3. April 2018

Oskar Werner spricht Gedichte von Mörike, Heine, Saint-Exupéry, Trakl

"Man kann schwelgen in Oskar Werners Kunst, in seiner selbstzerstörerischen Begabung, aber ich fürchte, man muß verstummen vor seiner Schönheit und seiner Stimme. Sein berühmtes Lächeln ist das eine, seine unendlich traurigen Augen das andere, was man festhalten möchte im Gedächtnis. Sie schimmerten so, als wären sie ständig zum Weinen bereit, nur klug genug, es nicht immer zu tun. Man hätte ihn so gern umarmt und gesagt: Komm halt dich fest, es wird schon wieder gut, und er hätte es sicher nicht gewollt." (Susanne Schneider)

Er ging immer vollkommen in seiner Kunst auf, denn seine Lebenskerze brannte gleichzeitig an beiden Enden. Zu Hause zwischen Tag und Traum, konnte sein Antlitz in frühen Jahren blitzschnell von dem eines Märchenprinzen zum schlimmsten Gassenjungen wechseln. Bis zu seinem tragischen Ende steckte beides in ihm: die reine Hölderlin-Seele und der Dämon der Besessenheit. Über den österreichischen Schauspieler Oskar Werner (1922-1984), dessen Credo "Zwei Luxusartikel habe ich mir stets geleistet: Zeit und Charakter" lautete, kann man auf verschiedenste Weise schreiben; ohne Emotionen aber ist es sicherlich nicht möglich, aber auch nicht ohne große Worte: Ihm waren der "Adel des Geistes" und die "Qualität des Gefühls" wichtig. Sein Charisma ließ ihn, der aus einfachsten Verhältnissen stammte, in den 50er- und 60er-Jahren zu einer ungewöhnlichen Weltkarriere starten, die ihn vom Wiener Burgtheater bis nach Hollywood führte. Nicht nur für Marlon Brando und Spencer Tracy war er der größte Schauspieler überhaupt. Nach seinem Tod verehren ihn noch heute seine Anhänger mit einer Selbstverständlichkeit, die sonst nur Popstars zuteil wird.

Werner faszinierte das Publikum mit der ihm eigenen Mischung aus Sensibilität, Charme und Entschlossenheit sowie dem unvergleichlichen Klang seiner Stimme, die seine Rilke-, Heine- und Wichert-Lesungen zu literarischen Offenbarungen machte. Er trug Gedichte nicht einfach vor, er gestaltete und verwirklichte sie. Es ging ihm um die Wahrhaftigkeit des Wortes. Seinen Wiener Akzent konnte er dabei nicht ganz verbergen, aber gerade das machte den Reiz aus. Während er im Theater meist in klassischen Rollen brillierte, verkörperte er im Film das, was später zum Idol einer neuen Schauspielergeneration werden sollte: Er stellte keine harten, beherrschenden Helden, sondern empfindsame Männer dar.

Oskar Werner
Oskar Werners Aufstieg hatte etwas Kometenhaftes: Mit 18 Jahren debütierte er als Guiliano Mocenigo in einem Stück mit dem bezeichnenden Titel "Heroische Leidenschaften"; mit 25 folgte das drei Generationen und zwei Weltkriege umspannende Kino-Epos "Der Engel mit der Posaune", bei dem sich Österreichs Schauspielerelite von Paula Wessely und Attila Hörbiger bis zu Maria Schell und Curd Jürgens ein Stelldichein gab. Der internationaler Durchbruch gelang dem überzeugten Pazifisten 1951 an der Seite von Hildegard Knef, O.E. Hasse und Richard Basehart als idealistischem Kriegsgefangenen Karl "Happy" Maurer in Anatol Litvaks Spionagedrama "Entscheidung vor Morgengrauen". Nachdem das Otto-Preminger-Projekt "Der Mann, der Hitler hinterging" nicht zustandekam, zerriß Werner vor den Augen der Studiobosse seinen Siebenjahresvertrag mit Twentieth Century Fox, um fortan wieder Theater zu spielen.

Als Hamlet feierte er 1953 in Frankfurt und 1956 in Wien legendäre Triumphe. "Er spielt den Hamlet nicht, er ist Hamlet", schrieb damals ein Kritiker. Von seinen Theaterauftritten gibt es leider nur wenige vollständige Dokumentationen; die Salzburger "Hamlet"-Inszenierung aus dem Jahr 1970, bei der Werner die Titelrolle spielte und Regie führte, sollte auf Zelluloid festgehalten werden, doch es kam zu Streitereien mit dem ORF; die Unflexibilität des Senders war auch Schuld daran, dass Anfang der 80er-Jahre Werners ehrgeizige "Faust"- und "Caesar"-Projekte nicht realisiert werden konnten. Drei Jahrzehnte zuvor war eine moderne "Don Carlos"-Adaption aus ähnlichen Gründen gescheitert.

Zum Glück kann man Oskar Werner heute noch in seinen Filmen bewundern: Unvergessen ist er als Ritterkreuzträger Wüst in G.W. Pabsts "Der letzte Akt". Seine Todessequenz im Führerbunker soll sich Marlon Brando 25 Mal hintereinander vorführen haben lassen. Weitere Sternstunden waren sein schüchterner Student in Max Ophüls "Lola Montez", der Truffaut veranlasste, ihm die Rolle des introvertierten Schriftstellers in "Jules und Jim" (1961) anzubieten. Es folgten die mit dem Golden Globe prämierte Darstellung des fanatischen Kommunisten Fiedler in Martin Ritts "Der Spion, der aus der Kälte kam" und der erst Bücher verbrennende, dann aber bewahrende Feuerwehrmann Montag in Truffauts Science-Fiction-Klassiker "Fahrenheit 451". Ob als jungenhaft wirkender Dirigent mit alter Seele in Kevin Billingtons "Zwischenspiel" oder als progressiver, vom Vatikan zum Schweigen verurteilter Geistlicher David Telemond in Michael Andersons "In den Schuhen des Fischers" – Werner nahm nur Rollen an, mit denen er sich auch identifizieren konnte.

Oskar Werner
Der Filmpart, der seinem Charakter am nächsten kam, war der des Bordarztes Dr. Wilhelm Schumann in Stanley Kramers Literaturadaption "Das Narrenschiff". Der Film, in dem unter anderen Vivian Leigh, Simone Signoret, Lee Marvin und Heinz Rühmann agieren, ist ein in seiner Detailfülle frappantes Kaleidoskop menschlicher Irrungen und Wirrungen vor dem Wetterleuchten des Zweiten Weltkriegs. Werners in Eigenregie gespielter Herztod gehört zu den ergreifendsten Momenten der Filmgeschichte. "Oft hat man mich gefragt, wo ich den Herzanfall studiert habe", erzählte er in einem seiner seltenen Interviews. "Ich habe ihn nicht studiert. Ich habe keinen Arzt konsultiert. So habe ich gefühlt, müsste es sein. Das ist dann innere Wahrheit." Werner erhielt für diesen Part zahlreiche Preise; lediglich der "Oscar", für den er nominiert war, blieb ihm verwehrt.

Es gibt wahrscheinlich kaum einen anderen Schauspieler, der so viele lukrative Filmangebote (die Zahl von 300 Drehbüchern ist verbürgt) als "Verrat am guten Geschmack" abgelehnt hat, darunter auch Wises "Sound of Music", Antonionis "Blow Up", Viscontis "Ludwig II." und Syberbergs "Karl May". Obwohl er Spitzengagen fordern konnte, hatte Geld keine Macht über ihn. Trotz dreifacher Gagenerhöhung weigerte er sich etwa, für seinen Freund Stanley Kramer einen sympathischen Nazi in "Das Geheimnis von Santa Vittoria" zu spielen. Nachdem er die für sein Empfinden zu gewalttätige Dystopie "Uhrwerk Orange" gesehen hatte, lehnte er es ab, in "Barry Lyndon" mitzuspielen. Zuvor war allerdings ein anderes Kubrick-Projekt nicht zustande gekommen, in dem er gerne die Hauptrolle übernommen hätte: "Napoleon". "Oskar Werner Bonaparte" trug sich stets auch mit vielen eigenen Filmplänen, die meistens aus Finanzierungsgründen scheiterten, beispielsweise Dürrenmatts "Die Physiker" mit Peter Ustinov und Danny Kaye oder das von ihm verfasste Drehbuch "Der andere Narr".

Immer wieder verkrachte sich der unbeugsame Perfektionist ("Anpassungsfähigkeit ist eine Eigenschaft, die ich nicht anstrebe") mit Regisseuren, Produzenten und Intendanten. Die Auseinandersetzung mit dem von wacher Intelligenz geleiteten Schauspieler-Genius hielt Truffaut seinerzeit in einem Drehtagebuch für die Cahiers fest. Die Legende, dass die beiden Stur- und Charakterköpfe nach diesem Streit bis zu ihrem Tod kein Wort mehr miteinander gesprochen hätten, ist inzwischen revidiert: Werners letzte Lebensgefährtin Antje Weisgerber berichtete, dass sich "O. W." und Truffaut in der 70er-Jahren ausgesöhnt hätten.

Wie seine berufliche Laufbahn verlief auch sein privates Leben turbulent: Der Mann, der mit seinem – auch in zunehmenden Alter – jugendlichen Antlitz die Frauen magisch anzog, war zwei Mal verheiratet. Aus der ersten Ehe mit Elisabeth Kallina entstammte die Tochter Eleonore, aus der Liason mit dem Model Diane Anderson der Sohn Felix Florian, der in den USA als Independent-Produzent fungiert. Antje Weisgerber, mit der Werner von 1970 – 79 in Liechtenstein und Paris zusammenlebte, mußte ihre eigene Karriere für den "Teixl" (Werner über Werner) völlig zurückstellen. An seiner zunehmenden Alkoholsucht und seiner manischen Depressivität zerbrach diese Liebe: "Die Zeit mit ihm war so verrückt und wunderschön, aber im Grunde nicht zu leben", erinnert sich Antje Weisgerber. "Er war der größte Egozentriker, den ich kannte. Wohlgemerkt: Egozentriker, nicht Egoist. Er hat das ganze Weltleiden auf sich bezogen."

In den letzten Lebensjahren war Oskar Werner sehr einsam. Auch seine Freunde konnten ihm nicht helfen. Er zog sich immer mehr in die innere Emigration zurück. Sein letzter Filmauftritt war die Rolle des resignierten Professors Kreisler in Stuart Rosenbergs "Die Reise der Verdammten" (1976). Einer von Werners häufigsten Aussprüchen, "Mein Theater ist tot", bezog sich auch darauf, dass seine Vorbilder Werner Krauß, Spencer Tracy und Charles Laughton längst nicht mehr lebten. Werners Tod kam – wie in einer seiner Rollen – als Tragödie vorprogrammiert, aber dennoch unerwartet: Am 23. Oktober 1984 erlag er – kurz vor einer Rezitationstour durch die Bundesrepublik – in Marburg einem Herzinfakt. Nur eine Woche vorher hatte er mit einer Lesung im ausverkauften Salzburger Mozarteum "standing ovations" erhalten. Die Beerdigung fand im engsten Kreis in seiner Wahlheimat Liechtenstein statt. So fand ein ewig Suchender seine letzte Ruhe, der in gesunder Verfassung mit seinem leidenschaftlichen Berufsethos und seiner unbestechlichen Wahrheitsliebe der heutigen Film- und Theaterwelt noch sehr viel hätte geben können.

Quelle: Marc Hairapetian: The Wonder Kid. Zum 80. Geburtstag Oskar Werners. Erschienen im Filmdienst 23/2002, gespiegelt auf dem „Oskar Werner Portal“ von M. Grassberger

Die Zitate von Antje Weisgerber sind Gesprächen mit dem Verfasser entnommen. Er ist Mitautor der Werkanalyse "Oskar Werner – Das Filmbuch" (Hrsg. von Raimund Fritz, Filmarchiv Austria, Wien 2002) und plant unter dem Titel "Genie zwischen Tag und Traum" die Veröffentlichung seiner O.W. Biografie. Seit 34 Jahren betreibt er das SPIRIT Fanzine (Berlin) „für Film, Theater, Musik, Literatur & Hörspiel“


Track 1: Eduard Mörike: Gelassen stieg die Nacht ins Land

TRACKLIST


Oskar Werner spricht Gedichte von Mörike, Heine, Saint-Exupéry, Trakl


   Eduard Mörike (1804-1875)

01 Gelassen stieg die Nacht ans Land         0:55
02 Tödlich graute mir der Morgen             0:43
03 Wenn ich, von deinem Anschaun             0:52
04 Der Spiegel dieser treuen braunen Augen   0:36
05 Was doch heut Nacht ein Sturm gewesen     0:52
06 Ja, mein Glück, das lang gewohnte         1:12

   Heinrich Heine (1797-1856)

07 Ich hab in meinen Jugendtagen             8:20
08 Mir träumte                               0:50
09 Man glaubt, dass ich mich gräme           0:53
10 Lehn deine Wang’ an meine Wang’           0:40
11 Auf den Flügeln des Gesanges              0:44
12 Entflieh mit mir                          0:28
13 Wie kannst Du ruhig schlafen              0:31

   Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944)

14 Hymne auf die Stille                      6:44
15 Gebet der Einsamkeit I & II               5:25
16 Hymne an die Nacht                        2:10

   Georg Trakl (1887-1914)

17 Gesang zur Nacht I - XII                  8:04
18 Confiteor                                 0:54
19 Zigeuner                                  1:00
20 Crucifixus                                0:50
21 Die junge Magd                            4:20
22 In ein altes Stammbuch                    0:55

                           Gesamtspielzeit: 49:54

Gesprochen von Oskar Werner

(P) 1956 
(C) 2004 

Track 11: Heinrich Heine: Auf den Flügeln des Gesanges


Traum und Wirklichkeit


George Grosz im Exil - Die amerikanischen Jahre (1933-1959)

Grosz als Clown und Varietégirl, 1958
Das Pamphiet »Kunst und Rasse« von Paul Schultze-Naumburg erschien 1928, ein Jahr später gründeten Alfred Rosenberg, Heinrich Himmler und andere Nationalsozialisten den »Kampfbund für deutsche Kultur«. Der nationalsozialistische Innenminister in Thüringen, Wilhelm Frick, dessen Ressort auch die »Volksbildung« umfaßte, erließ 1930 eine »Verfügung gegen die Negerkultur«. Kurz darauf konnten die Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen im September 95 Sitze dazugewinnen und waren damit nach der SPD zweitstärkste Partei. Die Repressionen gegen unabhängige und linke Künstler nahmen immer mehr zu. Der Exodus deutscher Künstler und Intellektueller begann: Kurt Tuchoisky, Herwarth Walden, Georg Lukács, Carl Einstein und viele andere verließen das Land noch vor der »Machtergreifung«.

George Grosz hatte das Glück, 1931 von der Art Students League in New York eine Einladung zu erhalten, im Sommer 1932 dort zu lehren. Es erfüllte sich für ihn ein Jugendtraum. Man darf aber die Ironie, die in den Schilderungen vom neuen Erlebnis Amerika liegt, nicht übersehen: »Aus Amerika kamen die tollsten Geschichten. Da sollte es handtellergroße Pflaumen geben, so gezüchtet, daß sie, wenn man sie mit einem bestimmten Wort ansprach, sich öffneten und von selbst den Pflaumenkern ausspuckten.« Grosz unterrichtete während des Sommersemesters. In seiner Freizeit ging er ins Kino, Variete oder in Burlesque-Shows, vielleicht auch in die Dime-museums, die boten, was er als Kind bei Barnum & Baiiey gesehen hatte.

George Grosz: Erinnerung an New York, 1915/16
Ein gewisser Reverend John Mingen schrieb ihm kurz nach seiner Ankunft einen Brief in deutscher Sprache, der eine Warnung enthielt: »Hüten Sie sich, Herr Grosz, durch Ihre Arbeiten die Mentalität aller christlich denkenden Amerikaner zu verletzen; hüten Sie sich vor dem moralischen Richterspruch der christlichen Religionen in den USA.« Gewissen Kreisen in Amerika war durchaus bekannt, daß der gefürchtete Satiriker und Sozialkritiker Grosz sich auf den Weg in ihre Heimat gemacht hatte. Dabei gab es keinen Grund zur Sorge. Wie bei vielen Exilanten war Grosz durch den Ortswechsel der Boden entzogen. Wir haben die Zeichnung Erinnerung an New York von 1915/16 noch im Gedächtnis. Vergleichen wir sie mit dem 1932 in New York entstandenen Blatt Straße, New York, so fallen die Unterschiede ins Auge. Die Vision wurde zur erlebten Realität. Diese mag noch so gekonnt geschildert sein, sie ist langweiliger. Die frühe Darstellung entstammte dem Bewußtsein eines Mangels, der Sehnsucht nach einem Idealbild oder zumindest einem Anderen. Die Erfüllung dieser Sehnsucht, die Aufhebung dieses Mangels führte nicht zur Zufriedenheit, sondern wurde von Grosz durchaus als schmerzhaft empfunden, was ihn in Zynismus und, metaphorisch gesprochen, in die »Selbstverbrennung« trieb. Die New Yorker Zeichnung gibt wieder, sie analysiert nicht und sie phantasiert nicht.

Im Oktober 1932 kehrte Grosz nach Deutschland zurück, um sich zusammen mit seiner Frau am 12. Januar 1933 zur endgültigen Übersiedelung nach New York einzuschiffen. Am 30. Januar wurde Hitler Reichskanzler. In Amerika herrschte der Tiefpunkt der Depression: »Man sah im Winter Frauen in Pelzmänteln auf der Straße Äpfel verkaufen, und manch gutgekleideter Passant stand in der Schlangenlinie vor den Hearst-Wagen an, wo Brot und Suppe gratis verteilt wurden. Aber ich hatte durch so viele Jahre Schlimmeres wahrgenommen und zu Papier gebracht, daß mir diese ja auch nicht besonders aufdringlichen Erscheinungen keineswegs abnorm vorkamen.«

George Grosz: Straße, New York, 1932
Neben seiner Lehrtätigkeit versuchte Grosz, wie zu seiner Anfangszeit, Zeichnungen oder Illustrationen bei Zeitschriften unterzubringen, was ihm — mit Ausnahme des satirischen Blattes »Americana« — nur selten gelang. Zu dieser Zeit, so berichtet er, habe sich eine Wandlung hin zum Künstler vollzogen. Er wandte sich dem Studium der Natur zu und begann, seine Vergangenheit zu verdammen. »lch verweise heute mehr denn je«‚ so schrieb er in seiner Autobiographie, »die Karikatur auf einen rückwärtigen Platz in der Kunst und halte Zeiten, in denen sie zu sehr hervortritt, für Verfallszeiten. Denn Leben und Sterben sind, mit Verlaub gesagt, große Themen — es sind keine Themen für Hohn und billige Späße.«

Im Rahmen der amerikanischen Kunst der Zeit saß Grosz zwischen allen Stühlen. John Sloan hatte sich für die Berufung Grosz’ an die Art Students League ausgesprochen. Darüber war ein Streit entbrannt, dessentwegen Sloan den Vorsitz der League autgab. Sloan gehörte zu einer nicht organisierten Gruppe von unterschiedlichsten Malern, die soziale Themen (auch im weiteren Sinne) aufgriffen, unter ihnen die Mexikaner Diego Rivera, Clemente Orozco und, ein Bewunderer Grosz’ seit langer Zeit, Ben Shahn. Eine andere Tendenz war der sogenannte Regionalismus, dem etwa Thomas Benton, der Lehrer Jackson Pollocks, Grant Wood oder Reginald Marsh zuzurechnen waren. Eine Strömung der Kunstkritik versuchte, Grosz als Antimodernisten zu vereinnahmen, als Gegenpart zu der »degenerierten« Moderne eines Picasso, Matisse oder Brancusi. Thomas Craven hieß der Kritiker, der 1934 ein Buch über »Modern Art« geschrieben hatte, das im Tonfall dem der Äußerungen zur »Entarteten Kunst« nur wenig nachstand. Die moderne französische Kunst wurde vor allem von Alfred H. Barr Jr., dem Direktor des Museum of Modern Art, propagiert.

George Grosz: Schriftsteller, was?, 1935
Grosz zeichnete und aquarellierte amerikanische Typen und Landschaften. Vereinzelt begann er auch wieder mit der Ölmalerei. Das Aquarell Broadway von 1935 läßt in Anklängen frühere Stilelemente erkennen. Ein fundamentaler Unterschied besteht jedoch: Die Distanz, die Sicht von einem übergeordneten Standpunkt, ist weg. Grosz schildert das Großstadtleben als Beteiligter, gewissermaßen aus der Ameisenperspektive.

Bis 1936 lehrte Grosz an der Art Students League, parallel dazu bis 1937 an der von ihm übernommenen Sterne-Grosz-School, wo er meist Damen der höheren Gesellschaft das Zeichnen und Malen beizubringen versuchte. An freien Arbeiten konnte er wenig verkaufen oder in Zeitschriften unterbringen. Er fertigte Illustrationen für einen Band mit Kurzgeschichten von O'Henry. Von diesen 21 Aquarellen wurden später sechs in der Mappe »Bagdad-on-the-subway« (so nannte O’Henry das New York seiner Geschichten, die um die Jahrhundertwende spielen) als farbige Lichtdrucke veröffentlicht. Von 1937 bis 1939 bekam er ein Guggenheim-Stipendium, mit dessen Hilfe er unabhängig arbeiten konnte. Generell ging es Grosz in Amerika nicht schlecht, er konnte sich ein Auto und eine Hausangestellte leisten, er war nicht reich, hatte aber sein Auskommen. 1935 unternahm er eine Europareise, fuhr nach Paris, besuchte in Dänemark seinen Freund Bert Brecht, der bald darauf ebenfalls nach Amerika emigrieren sollte, und kehrte über Holland, wo er seinen Studienfreund Herbert Fiedler traf, wieder nach New York zurück.

George Grosz: Progress, 1935/36
In Amerika wollte Grosz sich anpassen, »sich wichtig und geschickt in die amerikanischen Verhältnisse […] einfügen. Ich wollte nicht so sein wie manche, die ich von drüben getroffen und die auf ihre Unfähigkeit, sich einzuordnen, womöglich noch stolz waren.« Er versuchte, ein »amerikanischer Illustrator« zu werden. Hier stecken zwei Widersprüche. Zum einen klaffte zwischen dem Traum vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auch dem Land von Lederstrumpf und der Realität eine große Lücke. Zum zweiten war Grosz nie ein Illustrator gewesen. Letzteres machte ihm Schwierigkeiten, denn obwohl er zwei Jahre für den »Esquire« kleine Zeichnungen lieferte, beklagte er, daß er die von ihm so bewunderte Einfachheit und Normalität der amerikanischen Illustration nicht erreichen könne. Bei seinen Aquarellen flösse die Farbe über die Randlinien. Das ist ein Euphemismus. Betrachtet man nämlich seine Aquarelltechnik dieser Zeit genauer, so läuft die Farbe oft giftig und aggressiv ins nasse Papier, frißt sich in die Umrisse hinein und darüber hinaus.

Als Grosz 1934 vom Tode seines Freundes Erich Mühsam im Konzentrationslager erfuhr, brach der alte Furor noch einmal durch. Er kulminierte in der 1936 bei der Black Sun Press erschienenen Mappe »Interregnum«‚ mit einer Einleitung von John Dos Passos. Die Mappe enthielt 60 Photolithographien nach Zeichnungen hauptsächlich aus den Jahren 1924 - 1936, darunter auch das Blatt Remember, das er anläßlich der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts vermutlich schon 1919 gezeichnet hat. Man erkennt die Ohnmacht, die Grosz angesichts des Erfolges Hitlers empfand. Eine Gruppe von Zeichnungen befaßt sich damit, wie die Dinge wirklich sind, darunter Progress. Die fette, mit Soldatenstiefeln versehene Figur, die mit blutig baumelnder Peitsche ihren Weg abschreitet, läßt ihre Opfer am Wegesrand liegen. Die Mappe war ein Mißerfolg, sie wurde von der Kritik in absurder Weise beurteilt. Man hielt den deutschen Faschismus 1936 — gerade zur Zeit der Olympiade — nicht für das Monster, als das Grosz ihn darstellte. Ein Kritiker vermißte die klare politische Linie, das Erkennen einer Parteilichkeit. Von den geplanten insgesamt 300 Exemplaren wurden nur einige wenige gedruckt und verkauft.

George Grosz: Kain oder Hitler in der Hölle, 1944
Die Resignation, die Grosz in den USA erfaßte, war zurückzuführen auf die bittere Erkenntnis, daß sein künstlerisches und politisches Engagement keine Wirkung zeigte. Eine Schlüsselpassage dafür ist in der Autobiographie die Begegnung mit Thomas Mann und dessen Frau. Diese stellte Grosz die Frage, wie lange er glaube, daß sich Hitler an der Macht halten könne. Während Thomas Mann 1933 bei einer früheren Begegnung gemeint hatte, langer als sechs Monate könne der Spuk nicht dauern, erwiderte Grosz nun: »›Wenn auch Sie mit den sechs Monaten rechnen, an die Ihr Mann glaubt, dann täuschen Sie sich aber schwer. Meiner Meinung nach wird das eher an sechs Jahre dauern — vielleicht sogar zehn, gnädige Frau‹, fügte ich stechend hinzu. ›Auf jeden Fall viel länger, als Sie und Ihr Herr Gemahl sich das vorstellen!‹« Mann antwortete etwas von oben herab mit dem Verweis auf die Jugend Grosz’, er selbst habe als junger Mensch auch solche Anwandlungen gehabt, man müsse optimistisch sein. Bekanntlich behielt Grosz recht.

Ab 1933 fanden die ersten »Schandausstellungen« mit »entarteter« Kunst statt, eine Reihe, die ihren Höhepunkt in der Münchener Ausstellung »Entartete Kunst« 1937 erreichte. Grosz war einer der meistgehaßten Künstler der Nationalsozialisten. 285 Arbeiten von ihm wurden aus deutschen Sammlungen entfernt, in München zeigte man fünf Gemälde, zwei Aquarelle und 13 graphische Blätter. In Wolfgang Willrichs üblem Pamphlet »Die Säuberung des Kunsttempels« taucht an 20 Stellen Grosz’ Werk auf, öfter als das von Dix etwa. Grosz schrieb 1933 an seinen Freund und Gönner Felix Weil, der ihn von den Anfangszeiten an unterstützt hatte: »Im Geheimen bin ich darauf sogar ein bißchen stolz — ja, da hatte eben ›Kunst‹ einen Zweck.«

George Grosz: Der Maler des Lochs, entwurzelt, 1947/48
Im Jahr darauf, 1938, wurde Grosz von den Nazis ausgebürgert, erhielt aber die amerikanische Staatsbürgerschaft. Der sich abzeichnende Krieg veranlaßte ihn zu einer Reihe von Bildern, die, ähnlich wie bei Otto Dix, apokalyptische Visionen beschworen, mit Vorbildern von Bosch bis Ensor. Diese Phase, begleitet von eher belanglosen‚ »künstlerischen« Akten, setzte sich während des Krieges fort. Er wurde zu einem Anhänger Swedenborgs, der die Hölle bereits auf Erden verwirklicht sah. Resignation und Depression wurden immer stärker.

Nach dem Krieg erfand Grosz die »stickmen«‚ die Stockmänner. Alles, was diese an Malerei zustandebringen, sind Löcher. ln einem Brief an Bert Brecht 1947 beschrieb er Bilder, die den Maler des Lochs zum Thema hatten: »sie bestehen aus dünnen, aber festgefügten Strichen, aber geben keinen Schatten, sie sind auch ganz grau; ihr Feldzeichen (wie die Römer sowas nannten) ist ein wirkliches zerfetztes Leinewand—Loch. Doll. Der Maler hat um sich 100 lochartige Entwürfe (er ist — er erinnert das ganz dunkel, aber doch erinnert er's genau — auch an ›Schönheit‹ interessiert: z. B. meint er die ganz-ganz-ganz fein-feinsten Schattierungen der Graus — alles ist nämlich grau dort. […] Die Ratten — ja, Du denkst was, und schon läuft ’ne Ratte in die Ecke.« Das dürfte die Beschreibung des eigenen Zustandes gewesen sein.

Von einem Kaufhausbesitzer in Dallas, Texas, bekam er 1952 den Auftrag, lmpressionen, Menschen uncl Industrie aus Dallas zu malen. Diese Aquarelle erinnern noch einmal an seine amerikanische Frühzeit. Nach einer Deutschlandreise im Jahr 1954 und mehreren Lehraufträgen in den USA entschied er sich — 1958 war er in Berlin (West) zum Mitglied der Akademie der Künste ernannt worden —, 1959 endgültig nach Berlin zurückzukehren. Ende Mai traf er dort ein. Es verblieb ihm jedoch keine Zeit, sich in seiner alten Heimat wieder einzuleben. Fünf Wochen später, in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli, entdeckte ihn eine Zeitungsfrau zusammengebrochen in einem Hausflur. Nach einer Kneipentour war er die Treppe hinuntergefallen und erstickt.

George Grosz: Die Grube, 1946
Zu seinen letzten Arbeiten gehörte eine Reihe von Fotomontagen, die an seine Dadazeit wiederanknüpfen, aber auch eng der frühen Pop Art verwandt sind. Auf einer von ihnen stellte sich Grosz als Clown und Varietégirl dar, als Mischung aus verschiedensten Personen. Die Vielgestaltigkeit seiner Persönlichkeit bewahrte sich bis zum Schluß, darunter nicht zuletzt die Gestalt des Narren oder Clowns, des Künstlers in einer Welt, die ihn nicht versteht.

Quelle: Ivo Kranzfelder: George Grosz. 1893-1959. Benedikt Taschen Verlag, Köln 1999. ISBN 3-8228-6596-6. Seite 77-91


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