12. März 2012

Johannes Brahms: Klaviertrios

Die Urfassung von Brahms' 1. Klaviertrio, einem typischen Produkt der selbstbewußten Jugendzeit des Komponisten, entstand im Frühjahr 1854, wenige Wochen vor dem Selbstmordversuch seines Freundes und Vorbilds, Robert Schumann, der den jungen Brahms schwer erschütterte. Der 20jährige Komponist hatte eine ergiebige und starke Vorstellungskraft und schrieb ein Werk von beachtlicher Originalität, das allerdings ein Übermaß an Melodien enthielt und unter der Last einer allzu ausgedehnten Satzanlage litt. Brahms bekannte später mit Bedauern, daß er damals zahlreiche notwendige Verbesserungen unterließ, um das Trio so rasch wie möglich zu veröffentlichen.

1888 ergab sich die späte Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen, als sein Verleger Simrock begann, einen Großteil des Brahmsschen CEuvres neu herauszugeben, und ihm anbot, eventuelle Änderungen vorzunehmen. Brahms, um die Erfahrung von 34 Jahren und fast 100 weitere Opera gereift, nahm die Möglichkeit wahr und machte sich im folgenden Sommer an die Überarbeitung des Trios. Er erklärte später, er habe dem Werk "keine Perücke aufgesetzt", sondern ihm nur "die Haare ein wenig gekämmt und geordnet", aber tatsächlich handelte es sich um eine weitgehende Neukomposition, denn von der Urfassung blieb nur wenig unverändert, und das Ganze wurde um mehr als ein Drittel gekürzt.

Die Neufassung beginnt mit dem gleichen bedächtig-breiten, an Beethovens "Erzherzog-Trio" erinnernden Einleitungsthema wie das Original, dem aber jetzt eine knappere Überleitung und ein völlig neues, vom Klavier freundlich-sanft vorgestelltes Seitenthema folgen. Die Durchführung ist konziser in der Verarbeitung des Hauptthemas, das auch die friedlich-resignierte Coda beherrscht. Der zweite Satz, ein zartes Scherzo in h-Moll mit einem wiegenden Trio in Dur, blieb als einziger Satz des Werkes weitgehend unangetastet, bis auf den überzeugenderen, leichtfüßigen Abschluß. Für den langsamen Satz in H-Dur behielt Brahms das choralartige Hauptthema bei, ersetzte aber den recht unpassenden Allegro-Teil durch die subtilere Kontrastwirkung einer Passage in der parallelen Molltonart. Dann kehrt das veränderte Hauptthema zurück, um eine ABA-Struktur zu bilden. Das Finale steht wieder in h-Moll und erhält wie der erste Satz nur das feurige Hauptthema der Urfassung. Das neue Seitenthema hier ist eine kühne, selbstsichere Melodie in D-Dur, mit der die Reprise (in H-Dur) beginnt, während das Hauptthema das Material für die Durchführung und die Coda bietet.

Den hohen Standard, den Brahms sich selbst setzte, und der ihn zu dieser radikalen Überarbeitung veranlaßte, erkennt man auch bei einer Untersuchung der Entstehung seines 2. Klaviertrios in C-Dur, op. 87. Der Kopfsatz entstand in März 1880, die drei übrigen Sätze folgten im Juni 1882, und bald darauf schrieb der Komponist, von seinem Ergebnis ausnahmsweise befriedigt, an Simrock: "Ich sage Ihnen, ein so schönes [Trio] haben Sie noch nicht von mir, haben Sie vielleicht in den letzten 10 Jahren nicht verlegt!!!"

Disk 1 Track 8: Piano Trio No 2 in C major op 87 - IV. Finale: Allegro giocoso


Das C-Dur-Trio beginnt mit einer kraftvollen, energischen Streichermelodie, gefolgt von einem eher passiven Klavierthema und einer fallenden Staccatomelodie in Triolen. Die scheinbare Wiederholung der Exposition entpuppt sich als Beginn der Durchführung, in der das Hauptthema in einer walzerartigen Verfremdung erklingt. Dieses Material beherrscht auch die breit angelegte durchführungsartige Coda. Der zweite Satz besteht aus fünf Variationen über eine nachdenklich-volksliedhafte Melodie in a-Moll; Brahms zeigt hier großen rhythmischen Einfallsreichtum, und die abwechselnd von der Harmonik und der Melodik bestimmten Variationen geben dem Satz eine rondoartige formale Einheit. Es folgt ein unheimlich anmutendes Scherzo in c-Moll, dessen Mittelteil in Dur den Anfang des Trios anklingen läßt. Das Trio ist eine Art Sonatenrondo: Das atemlose Hauptthema des letzten Satzes kehrt mehrfach wieder, jedesmal in leicht veränderter Gestalt, bevor es zum Gegenstand einer weiteren langen Coda wird.

Den Sommer 1886 verbrachte Brahms in Thun in der Schweiz, nicht weit vom Haus seines Dichterfreundes Joseph Viktor Widmann. Es gingen Gerüchte, daß die beiden an einer Oper arbeiteten, aber tatsächlich nutzte Brahms seinen Aufenthalt, um drei weniger großformatige Instrumentalwerke zu komponieren: die 2. Cellosonate, die 2. Violinsonate und das 3. Klaviertrio. Die eindrucksvolle Landschaft, in der er sich befand (aus seinem Fenster überschaute er den Thunersee und das Berner Oberland) hatte offenbar eine verjüngende Wirkung auf den 53jährigen Komponisten, denn diese Stücke scheinen etwas von der Vitalität seiner früheren Werke einzufangen, gemäßigt durch die musikalische Souveränität seiner mittleren Jahre.

Disk 2 Track 1: Piano Trio No 3 in C minor op 101 - I. Allegro energico


Nirgends wird diese Kombination aus jugendlichem Überschwang und künstlerischer Reife deutlicher als im kraftvollen 1. Satz des Klaviertrios in c-Moll: stürmisch, romantisch, dabei aber formal außerordentlich gestrafft und verknappt. Die Exposition wird nicht wiederholt, die Reprise ist stark verdichtet und schleicht sich beinahe unvermittelt in den Ablauf ein - nicht mit dem heroischen Anfangsthema, sondern mit dem Seitenthema. Dagegen dient das Material der ersten Takte der Durchführung als treibende Kraft und spielt auch in der langen Coda eine bedeutende Rolle. Beim zweiten Satz handelt es sich nach Form und Funktion um ein Scherzo, auch wenn Brahms es nicht so bezeichnet und es von der Stimmung her alles andere als orthodox klingt. Mit seinen geheimnisvoll gedämpften Streichern hat der Satz etwas Flüchtiges, Verängstigtes, Geisterhaftes an sich. Damit kontrastiert das warmherzige Andante grazioso in C-Dur, das trotz seiner scheinbar komplexen Kombination aus Fünfer- und Siebener-Rhythmen eine lyrisch fließende Zartheit zeigt, die kaum natürlicher wirken könnte. Das Finale in Sonatenform wendet sich wieder dem unruhigen c-Moll der ersten beiden Sätzen zu, doch wechselt Brahms in der Coda in die Durtonart zurück, um das Werk auf optimistischere Weise zu beenden.

Der Kopfsatz der Cellosonate ist ebenfalls von jener kraftvollen Eleganz, die so sehr an den jungen Brahms erinnert. Das Hauptthema ist leidenschaftlich und rhetorisch, und das Seitenthema drängt atemlos voran. Die Exposition schließt in A-Dur und gleitet ins parallele fis-Moll, in dem auch die Durchführung mit einer von Tremolo-Effekten bestimmten, eher rhapsodischen Passage beginnt. Die Einführung dieser Tonart ist bedeutsam, denn sie trägt dazu bei, uns auf das ansonsten unerwartete Fis-Dur des Adagio affettuoso vorzubereiten - ein tief empfundener, dreiteiliger Satz, dessen Mittelteil in f-Moll steht. Dies ist auch die Tonart des scherzoartigen dritten Satzes. Obwohl seine energischen Eckteile ungewöhnlich breit und harmonisch kühn ausschweifend angelegt sind, ist der Satz insgesamt motivisch einheitlich und geschlossen gestaltet. Die Sonate endet mit einem verhältnismäßig unbeschwerten Rondo in F-Dur, in dem das fröhliche Hauptthema überdies einigen Variationen unterworfen wird. Wieder werden entlegene Tonarten erkundet, insbesondere in einer Episode in b-Moll, der eine Ges-Dur-Version des Themas folgt.

Der ungestüme junge Brahms ist hier mit dem Scherzo in c-Moll für Violine und Klavier vertreten, das er 1853 als Beitrag zu einer Sonate zu Ehren des großen Violinisten Joseph Joachim schrieb: Die anderen beiden Sätze stammen von Schumann und dessen Schüler Albert Dietrich, und die Sonate erhielt den Titel "F-A-E" (nach Joachims Motto "Frei, aber einsam").

Quelle: Lindsay Kemp, 1977, im Booklet

Das Adressen-Buch von Johannes Brahms: Kartoniert mit Leinen-Bundsteg und Fadenheftung, liniertes Papier, Register mit alternierend schwarzen und roten Buchstaben, erworben in der Buchhandlung "Rollinger / Wien / Stadt Rothenthurmstrasse 25." (farbige Geschäftsmarke auf Umschlaginnenseite) Quelle: Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck Ich veröffentliche hier nur den Umschlag und den Buchstaben B.

Das Adressen-Buch von Johannes Brahms

Brahms bekam das Adressen-Buch wahrscheinlich Ende 1869 von Bertha Faber geschenkt. Die Wienerin (geb. Porubszky) war 1859 als 17-jähriges Mädchen zu ihrer Tante Auguste Brandt nach Hamburg gezogen. Sie zählt zu den Gründungsmitgliedern des Hamburger Frauenchores, den Brahms von 1859 bis 1862 leitete, und blieb dem Komponisten ein Leben lang freundschaftlich verbunden. Brahms widmete ihr und ihrem Mann Arthur Faber sein Wiegenlied "Guten Abend, gut Nacht" op. 49 Nr. 4.

Bertha Faber trug im Adressbuch zu Beginn jedes Buchstabens Vor- oder Nachnamen von mit Brahms befreundeten jungen Damen ein. Dass es sich dabei um eine liebenswürdige ‚Neckerei' handelt, wird dadurch deutlich, dass Frauen, die dem Komponisten besonders nahe standen, wie etwa Clara Schumann oder Agathe von Siebold, nicht vorkommen.

Brahms selbst führte das Buch über mehrere Jahre. Es spiegelt vor allem seinen umfangreichen Bekanntenkreis und enthält, um nur einige prominente Beispiele zu nennen, die Adressen des Arztes und Brahmsfreundes Theodor Billroth, von Max Bruch, der seine Berliner Adresse selbst eintrug, von Hans von Bülow, Antonín Dvorák, Anselm Feuerbach, Robert Fuchs, des mit Brahms befreundeten Ehepaars Maria und Richard Fellinger, von Eduard Hanslick, Richard Heuberger, Joseph Joachim, Max Kalbeck, von Brahms' Lehrer Eduard Marxsen, des Malers Ludwig Michalek, von Hans Richter, Johann Strauß, Clara Schumann, Julius Stockhausen, Fritz Simrock, Carl Maria von Webers Sohn Max Maria von Weber und des Sängers Gustav Walter.

TRACKLIST

JOHANNES BRAHMS 1833-1897   
    
CD 1                                           65.40

Piano Trio No.1 in B major, op.8
si majeur - H-Dur - si maggiore   
(1) I   Allegro con brio                       14.58
(2) II  Scherzo: Allegro molto - meno allegro   6.17
(3) III Adagio                                  8.30
(4) IV  Allegro                                 6.35

Piano Trio No.2 in C major, op.87   
ut majeur - C-Dur - do maggiore   
(5) I   Allegro                                 9.29
(6) II  Andante con moto                        8.51
(7) III Scherzo: Presto - Poco meno presto      4.37
(8) IV  Finale: Allegro giocoso                 6.05

CD 2                                           54.17

Piano Trio No.3 in C minor, op.101   
ut mineur - c-Moll - do minore   
(1) I   Allegro energico                        7.39
(2) II  Presto non assai                        3.19
(3) III Andante grazioso                        4.08
(4) IV  Allegro molto                           5.35

Cello Sonata No.2 in F major, op.99 
fa majeur - F-Dur - fa maggiore 
(5) I   Allegro vivace                          8.55
(6) 1I  Adagio affettuoso                       7.09
(7) III Allegro passionato                      7.19
(8) IV  Allegro molto                           4.25

(9) Scherzo for violin and piano in C minor     5.01
ut mineur - c-Moll - do minore 

JULIUS KATCHEN piano 
JOSEF SUK violin 
JANOS STARKER cello 

Producers: John Mordler (Trios), David Harvey (Sonata), Ray Minshull (Scherzo)
Recording engineer: Kenneth Wilkinson 
Recording locations: Kingsway Hall, London, March 1967 (Scherzo), 
The Maltings, Snape, July 1968 (Trios & Sonata) 
Art direction: David Chase 
Cover: George J. Smith (1829-1901): Musing on the future (1874), The Christopher Wood Gallery
ADD (P) 1969, 1970, 1973 (C) 1997 

Mosaikkünstler, Italien (aktiv um 1130 in Rom): Apsis Mosaik, um 1130, San Clemente, Rom
My Second Self When I Am Gone
Goethe sagt, Übersetzer seien als geschäftige Kuppler anzusehen, die uns eine halbverschleierte Schöne als höchst liebenswürdig anpreisen. Diese errege eine unwiderstehliche Neigung nach dem Original. Und Chaim Nachman Bialik meint, eine Übersetzung sei wie ein Kuß durch ein Taschentuch.

Now goth sonne under wod:/ Me reweth, Marye, thy faire rode./ Now goth sonne under tre./ Me reweth, Marye thy sone and thee. Das dunkle Tuch zu lüften, das über diesem anonymen Vierzeiler aus der Zeit der Magna Charta und Henrys III. liegt, wäre als Übersetzung ein Erkenntnisvorgang, der, wie Schillers Gedicht vom verschleierten Bildnis zu Sais mahnt, das Aufheben des Schleiers, als das Erkennen nackter Wahrheit mit Schuld ineins setzte. Goethes kokett laszives Bild malt jenes Ineinander von Eros und Erkenntnis, auf dem dieser eigentümlich theologische Akzent lastet, während in Bialiks (psychoanalytisch aufschlußreichem) Aperçu das Motiv des Tuchs, Schleiers, Vorhangs oder Gewebes wieder auftaucht. Ungeachtet dessen, daß die Schöne dem Original voraus hat, daß sie immerhin halb, dieses aber ganz verschleiert sich zeigt; und sich nicht dem Kuß bietet, sondern prima vista selber Tuch nämlich Gewebe, also Textur ist. Weben/Flechten/Spinnen: wir sind im Reich Ariadnes & Arachnes. Cervantes läßt Don Quichotte sagen: Mir scheint, daß es sich mit dem Übersetzen von einer Sprache in die andre so verhält, wie wenn einer flandrische Tapeten von der Rückseite betrachtet; man sieht zwar die Figuren, aber sie werden durch die Menge von Fäden ganz entstellt, und man sieht sie nicht in der Glätte und Farbenfrische der Vorderseite.

Unbekannter Meister, Italien (spätes 12.Jahrhundert in Pisa): Kruzifix, um 1190, Panel, 285 x 238 cm, Pinacoteca, Pisa

Die Rückseite jener vierzeiligen englischen Tapete aus dem 13. Jahrhundert böte sich uns etwa wie folgt dar: Nun/jetzt geht/versinkt Sonne unter Holz:/ Mich barmt/ reut/ dauert, Maria, deine schöne Röte./ Nun/jetzt geht/versinkt Sonne unter Baum:/ Mich barmt/ reut/ dauert, Maria, deines Sohnes und deiner. Manch Übersetzer würde sich aus Demut vor der Integrität des Originals kaum weiter vorwagen wollen und allenfalls erklärend hintansetzen, mit schöner Röte sei das Inkarnat der Muttergottes als pars pro toto, also ihr Gesicht, mit Holz das Kreuzesholz und mit Baum der Kreuzesstamm gemeint. Hätte es damit sein Bewenden, bliebe der geliebte Gegenstand ungeküßt und dreiviertelverschleiert, so daß, was wie eine als Bescheidenheit sich tarnende Imaginationsschwäche aussähe, eher der Resignation des verzichtenden Liebenden gleichkäme. Grammatische Übersetzungen nennt Novalis in einem Blütenstaub-Fragment diese Übersetzungen in gewöhnlichem Sinn. Sie erfordern sehr viel Gelehrsamkeit, aber nur diskursive Fähigkeiten. Was über das Diskursive hinausginge, ein intentionaler Überschuß, wäre ein poetisches Prinzip, das Novalis verändernd nennt: Der wahre Übersetzer dieser Art muß in der Tat der Künstler selbst sein und die Idee des Ganzen beliebig so oder so geben können. Wer in Sprache kaum mehr als ein Kommunikationssystem zwischen Sender und Empfänger zu sehen pflegt, mag Hardenbergs hochfliegenden Anspruch, Übersetzen müsse eine spezifische Art von Meta-Dichtung sein (with the magic hand of chance: Keats) für anmaßend halten. Sein Recht hat der Anspruch aber an der Einsicht, daß durchaus nicht nur dichterische Sprache auch Mimesis ist. Dedecius: Wir produzieren keine Produkte, sondern Prozesse.

Die gewisse Farbe der Fremdheit, die nach Humboldt eine gute Übersetzung an sich trägt, weist darauf hin, daß Vertrautheit sich nach Fremdem sehnt; beide verzehren aneinander und gelangen zu etwas, auf das Sprache als Spur einer Intention (Eco) lediglich verweist. Diese Vorläufigkeit allen Übersetzens, sein Prozessuales als Spurenlese, als Magnetfeld zwischen Widerruf und Setzung, Fragezeichen und Apodiktum ist inzwischen zum poetologischen Gemeinplatz gereift, und die Einsicht, jede Übersetzung sei eigentlich ein Stück konzeptueller, experimenteller Literatur, längst nicht mehr so verstiegen, wie es unterm Druck des Brotberufs hie und da noch scheinen mag. Daß in jeder Sprache, in jedem Wort ein Fremdes nistet, meint, daß ein konnotativer Hohlraum so einlädt, diese Leerstellen auszufärben, wie es die kindliche Lust am Ausfärben von Malbüchern früh erfährt. Meint auch: die poetische Durchlässigkeit der Sprachen zueinander, ihre Kreolisierung. [...] Daraus mag folgen, daß poetisches, veränderndes Übersetzen zwar wohl ein Gelingen kennt, das sich nach seiner je eigenen Stimmigkeit oder Unstimmigkeit, also seiner Immanenz bzw. seinen ästhetischen Prämissen bemißt, nicht aber im normativen Sinn ein Richtig oder Falsch; jedenfalls dann nicht, wenn ein Übersetzer so mutig ist, durch philologischen Verrat poetische Entsprechung herzustellen (Ingold). Allerdings möchte die Kategorie Entsprechung selber fragwürdig sein.

Mosaikkünstler, Italien (aktiv um 1200 in Venedig): Kreuzigung, Mosaik, um 1200, Basilica di San Marco, Venedig

Soll heißen: die Veränderung, so oder so, die Zauberhand des Zufalls, die Fremdheit, die Kreolisierung, der Verrat und Leibnizens Implikation, daß wir nicht eigentlich übersetzen sondern selber übersetzt werden, verweisen die Gefahr sogenannter sachlicher Fehler an einen Bereich, in dem unpoetische Richter über poetische Delinquenten zu Gericht säßen. Erfüllt eine im adäquanz-normativen Sinne korrekte Übersetzung ihren Begriff - oder erschöpft sie sich nicht vielmehr in Tautologie? Ein Beispiel, hypothetisch: Gesetzt, ein übersetzender Dichter hätte die Zeile Now goth sone under Tre, prima vista irrtümlich, mit Nun versinkt die Sonne unter Dreien übertragen und sodann, verschreckt von wohlmeinenden Ratgebern, in einem nicht voraus- sondern nacheilenden Gehorsam unterm Kreuzesstamm geschrieben. Was läge hier vor? –: Verbesserung, Berichtigung, unverzichtbare Korrektur? Oder eine Selbstzensur, die das qua Analogie aufblitzend imaginierte Bild der Heiligen Trinität, oder des Gekreuzigten zwischen den zween Schächern, oder des Heilands mit Maria und Maria Magdalena selbdritt ängstlich sich versagt? Vielleicht paßt eine Kalendergeschichte von Hebel nicht schlecht hierher. Sie heißt MISSVERSTAND und geht so: Im neunziger Krieg, als der Rhein auf jener Seite von französischen Schildwachen, auf dieser Seite von schwäbischen Kreissoldaten besetzt war, rief ein Franzos zum Zeitvertreib zu der deutschen Schildwache herüber: «Filou! Filou!» das heißt auf gut deutsch: Spitzbube. Allein der ehrliche Schwabe dachte an nichts so Arges, sondern meinte, der Franzose frage: Wieviel Uhr? und gab gutmütig zur Halber vieri.»

Unbekannter Meister, Italienisch (aktiv frühes 13.Jahrhundert in Umbrien): Kruzifix von San Damiano, Tempera auf Holz, Kirche Santa Chiara, Assisi

Könnte es beim Übersetzen nicht eher darum gehen, sich vom Mißverstand leiten und Mißverständnisse schöpferisch werden zu lassen? Mißverständnisse gleichzeitig gezielt wie absichtslos so wirksam werden zu lassen wie die Rute des Wünschelrutengängers, um die Herrschaft des Auktorialen zu brechen? Zurück zu unserem Vierzeiler. Daß Stil und Konvention Ausdruck sui generis sind, erhellt: daher holdes Antlitz für fair rode dem Hohen Stil eher angemessen wäre. Womit zugleich die metrische Keimzelle des Ganzen gegeben ist: schlichter jambischer Wechsel von Hebung und Senkung, nach dem die Wahl des Verbs sich richtet: also dauert. Aus der Korrelation von Wort- und Versakzent entscheidet sich der Satzbau der Zeile; ein 11-Silber entsteht, mit einer ‹weiblichen› Endung, die der Anrufung der Muttergottes korrespondiert: Dein holdes Antlitz dauert mich, Maria. Da im Original diese 2. Zeile zur ersten in einer Paarreim-Bindung steht, für die sich eine Lösung schlechterdings nicht finden läßt, legen sich dem Übersetzer, der das Poetische nicht lediglich in der Semantik, sondern, bis in die Einzelphoneme hinein, in den Klangvaleurs sucht, Substitut-Verfahren nahe, Freudsche Verschiebungen auch; oder Ersatzmechanismen wie Binnenreime, Assonanzen, Lautversetzungen; oder Anagramme wie etwa dann, wenn aus Maria Mar, aus dauert ert, aus holdes hol und aus dem Antlitz das Schluß-tz abgespalten, umgestellt und sodann verschränkt werden zum Synonym für wod: nämlich: Mar-ter-hol-tz. Marterholtz mit archaisierendem Tz: heikel, no doubt about. Daß die verändernden Übertragungen, wie Novalis warnt, leicht ins Travestieren fallen, bestätigt dieses Prekäre. Indes gehts hier nicht um subjektives Stilempfinden. Wenn z.B. im martialischen Azincourt Carol von 1415 Sprache wie eine Rüstung in ihren Gelenken knirscht, dürfen Archaismen seine Zeilen auch dann mit der schweren Armatur ihres Harnischs wappnen, wenn ihr Bedeuten unterm schwarzen Visier sich verdunkelt. Das hätte mit Pasticcio nichts zu tun; wäre womöglich sogar eher geeignet, die historische Distanz freizusetzen, als es jene versierte Aktualisierung vermöchte, die sich des Alten im Raubgriff bemächtigte, um's im Triumph der Gegenwart als nivellierte Beute zuzuschlagen. Von der Gleichzeitigkeit des Historischen heute, seiner Parallelisierung kann auch ohne postmodernen Kontext gesprochen werden, von der Ironie, daß die kontemporäre allgegenwärtige Verfügbarkeit differenter Stilbildungen (so oder so: Novalis) von der Pflicht zur Observanz kontemporären Sprachgebrauchs, kontemporärer Orthographie gerade entbindet.

Deutscher Miniaturist (aktiv 1200-1230): Weingarten Missale, um 1216, Illumination auf Pergament, 292 x 203 mm, Pierpont Morgan Library, New York

Dabei geht es um mehr noch als um Stil und Konvention. Wo die Sprache des Dichters, auch des übersetzenden, in der Erscheinung aufgeht, haben wir es zunächst mit Schrift zu tun, deren einzelne Zeichen nicht Spielmarken, sondern Träger von Ausdruck und Mimesis sind. Die Entscheidung, dem Marterholtz ein alterthümliches T-Z zu geben, folgt der Einsicht, daß Schrift physiognomisch ist; das TZ gibt dem Kreuzesstamm etliche Jahresringe mehr; zudem erscheint im T die Form & Gestalt des Kreuzes, monadisch, noch einmal. Und wiewohl Tre nicht Drei sondern Baum, und T entweder einen harten Dentallaut oder eine 3-endige Figur namens Kreuz bedeuten, so enthalten sie einander alle, aber in einer für uns unerfaßbaren Subtilität. […] Daß solche Signalements so verborgen bleiben können, daß sie nur dem Autor, nicht dem Leser einsichtig sind, spricht nicht gegen ihre Plausibilität im ästhetischen Kontext.

Daß Marye als Maria zu übersetzen ist, wäre keiner Erwähnung wert –verlangte nicht mitunter die Idee des Ganzen, Namen oder adverbielle/adjektivische Bestimmungen im Original zu belassen. In William Blakes (aus rhythmischen Gründen fast unübersetzbarem) Long John Brown and Little Mary Bell z.B. verlangt nicht nur der galante Hornpipe-Rhythmus, in dem die Sexualität des Gedichts sich aufschaukelt, den Versakzent unangetastet zu lassen und einzig den Buchstaben A im Wort «and» in ein U zu verwandeln. Denn nicht nur die Namen, einschließlich des hier nicht so sehr adjektivischen als heraldisch nominalen «Long», auch der besondere Klangreiz des Little ist unübersetzbar: nur so klingelt das Glöckchen, das Mary Bell in ihrer Nutshell hat. (Andererseits gibt es schwer übersetzbare Wörter wie «fancy» oder «spleen», die denn doch so fremd sind, daß sie nur mit Vorbehalten als silberne Rippe im deutschen Sprachleib sich halten ließen.) Vom Klang ist hier die Rede. Daraus erhellt, warum für das Now von Zeile 1 und 3 das schneidende Jetzt oder noch schärfere Itzt deplaciert wäre. Der Passionsszene angemessener wäre der tintige Indigo-Klang des Nun – allerdings nicht am Zeilenanfang, da sonst ein zu kräftiger Akzent auf ihn fiele. Aus den Forderungen des Metrums schält sich dann folgendes Fragment der ersten Zeile heraus: Die Sonne geht nun unter....Marterholtz. Da «untergehen» intransitiv ist, bedarf das Kreuz einer Präposition, möglichst zweisilbig, um mit der Silbenzahl der 2. Zeile zu korrelieren. Das aber wird zur Crux der Übertragung. Denn die englische Konstruktion dieses lyrischen Tafelbilds entspricht vollkommen der unausgebildeten Perspektivtechnik in der Malerei um 1200. Die Entscheidung, trotzdem dem «unter» ein «hinter» beizufügen, reißt in eine zweidimensionale Bildfläche gleichsam stereoskopisch ein kleines Diorama des Golgatha. Aber solche Tiefenperspektive ist nicht zu umgehen. Die Sonne versinkt nun unterm.....Nun taucht die Sonne hinab unter.... Die Sonne taucht nun hinunter.... : das hinkt und stolpert, wie man es auch dreht & wendet; inwieweit Zwang, Notwendigkeit und verändernde Freiheit sich bedingen: das wäre hier zu lernen.

Französischer Miniaturist (aktiv um 1235): Psalter der Blanche von Kastilien, um 1235, Illumination auf Pergament, 280 x 200 mm, Bibliothèque de l'Arsenal, Paris

Die dritte Zeile, der ersten wortgleich bis auf tre statt wod, verlangt lediglich nach einer Variante für Marterholtz. Gleichwohl ist es zwar anfechtbar, aber nicht illegitim, die gesamte Zeile zu variieren, denn: wenn ein und derselbe Text von verschiedenen Übersetzern verschieden übertragen werden kann, darf dann ein einzelner Übersetzer nicht die Wiederholung eines Textes verschieden übertragen? Wiederholung bedeutet ja nicht Identität dann, wenn der wechselnde Kontext einen Refrain ein ums anderemal neu färbt. Beispiel: In Charles of Orleans' Klage über den Verlust der geliebten Lady lautet die Refrainzeile dieses 5-versigen Gedichts aus der ersten Hälfte des 15.Jahrhunderts: O! wretche, lesse ones thy speche. Sollte die Übersetzung hier nicht die Lizenz haben, das Manische des Wiederholens umzuschmelzen in die Manie dessen, der mit Varianten um jene Sprache kreist, die ihr eigenes Verstummen sucht: Laß einmal doch die Sprache schweigen..... Laß einmal doch dein Reden enden..... Laß einmal doch dein Wort verstummen.... usw. Die Zahl der Intentionen ist unbegrenzt, sofern sie nur stimmig miteinander korrespondieren.

Für die dritte Zeile ist zu fragen, ob die Reimbindung an die vierte diesmal gelänge. Dazu bedarfs zunächst der Klärung, wie der knifflige Satzbau der Endzeile einzulösen wäre. Da im Deutschen die infrage kommenden Verben an einen Genitivus objectivus gekoppelt sind, muß, um die Silbenzahl nicht auswuchern zu lassen und das Metrum nicht zu irritieren, irgendwo mit Elisionen gearbeitet werden. Das Dilemma ist bekannt. Dienstag, den 30. Dezember 1823. Wir sprachen darauf von Übersetzungen, worauf Goethe mir sagte, daß es ihm sehr schwer werde, englische Gedichte in deutschen Versen wiederzugeben. «Wenn man die schlagenden einsilbigen Worte der Engländer», sagte er, «mit vielsilbigen oder zusamengesetzten deutschen ausdrücken will, so ist gleich alle Kraft und Wirkung verloren», berichtet Eckermann, versagt sich freilich beizufügen, daß es nun einmal ohne die Verhüllungstricks, zu denen Silbenkürzungen und Vokal-Elisionen zählen, auch nicht jene halbverschleierte englische Schöne gäbe, die, nicht ohne Kraft und Wirkung, in dem Weisen von Weimar eine unwiderstehliche Neigung nach dem nackten Original weckte. Am besten also, aus «deinen» ein «dein'» zu machen; statt «dauert» das kürzere «barmt» zu wählen; dieses statt des «und» zu wiederholen, sowie statt des zweisilbigen Possessivpronomens deines (Sohnes) den bestimmten Artikel des einzusetzen (da unmißverständlich ist, wer gemeint ist.). Bleibt nun jenes «dein'» in derselben Position wie das thee, kann es dort als Reim-Echo antworten dem Holz der Pein, vor dem sich nicht nur Maria, sondern die ganze Natur in Trauer neigt: Nun neigt die Sonn sich unters Holz der Pein/ Mich barmt des Sohnes, barmt, Maria, dein'.

Giunta Pisano (aktiv 1229-1254 in Pisa): Kruzifix, um 1240, Tempera auf Holz, 316 x 285 cm, San Domenico, Bologna

Ein in Trauer erstarrtes Tafelbild also, gesehen von einem namenlosen lyrischen Subjekt, das nicht aus den Zeilen spricht, sondern in sie hinein, auf sie verweist, mit der Hand eines Evangelisten, in einem ausgesparten Gebilde, zart ausbalanciert zwischen Distanz und Misericordia. Christi Passion zwischen den Ulmen und Weiden von Devon oder Yorkshire oder Cumberland vor der großen Dunkelheit um die neunte Stunde, da die Efeugräber der englischen Churchyards sich auftaten. Und der Vorhang im Tempel zerriß: jener defloratorische Vorgang, der im Bild von der Erkenntnis, als die der Theologe den Sexus begreift, sein Emblem findet. Denn all die translatorischen Räsonnements, von denen hier die Rede war, können nicht verschleiern, daß die zahlreichen Entscheidungsprozesse des Übersetzers, die den Schleier zerreissen, Zugriffe, Übergriffe sind. Es bezeichnet die spezifische Verhaltensweise des translatorischen Geistes, daß jene zudringlich das Fremde ins Eigene ver- und umschlingen; und im Ausfüllen der konnotativen Hohlräume («Ich fühl mich so leer») wird etwas von dieser libidinösen Überwältigung deutlich. Auch das Penetrative des Vorgangs. Jene Räsonnements, all dies Abwägen, Austarieren, Suchen und Tasten sind Strategien im Liebeskampf, Schachzüge im Liebeswerben, das dem kopulativen Prozeß der Wort- und Satzfindung teils vorausgeht, teils ihn begleitet. Dieser selbst ist ein eher ungalanter, nämlich gierig raptuöser, usurpatorischer Vorgang, und je stärker die libidinöse Besetzung des Fremdtextes (des Geliebten Gegenstands) durch den übersetzenden Dichter, desto beherzter um nicht zu sagen gewalttätiger sein Zugriff. Beispiele für diese Gewalt, die dem Leser als Ausdrucksgewalt sich mitteilt, gibt es zuhauf. Hölderlins Sophokles-Übertragungen, beseelt und getrieben von verzehrender Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden, anverwandeln das Deutsche dem Griechischen in einer syntaktisch und lexisch bis zum Zerreissen angespannten Diktion; und wie der Schleier zu Sais hier zerfetzt, ja das Standbild selbst in grandiosen Trümmern zurückgelassen wird, ist im deutschen Drama ohne Vergleich. Celans Mandelstam-Übersetzungen, nach Maßgabe von Übereinstimmung mit den Originalintentionen so fragwürdig, daß jeder Slawist den Finger darauflegen kann, sind nach Maßgabe deutscher Lyrik ebenso inkommensurable Gebilde wie Arno Schmidts Bulwer-Lytton-Übersetzungen nach Maßgabe deutscher Prosa. Von auktorialer Eitelkeit im Sinne von Verliebtheit in die eigenen sprachlichen Möglichkeiten läßt sich dabei nicht sprechen - eher von Begehren nach dem Anderen, Fremden, Neuen, Unbekannten. Kein privates Terrain wird hier eifersüchtig umzäunt. Denn auch wenn die Idiosynkrasien der Übersetzerdichter Individualhandschrift wären, Manier im Sinne von maniera, so doch nicht als Stilgebärde, als Attitüde, sondern als bloße Technik, auf die diese ein Monopol selten behaupten. Au contraire: Indem sie mit gewagtem Beispiel vorangehen, fordern sie, wenn auch unausgesprochen, zu mutiger Nachfolge auf.

Meister von San Francesco Bardi (aktiv 1240-1270 in Florenz): Kruzifix mit Scenen vom Kalvarienberg, 1240-45, Holz, 247 x 200 cm, Galleria degli Uffizi, Florenz

Das ungarische Wort für «Übersetzer» meint auch: «Verschwender». Nietzsche: Ich liebe den, dessen Seele sich verschwendet; denn er schenkt sich immer her und mag sich nicht bewahren. Dies bezeichnet sehr schön den Überschuß in der Manier, das Luxurierende, das noch der kleinsten Sinnzelle verändernd sich schenkt. Das Begleitphänomen des Begehrens spricht gegen die Ideologie des Dienens. Übersetzende Dichter dienen dem geliebten Gegenstand mitnichten, sondern überwältigen ihn nach einer Phase buhlenden Umkreisens, und sind darin ebenso wenig bescheiden wie ein Liebender, der seine Ansprüche geltend macht - was ohne Regelverstoß, ohne Distanzüberschreitung ja nicht angehen kann. Die Sonne neigt sich unters Holz der Pein - wir verneigen uns vor dem Werk - aber dieser Demutsgestus bewährt sich de facto nur außerhalb der Werkgrenzen. Die faire rode, die schöne Röte des Schämens, wäre die Barriere, die im Akt des Übersetzens durchstoßen wird. Dieser meint nicht Symbiose, sondern Penetration: ein unmäßiger, vampyresker, jedenfalls identifikatorischer Vorgang. Getrost darf hier vor einer Fetischisierung sogenannter Professionalität gewarnt werden. Sie ist verlockend, weil die Insistenz auf Materialbeherrschung unmittelbar evident scheint. Aber Professionalität, die auf sich selbst pocht, gerät in Ideologieverdacht. Als sollten mit diesem Slogan, wie in vorindustriellen Zünften oder Gilden, die Reihen eng geschlossen werden zur Abwehr alles exzentrischen Außenseiterwesens. Die versammelten Reihen der Professionellen gleichen dem Auftritt der Meistersinger im 1. Akt, einschließlich jenes Merkers, der jeden Normverstoß des verliebten Stolzing gegen die Regeln der Tabulatur mit laut kreischenden Kreidestrichen annotiert. Es ist eine Sprachpolizei, die über die schiefe Alternative zwischen Dienen und Herrschen wacht. Wo das Dem-Werk-Dienen empfohlen oder gefordert wird, ist das Herrschen schon mitgedacht; konstituiert wird ein fataler Antagonismus; beide wären Chiffren von Unfreiheit. Diese hätte allenfalls im Triebleben der Sprache ihre Stätte: als Obsession. Einem Künstler Bescheidenheit anzuraten, hätte nicht nur etwas unangebracht Onkelhaftes, sondern auch etwas Kunstfremdes insofern, als ohne verwegenen Zugriff, ohne das Wagnis des Würfelwurfs, im Artifiziellen ebenso wenig etwas recht geraten kann wie im Eros. (Bescheidenheit als Benehmen ist löblich ja rühmlich, limitiert aber eo ipso den generativen Impuls. Dagegen Goethes Nur die Lumpe sind bescheiden.). Ärger wäre nur Übersetzen als Völkerverständigung, etwa analog zu Suhrkamps legendären «Verständigungstexten». Der Übersetzer als kultureller Christophorus. Das Pietistische, Nazarenische dieses Bildes; als ginge es um Dolmetschen. Korrektes Übersetzen im inkorrekten Leben kann es nicht geben.

Wolfgang Schlüter: Nachwort (ohne Seitenzahl, leicht gekürzt wiedergegeben) zu My Second Self When I Am Gone. Englische Gedichte, übersetzt von Wolfgang Schlüter, Urs Engeler Editor, Weil am Rhein, 2003, ISBN 3-905591-52-9. Rezension des Buchs im Perlentaucher

Das vorliegende Buch ist im Kern ein Nachdruck der Anthologie My Second Self/ When I am gone, die 1991 in einer Auflage von 500 Exx. als Privatdruck, ausgestattet von Cornelia Feyll, gedruckt von P. R. Wilk und hergestellt von Friedrich Forssman, von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in einer generösen mäzenatischen Geste finanziert und dem Verfasser zur privaten Verfügung überlassen wurde. (Die meisten Exemplare wurden verschenkt; einige wenige gelangten in den Handel.) Die Übersetzungen stammen aus den Jahren 1977-1989. Ergänzt werden sie hier um das Epithalamion von Edmund Spenser, das 1993 als Privatdruck in 50 Exx. erschien, sowie um sämtliche englischen Originale und das vorliegende Nachwort. Alle Übersetzungen wurden für den Neudruck durchgesehen, aber nur sehr zurückhaltend revidiert, um nicht der Imaginationslust des Erstdrucks durch Eingriffe zu viel von ihrer Frische zu nehmen, einer Frechheit, die ein Geschenk der Jugend war, das die Skrupel des Alters verschonen sollten. Die englischen Originale fanden sich in einem knappen Dutzend diverser Anthologien, deren editorische Kriterien sowohl zu heterogen als auch zu unbestimmt sind, als daß der Übersetzer für sie, im Einzelnen wie im Ganzen, Verantwortung übernehmen könnte. Seine Arbeit war eine literarische, keine anglistische; und nicht um eine sogenannte repräsentative Auswahl ist es ihm gegangen, sondern um eine private, intime Blütenlese, die mit seinen übrigen Werken in einem mehr oder weniger deutlichen Zusammenhang steht.

Wolfgang Schlüter, geboren 1948, Studium der Musikwissenschaft bei Carl Dahlhaus in Berlin, Promotion mit einer Arbeit über Gustav Mahler. Seit 1994 freier Autor und Übersetzer, lebt in Wien und in Irland. Mörike-Förderpreis 1997, verliehen von W. G. Sebald. 1999 Dedalus-Preis für innovative Prosa, verliehen vom SWR Stuttgart.

Buchveröffentlichungen u.a.: John Field und die Himmels-Electricität, Berlin 1997; Dufays Requiem, Roman, Berlin 2001; Anmut und Gnade, Roman, Frankfurt 2007 Gruß, Greenaway, Roman, Berlin 2011; Die englischen Schwestern, Roman, Frankfurt 2011.

Übersetzungen u.a.: John Aubrey, Lebens-Entwürfe, Berlin 1994; Anon., Brendans Inseln, Wien-Lana 1997; William Cowper, Die Aufgabe/The Task, Berlin 1998; Christopher Marlowe, Sämtliche Dramen, Berlin 1999; D. H. Lawrence, Birds, Beasts & Flowers, Gedichte, Bonn 2000; William Wordsworth, I wandered lonely as a cloud, Straelener Manuskripte, 2011.

Pressemappe des Urs Engeler Verlags zu Wolfgang Schlüter


Die Illustrationen zu dem Artikel Schlüters stammen alle aus der Web Gallery of Art, dem virtuellen Museum der Europäischen Malerei und Skulptur aus dem 11. bis 19.Jahrhundert. Neben der sehr großen Auswahl von Werken (Dezember 2011: 28.485 Bilder und 3.377 Künstler) ist die Schnellsuche (mit Volltextsuche nach den Bildbeschreibungen) besonders bemerkenswert.

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Reposted on July 19, 2014

1 Kommentar:

Audentity hat gesagt…

Thanks for the music. I grew up with the Beaux Arts version of these trios. Looking forward to another perspective.

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