den Bewohnern der Höhle von Hyène (Arcy-sur-Cure, Yonne, Frankreich) im Laufe ihrer Wanderungen zusammengetragen wurden. Es handelt sich um eine große spiralförmige Muschel eines Weichtiers auf dem Mesozoikum, einen kugelförmigen Polypar aus derselben Zeit und seltsam geformte Eisenkiesschollen. Das sind in keinem Sinn Kunstwerke, doch die Tatsache, daß diese von der Natur hervorgebrachten Formen die Aufmerksamkeit unserer zoologischen Vorfahren auf sich gezogen haben, ist schon Zeichen einer Beziehung zum Ästhetischen. Die Sache ist umso frappierender, als in der Folge keinerlei Bruch bemerkbar ist; denn die Künstler fahren bis zum Magdalénien damit fort, uns das Sammelsurium ihres Freilichtmuseums zu liefern: Eisenkiesschollen, Muscheln, Fossilien, Quartz- und Bleiglanzkristalle. Es existiert sicher irgendeine Verbindung zwischen diesem Zusammentragen bizarrer Objekte und der Religion, doch dadurch werden die ästhetischen Implikationen nicht geschmälert; denn die natürlichen und die geschaffenen Formen stehen sehr nahe beieinander in derselben religiösen Atmosphäre, von den Fresken von Lascaux bis zu den kleinen in einem Fossil angebrachten Gehängen«.
Es sind also die Bewohner der Höhle von Hyène in Arcy-sur-Cure, denen bis zum Beweis des Gegenteils der Titel der ersten uns bekannten Sammler zukommt. Denn die von ihnen aufgesammelten und aufbewahrten naturgeschichtlichen Raritäten wurden aus dem Kreislauf der ökonomischen Aktivitäten herausgehalten; diese bestanden nämlich zur damaligen Zeit in der Herstellung von Werkzeugen und Beschaffung von Nahrung. Darüber hinaus wurden sie eigens geschützt, denn sonst würde man sie nicht nach mehreren zehntausend Jahren wiederfinden. Und schließlich wurden sie ausgestellt, um den Blick auf sich zu ziehen. Die letzte Feststellung gründet sich auf den Charakter dieser Raritäten und besonders darauf, daß sie seltsame Formen besitzen, wie sie die Menschen der damaligen Zeit nicht selbst hätten anfertigen können. So vereinen sie zwei Züge: sie »springen ins Auge«, ziehen den Blick auf sich, rufen Bewunderung hervor; zum anderen kann ihre Anwesenheit nicht erklärt werden, ohne auf das Unsichtbare Bezug zu nehmen.
Freilich ist es nicht die Frage der Ursprünge, die uns interessiert. Wir haben uns der weit zurückliegenden Vergangenheit nur deshalb zugewandt, um das Auftauchen von Gegenständen, die das Unsichtbare repräsentieren, zeitlich einzuordnen und diesem ersten Auftreten ein Datum zuzuschreiben - und wenn auch nur annäherungsweise. Wirklich wichtig sind uns jedoch die Konsequenzen dieser Umwälzung des allgemeinen Rahmens, in dem sich das Leben der Menschen abspielte. Denn es war eine Umwälzung, vielleicht sogar die wichtigste nach der Beherrschung des Feuers. Wenn man mit André Leroi-Gourhan annimmt, daß »der Umgang mit technischen Hilfsmitteln nur eine zoologische Tatsache ist, die zu den spezifischen Merkmalen der Hominiden gehört«, - und es gibt genügend Argumente, um einen solchen Gesichtspunkt zu stützen - so würde das Zusammentragen und vor allem die Herstellung von Gegenständen, die das Unsichtbare darstellen, vom Auftauchen der Kultur im eigentlichen Sinne dieses Begriffs zeugen. Es kommt vor, daß Tiere unter natürlichen Bedingungen Werkzeuge gebrauchen. Doch noch nie hat man Tiere malen oder modellieren gesehen, ohne daß die Menschen ihnen die Mittel dazu bereitgestellt hätten.
Ob man nun im Gebrauch technischer Hilfsmittel eine zoologische Tatsache sieht oder nicht, so muß man doch die Veränderung, die sich in der Jungsteinzeit vollzieht, für grundlegend halten. Das materielle Leben der Menschen war nämlich bis zu diesem Zeitpunkt vollständig auf das Sichtbare beschränkt. Die einzige Beziehung zum Unsichtbaren wurde durch die Sprache aufrechterhalten, möglicherweise auch durch Bestattungsriten und eventuell andere, die keine Spuren hinterlassen haben. Die beiden Bereiche des Sichtbaren und des Unsichtbaren standen nebeneinander, ohne einander zu durchdringen. In der Jungsteinzeit wird nun das Unsichtbare gleichsam ins Sichtbare projiziert, denn es ist nun innerhalb des Sichtbaren durch eine eigene Kategorie von Gegenständen vertreten. Dies sind zum einen naturgeschichtliche Raritäten, zum anderen all das, was durch Malen, Bildhauern, Schnitzen, Modellieren, Sticken, Schmücken usw. produziert wird. In anderen Worten: das Sichtbare spaltet sich auf. Auf der einen Seite befinden sich die Dinge, nützliche Gegenstände, das heißt solche, die konsumiert werden können oder die dazu dienen, sich Subsistenzmittel zu verschaffen oder auch Rohstoffe umzuwandeln, so daß sie konsumiert werden können oder schließlich dazu, gegen die Veränderungen der natürlichen Umgebung zu schützen. Mit all diesen Gegenständen hantiert man, durch sie alle werden physische, sichtbare Veränderungen vorgenommen oder sie erleiden sie auch: sie nutzen sich ab. Auf der anderen Seite befinden sich die Semiophoren, Gegenstände ohne Nützlichkeit im eben präzisierten Sinn, sondern Gegenstände, die das Unsichtbare repräsentieren, das heißt die mit einer Bedeutung versehen sind.
Da sie ausgestellt werden, um den Blick auf sich zu ziehen, unterliegen sie nicht der Abnutzung. Die produktive Tätigkeit ist damit in zwei verschiedene Richtungen orientiert zum Sichtbaren hin und zum Unsichtbaren hin, zur Maximierung der Nützlichkeit oder zur Maximierung der Bedeutung. Auch wenn beide Ausrichtungen in bestimmten privilegierten Fällen zusammenkommen, schließen sie sich dennoch meistens gegenseitig aus.
Einem Gegenstand wird dann Wert zugeschrieben, wenn er geschützt, aufbewahrt oder reproduziert wird. Welche Bedingungen muß nun ein Gegenstand erfüllen, damit das geschieht? Die vorangegangenen Überlegungen erlauben eine Antwort auf diese Frage: damit einem Gegenstand von einer Gruppe oder einem Individuum Wert zugeschrieben werden kann, ist es erforderlich und hinreichend, daß dieser Gegenstand nützlich ist oder aber daß er mit Bedeutung versehen ist. Gegenstände, die weder die erste noch die zweite Bedingung erfüllen, sind ohne Wert. Sie sind faktisch keine Gegenstände mehr, sondern Abfall. Damit ist das Paradox gelöst, auf das wir zu Beginn dieses Artikels gestoßen sind: der Tauschwert der Sammlungsstücke gründet sich auf ihre Bedeutung. Sie sind wertvoll, das heißt, man schreibt ihnen Wert zu, weil sie das Unsichtbare repräsentieren; und damit partizipieren sie am Vorrang und der Fruchtbarkeit, die man diesem unbewußt zuerkennt. In ihrer Eigenschaft als Semiophoren werden sie aus dem ökonomischen Kreislauf herausgehalten, denn nur so können sie ihre Bedeutung voll und ganz realisieren. […]
Doch nicht allein die Gegenstände sind aufgeteilt in nützliche und bedeutsame, in Dinge und Semiophoren - wobei letztere als den ersteren überlegen angesehen werden, da sie Verbindungen zum Unsichtbaren unterhalten, das ja, wie wir gesehen haben, dem Sichtbaren überlegen ist. Ebenso verhält es sich mit den menschlichen Aktivitäten; sie werden ebenfalls auf einer Achse klassifiziert, die von unten nach oben geht, von den nützlichen Aktivitäten bis zu denen, die nur Bedeutungen produzieren. Und so finden sich auch die Menschen ihrerseits auf eine Hierarchie oder verschiedene Hierarchien verteilt. An der Spitze der Hierarchien gibt es immer einen oder mehrere Menschen, die Zeichenträger sind, Repräsentanten des Unsichtbaren: der Götter oder des einen Gottes, der Ahnen, der Gesellschaft im Ganzen etc. Am unteren Ende befinden sich dagegen die »Ding-Menschen«, die nur eine indirekte Beziehung oder nicht die geringste zum Unsichtbaren haben. Das Zwischenfeld wird von denen eingenommen, die in verschiedenen Graden Bedeutung und Nützlichkeit vereinen.
Diese hierarchische Organisation der Gesellschaft wird auf den Raum projiziert, wobei der Ort, an dem der Mensch als Zeichenträger -, König, Kaiser, Papst, Hohepriester oder Präsident einer Republik - residiert, als Zentrum begriffen wird; je weiter man sich davon entfernt, desto weiter entfernt man sich vom Unsichtbaren. Es braucht nicht betont zu werden, daß wir hier nur einen Aspekt der gesellschaftlichen Hierarchie herausstellen und keineswegs alle anderen auf ihn zurückführen wollen; insbesondere lassen wir bewußt alle Probleme beiseite, die mit dem Gewaltmonopol oder ökonomischen Zwängen zu tun haben. Es geht hier lediglich darum, die weiter oben getroffenen empirischen Feststellungen noch einmal durch theoretische Reflexion einzuholen.
Nehmen wir also einen Menschen, dessen Rolle in der Repräsentation des Unsichtbaren besteht. Wie spielt er diese Rolle? Dadurch, daß er sich jeder nützlichen Tätigkeit enthält, eine Distanz herstellt zwischen sich und allen, die gezwungen sind, einer solchen Tätigkeit nachzugehen, sich mit Gegenständen umgibt, die keine Dinge, sondern Semiophoren sind, und diese zur Schau stellt. Als allgemeine Regel mag gelten: je höher jemand in der Hierarchie der Repräsentanten des Unsichtbaren steht, desto größer ist die Anzahl der Semiophoren, mit denen er sich umgibt und desto größer ist deren Wert. Anders gesagt, es ist die soziale Hierarchie, die notwendigerweise zum Auftauchen von Sammlungen führt, zu Zusammenstellungen von Gegenständen, die aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, die besonders geschützt und an eigens zu diesem Zweck eingerichteten, abgeschlossenen Orten ausgestellt werden, um den Blick auf sich zu ziehen.
Denn in diesen Zusammenstellungen von Gegenständen manifestieren sich nur die sozialen Orte, an denen in verschiedenen Graden und hierarchisch abgestuft die Umwandlung von Unsichtbarem in Sichtbares vor sich geht. Das gilt sogar für die sogenannten primitiven Gesellschaften, in denen die soziale Hierarchie sich auf Alters- und Geschlechtsgruppen beschränkt. […] Was die stark hierarchischen Gesellschaften betrifft, so haben wir gesehen, daß die Sammlungen sich dort in den Gräbern anhäufen, und zwar in den Gräbern derer, die zu Lebzeiten einen Platz an der Spitze oder nahe der Spitze der Hierarchie einnahmen, so wie in den Tempeln und Palästen. Doch nun wissen wir, daß sie sich dort nicht deshalb ansammelten, weil die Bewohner der Paläste oder Tempel einen besonderen »Geschmack« hatten, der dem Rest der Gesellschaft gefehlt hätte; sie waren vielmehr dazu verpflichtet, weil sie sich an einer bestimmten Stelle der Hierarchie befanden. In den traditionellen Gesellschaften sammeln nicht Individuen die Gegenstände, die ihnen gefallen, sondern hier bringen die sozialen Orte die Sammlungen hervor.
Das ist nirgendwo deutlicher zu sehen als im alten China. »Perlen sind das Yang des Yin, sie beherrschen das Feuer; Jade ist das Yin des Yang und beherrscht das Wasser. Ihre Verwandlungskraft ist den himmlischen Mächten vergleichbar. So soll der Himmelssohn einen Schatz aus Perlen und Jade horten, die Lehnsmänner Schätze aus Metallen und Edelsteinen zusammentragen, die Oberoffiziere sollen Hunde und Pferde züchten; die Untertanen sollen Schätze aus Stoffen und Seide horten. Denn sonst wird der Mutige befehlen und der Listige die Macht an sich reißen.« Der Verfasser, von dem wir dieses Zitat aus dem Ta tai li ki (ungefähr 100 v. Chr.) entlehnen, kommentiert: »Damit die Ränge nicht durcheinandergeraten, muß jeder die seinem Rang zukommenden Werte als Schatz horten. Die soziale Hierarchie ist innerlich verbunden mit einer Hierarchie der Werte.«
Selbstverständlich läßt sich ein solches System nur dann aufrechterhalten, wenn Dinge nicht gegen Semiophoren getauscht werden können und Semiophoren von größerem Wert nicht gegen solche von geringerem Wert. Dort nämlich, wo ein solcher Tausch möglich ist, kann man Zugang zu einer höheren sozialen Position erhalten, indem man Dinge opfert - oder Geld, das sie repräsentiert -, um Semiophoren zu erwerben. Der Besitz von Gewalt- oder Zwangsmitteln dient dann als Instrument, um Gegenstände zu erhalten, durch deren Besitz man an den begehrten sozialen Ort gelangt. Je größer das Opfer auf der Ebene der Nützlichkeit, desto höher die soziale Position, zu der man Zugang erhält. […]
Aus alldem geht hervor, daß eine Untersuchung von Sammlungen und Sammlern sich nicht auf den begrifflichen Rahmen der Individualpsychologie zurückziehen kann, die alles mit Bezug auf Begriffe wie »Geschmack« oder »Interesse« oder gar »ästhetisches Vergnügen« erklärt. Denn erklärt werden soll gerade die Tatsache, daß der Geschmack sich auf bestimmte Gegenstände richtet und nicht auf andere, daß man sich für dieses, aber nicht für jenes interessiert, und daß nur bestimmte Werke Vergnügen bereiten. Die Eigenschaften der Individuen oder ihre mehr oder weniger große Sensibilität sind nur in dem Maße wichtig, wie die jeweilige gesellschaftliche Organisation den individuellen Differenzen Spielraum läßt. Bevor man sich daher möglicherweise diesen Differenzen zuwendet, muß man zunächst deutlich machen, wie die entsprechende Gesellschaft (oder die Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt) die Grenze zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem zieht. Von daher kann man nun feststellen, was in dieser Gesellschaft als bedeutsam gilt, welche Gegenstände darin bevorzugt werden und welche Verhaltensweisen sie bei den Sammlern auslösen. Dann läßt sich auch eine Karte der Orte skizzieren, die Knotenpunkte der Beziehungen zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem sind und wo diejenigen wohnen, die das Unsichtbare repräsentieren und aufgrund dieser Rolle gezwungen sind, Semiophoren zu sammeln und auszustellen.
Quelle: Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. [Übersetzer: Gustav Roßler], Berlin, 1998, ISBN 3 8031 2302 X, Seite 46-54
Die Illustrationen zu diesem Post stammen (wie schon einmal) aus dem einmaligen Blog BibliOdyssey, und zwar aus einem Beitrag über Vincenzo Cartaris »Imagini colla sposizione degli dei degli antichi« (»Bilder mit Darstellung der Götter der Alten«) (ab 1556), einem einflußreichen ikonographischen Werk, das ab der 3. Auflage 1571 Holzschnitte von Bolognino Zaltieri enthält, die die Vorstellungen der neuzeitlichen Menschen von den antiken Gottheiten bis zum heutigen Tage prägen.
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Reposted on August 18th, 2015
1 Kommentar:
This is some great, uncommon music. Thanks!
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