Verglichen mit der Vielzahl seiner dramatischen und sakralen Kompositionen ist seine Kammermusik von geringem Umfang, und seine Streicherfantasien sind die letzten Beiträge zur zweihundertjährigen Geschichte dieser Gattung. Sie stellen eine besonders persönliche und bewußt unzeitgemäße Destillation des alten Stils zu einer Zeit dar, in der die meisten Hörer (wie auch sein Dienstherr Charles II.) Musik bevorzugten, zu der sie mit den Füßen wippen konnten. Der Anlaß ihrer Entstehung ist unklar. Es gibt gewisse Parallelen zu Bachs Kunst der Fuge, aber wo Bach auf Anforderung das Kompendium einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Kontrapunkt am Ende seines Lebens niederschrieb, scheint es dem 2ljährigen Purcell eher darum gegangen sein, sich selber zu beweisen, daß er die Techniken seiner Vorgänger perfekt beherrschte, um sie dann abzulegen und sich neuen Stilen zu widmen. Offensichtlich wollte Purcell noch zahlreiche weitere Stücke schreiben, da sein eigenes Manuskript leere Seiten mit der Überschrift enthält "Here Begineth the 5 Part: Fantazias" ("Hier beginnen die fünfstimmigen Fantasien") und "Here Begineth the 6, 7 & 8 part Fantazias" ("Hier beginnen die sechs-, sieben- und achtstimmigen Fantasien").
Die dreistimmigen Fantasien sind einer Sammlung von Orlando Gibbons verpflichtet, die Mitte der l620er Jahre gedruckt wurde und stilistisch bereits mit einem Fuß in der neuen Musik des "Barock" steht. Die vierstimmigen Fantasien scheinen eher dem Modell von Matthew Lockes Consort of 4 Parts zu folgen, die um 1660 entstanden sind und, wie diejenigen Purcells, die Satzfolge schnell-langsam-schnell, schnell-langsam-schnell-langsam oder langsam-schnell-langsam-schnell aufweisen, wobei die letztere Variante vermutlich zu der klassischen barocken Triosonate führt. Das Fragment a-moll besteht aus dem ersten Abschnitt oder "Point" eines unvollendeten vierstimmigen Stücks, dessen Stil erheblich italienischer ist als in dieser Sammlung üblich und das etwas später entstanden sein mag.
Anthony van Dyck: "The Sheperd Paris", ca. 1632, Wallace Collection |
Die Chaconne g-moll ist das einzige Stück, zu dem Charles II. mit den Füßen gewippt haben könnte. Purcell behält das charakteristische rhythmische Gerüst bei, versieht es aber mit einer Chromatik und einer Kühnheit, die man in den französischen Vorbildern selten findet.
Die Tradition der In-Nomine-Komposition reicht geradewegs zurück in das 16. Jahrhundert. Aus unbekannten Gründen - vielleicht einer kryptoreligiösen Tagesordnung - entnahmen Komponisten dem Benedictus aus Taverners Messe Gloria tibi trinitas eine Phrase ("qui venit in nomine Dei") und verwendeten es als Cantus firmus für eine Fantasie. Diese Tradition dauert von 1550 bis ungefähr 1640, wobei Purcells rund vierzig Jahre später entstandenen Beiträge die letzten Vertreter darstellen. Siebenstimmiger Satz ist äußerst selten, und sicher hat Purcell seine Feder nicht ohne eine gewisse Freude aus der Hand gelegt, als er den letzten und größten dieser Art niedergeschrieben hatte. Die Fantasie über eine Note reduziert das Konzept des Cantus firmus ins Absurde; das Stück selber ist genauso witzig wie seine Idee.
Unsere Einspielung entspricht der Reihenfolge und dem Inhalt eines Manuskripts, das "aus Henry Purcells eigenem Manuskript von Mr. Tho' Barrow, Gentleman der Chapel Royal Seiner Majestät, gewissenhaft abgeschrieben wurde". Wir haben uns für Instrumente der Violinfamilie entschieden, zum Teil, weil einige der Stücke (insbesondere die Fantasie über eine Note) offenkundig "violinistisch" sind, zum Teil wegen einer Bemerkung von Anthony a Wood, derzufolge Amateurmusiker im Oxford der späten l650er bereits von den Violen zu den Violinen übergingen. Außerdem schrieb Roger North, der Purcell persönlich gekannt hat, daß Lockes Consort of 4 Parts die letzte Komposition für Violen-Consort gewesen sei.
Quelle: Charles Medlam, (Übersetzer: Horst A. Scholz), im Booklet
Track 15 Chacony a 4 in G minor
TRACKLIST PURCELL, Henry (1659-1695) 01 Fantasia a 3 in D minor 2'45 02 Fantasia a 3 in F major 3'30 03 Fantasia a 3 in G minor 2'32 04 Fantasia a 4 in G minor (lOth June 1680) 3'37 05 Fantasia a 4 in B f1at major (11th June 1680) 4'13 06 Fantasia a 4 in F major (l4th June 1680) 3'39 07 Fantasia a 4 in C minor (l9th June 1680) 3'58 08 Fantasia a 4 in D minor (22nd June 1680) 3'39 09 Fantasia a 4 in A minor (23rd June 1680) 3'51 10 Fantasia a 4 in E minor (30th June 1680) 3'29 11 Fantasia a 4 in G major (l9th August 1680) 3'14 12 Fantasia a 4 in D minor (31st August 1680) 3'09 13 Fantasia a 4 in A minor, fragment 1'14 14 Pavan a 4 for three violins 4'24 15 Chacony a 4 in G minor 4'30 16 Fantazia a 5 upon one Note in F major 2'50 17 In nomine a 6 in G minor 2'00 18 In nomine a 7 in D minor 3'22 Total playing time: 62'50 London Baroque: Ingrid Seifert, vio1in Jean Paterson, vio1in (tracks 17 & 18) Richard Gwilt, viola / violin (tracks 13, 14, 15 & 16) Irmgard Schaller, viola (track 15) Mark Andrews, viola (tracks 16, 17 & 18) Charles Medlam, violoncello Richard Campbell, violoncello (track 18) Recording data: January 2000 at St. Martin's, East Woodhay, Hampshire, England Balance engineer/Tonmeister: Jens Braun - Producer: Jens Braun Front cover: Anthony van Dyck (1599-1641), Paris (c.1632) © 2000 (P) 2001
Von der Schriftrolle zum Codex
Aus der Vorlesung »Buchmalerei des Mittelalters« (1967/68) von Otto Pächt
Abb. 1 Sternbilder. Chronologische und astronomische Schriften, Salzburg, um 818 |
Papyrusrollen waren in schmalen, hohen Kolumnen mit kurzen Zeilen geschrieben, beim Übergang von einem kontinuierlichen Schriftband von ansehnlicher Länge zu einer Folge von relativ kleinen separaten Blättern ließen sich bestenfalls zwei bis vier solcher Schriftkolumnen auf einer Seite vereinen (Abb. 1). Man war früher geneigt, das Nebeneinander mehrerer Kolumnen auf einer Codexseite als Nachleben der in der Schriftrolle beheimateten und ihr genehmen Textanordnung zu interpretieren, als Zeichen einer Unfreiheit gegenüber einer in einem verschiedenen Medium erwachsenen Tradition.
Abb. 2 Illustration zu Psalm 11. Utrecht-Psalter, Reims, um 830 |
Wenn man in karolingischer Zeit oder später noch mehrspaltig schrieb - man denke an den Utrecht-Psalter (Abb. 2) -, so tat man es zweifellos auch, um der Handschrift ein besonderes Dekorum und ein altehrwürdiges Aussehen zu geben. Ist doch der Utrecht-Psalter sogar statt in der damals modernen Minuskel in archaisierenden Kapitalien, Großbuchstaben, geschrieben. […] In einer zweiten - im 12.Jahrhundert - in England entstandenen Kopie hat man dann eine rationale Motivierung der Mehrspaltigkeit gefunden: Es ist ein Psalterium triplex, d. h. eine Konkordanz der drei lateinischen Übersetzungen des Psalters (Abb. 3: es ist dreimal dieselbe Textstelle, der Beginn des 11. Psalms - »Salva me ...« bzw. »Salvum me fac ...« - zu lesen).
Abb. 3 Illustration zu Psalm 11. Eadwine-Psalter, Canterbury (Christ Church), um 1150 |
Erstens, daß es in der Antike nur eine sehr beschränkte Anzahl von Texten gegeben hat, die Illustrationen enthalten oder anderweitige künstlerische Ausstattung besessen haben, zumal im Zeitalter der Buchrolle. Es hat reich illustrierte Bücher damals gegeben, sogar wahre Bilderbücher, aber sie waren die verschwindende Ausnahme. In dem Transponierungsprozeß war es wiederum nur eine kleine Auswahl, deren Bebilderung oder Zierschmuck in den Codex mitkopiert wurde, bzw. dort ein Äquivalent erhielt. Von den zahlreichen Papyri, Fragmenten von Buchrollen, die in Ägypten wieder ans Licht gekommen sind, ist nur ein sehr geringer Teil illustriert oder geschmückt; keine einzige Rolle antiken Ursprungs, die eine Bilderfolge enthielte, nicht einmal ein nennenswertes Bruchstück einer solchen ist bis auf uns gekommen. Von der Buchmalerei der griechischen Welt, in der die Schriftrolle das Monopol hatte, können wir uns nur in zum Teil sehr gewagten Rekonstruktionen eine Vorstellung machen.
Abb. 4 Sternbilder. Komputistisch-Astronomisches Lehrbuch, Metz, zwischen 820 und 840 |
Der zweite Faktor, den wir bei Beantwortung unserer Frage nach dem schöpferischen Anteil der Rollenillustration am Schmuck des Blätterbuches zu berücksichtigen haben, ist der Anpassungskoeffizient an das neue Buchformat, das neue Medium, die veränderte Aufgabe. Hatte beispielsweise eine Schriftkolumne kurze Zeilen wie bei der Rolle, dann mußte auch ein Bild, das in diese schmale Kolumne inseriert wurde, knapp gehalten werden - Kolumnenbilder neigen zu lapidarer Kürze. Ändert sich der Satzspiegel und längen sich die Zeilen wie beim Codex, dann wird das für die Illustration freigelassene Intervall innerhalb der Schriftkolumne viel zu breit für das Bild der Rollenvorlage. Wird die Vorlage ohne Veränderung kopiert - wie das aus Respekt vor dem altehrwürdigen Vorbild nicht selten verlangt worden sein mochte -, dann kann die wörtlich getreue Wiederholung des Urbildes unmöglich den breiten Streifen füllen, es entstehen Löcher auf der Buchseite. Das mag dann den Anreiz bilden, Füllmotive zu erfinden, um die Löcher zu stopfen, also die Vorlage zu verändern.
Abb. 5 Der Hirsch an der Quelle, Illustration zu Psalm 41,2. Stuttgarter Psalter, Saint-Germain-des-Prés (?), 1. Hälfte 9.Jh. |
Abb. 6 Evangelist Johannes. Evangeliar, Byzantinisch, Mitte 10.Jh. |
Es ist aber auch ein Mißverstehen-Müssen, im Sinn von ›in der neuen Sprache ausdrücken müssen‹, welches die neue Form mitbestimmt. Ein Umdeuten, Übersetzen in eigene, für die Zeitgenossen bestimmte, verständlichere Formen. Zur Veranschaulichung des Gesagten stelle ich eine jener zahlreichen byzantinischen Evangelistendarstellungen, die wir noch als Vertreter des spätantiken Autorenporträts ansehen können (Abb. 6) und eine nordische, frühmittelalterliche Kopie dieses Typus (Abb. 7) gegenüber. Die Philosophenhaltung - das in die Hand Stützen des Kinns - ist dieselbe. Zu beachten ist die Transponierung des Schaftes des Lesepults. Der Kopist kannte natürlich das Naturvorbild, den Delphin, nicht; er hat ihn in ein Drachenwesen mit scharfen Zähnen und besonderer, dekorativer Ausbildung des Auges übersetzt, d.h. er dachte sicherlich auch, es in seinem Sinn zu verbessern, ausdrucksvoller zu gestalten, indem er ihm diese Form gab. Es sind intendierte Veränderungen, sie entspringen einem anders Müssen, einem anders Wollen, nicht einem Unvermögen, sind nicht bloß Äußerungen der Inferiorität und Primitivität des Kopisten.
Abb. 7 Evangelist Matthäus. Codex millenarius, Salzburg, um 800 |
Abb. 8 Illustration der Eigenschaften des Löwen. Bestiar. Peterborough (?), Anfang 13.Jh. |
Abb. 9 Die Gibeoniter vor Josua. Josuarolle, Byzantinisch, 10.Jh. |
Wenn alles Schaubare nur stellvertretende Bedeutung hatte, dann mußte alle bildliche Darstellung symbolhaft werden, eine mehr oder minder abstrakte Zeichensprache. Als Bilderschrift war sie aber plötzlich in eine innere verwandtschaftliche Beziehung zur Zeichenschrift des Buches getreten, die Schranken zwischen zwei bisher heterogenen und in der Antike grundsätzlich unvermischbaren Sphären fielen. Weite Perspektiven für ein fruchtbares, schöpferisches Zusammenleben von Wort und Bild, von Buchstabe und Figur, von Schriftspiegel und Bildraum taten sich auf.
Abb. 10 Die Gibeoniter vor Josua. Oktateuch, Byzantinisch, 11.Jh. |
Abb. 11 Drolerie. Robert de Boron, L'Histoire du Graal, Nordfrankreich, um 1280 |
In der Wiener Genesis, einem aus kaiserlich byzantinischem Besitz stammenden Purpurcodex, haben wir ein erstes, frühes Stadium dieser Reduktion vor uns: eine noch immer äußerst reich illustrierte Genesis-Folge (es ist ein 48 Seiten - von ursprünglich mindestens 200 Seiten - zählendes Fragment). In den karolingischen Bibeln bekommen dann die einzelnen Bücher - manchmal nur noch das Buch Genesis - lediglich Titelbilder, in denen auf einer Seite einige Bildstreifen zusammengedrängt wurden, und die wir, da wir die ikonographischen Übereinstimmungen leicht nachweisen können, als Auszüge aus unendlich viel reicheren Bilderzyklen ansehen dürfen.
Abb. 12 Kreuztragung mit zwei typologischen Szenen. Armenbibel, Blockbuch, Holländisch, um 1430/1440 |
Abb. 13 Tod des Judas Makkabäus. Makkabäerbücher, St. Gallen, 1. Hälfte 10.Jh. |
Lange wußte man nicht, was diese auffallende Diskrepanz bedeuten sollte. Die Beobachtung, daß die Alttestamentszyklen zahlreiche apokryphe jüdische Elemente enthielten, hat dann die Forschung auf die wahrscheinlich richtige Spur gebracht: Diese alttestamentarischen Bilderzyklen müssen vorchristlichen Ursprungs sein, in den vom Hellenismus infizierten und daher das Bilderverbot nicht mehr beachtenden jüdischen Gemeinden entstanden. Das heißt aber - und dies ist für uns im Augenblick das Entscheidende -, ihre Entstehung fällt in eine Zeit, in der es den Codex noch nicht gegeben hat. Mit einem Wort: das zyklische Erzählen, welches mit kontinuierlichem Erzählen nicht identisch ist, ist recht eigentlich das Vermächtnis der antiken Rollenillustration an die mittelalterliche Buchmalerei. Es hat, wie wir sehen konnten, im weiteren Verlauf der mittelalterlichen Entwicklung bisweilen genügt, wenn den Illuminatoren im geeigneten Moment Bruchstücke solcher Bilderzyklen in Kopien untergekommen sind, um narrative Kunst wie den Phönix aus der Asche wieder erstehen zu lassen. Eines der schönsten Beispiele für die Unsterblichkeit künstlerischer Ideen.
Abb. 14 König Antiochus erteilt seine Befehle, Tod des Judas Makkabäus. Winchester-Bibel, Winchester (St. Swithun's), um 1150-1180. |
OTTO PÄCHT war einer der großen Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts und bis zu seinem Tod 1988 der Nestor der Handschriftenforscher. Er hat sich durch seine Lehr- und- Forschungstätigkeit in London, Oxford, New York, Princeton und Cambridge schon früh einen internationalen Namen gemacht. Von 1963 bis 1972 lehrte er als Ordinarius an der Universität Wien. Otto Pächt befaßte sich vor allem mit der europäischen Kunst des 15. Jahrhunderts und mittelalterlicher Buchmalerei, Gebiete, auf denen er unangefochtene Autorität war.
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CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 54 MB
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Unpack x239.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue+Log Files [62:50] 4 parts 287 MB
Reposted on November 17th, 2017
3 Kommentare:
Could you re-upload this CD (Purcell Fantazias London Baroque), please.
Thanks.
Thanks ;)
Danke
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