25. November 2019

Kurt Weill / Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (Aufführung 1968)

Gleich nach der Uraufführung im Jahre 1928 erfaßte ein wahrer Dreigroschenoper-Taumel Berlin, und bald darauf das ganze Land, dem erst die Nazis 1933 ein gewaltsames Ende setzten. Den Text zum Werk hatte Bert Brecht beigesteuert, und sich dabei "The Beggar's Opera" von Gay/Pepusch bedient, die exakt zweihundert Jahre zuvor, 1728, in London uraufgeführt wurde. Zudem hatte er Gedichte von Francois Villon, einem spätmittelalterlichen französischen Dichter, ins Deutsche übersetzt und in seinen Text eingebaut. Brechts Formulierungskraft war großartig, und Kurt Weill hatte dazu Melodien erfunden, die an Einprägsamkeit nicht zu überbieten sind. Mit seinen "Songs", einem Verschnitt zwischen Schlager und Moritat, schuf er einen neuen Typus der Form, mit der sich Operettenhaftes und Parodistisches bestens verbinden ließ. Die Moritat von Mackie Messer, die zu Anfang und zum Schluß des Werks erklingt, wurde zu einem Weltevergreen. Das Stück war als Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaft der "goldenen" zwanziger Jahre gedacht und sollte gleichzeitig einen neuen Musiktypus begründen, der von der damals noch vorherrschenden "klassischen Operette" zu den Musicals unserer Zeit einen Bogen spannte.

Zur Aufführung 1968

Zur Legende der "Dreigroschenoper" gehört - neben dem turbulenten Verlauf der Proben für die Uraufführung - ihr verschlungener Weg durch die Schallplattengeschichte. Bis 1968, also bis vierzig Jahre nach der Berliner Premiere, sollte es dauern, bis die erste vollständige Fassung auf Platte erscheinen konnte, sowohl mit den Dialogen als auch mit den Songs. Die musikalische Leitung lag in Händen eines damals noch wenig bekannten Mannes: James Last. Ihm zur Seite stand ein Ensemble, das sich ebenso aus renommierten wie aus damals noch unbekannten Größen zusammensetzte. Man trifft nicht, wie gelegentlich in späteren Jahren, auf große Opernstimmen; man trifft ebenso wenig auf reine Revue-Sänger. Es ist vielmehr eine Melange aus echten Sing-Schauspielern: Helmut Qualtinger als Peachum und als dessen Gattin Berta Drews, Ehefrau von Heinrich George und Mutter von Götz. Karin Baal, die als "blonde Rebellin" den Zeitgeist der 50er und 60er Jahre verkörperte, sang und spielte Polly, Martin Held trat als Londons oberster Polizeichef auf, Dr. jur. Franz Josef Degenhardt, als Liedermacher eine der führenden Stimmen der 68er-Bewegung, übernahm die Rolle des Moritatensängers. Ein Jux am Rande: Als Ansager fungierte Deutschlands damals prominentester Nachrichtensprecher, Karl-Heinz Köpke. So entstand eine Aufnahme für den Platten-Hörer; daher wurde auf einige wenige bühnenrelevante Passagen verzichtet; es war eine Aufnahme, die in der Presse ein breites Echo fand, von entrüsteter Ablehnung bis enthusiastischer Begeisterung; eine Aufnahme, die niemanden kalt lassen wollte und konnte. In Brechts 50. Todesjahr [2006] ist diese Aufnahme dem Dornröschen-Schlaf in den Polydor-Archiven entrissen und dem Publikum nach digitalem remastering in neuem Klanggewand zugänglich gemacht worden. An der Aktualität des Werkes gibt es nichts zu deuteln. Für James Last hat Brechts und Weills Gemeinschaftsproduktion nach wie vor einen hohen Stellenwert: "Beide werden immer ihren Platz in den Kulturlandschaften haben müssen. Alleine dafür müssen wir allen jungen Interpreten dankbar sein, die immer wieder für neue Aufführungen sorgen.“

Quelle: Die Dreigroschenoper: Gesamtaufnahme Audio-CD – Hörbuch, 2006

TRACKLIST

Kurt Weill (1900-1950)
Bertolt Brecht (1898-1956)

Die Dreigroschenoper
Theaterstück mit Musik


(01) Vorspiel                                          2:12

(02) Die Moritat von Mackie Messer                     3:38
     (Moritatensänger)

(03) Morgenchoral des Peachum                          1:04
     (Peachum)

(04) Der Anstatt-Dass-Song                             1:49
     (Peachum und seine Frau)

(05) Bill Lawgen und Mary Syer                         0:41
     (Chor)

(06) Die Seeräuber-Jenny                               3:46
     (Polly Peachum)

(07) Der Kanonensong                                   2:31
     (Brown / Mackie Messer)

(08) Siehst du den Mond über Soho                      1:36
     (Polly Peachum / Mackie Messer)

(09) Einst glaubte ich, als ich noch unschuldig war    4:45
     (Polly Peachum)

(10) Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit           2:15
     (Frau Peachum)

(11) Erstes Dreigroschenfinale: Über die Unsicherheit 
     menschlicher Verhältnisse                         3:37
     (Polly Peachum / Peachum / Frau Peachum)

(12) Hübsch als es währte - Die Liebe dauert oder 
     dauert nicht                                      1:21
     (Polly Peachum / Mackie Messer) 

(13) Die Zuhälterballade                               4:28
     (Mackie Messer / Spelunken-Jenny)

(14) Die Ballade vom angenehmen Leben                  2:44
     (Mackie Messer)

(15) Eifersuchtsduett                                  1:10
     (Polly Peachum / Lucy Brown)

(16) Zweites Dreigroschenfinale: Erst kommt das Fressen, 
     dann kommt die Moral                              3:36
     (Moritatensänger / Spelunken-Jenny / Chor)

(17) Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit, 2. Teil  1:08
     (Frau Peachum)

(18) Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen 
     Strebens                                          1:34
     (Peachum)

(19) Salomo-Sonq                                       3:23
     (Spelunken-Jenny)

(20) Ballade, in der Macheath jedermann Abbitte 
     leistet                                           3:54
     (Mackie Messer)

(21) Drittes Dreigroschenfinale: Verfolgt das Unrecht 
     nicht zu sehr                                     5:54
     (Polly Peachum / Frau Peachum / Spelunken-Jenny /
     Mackie Messer / Brown / Peachum / Chor)

(22) Die Moritat von Mackie Messer (Schluss)           1:24
     (Moritatensänger)

                                      Gesamtspielzeit 58:30


Jonathan Jeremiah Peachum, Besitzer der Firma Bettlers Freund:
Helmut Qualtinger
Celia Peachum, seine Frau: Berta Drews
Polly Peachum, seine Tochter: Karin Baal
Macheath, genannt Mackie Messer: Hannes Messemer
Brown, oberster Polizeichef von London: Martin Held
Lucy seine Tochter: Sylvia Anders
Spelunken-Jenny: Hanne Wieder
Filch, ein Bettler: Hans Clarin
Moritatensänger: Franz-Josef Degenhardt
Ansager: Karl-Heinz Köpke
Musikalische Leitung: James Last

Aufnahme: 1968  Publikation: 2000


Heinrich Tietze:

DAS GROSSE FERMATSCHE PROBLEM

Buchdeckel der von Pierre de Fermats Sohn Clément-Samuel veröffentlichten
 Version der Arithmetica des Diophantos von 1670 mit den Bemerkungen
 seines Vaters. [Quelle]
Es gibt sehr alte mathematische Probleme, von denen in ziemlich weiten Kreisen zwar nicht immer eine klare Vorstellung herrscht von denen aber bekannt war, daß sie noch ungelöst seien und von denen geglaubt wurde, daß irgendwo ein Preis für ihre Lösung ausgeschrieben sei. Hierher gehört vor allem das Problem der Quadratur des Kreises, ebenso das der Dreiteilung eines Winkels; und man stößt auch heute noch hie und da auf Leute, die hier noch an Lösungen glauben, die man nur entdecken müsse, und an Preise, die man erwerben könne. Keineswegs so alt wie die genannten geometrischen Konstruktionsprobleme aus dem Altertum ist nun ein Problem, das uns der französische Mathematiker Fermat (1607-1665) hinterlassen hat. Und das Unglück, das hier geschehen ist, bestand darin, daß tatsächlich von einem für die Förderung der Wissenschaft begeisterten Mann, der sich selbst mit dem Problem befaßt hatte, — es war dies Dr. Paul Wolfskehl in Darmstadt — im Jahr 1908 ein Preis von 100.000 Mark gestiftet wurde; was nun zur Folge hatte, daß bei einer ungezählten Menge von Unberufenen der Entdeckertrieb erwachte und von vermeintlichen, mit Fehlern und Mißverständnissen behafteten Lösungen eine wahre Sintflut entstand, die erst wieder verebbt ist, seit der vor dem Krieg (nämlich vor 1914) in Papier-Mark hinterlegte Preis zugleich mit so vielen anderen Stiftungen durch die Inflation entwertet war. […]

Wir beginnen mit den Quadratzahlen 12, 22, 32, ... und fragen, ob es möglich ist, daß die Summe zweier Quadratzahlen wieder eine Quadratzahl ist. Immer wird die Summe zweier Quadratzahlen ja nicht wiederum eine Quadratzahl sein. Beispielsweise ist 12 + 22 = 1 + 4 = 5 keine Quadratzahl; ebensowenig ist es 12 + 32 = 1 + 9 = 10, oder auch 22 + 32 = 4 + 9 = 13. Aber vorkommen kann es schon, wie man am Beispiel 32 + 42 = 9 + 16 sieht, wo die Summe 25 = 52 selbst eine Quadratzahl ist. Die Antwort auf unsere Frage fällt also bejahend aus, und wenn man sich noch ein wenig umtut, dann findet man noch mehr Beispiele, wie 52 + 122 = 25 + 144 = 169 = 132 oder 152 + 82 = 225 + 64 = 289 = 172. Man hat sogar — u. zw. schon im Altertum — eine vollständige Übersicht über alle möglichen solchen Fälle, deren es unendlich viele gibt, in Gestalt einer einfachen Formel sich verschaffen können.

Diese Seite der Arithmetica von 1670 enthält
Pierre de Fermats Randbemerkung. [Quelle]
Wir gehen nunmehr über zur dritten Zeile unserer tabellarischen Zusammenstellung, wo alle dritten Potenzen der natürlichen Zahlen (die „Kubikzahlen“) verzeichnet zu denken sind. Und wiederum fragen wir: Kann es vorkommen, daß die Summe zweier Kubikzahlen wieder eine Kubikzahl ist? Hier kann ich Ihnen nun mit keinem Beispiel aufwarten. Denn es hat noch niemand ein Beispiel dafür gefunden,
daß für drei natürliche Zahlen x, y, z die Gleichung

x3 + y3 = z3

erfüllt wäre, obwohl mit der Frage, die ja im Anschluß an die Quadratzahlen recht nahe liegt, schon viele, denen die Neigung zum Basteln und Grübeln im Reich der ganzen Zahlen innewohnt, sich abgegeben haben. Die Vergeblichkeit des Suchens nach einer Lösung der Gleichung x3 + y3 = z3 in drei natürlichen Zahlen x, y und z ließ nun bei manchem Mathematiker den Verdacht entstehen, es möchte überhaupt gar keine solchen Zahlen geben, was ja der einfachste Grund sein würde, daß man bis jetzt keine Lösung fand. Und so hat denn — wie man einer Schrift entnimmt, die den Scheich Abu Dschafar Muhamed Ibn Allusain zum Verfasser hat — bereits der arabische Astronom und Mathematiker Alhogendi um 970 einen — wenn auch nicht ausreichenden — Versuch gemacht, einen Beweis für die Unlösbarkeit der Gleichung x3 + y3 = z3 in natürlichen Zahlen x, y, z zu geben. Auch bei dem persischen Mathematiker Beha Eddin (geb. 1547, gest. 1622 in Ispahan) kehrt die Angabe wieder, die Gleichung sei unlösbar.

Was bei den dritten Potenzen vergeblich gesucht worden war, mißlang auch bei den vierten Potenzen; nämlich zwei vierte Potenzen von natürlichen Zahlen zu finden, deren Summe wieder eine solche vierte Potenz ist: Auch Lösungen der Gleichung

x4 + y4 = z4

in natürlichen Zahlen x, y, z schienen nicht zu existieren oder allenfalls nur in so hohen Zahlbereichen, daß sie sich den naturgemäß mit nicht ganz großen Zahlen gemachten rechnerischen Versuchen entzogen. […]

Pierre de Fermat (1607-1665).
Kupferstich von François de Poilly (1623-1693). [Quelle]
Aber wie dem auch sei, so mochte wohl schon vor Fermat der eine oder andere Mathematiker die Mutmaßung gehabt haben, daß auch für größere Exponenten n (also für n = 5, n = 6, n = 7, usw.) die Gleichung

xn + yn = zn

keine Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z habe.

Was aber die ganze Problemstellung dauernd mit dem Namen Fermats verknüpft hat, war der Umstand, daß er, der zu den angesehensten Mathematikern seiner Zeit zählte, behauptet hat, er besitze einen Beweis für die Unlösbarkeit aller Gleichungen von der eingeschriebenen Gestalt, das ist also für alle Exponenten n von n = 3 aufwärts. Mit dieser Behauptung, nicht zuletzt mit der ganzen Art, wie so manche seiner Entdeckungen bekanntgeworden sind, hat es nun eine eigene Bewandtnis.

Seines großen Zeitgenossen und Rivalen René Descartes (1596 bis 1650), der in Europa kreuz und quer herumgekommen, schließlich, kurz nach seiner Ankunft am Hof der Königin Christine erst mit dem Tode Ruhe fand, haben wir in der III. Vorlesung gedacht. Wie ganz anders — fernab von den religiös-politischen und kriegerischen Kämpfen der Zeit des 30jährigen Krieges — verlief das Leben Pierre de Fermats, der am 17. August 1601 in dem kleinen Ort Beaumont de Lomagne bei Toulouse geboren, nur ganz selten aus Toulouse und seiner Umgebung herauskam; hier die Rechtswissenschaften studiert hatte, als er 1631 Parlamentsrat wurde, bald darauf sich verheiratete, in den folgenden Jahren geadelt wurde und am 12. Januar 1665 in Castres starb. Aber welche Fülle neuer Gedanken auf den verschiedensten Gebieten der Mathematik finden wir bei diesem Mann, dessen Tagesarbeit durch die regelmäßige Verwaltungstätigkeit seiner Vaterstadt in Anspruch genommen war! Fragen, die wir seit Newton (1643-1727) und Leibniz (1646-1716) mit dem systematisch durchgebildeten Rechenverfahren der Differential- und Integralrechnung erledigen, wurden schon damals von erfindungsreichen Mathematikern mit eigenen Methoden behandelt; und so wie Descartes hat hier Fermat Bedeutsames in der Lösung einzelner, speziell geometrischer Fragen, u. zw. mit einer genial gehandhabten Methode für Maximum- und Minimum-Probleme geleistet. Und wenn wir mit dem berühmten, 1637 erschienenen Buch „Géométrie“ von Descartes den Beginn einer „analytischen Geometrie“ datieren, so hatte gleichwohl auch Fermat‚ wie aus seinem Briefwechsel mit anderen Gelehrten nachweisbar ist, ganz unabhängig die Grundgedanken der analytischen Geometrie entwickelt, wenn er auch in keiner Weise die Priorität der Veröffentlichung Descartes bestreitet.

Marin Mersenne (1588-1648).
Kupferstich von P. Dupin, 1765. [Quelle]
Noch war übrigens damals die Art, wie neue Ergebnisse der Fachwelt bekannt gemacht wurden, sehr verschieden von der heute üblichen, wo (zumindest in Friedenszeit) anerkannten Verfassern zur Drucklegung ihrer Manuskripte die Auswahl offensteht zwischen mannigfachen regelmäßig erscheinenden Fach- und Akademiezeitschriften, die es alle damals noch nicht gab. Auch erinnern wir uns aus den Streitigkeiten um die sogenannte Cardanische Formel für Gleichungen 3. Grades der Gepflogenheit, eigene Lösungen einer Frage zurückzuhalten und vorerst die fachliche Konkurrenz zur Lösung herauszufordem — eine Gepflogenheit, die noch zwei Generationen nach Fermats Zeit in einem weithin bekanntgewordenen Streit der verfeindeten Brüder Jakob und Johann Bernoulli lebendig war. Dabei wurde die Verbindung mit der Fachwelt — auch des Auslands — durch einen Briefwechsel hergestellt, der bei Fermat zumeist über gewisse Mittelspersonen geleitet wurde, wie den Minoritenpater Mersenne (1588-1648) in Paris (zeitweise auch im Kloster von Nevers), einen Mann von überaus großem wissenschaftlichem Bekanntenkreis. Aber auch in direktem Briefwechsel beschränkte man sich auf Mitteilungen von Resultaten und verschwieg den Weg, der zu ihnen führte. Und wie man bei Reisen oder in einsamen Gasthöfen hinsichtlich des Reisegepäcks, so fühlte sich der Gelehrte nicht sicher vor räuberischen Zugriffen nach seinem geistigen Eigentum, wie sie dadurch, daß die wissenschaftlichen Mitteilungen nicht sofort der gesamten Fachwelt unterbreitet werden konnten, möglich wurden und tatsächlich vorgekommen sind — als dunkle Flecken auf dem Charakter einzelner Forscher. Auch zwischen Fermat und Descartes, welch letzterer in Leyden wohl etwas bessere Gelegenheit zur Drucklegung hatte, gab es einmal durch unliebsame Indiskretionen eines Dritten mit den Druckbogen einer optischen Untersuchung eine Trübung, die aber dann durch einen an Descartes gerichteten Brief von Fermat behoben und in äußerst höflichen Formen beigelegt wurde.

Auf dem Gebiet der Algebra, von dem Descartes’ Buch „Géométrie“ mehr enthält, als der Titel verrät, mag man Descartes den Vorrang vor den ebenfalls nicht unbedeutenden Leistungen Fermats geben. Unbestritten aber steht auf dem Gebiet, zu dem unsere oben besprochene Frage über die Gleichungen xn + yn = zn gehört, und das wir heute als Zahlentheorie bezeichnen, Fermat an der Spitze nicht nur seiner Zeitgenossen, sondern geradezu weithin auf einsamer Höhe. Aber in sehr eigenartiger Weise ist gerade auf diesem Gebiet sein großer schöpferischer Gedankenreichtum auf uns gekommen.

Leonhard Euler (1707-1783).
Pastel von Jakob Emanuel Handmann, 1753  [Quelle]
Hier müssen wir in die Zeit der altgriechischen Mathematiker zurückgreifen, um den genialen Meister der Zahlentheorie zu finden, an den Fermat anknüpft: Diophantos von Alexandria. Das berühmte Werk „Arithmetisches“ Diophants enthält in seinem ersten Teil eine Art Vorlesung über die Elemente der Algebra, wie wir heute sagen würden, wobei eine — von den heutigen Formen des Buchstabenrechnens äußerlich natürlich abweichende — aber schon überaus systematische Bezeichnungsweise algebraischer Ausdrücke eingeführt wird. Ein zweiter Teil enthält eine große Anzahl von Einzelaufgaben und die an manche von ihnen angeschlossenen allgemeinen Aussagen stellen bedeutsame Ergebnisse eben jenes Teils der Mathematik dar, den man nunmehr als Zahlentheorie bezeichnet. In welchem Ausmaß das Werk, das seiner Einleitung nach 13 Bücher umfassen sollte, unvollständig auf uns gekommen ist und was es ursprünglich noch enthalten haben mag, darüber haben Geschichtsforscher unserer Wissenschaft mancherlei Überlegungen angestellt. […] Aus Angaben bei anderen Schriftstellern muß man oft versuchen, Fehlendes zu ergänzen.

Über Diophant selbst erfährt man zwar aus einem — im Sinn seiner eigenen Aufgaben verfaßten — hübschen Rätselgedicht), daß er 84 Jahre alt wurde; aber außer den wenigen Angaben über Frau und Kind, die hinein verwoben sind, weiß man eigentlich nur, daß er in Alexandria gewirkt hat, nicht aber wann; und es bleibt Mutmaßung, er sei Zeitgenosse des 361-363 n. Chr. regierenden römischen Kaisers Julian Apostata gewesen.

Wir überspringen nun rund 13 Jahrhunderte — vielleicht noch mehr — von der Abfassung des Diophantschen Werkes bis zu seiner ersten gedruckten Herausgabe im Jahre 1621. Und es ist ein Exemplar dieser Ausgabe, das eine besondere Bedeutung gewinnen sollte: dasjenige, das Fermat in Händen hatte. Auf den verschiedensten Seiten machte er Randbemerkungen, die tiefliegende, neue zahlentheoretische Erkenntnisse enthielten, ohne Angabe von Beweisen, wie er sie wohl manchmal anderwärts veröffentlicht hat. Raschen Publikationen waren ja weder die äußeren Umstände günstig, von denen wir schon kurz gesprochen haben und wozu wohl auch die berufliche Beanspruchung als Parlamentsrat zu rechnen ist, noch entsprachen sie den im Geist der Zeit gelegenen Neigungen von Fermat. Unter diesen Randbemerkungen zu Diophant aber findet sich eine, die die Unmöglichkeit der Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z für die Gleichung x3 + y3 = z3, desgleichen für x4 + y4 = z4 und ganz allgemein für xn + yn = zn, mit jedem beliebigen Exponenten n größer als 2, behauptet, wobei Fermat ausdrücklich hinzufügt:

Carl Friedrich Gauß (1777-1855),
Gemälde von Gottlieb Biermann, 1887  [Quelle]
„Hierfür habe ich einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, aber der Rand ist zu schmal, ihn zu fassen."
["Cujus rei demonstrationem mirabilem sane detexi; hanc marginis exiguitas non caperet."]

Dies die Behauptung Fermats. So steht es in einer vom Sohn Fermats nach dessen Tode herausgegebenen neuen Diophant-Ausgabe (1670), die diese und die anderen „Randbemerkungen“ bringt und dadurch ihren besonderen Wert erhielt.

Ob Fermat, der sonst sehr sorgsam in der Form seiner Behauptungen war, wirklich einen lückenlosen Beweis besaß? Ob die Randbemerkung nur dem ersten Erschauen eines Weges durch das Labyrinth des Problems entsprang — eines Wegs, den näher auszubauen und auf seine Ausführbarkeit zu überprüfen, späterem Durcharbeiten vorbehalten blieb? Wir wissen es nicht. Und da alle uns erhaltenen und in Frage kommenden Briefe und Schriften aus dem Nachlaß längst auf das eingehendste durchforscht sind, werden wir es wohl nie erfahren. Wohl aber ist das bis heute ungelöste Problem, ob wirklich für jeden Exponenten n > 2 eine Lösung von xn + yn = zn in natürlichen Zahlen x, y, z unmöglich sei, dauernd mit dem Namen Formats verbunden geblieben und hat seinen Namen in weitere Kreise getragen, als alle seine unbestritten gesicherten mathematischen Erfolge.

Allerdings hat man, besonders auch aus Hinweisen auf andere analoge Aussagen, einen Fingerzeig, in welcher Richtung das Beweisverfahren lag, das Fermat im Auge hatte. Zumal die ersten Erfolge, die später wenigstens in einigen Fällen zum Nachweis der Fermatschen Behauptung führten, in der gleichen Richtung liegen. Der Gedanke, von dem dabei zunächst ausgegangen ist, liegt recht nahe, wenn man sich vergegenwärtigt, daß beispielsweise im Falle des Exponenten n = 4 ein weiter Bereich von Zahlen x, y daraufhin durchprobiert war, ob nicht vielleicht einmal eine Summe x4 + y4 selbst gleich einer vierten Potenz z4 sei. Wenn also die Gleichung x4 + y4 = z4 überhaupt eine Lösung haben sollte, dann jedenfalls nur in recht hohen Zahlen, die außerhalb des rechnerisch durchforschten Bereichs liegen.

Ernst Eduard Kummer (1810-1893) 
Wir haben schon bei früheren Gelegenheiten betont, daß man niemals den unendlichen Gesamtbereich aller Zahlen mit der Methode des Durchprobierens erschöpfen könne und daß zum Nachweis der allgemeinen Gültigkeit einer Behauptung ein geeigneter neuer Gedanke erforderlich sei. Wie steht es nun, wenn sich aus der Annahme einer Lösung von x4 + y4 = z4 in Zahlen x, y, z, die vielleicht ganz ungeheuer groß sein mögen, erschließen ließe, daß dann stets auch eine andere Lösung in wenigstens etwas kleineren Zahlen, sagen wir in höchstens halb so großen Zahlen existieren muß? Nimmt man an, der Bereich unter 10.000 sei rechnerisch durchforscht und es haben sich darin keine Zahlen x, y, z gefunden, so daß für sie die Gleichung x4 + y4 = z4 gelten würde. Unsere Schlußweise würde dann sofort gestatten, zu behaupten, daß auch im Bereich bis 20.000 keine Lösung anzutreffen sein wird, weil ja aus ihr auf eine Lösung unter 10.000 geschlossen werden könnte. Nun aber ist wieder klar, daß auch bis 40.000 keine Lösung liegen kann, da aus ihr auf eine unter 20.000 zu schließen wäre. Ein solches Schlußverfahren würde uns also jedes weiteren Probierens entheben: die Behauptung, daß es überhaupt keine Lösung geben kann, wäre gesichert.

In einem Bruchstück eines angefangenen, aber nicht vollendeten Aufsatzes, der auf der Leydener Bibliothek entdeckt wurde, spricht Fermat von einer Methode der „unendlichen oder unbegrenzten Abnahme“ („la descente infinie ou indéfinie“). Diese Bezeichnung trifft aber genau das Wesen der eben geschilderten Schlußweise.

Ob nun Fermat wirklich eine solche Schlußweise für das Problem der Gleichung xn + yn = zn besaß, u. zw. für jeden beliebigen Exponenten n und nicht nur für n = 4, wo man dies mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen darf, wird wohl immer im Dunkel bleiben. Denn wenn auch in einzelnen Fällen Erfolge erzielt wurden, so sind doch durch nunmehr zweieinhalb Jahrhunderte die Bemühungen der verschiedensten Forscher, in der angedeuteten Richtung einen allgemein gültigen Beweis zu entdecken, in welchem man dann den Beweis Fermats vermuten könnte, vergeblich geblieben.

Zu mächtigen Anregungen in der Weiterentwicklung der Zahlentheorie haben aber die Gedanken und Fragestellungen Fermats — und nicht zum wenigsten seine „Randbemerkungen“ zu Diophant — geführt. Gerade das nach ihm benannte Problem der Lösungen von xn + yn = zn, das uns heute beschäftigt, spielt dabei keine kleine Rolle, da von ihm aus ganz neuartige Zweige der Zahlentheorie sich entwickelten.

Andrew Wiles (* 1953), der den Großen Fermatschen
 Satz erst 1994 bewiesen hat. [Quelle]
Bleiben wir aber vorerst beim Fermatschen Problem selbst und berichten wir über den dermaligen Stand und wie sich nach Fermat die Dinge entwickelt haben! Es waren gewisse einzelne Werte des Exponenten n, für welche zunächst die Fermatsche Behauptung bewiesen werden konnte. Und zwar ist es nicht der Exponent n = 3, also nicht die Gleichung x3 + y3 = z3 gewesen, für die man zuerst die Unmöglichkeit einer Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z nachweisen konnte, sondern die Gleichung x4 + y4 = z4, also der Exponent n = 4. Hier ergaben historische Nachforschungen, daß schon Frénicle de Bessy (der etwa 1602-1675 lebte) in einer 1676 erschienenen Schrift einen Beweis darlegte, von dem man annimmt, daß er mit Gedankengängen übereinstimmt, die schon Fermat für diesen Fall skizzierte. Ohne etwas von der nicht sehr bekanntgewordenen Untersuchung Frènicles zu wissen, hat sieben Jahrzehnte später, im Jahre 1747, der berühmte Mathematiker Euler nicht nur das gleiche Resultat bezüglich der Gleichung x4 + y4 = z4 gewonnen, sondern er hat 1763 unbestritten als erster in dem wesentlich schwierigeren Fall x3 + y3 = z3 die Unmöglichkeit einer Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z zu beweisen vermocht‚ so daß man ihn als den ersten Bahnbrecher auf dem Gebiet des berühmten Problems angesehen hat. […]

Wieder verging mehr als ein halbes Jahrhundert, bis der Fall des Exponenten n = 5 und vierzehn Jahre später n = 7 erledigt werden konnte. Hat sich der erste der damals lebenden Mathematiker, der große Gauß, der so viele und verschiedenartige Probleme zu bewältigen wußte, niemals mit der von Fermat der Nachwelt hinterlassenen Aufgabe befaßt? Warum hat er dieses Problem nie erwähnt? Hielt er die Zeit dafür noch nicht reif und jene Gebiete noch nicht weit genug ausgebaut, auf denen fußend nachmals E. E. Kummer die bis heute weitreichendsten Fortschritte erzielen sollte? Gauß’ Nachlaß hat ergeben, daß er für die vorgenannten Fälle n = 5, n =: 7 etwa dieselben Beweise skizziert hatte, die dann von Dirichlet und Lamé veröffentlicht wurden. Hat er darin vielleicht nur Vorbereitungen zu einem allgemeinen Beweis für beliebige Exponenten n gesehen, den er nachmals, beim damaligen Stand der Zahlentheorie, noch nicht für fällig ansah? Wenn dies das Urteil eines Gauß gewesen sein konnte, soll man da nun lachen oder weinen über jene eingangs erwähnten vielzu vielen Preiswerber und über all die Harmlosen, die ohne Kenntnis vom Stand der Wissenschaft sich gleich an die Bezwingung ihrer schwerstumworbenen Probleme wagen?

Quelle: Heinrich Tietze: Gelöste und ungelöste mathematische Probleme aus alter und neuer Zeit. Band 2. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1982. ISBN 3-423-04399-7. Zitiert wurden Auszüge aus der 13. Vorlesung - Seite 104 bis 118

Tietze (1880-1964) hielt seine Vorlesungen in den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts und konnte den Beweis der Fermatschen Vermutung nicht mehr erleben.


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18. November 2019

Francis Poulenc: Klavierwerke

Der Komponist Francis Poulenc wurde im Jahr 1899 in eine wohlhabende Familie von Pharmaindustriellen hineingeboren. Seine Mutter, eine ausgezeichnete Pianistin, gab ihm die ersten Klavierstunden‚ als er erst fünf Jahre alt war. Als zehnjähriger konnte er einige Gedichte von Mallarmé auswendig hersagen und mit 16 Jahren nahm er Unterricht bei Ricardo Viñes, dem Freund von Debussy und Ravel, deren Werke er interpretierte. 1918 wurde Poulenc mit den Komponisten Georges Auric, Arthur Honegger, Darius Milhaud und Eric Satie bekannt; letzterer war der Widmungsträger seiner ersten veröffentlichten Komposition, der Rapsodie nègre. Im Jahr 1920 verlieh der französische Musikkritiker Henri Collet Poulenc, Auric, Honegger, Milhaud, Louis Durey und Germaine Tailleferre den Beinamen „Groupe des Six“. Diese von Satie und Jean Cocteau beeinflussten Komponisten standen infolge ihrer fortschrittlichen Ideen in einem etwas dubiosen Ruf.

Die vorliegende CD beginnt mit den Trois Mouvements perpétuels (1918), die bei pianistischen Amateuren beliebt waren. Im Jahr 1924 verbreitete sich Poulencs Ruhm dank seiner Musik für Diaghilevs Ballet Les Biches auch außerhalb von Paris. Etwa zehn Jahre später kam sein Freund Pierre-Octave Ferraud bei einem Autounfall ums Leben; dieses Ereignis berührte ihn so tief, dass er sich wieder dem katholischen Glauben seiner Familie zuwandte. Er schrieb eine Reihe von Chorwerken über geistliche Texte, sowohl a cappella als auch mit Orchesterbegleitung. Diese Chorwerke und viele andere markante Kompositionen für Klavier, verschiedene Kammermusikbesetzungen, Orchester, sowie Lieder und Opern bilden seinen unverwechselbaren Nachlass. Während des Zweiten Weltkriegs lebte er im besetzten Teil Frankreichs und 1947 hatte er mit seiner ersten Oper, Les Mamelles de Tirésias, einen Riesenerfolg. Im folgenden Jahr besuchte er die Vereinigten Staaten zum ersten Mal. 1963 steckte er mitten in der Arbeit an seiner vierten Oper über Cocteaus La Machine infernale, als er in Paris einem Herzanfall erlag.

Kennzeichen von Poulencs Œuvre sind das warm leuchtende Kolorit, die rhythmische Vitalität und originelle Harmonik; dazu kam eine ausgesprochen individuelle Synthese von Humor und Melodik (und, wie er selber postulierte, „beaucoup de pedale“). Diese Eigenheiten kommen in der Auswahl der vorliegenden CD, die etwa ein Drittel seiner solistischen Klavierwerke enthält, gut zur Geltung. Der überwiegende Teil seiner Kompositionen für das Instrument stammt aus den frühen 1930er Jahren; allerdings entstanden die ältesten hier aufgenommenen Werke — die Trois Mouvements perpétuels und die Sonate zu vier Händen — schon 1918, und die dritte Novelette, sein letztes Werk für Klavier solo, viel später, nämlich 1959. Poulenc behauptete, sein einfallsreichster Klaviersatz sei in der Begleitung seiner Lieder zu finden, aber seine solistischen Stücke sind von seinem ganz individuellen Stil belebt. Am Klavier fand Poulenc an erster Stelle seine kompositorische Sprache; nach eigener Aussage konnte er nie die Freude am Klavierspielen vom Bedürfnis zu komponieren trennen.

Quelle: Anonymus, im Booklet

Francis Poulenc (1899-1963)

TRACKLIST

Francis Poulenc (1899-1963)

Klavierwerke

    Trois Mouvements perpétuels (1918)
01. I.   Assze modéré                       01:19
02. II.  Très modéré                        01:01
03. III. Alerte                             02:43

    Trois Novelettes 
04. Nr.1 C-Dur (1928)                       02:54
05. Nr.2 b-moll (1928)                      01:59
06. Nr.3 e-moll (1959)                      02:23

07. Valse C-Dur (1919)                      01:51

08. Pastourelle (1927)                      02:11

    Suite française (1936)
09. Bransle de Bourgogne                    01:38
10. Pavane                                  02:33
11. Petite marche militaire                 01:00
12. Complainte                              01:24
13. Bransle de Champagne                    01:55
14. Sicilienne                              01:31
15. Carillon                                01:46

16. Presto B-Dur (1934)                     01:36

    Sonate pour Piano à quatre mains (1918)*
17. I.   Prélude                            02:11
18. II.  Rustique                           01:54
19. III. Finale (très vite)                 01:52

20. L'Embarquement pour Cythere (1951)*     02:08

    Suite C-Dur (1920) 
21. I.   Presto                             01:57
22. II.  Andante                            02:04
23. III. Vif                                01:28

    Trois Pièces (1928)
24. Pastorale                               02:27
25. Hymne                                   04:11
26. Toccata                                 02:03

27. Mélancolie (1940)                       05:43

28. Humoresque (1934)                       01:45

    Trois Intermezzi
29. Nr.1 C-Dur (1934)                       01:40
30. Nr.2 Des-Dur (1934)                     02:11
31. Nr.3 As-Dur (1943)                      04:16

    Villageoises (1933)
32. Valse tyrolienne                        00:36
33. Staccato                                00:46
34. Rustique                                00:39
35. Polka                                   00:31
36. Petite ronde                            00:41
37. Coda                                    00:54

38. Française (1939)                        01:36

39. Bourrée au Pavillon d'Auvergne (1937)   01:35

    Gesamt      75:07
Gabriel Tacchino, Klavier
*mit Jacques Février, Klavier

Aufgenommen: XII 1966 (1-8), III 1967 (9-16), X - XI 1972 (17-20), IV 1979 (21-23), X 1980 (24-28),
V 1982 (29-31), XII 1983 (32-38), X 1983 (39), Salle Wagram, Paris.
Produzent: Eric Macleod
Tonmeister: Paul Vavasseur (1-20), Serge Remy (21-23, 27-39), Daniel Michel & Serge Remy (24-26)

(P) 1968, 1973, 1982, 1985
(C) Compilation 2003 


Lukian: Das Gastmahl oder die Lapithen

(Philon (PHI) und Lykinos (LYK) (1,17)

Kentauromachie. Frontplatte eines Sarkophags, um 150 n.Chr, Marmor. Archäologisches Museum, Ostia
PHI. […] Aber sag mir zuerst: Hatte euch Aristainetos zur Hochzeit seines Sohnes Zenon eingeladen?

LYK. Nein, es war seine Tochter Kleanthis, die er dem Sohn des Eukritos zur Frau gab — du weißt schon: Vater Geldverleiher, Sohn Philosophiestudent.

PHI. Beim Zeus, ein ausnehmend hübsches Bürschchen, aber er ist doch noch ein zarter Junge und kaum alt genug, um zu heiraten!

LYK. Einen passenderen hatte er aber nicht, glaube ich. Und weil der einen ordentlichen Eindruck machte, sich zur Philosophie hingezogen fühlt und außerdem der einzige Sohn des reichen Eukritos ist, da hat er ihm vor allen anderen den Vorzug als Bräutigam gegeben.

PHI. Eukritos’ Geld — da nennst du keinen kleinen Grund! Jetzt aber, Lykinos: Wer waren die Gäste?

LYK. Warum sollte ich dir die übrigen alle aufzählen? Die Vertreter von Philosophie und Rhetorik hingegen, von denen du, glaube ich, in erster Linie hören willst, waren der alte Stoiker Zenothemis und mit ihm Diphilos‚ genannt ›Labyrinth‹, der Lehrer von Aristainetos’ Sohn Zenon; von den Peripatetikern Kleodemos, du weißt schon, der Zungenfertige, der Disputiermeister, ›Schwert‹ nennen ihn seine Schüler und ›Beil‹. Es war aber auch der Epikureer Hermon da, und schon bei seinem Eintreten sahen ihn die Stoiker böse an, wandten sich ab und bekundeten deutlich ihren Abscheu vor ihm wie vor einem Vatermörder und verfluchten Frevler. Sie alle waren als Aristainetos’ eigene Freunde und Bekannte zum Fest eingeladen worden, und mit ihnen der Grammatiker Histiaios und der Rhetor Dionysodoros. Chaireas, dem Bräutigam, zu Gefallen war auch sein Lehrer, der Platoniker Ion, zu Gast, ehrwürdig anzuschauen, jeder Zoll divin‚ und Zucht und Unbescholtenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben: Schließlich nennen ihn die meisten ja auch ›Maßstab‹ mit Blick auf die Geradheit seiner Anschauungen. Bei seiner Ankunft machten ihm alle Platz und begrüßten ihn wie einen von den Mächtigen, kurz: der Herrgott auf Besuch, das war’s, daß der vielbestaunte Ion gekommen war.

Schon wurde es Zeit, sich auf den Klinen niederzulassen, es waren beinahe alle da; auf der rechten Seite der Eintretenden nahmen die Frauen das ganze Liegesofa ein, ziemlich viele waren es, und unter ihnen die Braut, sorgfältigst verschleiert, von den Frauen schützend umgeben. Gegenüber der Tür lagen all die übrigen, jeder nach seinem Rang. Den Frauen gegenüber lagen zuerst Eukritos, dann Aristainetos. Dann gab es eine Diskussion, ob nun zuerst Zenothemis der Stoiker seinem Alter entsprechend folgen solle oder Hermon der Epikureer: Denn er war Priester der Dioskuren und entstammte der ersten Familie der Stadt. Doch Zenothemis löste diese Aporie: »Aristainetos,« sagte er, »wenn du mich hinter diesem Hermon da auf den zweiten Platz verweist, einem, um kein anderes Schimpfwort zu gebrauchen, Epikureer, dann lasse ich dich mit deinem ganzen Symposion hier stehen und gehe.« Mit diesen Worten rief er schon nach seinem Sklaven und sah aus, als wolle er den Raum verlassen. Da sagte Hermon: »Dann setz dich eben auf den ersten Platz, Zenothemis; allerdings hätte es dir gut zu Gesicht gestanden, einem Priester Platz zu machen, wenn schon aus keinem anderen Grund, wie sehr auch immer du den göttlichen Epikur verachtest.« — »Daß ich nicht lache‚« sagte Zenothemis, »ein Epikureer — und Priester!« und mit diesen Worten nahm er Platz, nach ihm dann trotzdem Hermon, dann Kleodemos der Peripatetiker, dann Ion und unterhalb von ihm der Bräutigam, dann ich, neben mir Diphilos und unterhalb von ihm sein Schüler Zenon, dann der Rhetor Dionysodoros und der Grammatiker Histiaios.

Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,
Westliche Langseite, Platte 528. British Museum, London
PHI. Potztausend, Lykinos, geradezu ein Musenheiligtum beschreibst du da, ein Symposion von fast ausschließlich weisen Männern, und ich muß den Aristainetos wirklich für seine Entscheidung loben, zu einem großen und wichtigen Fest anstelle anderer Leute die Weisesten der Weisen einzuladen, eine Blütenlese der jeweiligen Schulen, und nicht die einen schon, aber die anderen nicht, sondern alle ohne Unterschied.

LYK. Er gehört eben, lieber Freund, nicht zu diesen Allerweltsreichen, sondern die Bildung liegt ihm am Herzen, und er verbringt die meiste Zeit seines Lebens mit diesen Leuten.

Nun, das Essen verlief zuerst ganz ruhig, und die Speisenfolge war abwechslungsreich. Aber ich denke doch, das muß ich dir nicht alles aufzählen, die Brühen und die Kuchen und die übrigen leckeren Sachen: von allem im Überfluß. Indessen beugte sich Kleodemos zu Ion: »Siehst du den Alten«, sagte er — er meinte Zenothemis, ich hörte nämlich zu —, »wie er sich mit den Köstlichkeiten vollstopft‚ wie er sich seinen Umhang mit Suppe bekleckert, und was er alles seinem Sklaven hinter sich gibt: Und er glaubt, die anderen würden es nicht merken, aber er denkt nicht an die in seinem Rücken! Zeig das auch mal dem Lykinos, damit er Zeuge ist!« Ich brauchte aber Ions Hinweis gar nicht, hatte ich es doch schon viel früher bemerkt, da ich von meinem Platz aus alles gut überblicken konnte.

Kaum hatte Kleodemos das gesagt, da platzte uneingeladen der Kyniker Alkidamas herein, jenes bekannte Scherzwort auf den Lippen, wonach »ungerufen erschien Menelaos«. Die meisten fanden das unverschämt und unterbrachen ihn mit naheliegenden Entgegnungen: »Töricht handelst du, Menelaos«, skandierte der eine, der andere: »Nur Agamemnon, dem Sohne des Atreus, behagte das gar nicht«, und brummelten noch weitere zur Situation passende und elegante Bemerkungen in ihre Bärte: Offen zu reden traute sich allerdings keiner, denn sie fürchteten sich vor Alkidamas, der eben wirklich ein »Meister im Schlachtruf« ist und von allen Hunden der lärmendste Kläffer. Deshalb hielten ihn auch alle für eine bedeutende Persönlichkeit, und er jagte jedermann gewaltige Angst ein. Aristainetos wollte ihn auf einen Sessel neben Histiaios und Dionysodoros komplimentieren, aber er sagte: »Zum Teufel damit! Sessel und Liegen sind was für Weiber und Schlappschwänze wie euch, die ihr euch da auf diesem weichen Lager ausstreckt, ach was: fläzt, und es euch, auf Purpur gebettet, schmecken laßt. Ich hingegen ziehe es vor, im Stehen zu essen und dabei im Speisesaal auf und ab zu gehen. Und sollte ich müde werden, dann lege ich mich auf meinen Mantel und stütze mich auf den Ellbogen, wie Herakles auf den Bildern.« — »Aber bitte doch«, sagte Aristainetos, »wenn es dir so lieber ist.« Und so spazierte Alkidamas von nun an während des Essens im Kreis herum und wechselte wie die Skythen stets zur fetteren Weide, immer auf den Spuren der Speisenträger. […]

Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,
Südliche Schmalseite, Platte 526. British Museum, London
Auch bei den anderen Gästen kreiste der Becher jetzt unaufhörlich, man prostete einander zu und unterhielt sich, Lichter wurden hereingebracht. Da sah ich in all dem Getriebe den Diener, der bei Kleodemos stand, einen hübschen Mundschenk, verstohlen lächeln — ich soll ja wohl, denke ich, auch alles erzählen, was sich am Rande des Festes ereignete, vor allem, wenn es sich um delikatere Dinge handelt —, und gleich ließ ich ihn nicht mehr aus den Augen, um herauszufinden, warum er lächelte. Kurz darauf kam er nach vorn, um Kleodemos’ Schale entgegenzunehmen, der aber streichelte seinen Finger und drückte ihm, glaube ich, mit der Schale zwei Drachmen in die Hand. Der Diener lächelte wieder, als er ihm den Finger streichelte, allerdings bemerkte er, glaube ich, die Münzen nicht: So entglitten sie seinen Fingern und fielen geräuschvoll zu Boden, was die beiden erröten ließ, und zwar ziemlich. Die Gäste unmittelbar daneben fragten sich, wem die Münzen gehören könnten‚ denn der Diener bestritt, sie verloren zu haben, und Kleodemos, an dessen Platz das Geräusch zu hören gewesen war, tat so, als ob er sie nicht hätte fallen lassen. Nun, man wandte sich darüber anderen Dingen zu und vergaß die ganze Sache: Es hatten ohnehin nicht sehr viele mitbekommen, außer einem, wie mir schien: Aristainetos. Der ließ nämlich kurz darauf den Diener sich diskret entfernen und befahl zu Kleodemos einen von den schon älteren und kräftigen, einen Esel- oder Pferdetreiber. Ja, so ging diese Angelegenheit also aus, und es hätte für Kleodemos reichlich peinlich werden können, wenn sie bei allen Gästen die Runde gemacht hätte und nicht sofort von Aristainetos im Keim erstickt worden wäre, der den Übermut der Zecher bestens im Griff hatte. […]

Die meisten waren jetzt schon stark angeheitert, und der Speisesaal hallte wider von ihren lauten Unterhaltungen: Dionysodoros‚ der Rhetor, deklamierte irgendwelche von seinen Reden, eine nach der anderen, und sonnte sich in der Bewunderung der hinter ihm aufwartenden Diener; der Grammatiker Histiaios, der neben ihm lag, rezitierte Gedichte und vermischte dabei Verse von Pindar, Hesiod und Anakreon, so daß daraus ein einzelnes Lied entstand, das fürchterlich komisch war, vor allem aber, gerade als ob er das Kommende vorausgesagt hätte, diese Verse: »Sie ließen ihre Schilde zusammenstoßen«, und »gleichzeitig schrieen sie da vor Schmerz und vor Jubel«. Zenothemis hingegen las währenddessen aus einem Buch mit kleiner Schrift vor, das er sich von seinem Diener hatte geben lassen. […]

Denn nun trat in die Mitte des Saales ein Diener, der verkündete, er komme von Hetoimokles dem Stoiker. Er hatte ein Schreibtäfelchen bei sich und sagte, sein Herr habe ihm aufgetragen, dies allen öffentlich zu Gehör zu bringen und dann wieder zurückzukommen. Aristainetos gab ihm die Erlaubnis zu sprechen; so trat er also zur Lampe und las laut vor.

PHI. Wohl eines der üblichen Loblieder auf die Braut, Lykinos, oder ein Hochzeitsgedicht?

Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,
Östliche Langseite, Platte 522. British Museum, London
LYK. Das dachten wir natürlich auch, aber von wegen! Davon konnte keine Rede sein! Da stand vielmehr folgen- des: »Hetoimokles der Philosoph grüßt Aristainetos. Von meiner Einstellung zu Festessen legt wohl mein ganzes bisheriges Leben Zeugnis ab. Jedenfalls habe ich mich, obwohl mich jeden Tag viele Leute, die viel reicher sind als du, mit Einladungen bedrängen, noch nie so mir nichts dir nichts dafür hergegeben: Ich kenne doch das Gelärme und die Ausgelassenheit bei Gelagen! Nur in deinem Fall ärgere ich mich, zu Recht, wie ich meine: Da habe ich mich so lange und so intensiv um dich gekümmert, und nun hältst du mich noch nicht einmal für würdig, mich unter deine Freunde zu zählen, sondern ich allein bekomme nichts ab, dabei wohne ich direkt nebenan. Es bekümmert mich mehr für dich, daß so dein Undank offenbar wird; denn für mich liegt die Glückseligkeit nicht in einer Portion Schweine- oder Hasenbraten oder in einem Stück Kuchen, die ich bei anderen, die wissen, was sich gehört, reichlich genießen kann. Denn ich hätte heute auch bei meinem Schüler Pammenes ein vollendetes Festessen bekommen können — alle Welt spricht davon —, habe aber abgesagt, obwohl er gebettelt hat, weil ich Dummkopf mich für dich aufgehoben habe. Du aber hast mich übergangen und bewirtest andere — natürlich! Denn du hast ja noch nie einen Blick gehabt für das, was besser ist, und die kataleptische Phantasie besitzt du schon gar nicht! Aber ich weiß, wem ich das zu verdanken habe: deinen tollen Philosophen, Zenothemis und Labyrinth, denen ich — Adrasteia sei fern — im Handumdrehen mit einem einzigen Syllogismus das Maul stopfen könnte. Soll doch mal einer von ihnen sagen, was die Philosophie ist! Oder diese erste aller Fragen, worin sich die Schesis von der Hexis unterscheidet! Um gar nicht erst von den Aporien zu sprechen, dem ›Horn‹, dem ›Haufen‹ oder dem ›Schnitter‹.

Aber bitte, viel Glück mit ihnen! In der festen Überzeugung, daß allein das Edle gut ist, trage ich die Entehrung leicht. Trotzdem habe ich, damit du dich jedenfalls später nicht in die Ausrede flüchten kannst, du hättest die Einladung in dem ganzen Trubel bloß vergessen, dich heute zweimal angesprochen, einmal morgens vor dem Haus, dann später noch einmal beim Opfer im Dioskuren-Tempel. Somit bin ich gegenüber den Anwesenden entschuldigt. Wenn du aber jetzt glaubst, ich sei wegen des Essens wütend, dann denke an die Geschichte von Oineus: Da kannst du nämlich sehen, daß auch Artemis sich geärgert hat, weil er nur sie allein nicht zum Opfer holte, während er die anderen Götter alle bewirtete. Davon spricht Homer ungefähr folgendermaßen:

›Er vergaß es, oder dachte nicht daran, gewaltig war er verblendet in seinem Mute.‹

und Euripides:

›Das ist das Land Kalydon, der Peloponnes
Gegenüber, mit seinen glücklichen Feldern.‹

und Sophokles:

›Ein Schwein, ein gewaltiges Ding, zu den Feldern des Oineus
Sandte die Tochter der Leto, die fernhintreffende Göttin.‹

Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,
Westliche Langseite, Platte 521. British Museum, London
Nur ein paar Beispiele von vielen habe ich dir angeführt, damit du merkst, was für einen Mann du übergangen hast, um dafür Diphilos zu bewirten, und ihm deinen Sohn anzuvertrauen, natürlich: Er ist dem Bürschchen ja sehr zugetan, und sie verkehren miteinander voller Hingabe. Wäre solcher Klatsch nicht unter meinem Niveau, dann könnte ich mehr erzählen, und wenn es dich interessiert, kannst du dir vom Pädagogen Zopyros bestätigen lassen, daß es stimmt. Aber man soll ja keine Hochzeit stören und auch nicht andere Leute verleumden, und schon gar nicht mit so häßlichen Vorwürfen. Und wenn Diphilos es auch verdient hätte, wo er mir schon zwei Schüler abspenstig gemacht hat, so werde ich aber doch aus Liebe zur Philosophie schweigen.

Ich habe diesem Diener aufgetragen, für den Fall, daß du ihm ein Stück Schweinebraten oder Hirschfleisch oder Sesamkuchen für mich als Entschuldigung für das entgangene Essen mitgibst, es nicht anzunehmen, damit es nicht so aussieht, als hätte ich ihn eigens zu dem Zweck geschickt.«

Während dieser Lesung, lieber Freund, lief mir vor lauter Scham der Schweiß hinunter, und ich wäre am liebsten, wie man so schön sagt, in den Erdboden versunken, als ich sah, wie die Gäste bei jedem Satz lachten, vor allem diejenigen, die Hetoimokles kannten, einen schon ergrauten und ehrwürdig aussehenden Mann. Da wunderten sie sich nun, daß sie gar nicht gemerkt hatten, was für einer er wirklich war, und daß sie sich durch seinen Bart und sein ernstes und strenges Gesicht hatten täuschen lassen. Denn ich glaube, Aristainetos hatte ihn nicht aus Unachtsamkeit übergangen, vielmehr hätte er wohl nie zu hoffen gewagt, daß Hetoimokles eine Einladung annehmen oder sich für so etwas hergeben würde. Und so hatte er es nicht für der Mühe wert gehalten, es auch nur zu versuchen.

Als nun der Diener endlich fertig vorgelesen hatte, da wandten sich die Blicke aller Gäste auf Zenon und Diphilos, die vor Schreck ganz blaß geworden waren und deren hilflose Gesichter die Vorwürfe des Hetoimokles bestätigten; Aristainetos hingegen war ganz verstört und innerlich aufgewühlt, forderte uns aber trotzdem zu trinken auf, versuchte schmallippig lächelnd, den Vorfall vergessen zu machen, und schickte den Diener mit den Worten weg, er werde sich darum kümmern. Kurz danach stand auch Zenon auf und zog sich unauffällig zurück, nachdem sein Pädagoge ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen gegeben hatte, er solle auf Anordnung seines Vaters verschwinden.

Kleodemos hatte schon die ganze Zeit nur auf eine passende Gelegenheit gewartet - er wollte sich nämlich mit den Stoikern anlegen und platzte beinahe, weil er keinen rechten Anlaß finden konnte —, und jetzt, wo der Brief gewissermaßen den Startschuß gegeben hatte, sagte er: »Solche Früchte verdanken wir dem edlen Chrysipp, dem herrlichen Zenon und dem Kleanthes: unseliges Geschwätz, ewige Fragereien und philosophisches Posieren, aber eigentlich sind sie fast alle Leute wie Hetoimokles. Schaut euch diesen Brief an, ganz der eines ehrwürdigen Greises, und am Ende ist Aristainetos Oineus und Hetoimokles Artemis! Beim Herakles, nein, was für schöne Segenswünsche, und wie passend für ein Fest!« »Allerdings, beim Zeus!« sagte Hermon, der oberhalb von ihm lag. »Hetoimokles hat, denke ich, läuten hören, daß bei Aristainetos ein Schwein auf den Tisch kommen sollte, und daher hielt er es für nicht unangebracht, die Sprache auf den kalydonischen Eber zu bringen. Aber, bei Hestia, Aristainetos, schick dem Alten nur schleunigst seinen Teil am Erstlingsopfer, bevor er am Ende noch vor Hunger eingeht wie Meleager. Andererseits sollte ihm das doch nichts ausmachen: Chrysipp hielt so etwas ja für gleichgültig‚« »Ihr redet von Chrysipp?« fragte Zenothemis ziemlich laut und richtete sich auf. »Ihr nehmt einen einzigen Mann, der nicht einmal regelgerecht philosophieren kann, Hetoimokles den Scharlatan, zum Maßstab, um Denker wie Kleanthes und Zenon zu beurteilen? Wer seid ihr denn, daß ihr euch so zu reden traut! Hast du denn nicht, Hermon, den Statuen der Dioskuren die Locken abgeschoren, weil sie aus Gold waren? Dafür wirst du noch büßen, wenn du dich erst in den Händen des Henkers befindest. Und du, Kleodemos‚ hast du es nicht mit der Frau deines Schülers Sostratos getrieben und hast die peinlichsten Folgen tragen müssen, als man dich ertappt hat? Wollt ihr also nicht still sein, wo ihr genau wißt, was ihr auf dem Kerbholz habt?« — »lmmerhin mache ich nicht bei meiner eigenen Frau den Zuhälter«, antwortete Kleodemos, »so wie du, und ich habe mir auch nicht von einem ausländischen Schüler sein Reisegeld anvertrauen lassen und dann bei der Athena Polias geschworen, ich hätte es nie bekommen, und ich verleihe mein Geld auch nicht auf vier Prozent, und ich gehe meinen Schülern auch nicht an die Gurgel‚ wenn sie ihre Studiengebühren nicht pünktlich zahlen.« »Du wirst aber nicht abstreiten wollen«, sagte Zenothemis, »daß du dem Kriton für seinen Vater Gift verkauft hast.«

Michelangelo: Zentaurenschlacht, um 1492, Marmor, 84 x 90 cm.
Museo Casa Buonarroti, Florenz
Und mit diesen Worten schüttete er ihnen, er hatte nämlich gerade seinen Kelch in der Hand, seinen restlichen Wein, fast noch die Hälfte, ins Gesicht. Auch Ion, der daneben saß, bekam seinen Anteil ab, und verdient hatte er es durchaus. Hermon beugte sich vor, um sich den Wein vom Kopf zu wischen, und rief die Anwesenden zu Zeugen an für das, was man ihm angetan hatte. Kleodemos, der keinen Weinkelch hatte, drehte sich zu Zenothemis um, bespuckte ihn und packte ihn mit der Linken am Bart, um ihm eine runterzuhauen‚ und er hätte den Alten umgebracht, wenn Aristainetos ihm nicht die Hand festgehalten hätte, über Zenothemis hinübergestiegen wäre und sich zwischen sie gelegt hätte, damit sie, mit ihm als Sperrmauer‚ Frieden halten mußten. […]

Denn auch nachdem Aristainetos sich zwischen sie gelegt hatte, hörten Zenothemis und Kleodemos nicht auf, sich hartnäckig weiterzuzanken. Vielmehr sagte Kleodemos: »Für jetzt soll es genügen, wenn ihr als Dummköpfe entlarvt werdet, aber morgen will ich euch so in die Schranken weisen, wie es sich außerdem noch gehört. Antworte mir daher, Zenothemis, du oder der Tugendbold Diphilos, wie es kommt, daß ihr den Gelderwerb als gleichgültig bezeichnet, aber an nichts anderes denkt als bloß daran, wie ihr noch mehr anhäufen könnt, und euch deswegen immer an die Reichen haltet und Geld zu Wucherzinsen verleiht und Studiengebühren erhebt, und warum ihr die Lust verabscheut und die Epikureer anklagt, selber aber, wenn es euch nur Lust bereitet, die schlimmsten und peinlichsten Dinge tut und mit euch geschehen laßt und euch schon ärgert, wenn man euch nicht zum Essen einlädt. Lädt man euch aber ein, dann eßt ihr so viel, und so viel gebt ihr euren Dienern ...« — und mit diesen Worten versuchte er die Stofftasche an sich zu reißen, die der Sklave des Zenothemis hielt und die mit den verschiedensten Fleischsorten gefüllt war, und beinahe hätte er sie aufgemacht und das Fleisch auf den Boden geworfen, aber der Sklave ließ nicht los und hielt kräftig dagegen. Und Hermon sagte: »Bravo, Kleodemos! Sollen sie doch mal erklären, wieso sie die Lust anklagen, aber selbst mehr als alle anderen auf Lustgewinn aus sind.« — »O nein, sag du doch, Kleodemos«, antwortete Zenothemis, »wie du dazu kommst, den Reichtum nicht für etwas Gleichgültiges zu halten.« — »Nein‚ du!« Und so ging es einige Zeit hin und her […] und zugleich wurde uns der sogenannte ›letzte Gang‹ serviert, ein Vogel für jeden, Schweinefleisch, Hase, Bratfisch, Sesamkuchen und Knabberzeug, und das alles durfte man auch mit nach Hause nehmen. Es stand aber nicht eine Platte mit Essen vor jedem, sondern Aristainetos und Eukritos hatten eine zusammen auf einem Tisch, und jeder von beiden sollte das nehmen, was sich auf seiner Seite befand; Zenothemis der Stoiker und Hermon der Epikureer hatten genauso eine gemeinsame Platte, dann der Reihe nach Kleodemos und Ion, nach ihnen der Bräutigam und ich; Diphilos bekam Essen für zwei serviert, denn Zenon hatte ja das Fest verlassen. […]

Antonio Canova: Theseus tötet den Zentaur, 1805/19.
Kunsthistorisches Museum, Wien.
Hermon und Zenothemis lagen auf einer Kline, wie ich erzählt habe, Zenothemis weiter oben, Hermon unterhalb von ihm. Ihnen hatte man alles übrige in gleicher Menge serviert, und sie packten es friedlich ein; der Vogel, der vor Hermon lag, war allerdings (rein zufällig, glaube ich) ein klein wenig fetter: Aber auch die hätten sie, jeder seinen, einpacken sollen. Da ließ Zenothemis — paß gut auf, Philon, jetzt kommen wir nämlich zum Höhepunkt der Ereignisse —, Zenothemis, sagte ich, ließ seinen Vogel los und griff nach dem, der vor Hermon lag, weil der, wie gesagt, fetter war. Aber Hermon hielt ihn fest und wollte nicht zulassen, daß Zenothemis mehr haben sollte als er. Lautes Gezeter, dann fielen sie übereinander her, droschen einander die Vögel ins Gesicht, packten sich gegenseitig am Bart und riefen um Hilfe, Hermon den Kleodemos‚ Zenothemis Alkidamas und Diphilos, und die Herren ergriffen Partei, die einen für diesen, die anderen für jenen, außer Ion: Der wahrte strikte Neutralität. Die anderen jedoch kämpften, ineinander verkeilt. Da griff sich Zenothemis einen Pokal, der vor Aristainetos auf dem Tisch gestanden hatte, schleuderte ihn auf Hermon,

»und schoß an jenem vorbei, eine andre Bahn nahm das Geschoß«,

und spaltete dem Bräutigam den Schädel, die Wunde war ordentlich tief. Da kreischten die Frauen los, und die meisten sprangen aufs Schlachtfeld, vorne weg die Mutter des Bürschchens, als sie das Blut sah. Auch die Braut fuhr hoch, in höchster Angst um ihn. Bei all dem zeichnete sich Alkidamas als Kampfgenosse des Zenothemis aus und zertrümmerte mit seinem Knüppel dem Kleodemos den Schädel, dem Hermon zermalmte er den Kiefer, und er verwundete einige Diener, die ihnen zu helfen versuchten. Ihre Gegner ließen sich allerdings nicht so leicht in die Flucht schlagen, im Gegenteil! Kleodemos bohrte dem Zenothemis mit gestrecktem Zeigefinger das Auge aus, packte ihn an der Nase und biß sie ihm ab, und Hermon warf den Diphilos, der zur Unterstützung des Zenothemis herbeigeeilt war, kopfüber von der Kline herunter. Bei dem Versuch, sie zu trennen, wurde auch Histiaios, der Grammatiker, verwundet, indem er, glaube ich, von Kleodemos‚ der ihn für Diphilos hielt, einen Tritt in die Zähne bekam. Da lag er nun, der Arme, und »spie noch Blut«, ganz wie bei seinem Homer. Kurz, ein gewaltiges Durcheinander und Geheule. Die Frauen flatterten um Chaireas herum und schrieen und jammerten, die übrigen Gäste versuchten zu schlichten. Das größte Übel von allen stellte Alkidamas dar, der, nachdem er sich nun einmal zum Herrn des Schlachtfeldes gemacht hatte, auf jeden, der ihm in den Weg kam, eindrosch. Und viele wären zu Boden gegangen, da kannst du sicher sein, wenn er nicht seinen Knüppel zerbrochen hätte. Ich drückte mich aufrecht an die Wand und beobachtete alles, ohne mich einzumischen, wohl belehrt durch das Beispiel des Histiaios, wie riskant es ist, in einer solchen Situation vermitteln zu wollen.

Lapithen und Kentauren hättest du nun hier sehen können, umgekippte Tische, Blut in Strömen, Pokale im Flug. Zuletzt kippte Alkidamas die Lampe um und stürzte alles in tiefe Dunkelheit, wodurch die Sache natürlich nur um so schlimmer wurde. Denn so schnell hatten sie kein anderes Licht zur Hand, und viele schreckliche Dinge geschahen in der Dunkelheit. Als endlich jemand kam und Licht brachte, ertappten wir Alkidamas dabei, wie er gerade die Flötenspielerin auszog und vergewaltigen wollte, und Dionysodoros wurde bei einer anderen lustigen Sache erwischt: Ihm fiel nämlich beim Aufstehen ein Pokal aus dem Mantel. Er redete sich dann damit heraus, Ion habe ihn aufgehoben und ihn ihm in der Aufregung gegeben, damit er nicht verloren ginge, und Ion, rührend besorgt, bestätigte das.

Lucian von Samosata (120-180/200 n.Chr.).
Kupferstich von William Faithorne (1616-1591). [Quelle]´
So endete schließlich dieses tränenreiche Gastmahl doch noch in Gelächter über Alkidamas, Dionysodoros und Ion. Die Verwundeten wurden auf Bahren hinausgetragen; es ging ihnen schlecht, vor allem dem alten Zenothemis, der mit einer Hand seine Nase, mit der anderen sein Auge betastete und schrie, er sterbe vor Schmerzen, so daß Hermon, obwohl er selbst auch nicht gut dran war — zwei Zähne waren ihm ausgeschlagen worden —, das als Zeugenaussage gegen die stoische Philosophie nahm: »Denk daran, Zenothemis«, sagte er, »daß du den Schmerz für etwas nicht Gleichgültiges hältst!« Der Bräutigam wurde, nachdem Dionikos seine Wunde verarztet hatte, nach Hause gebracht, mit einem Verband um den Kopf; man hatte ihn auf den Wagen gelegt, auf dem er die Braut hätte heimführen sollen — ein bitteres Hochzeitsfest hatte der Arme gefeiert! Auch um die anderen kümmerte sich Dionikos, so gut er konnte, und sie wurden zum Schlafen nach Hause gebracht, wobei sich die meisten noch auf der Straße erbrachen. Alkidamas hingegen blieb, wo er war. Sie konnten den Kerl nicht hinausschaffen, nachdem er sich erst einmal quer über die Kline geworfen hatte und eingeschlafen war.

Das, werter Philon, war das Ende des Gastmahls, oder besser noch, ich zitiere jenen bekannten tragischen Schlußvers:

›In vielen Gestalten erscheint das Werk der Unsterblichen,
Vieles, was wir nie gehofft, führen die Götter zu Ende,
Vieles Gehoffte ward nicht vollzogen.‹

Denn in der Tat: Auch dies ging ganz gegen die Erwartung aus. Das jedenfalls habe ich gelernt: Daß es nicht ungefährlich ist, mit solchen Philosophen zu speisen, wenn man selbst kein Durchsetzungsvermögen besitzt.

Quelle: Lukian: Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke. Übersetzt von Peter von Möllendorff. Artemis &amb; Winkler, Düsseldorf/Zürich 2006. ISBN 3-7608-4121-2. Seiten 146 bis 166 (gekürzt)


Link-Tipps

Lukian spielt im Alternativtitel seines Textes auf die Kentauromachie an, was mich dazu verführt hat, ihn mit den entsprechenden Illustrationen zu ergänzen.

Ogmios war ein Gott der Gallier, den Lukian in seinem Essay »Der gallische Herakles« (um 175 u.Z.) beschreibt. Er hat in Südgallien ein Fresko gesehen, auf dem ein Greis dargestellt war, von dessen durchbohrter Zunge zu den Ohren der ihm folgenden Menschen feine goldene Ketten führten. Für Lukian äußert sich darin die Personifikation der Redekunst.


Mehr französische Klaviermusik in der Kammermusikkammer

Gabriel Faurè (Jean-Philippe Collard, 1970-1983). | Arthur Schopenhauer: Über die Freiheit des Willens.

Frédéric Chopin (Daniel Barenboim, 1974). | Philippe Ariès: Der gezähmte Tod. (Aus den »Studien zur Geschichte des Todes im Abendland«)

Erik Satie (Michel Legrand, 1993). | Die Seagram Murals von Mark Rothko.



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8. November 2019

George Gershwin: Rhapsody in Blue

Mit "Rhapsody in Blue" wollte George Gershwin den Amerikanern musikalisch eine eigene nationale Identität verleihen. Und mithilfe der Musik auch alle ethnischen und kulturellen Barrieren überwinden. Nicht zuletzt begründete der Komponist mit der "Rhapsody" auch seinen eigenen Weltruhm. Am 12. Februar 1924 wurde das Stück uraufgeführt.

"Das erste Solo in der Klarinette - das ist ein Aufruf." So beschreibt der Pianist Denis Matsuev den Beginn der "Rhapsody in Blue". Der signalhafte Aufstieg in der Klarinette fesselt die Zuhörer auf Anhieb. Bei der Uraufführung der "Rhapsody" in der New Yorker Aeolien Hall tobte das Publikum. Das Konzert vom 12. Februar 1924 schrieb Geschichte. George Gershwin hatte den Amerikanern ein Stück echte amerikanische Musik geschrieben. In ihr spiegelt sich auch das Leben im Schmelztiegel New York wieder, findet Denis Matsuev: "Das erste Thema assoziiere ich mit Amerika. Ich sehe gleich New York, die Freiheitsstatue, Manhattan, Jazzclubs, Birdland, Bluenotes, Jazz. Das ist ein Symbol von New York, von Amerika. Und alle anderen Themen, die es da gibt, sind mit fröhlichen Motiven verbunden. Es ist die Rhapsodie der Freude, die Rhapsodie des Glücks. Sie ist so optimistisch, so lebensbejahend."

Zunächst wollte Gershwin sie "American Rhapsody" nennen. Der Vorschlag "Rhapsody in Blue" kam von seinem Bruder Ira, mit dem er viel als Textdichter zusammenarbeitete. Der Name spielt auf die "Blue Notes" an, ein wichtiges Merkmal der Jazzmusik. Gershwin baut sie in seine Musik ebenso ein wie die für den Blues so charakteristischen, swingenden Rhythmen. Jazz steht für Freiheit. Kein Wunder, dass Gershwin sich für die Form der Rhapsodie entschied. Denn sie enthält kein vorgegebenes Schema, der Komponist ist total frei. "Mir gefällt der rhapsodische Stil, er ist so frei und lässt der Interpretation viel Raum", sagt Denis Matsuev. "Die 'Rhapsody in Blue‘ ist das Symbol für amerikanische Kultur und amerikanische klassische Musik, die mit Jazz vermischt ist. Jeder kennt die 'Rhapsody in Blue': sie ist Popmusik, Jazz und klassische Musik in einem - einfach alles und das ist genial."

George Gershwin (1898-1937)
In Auftrag gegeben hatte die "Rhapsody in Blue" der Bandleader Paul Whiteman. Er führte mit seinem Orchester gerne Stücke im Jazz-Stil auf, auch wenn sich diese Musik doch deutlich von dem originalen Jazz der Afroamerikaner unterschied. Whiteman schwebte eine Synthese von europäischer Kunstmusik und afroamerikanischem Jazz vor. Als er Gershwin um ein entsprechendes Stück für Klavier und Orchester bat, zögerte der Komponist. Gershwin hatte bisher vor allem Musik für Musicals geschrieben. Jazz hingegen war für ihn musikalisches Neuland. Whiteman half der Entscheidung nach, indem er Gershwins neue Komposition, von der noch keine Note existierte, kurzerhand in der Zeitung ankündigte – zusammen mit dem Datum der Uraufführung. Gershwin blieb keine Wahl. Innerhalb von drei Wochen schrieb er seine "Rhapsody in Blue".

"Eine Mischung. Natürlich ist es vorrangig klassische Musik. Gershwin gehört zu den klassischen amerikanischen Komponisten. Er ist eine Legende. Aber die 'Rhapsody' zählt ebenso zu den Jazz-Standardstücken. Ich spiele oft meine selbst komponierte Improvisation darüber. Beim echten Jazz schreibt man die Noten ja nicht auf. Jazz entsteht spontan. Natürlich kann man Jazz auch nach Noten spielen. Aber dann ist es kein echter Jazz. Die Rhapsody in Blue ist ein toller Jazz-Standard, ein fantastisches Thema. Aber erst wenn man darüber improvisiert, ist es wirklich Jazz."

Die "Rhapsody in Blue" enthält drei große Kadenzen für das Klavier. Bei der Uraufführung spielte Gershwin selbst den Solopart. Die Orchestrierung stammt nicht von ihm, sondern von Whitemans Arrangeur Ferde Grofé. Im Orchester spielen auch Instrumente mit, die man sonst eher in einer Big Band findet, wie beispielsweise das Saxophon. Einige Themen spielt das Orchester auch allein – ohne Klavier. Wie beispielsweise das lyrische Thema, das ein wenig an Rachmaninow erinnert.

Die Uraufführung der "Rhapsody in Blue" war ein großer Erfolg. Rachmaninow saß damals übrigens auch im Publikum. Bis heute hat die "Rhapsody" nichts von ihrer Faszination verloren. Denis Matsuev hat sie bereits mehr als 100 Mal im Konzert gespielt. Für ihn ist die Coda am Schluss immer wieder ein Höhepunkt: "Beim Schlussthema in der Coda kommt der Vulkan zum Ausbruch. Das kommt bei Publikum sehr gut an."

Quelle: Susanna Felix, am 12.02.2019 in BR Klassik

George Gershwin am Klavier

TRACKLIST

George Gershwin 
(1898-1937)

Rhapsody In Blue & Other Works


[1] Rhapsody in Blue (Originalfassung)      13:45
    Orchestrierung: Grofé
    Klavier: Wayne Marshall
    City of London Sinfonia
    
    Klavierkonzert F-Dur                    
[2] I.   Allegro                            14:00
[3] II.  Adagio - Andante con moto          13:11
    Trompete: Howard Snell
[4] III. Allegro agitato                     7:07
    Klavier: Daniel Blumenthal
    
[5] Ein Amerikaner in Paris                 18:39
    English Chamber Orchestra
    Stuart Bedford
    
[6] Cuban Overture                           9:44
    Saint Louis Symphony Orchestra
    Felix Slatkin
    
                        Gesamte Spieldauer: 76:36               
(P) 1997 
(C) 2003            


Ovid: Diana und Aktäon

Rembrandt: Das Bad der Diana mit Aktäon und Kallisto, um 1635,
Öl auf Leinwand, 168 x 93 cm, Museum Wasserburg Anholt
Publius Ovidius NasoMetamorphosen
Metamorphoseon LibriLiber Tertius, 138 - 252
AktäonDie Göttin im Bade
Prima nepos inter tot res tibi, Cadme, secundas
causa fuit luctus, alienaque cornua fronti
addita vosque canes satiatae sanguine erili.
at bene si quaeras, Fortunae crimen in illo,
non scelus invenies: quod enim scelus error habebat?

Mons erat infectus variarum caede ferarum:
iamque dies medius rerum contraxerat umbras
et sol ex aequo meta distabat utraque,
cum iuvenis placido per devia lustra vagantes
participes operum conpellat Hyantius ore:

‘lina madent‚ comites‚ ferrumque cruore ferarum,
fortunamque dies habuit satis; altera lucem
cum croceis invecta rotis Aurora reducet,
propositum repetemus opus; nunc Phoebus utraque
distat idem terra finditque vaporibus arva.
sistite opus praesens nodosaque tollite lina!’
iussa viri faciunt intermittuntque laborem.

Vallis erat piceis et acuta densa cupressu,
nomine Gargaphie, succinctae sacra Dianae,
cuius in extremo est antrum nemorale recessu,
arte laboratum nulla: simulaverat artem
ingenio natura suo; nam pumice vivo
et levibus tofis nativum duxerat arcum.
fons sonat a dextra tenui perlucidus unda,
margine gramineo patulos succinctus hiatus.
hic dea silvarum venatu fessa solebat
virgineos artus liquido perfundere rore.
quo postquam subiit, nympharum tradidit uni
armigerae iaculum pharetramque arcusque retentos;
altera depositae subiecit bracchia pallae,
vincla duae pedibus demunt; nam doctior illis
Ismenis Crocale sparsos per colla capillos
conligit in nodum, quamvis erat ipsa solutis.
excipiunt laticem Nepheleque Hyaleque Rhanisque
et Psecas et Phiale funduntque capacibus urnis.
Inmitten von so viel Glück gab dein Enkel dir, Kadmos, den
ersten Grund zur Trauer, dazu das fremde Geweih, das ihm auf
die Stirn gesetzt wurde, und ihr Hunde, gesättigt am Blut des
Gebieters. Doch erwägt man es wohl, dann findet man dabei nur Fortunas
Schuld, keinen Frevel, denn welche Sünde war’s, sich zu verirren?

Der Berg war schon gerötet vom Blut verschiedenen Wildes,
schon hatte die Mitte des Tages die Schatten der Dinge zusammen-
gezogen und die Sonne war gleich weit entfernt von beiden Enden
ihrer Bahn, als der böotische Jüngling den im Dickicht umher-
streifenden Gefährten des Weidwerks mit freundlicher Stimme zurief:

»Netze und Eisen triefen vom Blut der Tiere, ihr Freunde; Glück genug
brachte der Tag. Morgen, wenn auf ihrem safranfarbenen Wagen Aurora
wieder das Licht bringt, gehen wir, wie beschlossen, aufs Neue ans Werk.
Jetzt aber, da Phöbus von Morgen- und Abendland gleich weit entfernt ist
und durch seine Glut den Boden rissig werden läßt, macht eurem jetzigen
Tun ein Ende und holt die geknoteten Netze!«
Die Männer befolgen das Gebot und stellen die Arbeit ein.

Da war ein Tal, von Fichten und spitzen Zypressen beschattet,
Gargaphie mit Namen, der Diana im kurzen Jagdgewand
heilig. Im entlegensten Dickicht des Waldes ist dort eine Höhle,
nicht künstlich geschaffen: künstliche Bildung täuschte die ein-
fallsreiche Natur vor, denn sie hatte aus unbehauenem Bimsstein
und leichtem Tuff ein gewachsenes Gewölbe gebildet. Zur
Rechten rieselt eine Quelle, nicht reich an Wasser, aber ganz klar,
deren breites Becken ein Rasenrand einfaßt. Hier pflegte die
Göttin der Wälder, von der Jagd ermüdet, ihre jungfräulichen
Glieder mit schimmernden Tropfen zu netzen. Sobald sie dahin
gelangte, übergab sie ihrer Waffenträgerin, einer der Nymphen,
Spieß und Köcher samt dem entspannten Bogen. Eine andere
fing mit den Armen das abgeworfne Gewand auf, zwei lösen die
Riemen am Fuß, während, geschickter als jene, Krokale, die
Tochter des Ismenos, das den Nacken umwallende Haar in
einen Knoten faßt — sie selbst trägt es allerdings offen. Nephele
aber und Hyale und Rhyanis und Psekas und Phiale schöpfen
das Naß und gießen es dann aus weiten Gefäßen.

Tizian: Diana und Actäon, 1556-1559,
Öl auf Leinwand, 184 x 202 cm, National Galleries of Scottland
Dumque ibi perluitur solita Titania lympha,
ecce nepos Cadmi dilata parte laborum
per nemus ignotum non certis passibus errans
pervenit in lucum: sic illum fata ferebant.
qui simul intravit rorantia fontibus antra,
sicut erant‚ viso nudae sua pectora nymphae
percussere viro subitisque ululatibus omne
inplevere nemus circumfusaeque Dianam
corporibus texere suis; tamen altior illis
ipsa dea est colloque tenus supereminet omnis.
qui color infectis adversi solis ab ictu
nubibus esse solet aut purpureae aurorae,
is fuit in vultu visae sine veste Dianae.
quae, quamquam comitum turba stipata suarum,
in latus obliquum tamen adstitit oraque retro
flexit et, ut vellet promptas habuisse sagittas,
quas habuit, sic hausit aquas vultumque virilem
perfudit spargensque comas ultricibus undis
addidit haec cladis praenuntia verba futurae:
‘nunc tibi me posito visam velamine narres,
si poteris narrare, licet.’ nec plura minata
dat sparso capiti vivacis cornua cervi,
dat spatium collo summasque cacuminat aures,
cum pedibusque manus‚ cum longis bracchia mutat
cruribus et velat maculoso vellere corpus.
additus et pavor est. fugit Autonoeius heros
et se tam celerem cursu miratur in ipso.
ut vero vultus et cornua vidit in unda‚
‘me miserum!’ dicturus erat: vox nulla secuta est.
ingemuit: vox illa fuit, lacrimaeque per ora
non sua fluxerunt; mens tantum pristina mansit.
quid faciat? repetatne domum et regalia tecta
an lateat silvis? timor hoc, pudor inpedit illud.
Diana erfrischt sich eben im vertrauten Bad, doch siehe, der
Enkel des Kadmos — er hat zum Teil sein Tagwerk verschoben
und durchstreift ungewissen Schritts den unbekannten Wald —
gerät in jenen Hain! So wollte es sein Verhängnis. Sobald er die
Grotte betrat, die die Quelle befeuchtet, schlugen die
Nymphen, nackt wie sie waren, beim Anblick des Mannes
sich an die Brust, erfüllten zugleich mit kläglichem Schreien
den ganzen Wald, umringten Diana und deckten sie mit
ihren Leibern. Allein, höher gewachsen als sie ist die Göttin
selbst; um Haupteslänge überragt sie alle.
Die Röte, die Wolken färbt im Licht der Abendsonne oder der
purpurnen Aurora, die überzog Dianas Antlitz, weil man ohne
Gewand sie erblickte. So dicht sie auch die Schar ihrer
Gefährtinnen umringte, drehte sich sich doch zur Seite und
wandte das Gesicht ab. Wie gerne hätte sie nun die Pfeile zur
Hand gehabt, die sie hatte! So aber schöpfte sie Wasser und
spritzte es dem Mann ins Angesicht, und während sie auch
sein Haar mit dem rächenden Naß netzte, fügte sie
folgende Worte hinzu, Vorboten künftigen Unheils: »Jetzt
magst du erzählen, daß du mich ohne Schleier gesehn hast, wenn
du’s noch erzählen kannstl« Ohne weiter zu drohen, gibt sie sei-
nem feuchten Haupt das Geweih des langlebenden Hirsches,
gibt Länge dem Hals und läßt die Ohren ganz oben sich spitzen,
verwandelt die Hände in Füße, in schlanke Läufe die Arme und
hüllt in geflecktes Fell seinen Leib. Furchtsamkeit bekam er
dazu. Es flieht Aktäon, der Held, und daß er so flink ist, wun-
dert ihn eben beim Lauf. Als er im Spiegel des Wassers sein
Gesicht und das Geweih erblickte, wollte er »Ich Unseligerl«
rufen, doch es folgte kein Wort, er stöhnte nur. Das war nun
seine Stimme, und Tränen strömten über die Züge, die nicht die
seinen waren; nur Empfindung blieb ihm wie früher. Was soll er
tun? Soll er nach Hause, zur Königsburg sich begeben oder sich
bergen im Wald? Dies verbietet die Furcht und jenes die Scham.

Tizian: Der Tod des Actäon, 1559-1575,
Öl auf Leinwand, 178 x 198 cm, National Gallery, London
Dum dubitat, videre canes; primique, Melampus
Ichnobatesque sagax latratu signa dedere,
Gnosius Ichnobates, Spartana gente Melampus.
inde ruunt alii rapida velocius aura,
Pamphagus et Dorceus et Oribasus, Arcades omnes,
Nebrophonusque valens et trux cum Laelape Theron
et pedibus Pterelas et naribus utilis Agre,
Hylaeusque ferox nuper percussus ab apro
deque lupo concepta Nape pecudesque secuta
Poemenis et natis comitata Harpyia duobus,
et substricta gerens Sicyonius ilia Ladon,
et Dromas et Canache Sticteque et Tigris et Alce
et niveis Leucon et villis Asbolus atris
praevalidusque Lacon et cursu fortis Aello
et Thous et Cyprio velox cum fratre Lycisce
et nigram medio frontem distinctus ab albo
Harpalos et Melaneus hirsutaque corpore Lachne
et patre Dictaeo, sed matre Laconide nati
Labros et Agriodus et acutae vocis Hylactor
quosque referre mora est. ea turba cupidine praedae
per rupes scopulosque adituque carentia saxa,
quaque est difficilis quaque est via nulla, sequuntur.
ille fugit: per quae fuerat loca saepe secutus,
heu, famulos fugit ipse suos! clamare libebat
‘Actaeon ego sum, dominum cognoscite vestrum!’
verba animo desunt; resonat latratibus aether.

Prima Melanchaetes in tergo vulnera fecit,
proxima Therodamas, Oresitrophus haesit in armo
(tardius exierant, sed per compendia montis
anticipata via est); dominum retinentibus illis,
cetera turba coit confertque in corpore dentes.
iam loca vulneribus desunt; gemit ille, sonumque‚
etsi non hominis, quem non tamen edere possit
cervus‚ habet maestisque replet iuga nota querellis
et genibus pronis supplex similisque roganti
circumfert tacitos tamquam sua bracchia vultus.
at comites rapidum solitis hortatibus agmen
ignari instigant oculisque Actaeona quaerunt
et velut absentem certatim Actaeona clamant
(ad nomen caput ille refert) et abesse queruntur,
nec capere oblatae segnem spectacula praedae.
vellet abesse quidem, sed adest: velletque videre,
non etiam sentire canum fera facta suorum.
undique circumstant, mersisque in corpore rostris
dilacerant falsi dominum sub imagine cervi.

Nec nisi finita per plurima vulnera vita
ira pharetratae fertur satiata Dianae.
Während er noch schwankte, erblickten ihn seine Hunde, und
als erste gaben bellend Schwarzfuß Laut und Spürnase mit der
feinen Witterung. Spürnase stammte aus Kreta, Schwarzfuß war
von spartanischer Rasse. Gleich stürmen, schnell wie der Wind,
noch andre herbei: Allesfresser, Scharfauge, Bergsteiger — Arka-
dier alle —, Hirschkalbwürger, der starke, und mit Windsbraut
der schreckliche Hetzer, Flügelschlag, gut als Renner wie Fangab
als Spürhund, Waldmann, der wilde, vom Eber kürzlich ver-
wundet, Försterin — von einem Wolfe gezeugt —, und Hirtin, die
Schafen einst folgte, von zwei Jungen begleitet Harpyie, mit
schmächtigen Weichen Ladon aus Sikyon, Läufer und Kläffer
und Schecke und Tiger und Kraftvoll, dann mit hellen Zotteln
Schneeweißchen, Kohlschwarz mit dunklen, Spartakus, bären-
stark, Wirbelwind, unermüdlich im Laufe, Blitz und die schnelle
Wölfin mit ihrem Bruder aus Zypern, Packan mit dem weißen
Fleck mitten auf der schwarzen Stirn, Finsterling auch und
Flock, ganz struppig am Leibe, und — der Vater ein Kreter, die
Mutter aus Sparta — Meerwolf und Reißzahn und Blaff mit seiner
durchdringenden Stimme, dazu andere, deren Erwähnung
nur aufhält. Dieser Schwarm folgt voller Gier nach Beute über
Berg und Tal und Klippen und unzugängliche Felsen, da wo der
Weg beschwerlich ist und da, wo es keinen mehr gibt. Aktäon
flieht durch Gelände, durch das er so oft den Spuren des Wilds
gefolgt war. Ach, er flieht vor den eigenen Helfern! Gern wollte
er rufen: »Aktäon bin ich, erkennt doch euren Herrn!« Doch dem
Wünsche fehlen die Worte, es widerhallt vom Bellen der Äther.

Zuerst verletzte ihn Schwarzhaar im Rücken, dann Wildfang,
Bergbursche biß sich am Bug fest. Die waren später losgerannt,
doch hatten sie im Bergwald den Weg abgekürzt und Vorsprung
gewonnen. Während diese ihren Herrn festhalten, sammelt sich
die übrige Meute und gräbt ihm die Zähne in den Leib; schon fehlt es
an Raum für neue Wunden. Aktäon seufzt — der Laut, den er ausstößt,
ist zwar nicht menschlich, doch so, wie ein Hirsch nie schreien könnte
— und erfüllt mit Wehklagen das bekannte Gebirge, sinkt vorwärts auf
die Knie nieder, gleich einem, der demütig um Schutz fleht, und läßt
seine Blicke schweifen, als wären es bittende Hände. Aber seine Gefährten
treiben die rasende Meute mit den üblichen Rufen ahnungslos
an, halten Ausschau nach Aktäon, und, als wäre er fern, rufen sie
um die Wette Aktäon. Er wendet bei seinem Namen das Haupt.
Sie klagen, daß er nicht da sei, daß er, verspätet, das Schauspiel
des Fanges nicht mit ihnen teile. Da wünscht er zwar, fern zu
sein, doch er ist da! Er möchte nur sehen, nicht spüren das wilde
Treiben der eigenen Hunde! Von allen Seiten umdrängen sie ihn,
schlagen ihr scharfes Gebiß in seinen Leib und zerreißen ihren
Herrn in der trügerischen Erscheinung eines Hirsches.

Erst, als unter zahllosen Wunden sein Leben endete, war, so
sagt man, der Zorn der köchertragenden Diana gestillt.

Pieter van Liesebetten: Diana und Actäon, 1656-1660,
Kupferstich nach Tizian aus der Folge "Theatrum Pictorium", 21 x 31 cm.
Quelle: Ovid: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Gerhard Fink. Albatros, Mannheim 2010. ISBN 978-3-491-96280-4. Seiten 128-135


In der Kammermusikkammer ist gelegentlich auch Platz für großes Orchester:

Sergei Rachmaninow: Klavierkonzerte (Peter Rösel, Berliner Sinfonie-Orchester, Kurt Sanderling). | Italienische Dichter des Mittelalters, übertragen von Karl Vossler. 

Franz Liszt: Klavierkonzerte Nr. 1 & 2, Totentanz, Ungarische Fantasie. | Historisch-Musische Anagrammatik von Helmut Kracke, und Bilder von Minimax. "Am Anfang war auch Schnabel nur / Das Ende einer Nabelschnur."

Chopin: Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 (Alexis Weissenberg, 1967), | Erwin Panofsky: Interpretatio Christiana: "Antoninus Pius wurde in St. Peter verwandelt, Herkules zur Fortitudo, Phaedra zur Jungfrau Maria".

Mozart / Mendelssohn: Violinkonzerte mit Jascha Heifetz. | Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Maskenspiel der Genien: "Es ist eine traurige, aber unbestreitbare Tatsache, daß die Welt dem Phänomen Österreich mit tiefem Unwissen gegenübersteht."



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