2. April 2020

Johannes Ockeghem: Missa Mi Mi -- Heinrich Isaac: Missa carminum (Historische Aufnahmen)

OPTIMUS COMPOSITOR Jehan de Ockeghem oder das ewige Fließen der Welt

Nymphes des boys, déesses des fontaines,
Chantres expers de toutes nations,
Changés vos vois fort clères et haultaines
En cris trenchans et lamentations.
Car Atropos, très terrible satrappe,
A vostre Ock'ghem attrappé en sa trappe,
Vray trésorier de musique et chief d'oeuvre,
Dot, élégant de corps et non point trappé.
Grand dommaige est que la terre se coeuvre.

Accoustrès vous d'habis de deoul
Josquin, Perchon, Brumel, Compère,
Et plouré grosses larmes d'oeul:
Perdu avès vostre bon père.

Qu'il repose en paix.
Amen
Nymphen des Waldes, Göttinnen der Quellen,
Kundige Sänger aller Nationen,
Ändert euren klaren, schönen Gesang
In durchdringende Schreie und Klagen.
Denn Atropos, die fürchterliche Tyrannin,
Hat euren Ockeghem gefangen in ihrer Falle,
Wahrhaft Schatzmeister der Musik und Meisterstück,
Gelehrt, mit elegantem Körper, nicht gedrungen.
Großes Unglück, dass die Erde ihn nun bedeckt.

Legt an eure Trauerkleidung
Josquin, Perchon, Brumel, Compère,
Und vergießt Fluten von Tränen:
Verloren habt ihr euren lieben Vater.

Er möge in Frieden ruhen.
Amen

Josquin Desprez hat diese Verse auf seinen Mentor, der möglicherweise auch sein Lehrer war, anrührend komponiert.

Jehan de Ockgehem, (so lautete wohl die verbindliche Schreibweise, gehörte zu jenen Musikern, die schon zu Lebzeiten als geheiminsumwittert galten und der nach seinem Tode entgültig zum Mythos wurde.

Geboren im Flandrischen irgenwann zwischen 1400 und 1430 ist über die Herkunft, Jugend und Ausbildung des Meisters nichts überliefert.

Dabei ist es gar nicht so, daß es an biographischen Informationen mangeln würde (wie das bei so vielen Komponisten älterer Zeiten der Fall ist): Im Gegenteil, Ockeghems Leben ist uns so ausführlich dokumentiert wie allenfalls noch das seines Komponistenkollegen und Freund Guillaume Dufay (ca. 1400–1474). Allerdings gilt dies nur für seine späteren Jahre.

1443/44 treffen wir Ockeghem erstmals als Kapellsänger an der Marienkirche in Antwerpen, 1446/48 war er erster Sänger in der Kapelle des Herzogs von Bourbon; und spätestens 1451 trat er in den Dienst jenes Herrn, dem er fast ein halbes Jahrhundert treu bleiben sollte: des französischen Königs, dessen "premier chapelain" er sein Leben lang blieb.

Hier beginnt Ockeghems Karriere von dem üblichen Lebenslauf eines Komponisten im 15. Jahrhundert abzuweichen. Mit der Erwerbung eines Kanonikats an der Abtei von Saint-Martin in Tours 1454 hat er den bedeutsamsten Schritt seines künftigen Lebens getan. Seit der Merowinger Chlodwig I. den heiligen Martin zum Patron seiner Dynastie ernannt hatte, war Tours eines der bedeutendsten Heiligtümer der fränkischen und später der französischen Monarchie, und Abt von Tours war kein Geringerer als der französische König selbst. Als Karl VII. Ockeghem 1459 zum “trésorier” (Schatzmeister) von Tours ernannte, hatte dieser eines der höchsten Ämter Frankreichs inne, er wurde dadurch zum Baron von Chasteauneuf mit nahezu feudalen Rechten und war persönlicher Ratgeber des Königs. Kein anderer Musiker seiner Zeit hat auch nur annähernd Vergleichbares erreicht; und es unterliegt keinem Zweifel, daß Ockeghems Verdienste – er diente bis zu seinem Tod drei französischen Königen – sehr wenig mit seinen musikalischen, sehr viel aber mit politischen und diplomatischen Talenten zu tun gehabt haben müssen.

Ockeghems Musik verwirklicht das Ideal einer ununterbrochen, nahezu zäsurlos fließenden Polyphonie gleichartiger Stimmen mit ganz frei und asymmetrisch verlaufenden melodischen Linien. Die einzelnen Motive sind einer ständigen Veränderung unterworfen. Man bringt dieses rational kaum fassbare Strömen des musikalischen Flusses mit der in den Niederlanden neu aufblühenden Mystik in Verbindung: das sich stets verwandelnde Fliessen der Klänge als Symbol göttlicher Wesenskräfte.

Quelle: BigBerlinBear, am 19. Juli 2007 im Tamino-Klassikforum

TRACKLIST

JOHANNES OCKEGHEM
(ca. 1410 - 1497)

   Missa Mi Mi          25:45
   
01 I.   Kyrie            1:55
02 II.  Gloria           5:02
03 III. Credo            7:36
04 IV.  Sanctus          5:05
05 V.   Agnus Dei        5:56

Kurrende der Peterskirche Leipzig
ADD Aufnahme: 1966


HEINRICH ISAAC
(ca. 1450 - 1505)

   Missa carminum       21:55
   
06 I.   Kyrie            2:23
07 II.  Gloria           4:47
08 III. Credo            5:28
09 IV.  Sanctus          5:07
10 V.   Agnus Dei        4:10

Mitglieder des Rundfunk-Kinderchores Berlin
Capella Lipsiensis
Dietrich Knothe
ADD Aufnahme: 1972

                Gesamt: 47:40
(P) + (C) 1998 


Poesie der Welt:

12 Italienische Sonette

Guittone d'Arezzo
GUITTONE D'AREZZOFRANZ RAUHUT
(ca. 1230-1294)
Ahi! con mi dol vedere omo valente
star misagiato e povero d’avere‚
e lo malvagio e vile esser manente,
regnare a benenanza ed a piacere;

e donna pro cortese e canoscente
ch’è laida sí, che vive in dispiacere;
e quella ch’ha bieltá dolze e piagente,
villana ed orgogliosa for savere.

Ma lo dolor di voi, donna, m’amorta,
ché bella e fella assai piú ch’altra sete,
e piú di voi mi ten prode e dannaggio.

Oh, che mal aggia il die che voi fu porta
si gran bieltá, ch’altrui ne confondete,
tanto è duro e fellon vostro coraggio!

Wie schmerzt mich einen tüchtigen Mann zu sehn,
der arm ist und der Mangel leiden muß,
und seh den schlechten ich im Reichtum stehn,
in Macht und Wohlsein und im Überfluß,

und eine höfische und gescheite Frau
mißachtet ganz ob ihrer Häßlichkeit,
und wenn ich die in holder Schönheit schau,
die dumm und stolz ist und voll Bäurischkeit.

Der Schmerz um Euch treibt, Herrin, mich ins Grab,
denn schön und böse, keine ist Euch gleich,
und doch kommt Wohl und Weh mir nur von Euch.

Verwünscht der Tag, der Euch die Schönheit gab,
die allen andern Schande bringt und Schmerz:
so hart, ach, und so falsch ist Euer Herz.

Ach wie schmerzt es mich zu sehen, wenn ein wackerer Mann kümmerlich und arm an Habe lebt, der Böse und Gemeine aber wohlhabend ist, nach Gutdünken und Vergnügen herrscht.

Und wenn eine Frau, beherzt, voll Anstand und klug, die aber häßlich ist, im Ungemach lebt, jene aber, die süße und gefällige Schönheit hat, niedrig, überheblich und ohne Bildung ist.

Doch der Schmerz über Euch, Herrin, bringt mich um, denn schön und schnöde seid Ihr mehr als jede andere, und mehr hält mich alles Wohl und Wehe, das von Euch kommt‚ fest.

O daß der Tag verwünscht sei, an dem Euch so große Schönheit angetragen wurde, mit der Ihr andere verstört, so hart und türkisch ist Euer Herz.

Guido Cavalcanti
GUIDO CAVALCANTIHUGO FRIEDRICH
(ca. 1260-1300)
Voi che per li occhi mi passaste ‘l core
e destaste la mente che dormia,
guardate a l'angosciosa vita mia,
che sospirando la distrugge Amore.

E’ vèn tagliando di si gran valore‚
che’ deboletti spiriti van via:
riman figura sol en segnoria
e voce alquanta, che parla dolore.

Questa vertù d’amor che m’ha disfatto
da’ vostr’ occhi gentil’ presta si mosse:
un dardo mi gittò dentro dal fianco.

Si giunse ritto ‘l colpo al primo tratto‚
che l’anima tremando si riscosse
veggendo morto ’l cor nel lato manco.
Ihr schlugt mir durch die Augen in das Herz
Und habt den Geist geweckt, der lange schlief;
Ach, schaut nun mein beklommenes Wesen an,
wie unter Seufzern Amor es zerstört.

Mit solcher Wucht hieb seine Schneide ein,
Daß meine Sinne kraftlos wurden, schwanden.
Nur noch mein Anblick zeugt von seinem Bann,
Und eine Stimme, die erstickend klagt.

Solch Wirken Amors, das mich niederzwang,
Im Nu fiel’s her aus Euren edlen Augen:
Ein Pfeil, den er mir in den Leib gejagt.

Und gleich beim ersten Schuß traf er so gut,
Daß ein Erschauern durch die Seele bebte,
Da tot sie fand das Herz zur linken Brust.

Ihr, die Ihr mit den Augen mir ins Herz gedrungen seid, und den schlafenden Sinn mir wecktet, seht her auf mein angsterfülltes Leben, das mit soviel Seufzen von Amor zerstört wird.

Und er schießt mit solcher Kraft hinein, daß meine schwachen Sinne vergehen: nur mein Gesicht bleibt als Zeichen seiner Macht, und ein wenig Stimme, die den Schmerz ausdrückt.

Diese Kraft Amors, die mich vernichtet hat, sie kam aus euren edlen Augen gar geschwind hervor: einen Pfeil trieb sie mir in die Seite.

So genau traf der Schlag schon beim ersten Mal, daß die Seele zitternd auffuhr, sah sie doch das Herz links im Körper tot.

Familienwappen der Bankiers Frescobaldi
DINO FRESCOBALDIFRANZ RAUHUT
(ca. 1271-1316)
Un’ alta stella di nova bellezza‚
che del sol ci to’ l’ombra la sua luce,
nel ciel d’Amor di tanta virtù luce,
che m’innamora de la sua chiarezza.

E poi si trova di tanta ferezza,
vedendo come nel cor mi traluce,
c’ha preso‚ con que’ raggi ch’ella ’nduce,
nel firmamento la maggior altezza.

E come donna questa nova stella
sembiante fa che ’l mi’ viver le spiace
e per disdegno cotanto è salita.

Amor, che ne la mente mi favella,
del lume di costei saette face
e segno fa de la mia poca vita.
Ein Stern von neuer Schöne, ohne Trübe‚
der selbst der Sonne Leuchte überstrahlt,
im Liebeshimmel glänzt mit Allgewalt,
daß ich in seine Helle mich verliebe.

Und dann so stolz er wird, da er erkennt,
wie er ins Herz mir leuchtet tief hinein,
daß er herabzusenden seinen Schein
den höchsten Ort ersteigt am Firmament.

Gleich einer Frau macht dieser neue Stern
mir Miene, daß mein Leben ihm mißfällt
und daß er aus Verachtung ward so fern.

Und Liebe, die im Geiste zu mir spricht,
sich starke Pfeile schärft aus seinem Licht
und sich zum Ziel mein armes Leben wählt.

Ein hoher Stern von ungekannter Schönheit, dessen Licht uns das Bild der Sonne wegnimmt‚ leuchtet an Amors Himmel mit solcher Kraft, daß er mich durch seine Helligkeit in Liebe versetzt.

Und dann erweist er sich von solch sprödem Stolz, als er sieht, wie er das Herz mir durchstrahlt, daß er mit den Strahlen, die er aussendet‚ die höchste Höhe am Firmament eingenommen hat.

Und — zur Frau gewandelt — macht dieser neue Stern eine Miene, als gefiele ihm mein Leben nicht und als sei er aus Verachtung so hoch aufgestiegen.

Amor, der im Gemüt zu mir spricht, macht aus seinen Lichtstrahlen Pfeile, und als Zielscheibe nimmt er sich mein geringes Leben.

Matteo Maria Boiardo
MATTEO MARIA BOIARDOKARL THEODOR BUSCH
(ca. 1440-1494)
Già vidi uscir de l’onde una matina
il sol di ragi d’or tutto jubato,
e di tal luce in facia colorato
che ne incendeva tutta la marina;

e vidi a la rogiada matutina
la rosa aprir d’un color si infiamato
che ogni luntan aspetto avria stimato
che un foco ardesse ne la verde spina;

e vidi a la stagion prima e novella
uscir la molle erbetta come sole
aprir le foglie ne la prima etade;

e vidi una legiadra donna e bella
su l’erba coglier rose al primo sole
e vincer queste cose di beltate.
Einst sah ich aus den Wogen in der Frühe
Die Sonne auferstehn, umstrahlt von Gold
Und solchen Lichts beglänzt das Antlitz hold,
Als ob ringsum das ganze Meer erglühe;

Und sah die Rose offen, daß sie blühe
Entflammt vom frischen Tau und aufgerollt,
Daß jedem schien, der fernher schauen wollt,
Als ob aus Dornengrün ein Feuer sprühe;

Und sah im jungen Frühjahr sich getrauen
Die Gräser aus der Erde weich und fein,
Die Blätter zart erwachen aus dem Schlaf;

Und sah der Frauen eine, hold zu schauen,
Beim Rosenpflücken früh im Sonnenschein,
Die alles dies an Schönheit übertraf.

Einst sah ich aus den Wellen eines Morgens die Sonne emporsteigen, bekränzt mit einer Mähne von goldenen Strahlen und so mit Lieht im Angesicht gefärbt, daß sie damit das ganze Meer entzündete;

und sah im Morgentau die Rose sich in so glühender Farbe öffnen, daß jeder ferne Blick dafürgehalten hätte, ein Feuer brenne im grünen Dornbusch;

und sah im jungen Frühjahr das zarte Gras aufsprießen, wie es die Blätter zu entfalten pflegt in seinem frühen Wachsen;

und sah eine holde schöne Frau im Gras bei der ersten Sonne Rosen pflücken und alles dies an Schönheit übertreffen.

Der edle Poet (Symbolbild)
Kein Bild von Benedetto Gareth überliefert
BENEDETTO GARETH gen. IL CHARITEOELSE THAMM
(1450-1515)
Ecco la notte; el ciel scintilla e splende
di stelle ardenti, lucide e gioconde;
i vaghi augelli e fere il nido asconde
e voce umana al mondo or non s’intende.

La rugiada del ciel tacita scende;
non si move erba in prato o ’n selva fronde;
chete si stan nel mar le placide onde;
ogni corpo mortal riposo prende.

Ma non riposa nel mio petto amore,
amor d’ogni creato acerbo fine;
anzi la notte cresce il suo furore.

Ha sementato in mezzo del mio core
mille pungenti avvelenate spine,
e ‘l frutto che mi rende è di dolore.
Sieh, es ist Nacht! Vom Himmel blinkt hernieder
in Strahlenglanz ein blitzend Sternenheer.
Was kreucht und fleucht ruht nestwarm, schlummerschwer,
es schweigt die Welt — kein Menschenlaut hallt wider!

Es senkt sich Himmelstau sacht auf die Lider,
kein Halm, kein Blättlein regt sich rings umher,
die Wellen atmen ruhevoll im Meer,
was sterblich ist, es ruht die müden Glieder.

Doch nimmer ruht die Lieb’ in meinem Herzen,
die Liebe — bittres Los der Kreatur —
verzehrend wächst sie in des Dunkels Stunde.

Sie senkt als Saat in meines Herzens Grunde
viel tausend gift'ger Dornen Stachel nur;
als Frucht entsprießen ihnen eitel Schmerzen.

Die Nacht ist da: der Himmel funkelt und glänzt von glühenden Sternen, leuchtend und heiter, die lieblichen Vögel und das Wild birgt das Nest, und Menschenstimme ist auf der Welt jetzt nicht mehr zu hören.

Der Tau des Himmels sinkt still herab; kein Halm bewegt sich auf der Wiese oder im Wald kein Blatt, reglos stehen im Meer die friedlichen Wellen, jeder sterbliche Leib pflegt der Ruhe.

Aber nicht ruht mir im Busen Amor, Amor, allen Geschöpfes bitterer Zweck; vielmehr steigert die Nacht noch sein Wüten.

Gesät hat er mir mitten ins Herz hinein tausend stechende, vergiftete Dornen, und die Frucht, die er mir trägt, ist aus Leid.

Giovanni Pico della Mirandola
GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLAELSE THAMM
(1463-1494)
Io mi sento da quello ch‘era in pria,
Mutato da una piaga alta e soave,
E vidi Amor del cor tormi la chiave
E porla in mano alla nimica mia.

E lei vid’io accettarla altera e pia
E di una servitù leggera e grave
Levarmi, e da man manca in vie più prave
Guidarmi occultamente Gelosia.

Vidi andarne in esilio la ragione,
E desiderii informi e voglie nove
Ratte venire ad alloggiar con meco.

E vidi dall’antica sua prigione
L’alma partir per abitar altrove;
E vidi innanti a lei per guida un cieco.
Ich fühl’s‚ ein hehres, süßes Schmerzensregen
verkehrt mein früh’res Selbst zu neuem Leben.
Mein Herz mußt’ ich dem Liebesgotte geben
und sah ihn in der Feindin Hand es legen.

Sie nahm es stolz und mitleidsvoll entgegen;
will als Vasallen mich zu sich erheben,
doch unheilvoll führt Eifersucht daneben
mich insgeheim auf frevelhaften Wegen;

Vernunft will flieh’n, schon spüre ich ihr Wanken;
verworr'ne Wünsche und ein neu Verlangen
sich jäh im Innern meiner Seele finden;

und diese seh ich sprengen ihre Schranken,
um aus der Haft ins Freie zu gelangen,
und sehe mich als Führer: — einen Blinden!

Ich fühle mich aus dem, der ich vorher war, verwandelt durch eine tiefe und süße Wunde, und ich sah Amor den Schlüssel meines Herzens wegnehmen und ihn meiner Feindin in die Hand legen.

Und sie sah ich ihn annehmen, hoheitsvoll und huldvoll, und mich aus einer leichten und schweren Knechtschaft erheben, und sah zur linken Hand auf verderbtere Wege Eifersucht mich insgeheim wegführen.

Ich sah die Vernunft in Verbannung gehen und unbändige Wünsche und neue geschwinde Gelüste bei mir einziehen.

Und ich sah aus ihrem alten Verlies die Seele entweichen um anderswo zu wohnen; und ich sah vor ihr als Führer einen Blinden.

Kardinal Pietro Bembo
PIETRO BEMBOMARIA und LEO LANCKORONSKI
(1470-1547)
Rime leggiadre, che novellamente
Portaste nel mio cor dolce veneno,
E tu stil d’armonia, di grazia pieno,
Com’ella‚ che ti fa puro e lucente;

Vedete quanto in me veracemente
L'incendio cresce e la ragion vèn meno;
E se nel volto nol dimostro a pieno,
Dentro è ’l mio mal, più che di fuor, possente.

Sappia ognun ch’io vorrei ben farvi onore,
Tal me ne sprona; e si devea per certo,
Lasso, ma che pò far un che si more?

Era ‘l sentier da sé gravoso et erto
A dir di voi: or tiemmi il gran dolore
D’ogni altro schivo e di me stesso incerto.
Ihr heitren Reime, neu mir vorgebracht
Als süßes Gift für meines Herzens Zelle,
Du edler Stil, so klar und wunderhelle
Wie sie, die glänzend dich und lieblich macht,

Schaut her, seht mich in heißer Glut entfacht,
Die ständig wächst, seht an des Wahnsinns Schwelle
Schon den Verstand, sind Zeichen nicht zur Stelle,
So wißt: Im Innern deckt den Geist die Nacht.

Ich künde jedem: Gern würd ich sie preisen,
Wozu michs drängt, und was mir süße Pflicht,
Allein, was kann ein Sterbender noch weisen?

Der Weg war steil und steinig, voll Verzicht,
Sie zu besingen. Da die Stimme bricht
Vor Schmerz, gelingt mir fürder kein Gedicht!

Ihr anmutigen Reime, die ihr erneut süßes Gift in mein Herz trugt, und du, harmonischer Stil, voller Liebreiz, wie sie, die dich rein und leuchtend macht;

Seht, wie in mir wahrhaftig die Inbrunst wächst und die Vernunft vergeht; und wenn ich es auch im Gesicht nicht voll zeige, so ist meine Qual im Innern doch, mehr als draußen, mächtig.

Jeder möge wissen, daß ich euch wohl gerne Ehre erwiese, dazu drängt es mich; und das war gewiß auch nötig, doch ach, was kann einer tun, der doch schon dahinstirbt?

Es war der Weg von sich aus steinig und steil, euch zu besingen: jetzt macht mich der große Schmerz allem anderen gegenüber scheu und meiner selbst unsicher.

Ludovico Ariosto
LUDOVICO ARIOSTOKARL THEODOR BUSCH
(1474-1533)
Aventuroso carcere soave,
dove né per furor né per dispetto,
ma per amor e per pietá distretto
la bella e dolce mia nemica m’ave;

gli altri prigioni al volger de la chiave
s’attristano, io m’allegro; ché diletto
e non martir, vita e non morte aspetto,
né giudice sever né legge grave,

ma benigne accoglienze, ma complessi
licenziosi‚ ma parole sciolte
da ogni fren, ma risi, vezzi e giochi;

ma dolci baci, dolcemente impressi
ben mille e mille e mille e mille volte;
e, se potran contarsi, anche fien pochi.
In mildem Kerker hält man mich gefangen,
Worein nicht Bosheit und nicht Haß mich zerrte,
Doch meine Feindin liebevoll mich sperrte,
Die schön ist, wonniglich in ihrem Prangen.

Es drehn sich Schlüssel; traurig rnüßte bangen
Ein andrer — ich bin froh, daß Lieb, nicht Härte,
Daß Leben‚ nicht des Todes Angelgerte,
Nicht streng Gesetz und Urteil nach mir langen,

Doch herzlicher Willkomm und ein beglückt
Umarmen, Worte frei und ohne Zahl,
Gelächter, Kosen, Scherze Zug um Zug

Und süße Küsse, süß mir aufgedrückt,
Wohl tausend, tausend, tausend, tausend Mal —
Soviel du nennst, es wären nie genug.

Glückbringender sanfter Kerker, in den mich nicht aus Raserei und Zorn, sondern aus Liebe und Erbarmen meine schöne süße Feindin eingeschlossen hat;

die anderen Gefangenen bekümmern sich beim Drehn der Schlüssel, ich werd froh; erwart ich doch Lust und nicht Pein, Leben und nicht Tod, und keinen strengen Richter und kein lastendes Gesetz,

doch liebreichen Willkomm und ausgelassenes Umarmen, doch zügelloses Plaudern, doch Lachen, Kosen, Spielen;

doch suße Küsse, süß geschenkte wohl tausend, tausend, tausend, tausend Mal; und kann man sie noch zählen, sinds zuwenig.

Caspara Stampa
GASPARA STAMPALEO LANCKORONSKI
(ca. 1525-1554)
O diletti d’amor dubbi e fugaci,
O speranza che s’alza e cade spesso,
E nasce e more in un momento istesso;
O poca fede, o poco lunghe paci!

Quegli, a cui dissi: — Tu solo mi piaci,
E pur tornato, io l’ho pur sempre presso,
Io pur mi specchio e mi compiaccio in esso
E ne’ begli occhi suoi chiari e vivaci;

E tuttavia nel cor mi rode un verme
Di fredda gelosia, freddo timore
Di tosto tosto senza lui vederme.

Rendi tu vana la mia téma, Amore
Tu, che beata e lieta pòi tenerme‚
Conservandomi fido il mio signore.
O Liebe, Seligkeit voll Leid und Tücke,
O Hoffnung, kaum erblüht und schon zerstoben,
O Treue, arm und mühsam zu erproben,
O Friede, zwischen Kämpfen kaum noch Brücke! —

Dem ich gestanden: ›Du nur bist mein Glücke‹,
Der kehret heim. Es schweigt des Herzens Toben,
In seinem Anblick bin ich aufgehoben,
Wie ich, in ihm mich spiegelnd, mich entzücke.

Doch eisig macht ein Hauch mein Herz erschauern,
Der Zweifel würgt, es schüttelt mich die Angst:
Bald möcht’ ich, einsam schmachtend, wieder trauern.

Die gänzlich du in deine Macht mich zwangst
O Liebe, daß mein Ängsten sich zerstreue,
Schenk und erhalte mir des Liebsten Treue.

O Freuden der Liebe, unsicher und flüchtig, o Hoffnung, die oft sich erhebt und niederfällt, und im selben Augenblick entsteht und wieder stirbt; o geringer Glaube, o wenig lange Zeiten des Friedens!

Der, zu dem ich gesagt hatte: — Du allein gefällst mir —, ist endlich zurückgekehrt, endlich habe ich ihn immer bei mir, endlich spiegele ich mich und gefalle mir in ihm und in seinen klaren und lebhaften Augen;

Und doch nagt mir im Herzen ein Wurm der kalten Eifersucht, kalte Furcht, mich ganz bald ohne ihn zu sehen.

Laß meine Furcht unbegründet sein, Amor, du, der du mich glücklich und fröhlich erhalten kannst, wenn Du mir meinen Herrn treu erhältst.

Battista Guarini
BATTISTA GUARINIAUGUST WILHELM VON SCHLEGEL
(1538-1612)
Quando de la mia pace Amor nemico
al suo dolce m’invita amaro gioco
con duo lumi leggiadri, a poco a poco
sento in me rinovar l’incendio antico.

Ma‚ poi che l’alma in un silenzio amico
la notte acqueta e i sensi al ver dan loco,
raccolgo i pensier vaghi e spengo il foco
e de l’onda di Lete il cor nudrico.

Così qual augellin, che dianzi al visco
fu colto‚ or volo a l’esca‚ or fuggo ’l laccio,
e ‘ncontra Amor, quant’è più dolce, ardisco.

Così tra due mi vivo, or foco, or ghiaccio‚
e di Penelopea la tela ordisco,
tessendo il di quel che la notte sfaccio.
Wann Liebe, meinem Frieden nicht gewogen,
Zu süßem bittern Spiel mich will gewinnen
Mit zweien holden Lichtern, so beginnen,
Aufs neu die Flammen, die ich sonst gepflogen.

Doch wann die Nacht, mit Schweigen mild umzogen,
Die Seele stillt, und Wahres gilt den Sinnen,
Lösch’ ich das Feuer, sammle mich nach innen,
Und nähre mir das Herz mit Lethes Wogen.

So, gleich dem Vogel, den beleimte Stäbe
Schon fiengen, nah’ ich, fliehe dann die Stricke;
je süßer Lieb’ ist, mehr ich widerstrebe.

So zwischen Feu’r und Eis ist mein Geschicke;
Ich wirke der Penelope Gewebe,
Bei Tage webend, was ich Nachts entstricke.

Wenn Amor, meinem Seelenfrieden feind, mich mit zwei anmutigen Augen zu seinem süßen Spiel auffordert, dem bitteren, dann fühle ich, wie nach und nach sich der alte Liebesbrand in mir erneuert.

Doch nachdem die Nacht in freundlicher Stille die Seele beruhigt hat und die Sinne der Wahrheit Raum geben, sammle ich die schweifenden Gedanken, lösche das Feuer und nähre das Herz mit den Wassern des Lethe.

So wie das Vögelchen, das mit der Leimrute gefangen wurde, fliege ich bald zum Lockvogel bald zum Netz hin, und erkühne mich desto mehr gegen Amor, je schöner er ist.

So lebe ich zwischen zweien dahin, bald Feuer, bald Eis, und webe Penelopes Tuch, am Tage knüpfend, was ich bei Nacht wieder auftrenne.

Torquato Tasso
TORQUATO TASSOHUGO FRIEDRICH
(1544-1595)
Quando vedrò nel verno il crine sparso
aver di neve e di pruina algente,
e ’l seren del mio giorno, or si lucente,
col fior de gli anni miei fuggito e sparso,

al tuo bel nome io non sarò più scarso
de le mie lodi o de l'affetto ardente,
né fian dal gelo intepidite o spente
quelle fiamme amorose ond’io son arso.

Ma, se rassembro augel palustre e roco,
cigno parrò lungo il tuo nobil fiume
ch’abbia l’ore di morte omai vicine;

e quasi fiamma, che vigore e lume
ne l’estremo riprenda, innanzi al fine
risplenderà più chiaro il vivo foco.
Wenn einst im Winter meines Lebens Schnee
Sich auf das Haar gelegt und kalter Reif,
Und meine heitren Tage, jetzt so strahlend,
Wegsanken mit der Blüte meiner Jahre,

Verschwend’ ich immer noch an Deinen Namen
Das Rühmen und das lodernde Gefühl.
Kein Frost wird kühlen oder löschen können
Die Liebesgluten, drinnen ich verbrenne.

Bin ich auch sumpfbehauster, heis’rer Vogel,
Werd’ ich an Deinem großen Strom zum Schwan,
Der singt, weil seine Todesstunde naht.

Und gleich der Flamme, die, zur Neige gehend,
Noch einmal helle Kraft gewinnt, so wird
Mein Feuer stärker strahlen, eh’ es stirbt.

Wenn ich dann einst im Winter mein Haar mit Schnee und eisigem Reif bestreut und die Heiterkeit meiner Tage, jetzt so leuchtend, mit der Blüte der Jahre entflohen und aufqelöst sehe,

werd ich deinem schönen Namen gegenüber nicht weniger freigebig sein mit meinem Lob und meiner glühenden Leidenschaft, noch werden vom Frost jene Liebesflammen abgekühlt oder ausgelöscht werden, in denen ich jetzt
brenne.

Doch gleich ich auch einem heiseren Sumpfvogel, werd ich dann wie ein Schwan sein deinem edlen Fluß entlang, dem die Todesstunde schon nah ist;

und wie eine Flamme, die Kraft und Licht im letzten Augenblick wiedergewinnt, wird vor dem Ende das lebendige Feuer desto heller strahlen.

Giordano Bruno
GIORDANO BRUNOERNESTO GRASSI
(1548-1600)
Alle selve i mastini e i veltri slaccia
il giovan Atteon, quand‘il destino
gli drizz’il dubio ed incauto camino,
di boscareccie fiere appo la traccia.

Ecco tra l’acqui il più bel busto e faccia,
che veder poss’il mortal e divino,
in ostro ed alabastro ed oro fino
vedde; e ’l gran cacciator dovenne caccia.

Il cervio ch’a’ più folti
luoghi drizzav’i passi più leggieri,
ratto voráro i suoi gran cani e molti.

I’ allargo i miei pensieri
ad alta preda, ed essi a me rivolti
morte mi dàn con morsi crudi e fieri.
Zum Hochwald hetzt Aktaion seine Meute,
Der Doggen Schar reißt ungestüm ihn mit
Und lenkt den kühnen, unbedachten Schritt.
Auf Wildes Fährte führt ihn ihr Geleite,

Bis wo im Waldsee, tief im Schilfgereute,
Ein göttlich Antlitz hemmt den leichten Tritt,
Ein Bild von Alabaster, Gold, Perlmutt —
Da ward der große Jäger selbst zur Beute.

Auf neuen Pfad leichtfüßig fortgehetzt,
In dicht’res Buschwerk zielt umsonst sein Streben,
Die eig‘nen Hunde rauben ihm das Leben.

So spanne hoch ich die Gedanken jetzt
Zum Ziel. Allein sie wenden sich zurücke
Und reißen mich mit scharfem Biß in Stücke.

In die Wälder läßt der junge Aktäon die Jagdhunde los, wie das Schicksal ihm den unsicheren und unbedachten Weg weist, den Waldtieren auf der Spur.

Da sah er zwischen den Wassern das Schönste an Leib und Antlitz, das ein Sterblicher oder Göttlicher sehen kann, in Purpur, Alabaster und feinem Gold; und der große Jäger wurde zum Wild.

Den Hirsch, der ins dichteste Gehölz die immer leichteren Schritte lenkte, zerfleischten seine großen und zahlreichen Hunde im Nu.

Ich sende meine Gedanken auf hohe Beute aus, und sie bringen mir, auf mich zurückgewendet, den Tod mit rohen und wilden Bissen.

Quellen: Die Gedichte und ihre Übersetzungen wurden folgenden Werken entnommen:

[Boiardo / Ariosto / Tasso:] Poesie der Welt: Renaissance Sonette. (Auswahl, Prosa-Auflösungen und Nachwort von Hans Staub). Propyläen, Berlin, 1980 (Edition Stichnote) ISBN 3-549-05359-2

[andere Autoren:] Poesie der Welt: Italien. (Auswahl, Prosa-Auflösungen und Nachwort von Hartmut Köhler). Ullstein, Frankfurt/Berlin/Wien, 1985. (Edition Stichnote - Ex-Libris-Ausgabe) ISBN 3-550-08516-8



Noch mehr alte und neuere Messen aus der Kammermusikkammer:

Firminus Caron (ca. 1440 – ca. 1475): Messen und Chansons (Bilder aus Amiens) | Jean Tinguely: «Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht»

Johannes Ciconia: Opera Omnia - Diabolus in Musica, La Morra (Bilder aus Padua) | Die Schönste im ganzen Land: Die Berliner Büste der Nofretete

Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) (Bilder aus eben demselben) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob

Beethoven: Missa Solemnis op. 123, Karl Böhm, 1975 – Messe C-Dur op. 86, Karl Richter, 1970 | Natürlich, das Mittelalter. Umberto Ecos Nachschrift zum »Namen der Rose«

Haydn: Missa Cellensis in honorem BVM (Missa Sanctae Caeciliae), Paukenmesse (Missa in tempore belli), Schöpfungsmesse | Der illiterate Laie als Leser des Weltbuches. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt



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23. März 2020

Guy Klucevsek: Song of Remembrance (2007)

Guy Klucevsek zählt zu den vielseitigsten und renommiertesten Akkordeon-Virtuosen der Welt. Der „rebel with an accordian" (Downbeat) und „trailbazing virtuoso" (The Wall Street Journal) arbeitete mit zahlreichen internationalen Spitzen-Künstlern wie Laurie Anderson, Bang On a Can, Anthony Braxton, Dave Douglas, Bill Frisell, Rahim al Haj, Robin Holcomb, KepaJunkera, dem Kronos Quartet, Natalie Merchant und John Zorn zusammen.

Klucevsek spielte die Uraufführungen von mehr als 50 Akkordeon-Solostücken, darunter sowohl Eigenkompositionen als auch Auftragswerke von Mary Ellen Childs, William Duckworth, Fred Frith, Aaron Jay Kernis, Jerome Kitzke, Stephen Montague, SomeiSatoh, Lois V Vierk und John Zorn.

Seine Karriere umfasst Auftritte beim Ten Days on the Island Festival (Tasmanien), Adelaide Festival (Australien), Berlin Jazz Festival, Lincoln Center, Spoleto Festival (USA), BAM Next Wave Festival, Cotati Accordion Festival, San Antonio International Accordion Festival und dem Internationalen Akkordeon-Festival Wien sowie in der Kinder-TV-Show "Mr. Rogers' Neighborhood".

Sein Projekt "Polka From the Fringe" aus dem Jahr 1988, eine Sammlung von Polkas von Fred Frith, Elliott Sharp, Bobby Previte, Carl Finch u.a., wurde weltweit mit höchst erfolgreich aufgeführt und später als Doppel-CD beim Musiklabel eva veröffentlicht. 1992 wurde "Polka From the Fringe" vom WNYC-FM "New Sounds" Programm unter die besten Aufnahmen des Jahres gewählt.

Guy Klucevek (* 1947)
1996 gründete Klucevsek gemeinsam mit den Komponisten und Akkordeonisten Otto Lechner (Österreich), Maria Kalanemi (Finnland), Lars Hollmer (Schweden) und Bratko Bibic (Slowenien) das internationale Ensemble "AccordionTribe", welches bis 2009 regelmäßig Konzertbühnen in aller Welt bespielte und insgesamt drei Alben beim deutschen Label Intuition veröffentlichte. Größte Bekanntheit erreichte das Ensemble durch den preisgekrönten Dokumentarfilm "AccordionTribe: Music Travels" von Stefan Schwietert.

Klucevsek komponierte Bühnenmusik zu "Chinoiserie" und "Obon" (Ping Chong and Company), "Hard Coal" (Bloomsburg Theatre Ensemble), "Industrious Angels" (Laurie McCants), "Cirque Lili" (für den französischen Zirkuskünstler Jérôme Thomas mit weltweit 250 Aufführungen mit Live-Musik) und zu seinem eigenen Stück „Squeeze Play", bei dem Dan Hurlin, David Dorfman, Dan Froot, Claire Porter und Mary Ellen Childs mitwirkten. Für "The Heart oft the Andes", das u.a. beim Henson International Puppetry Festival (London) und beim Ten Days on the Island Festival gespielt wurde, erhielt er gemeinsam mit Dan Hurlin einen „Bessie".

Klucevsek veröffentlichte mehr als 20 Alben als Solist und Bandleader, u.a. bei Tzadik, Winter & Winter, Starkland, Review, Intuition, CRI und XI. Das renommierte Magazin Stereo Review bezeichnete seine Starkland Aufnahme "Transylvanian Softwear" von 1995 als "Recording of Special Merit".

Nicht zuletzt ist Guy Klucevsek auch im Kino allgegenwärtig: er ist etwa in John Williams' Filmmusik für die Steven Spielberg Klassiker "Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels", "The Terminal", "München" und "The Adventures of Tin-Tin", sowie auf A.R. Rahmans Soundtrack für "Welcome to People" zu hören.

Quelle: “Dancing on the Volcano" auf Kultur-Rhein-Neckar e.V.


TRACKLIST

GUY KLUCEVSEK
(* 1947)

SONG OF REMEMBRANCE

Fallen Shadows (1993)                                 39:42

01. overture                                           5:12 
02. song of remembrance                                5.31
03. procession of the gypsy divas                      5:03 
04. more gypsy divas                                   2:11
05. bandoneons, basil and bay leaves*                  5.50 
06. incidentally, the coroner called                   4:28
07. intro/dance of the blue flamingos                  6:04  
08. eulogy for the divas                               5:17
        *in memory of Astor Piazzalla
Dora Ohrenstein - voice 
Joyce Hamman - violin
Guy Klucevsek - accordion 
Blair McMillen - piano

09. Tea Song (1995)                                    3:52

Theo Bleckmann - voice
Steve Elson - clarinet 
Nurit Tilles - piano

10. My Walk With Ligeti (2007)                         5.45
       in memory of Gyargy Ligeti
Guy Klucevsek - accordion 

Cameos (1996)                                          7:43

11 choir practice chiropractic                         1:13 
12 java good time                                      0:59
13 tangoed in gospel                                   1:23 
14 balkan merengue ("everybody’s doin’ it!")           1:00
15 accordion foaled                                    1:12 
16 chiropractic choir pracdce                          1:47

Double Edge:.
Edmund Niemann, Nurit Tilles - duo pianists

                                          Time Total: 57:20

produced by GUY KLUCEVSEK - session producer SILAS BROWN (tracks 5, 9-16)
executive producer JOHN ZORN - associate producer KAZUNORI SUGIYAMA

tracks 1-4,7,8 recorded April-June 2007 by SCOTT LEHRER at Second Story Sound, NYC
tracks 5,9,10 recorded April-June 2007 by SILAS BROWN and SCOTT LEHRER at Second Story Sound, NYC 
track 6 recorded in 1993 at the Packard Building, Philadelphia, PA
tracks 11-16 recorded March 2007 by SILAS BROWN at Hoff-Barthelson Music School, Scarsdale, NY 

(C)+(P) 2007 



Charles-Augustin Sainte-Beuve:

Flaubert - Madame Bovary

Ich vergesse nicht, daß dieses Werk Gegenstand einer Erörterung war, die nichts weniger als eine literarische Erörterung bedeutete, aber ich erinnere mich vor allem an die Ergebnisse und an die Weisheit der Richter. Das Werk gehört seither der Kunst, ganz allein der Kunst, Gerichtsbarkeit an ihm hat nur die Kritik zu üben, und die kann ihre ganze Unabhängigkeit brauchen, wenn sie hier spricht.

Sie kann und sie muß das. Man nimmt sich oft Mühe, Vergangenes auszurufen, alte Autoren wieder zu erwecken. Werke, die kein Mensch mehr liest — und man gibt ihnen einen Augenblick lang blitzflüchtig Beachtung, Schein eines Lebens. Aber wenn dann wahrhaftige, wirklich lebendige Gebilde an uns vorbeiziehn, in Rufweite, Segel auf und mit flatternder Fahne, wenn sie zu sprechen scheinen, gleichsam „was sagt Ihr dazu?" — und wenn da einer wirklich Kritiker ist, wenn er in seinen Adern einen Tropfen von dem Blut hat, das einen Pope beseelte, einen Boileau, einen Johnson, einen Jeffrey, Hazlitt oder einfach Herrn de La Harpe, so zuckt er vor Ungeduld, hat es satt, immer zu schweigen, brennt darauf, sein Wort hinzuschleudern und diese neu Herkommenden zu grüßen bei ihrem Vorübergehen oder sie mit heftigem Geschütz anzufallen. Es ist lange her, daß es Pindar für die gebundene Rede ausgesprochen hat: „Hoch der alte Wein und die jungen Lieder!“ Junge Lieder, das ist auch das Stück von heute abend, der Roman des Tages, ist, was im Augenblick seines Erscheinens die Jugend beschäftigt.

Ich hatte Madame Bovary in der ersten Fassung nicht gelesen, in jener Zeitschrift, die ursprünglich das Werk in Fortsetzungen brachte. Wie packend auch diese Teile waren, es mußte dabei verlieren und besonders die Idee des Ganzen, die Auffassung mußte leiden. Der Leser brach kurz ab nach schon gewagten Szenen und fragte sich: „Was kann darüber hinaus noch kommen?“ Es war gut möglich, dem Werk tolle Wucherungen anzusinnen und dem Autor Absichten, die er gar nicht hatte. Ununterbrochenes Lesen erst gibt jeder Szene ihre Bedeutung zurück. Madame Bovary ist vor allem ein Buch, ein ausgewogenes und bedachtes Buch, darin alles zusammenhält, nichts einem Zufall überlassen ist, darin überhaupt der Autor, besser noch der Künstler, von einem Ende zum andern erreicht hatte, was er nur wollte.

Der Verfasser hat offenkundig lange auf dem Lande gelebt, in jener Landschaft der Normandie, die er uns so unvergleichlich wahrhaft beschreibt. Sonderbar! Wenn man lange im Freien lebt, wenn man diese Natur so recht mit allen Sinnen aufnimmt und sie so gut zu malen versteht, so liebt man sie völlig, insgesamt, oder man stellt sie wenigstens recht schön hin, gar wenn man sie verlassen hat; man neigt dazu, in ihr die Umrahmung eines Glücks, einer Seligkeit zu sehen, nach der man mehr oder weniger Heimweh hat, man gestaltet eine Idylle daraus, ein Ideal. Bernardin de Saint-Pierre langweilte sich weidlich auf lle-de-France, solang er da lebte, aber als er zurück und weit weg war, wußte er nur noch von der Schönheit der Landschaft und von dem sanften Frieden ihrer Täler; dahin versetzte er die Gebilde seiner WahL, und so entstand Paul et Virginie. Nicht so weit wie Bernardin de Saint-Pierre ging Madame Sand, die sich vermutlich anfangs in ihrem Berry gelangweilt hatte; aber späterhin gefiel ihr, es lediglich anziehend zu schildern. Sie hat uns, das ist gewiß, den Zauber der Creuse-Landschaft nicht etwa genommen, und wenn sie darin selbst Figuren auftreten ließ, die Ansichten hatten oder Leidenschaften, so wehte um sie immer der volle Hauch von Land und Feld und Poesie im Sinn der Alten.

Hier, bei dem Autor der Madame Bovary. kommen wir an einen andern Vorgang, an eine andere Art Inspiration und, wenn man alles aussprechen soll, an eine Verschiedenheit der Generationen. Das Ideal ist dahin, die Lyrik abgestorben; man will das nicht mehr. Wahrheit, streng und unerbittlich, ist auch in die Kunst eingedrungen als das letzte Wort der Erfahrung. Der Autor dieser Madame Bovary hat in der Provinz gelebt, auf dem Land, im Dorf und in der kleinen Stadt; und er ist da nicht an einem Frühlingstag vorbeigekommen, wie der Wanderer eines La Bruyère, der droben auf der Höhe seinen Traum als Bild am Hügelabhang ausmalt, sondern er hat dort wirklich und wahrhaftig gelebt. Und was hat er geschaut? Nichtigkeit, Jämmerlichkeit, Anmaßung. Dummheit, Gewitztheit, Eintönigkeit, Langeweile: davon erzählt er uns. Die Landschaft in ihrer Wahrheit und Wesentlichkeit, den reinen Hauch dieses freien Himmels atmend, sie dient ihm nur als Staffage für gemeine, platte Geschöpfe von dümmstem Ehrgeiz, unwissend oder halbgebildet, für Liebende ohne Zartgefühl. Die einzige träumerisch vornehme Natur, die sich hineingeschleudert sieht, nach einer Welt über diese hinaus suchend, sie wird da wie ohne Heimat sein, ohne Atem; und wie sie so leidet, wie sie niemand findet, der ihr Antwort gibt, gerät sie außer sich, nimmt den schlechten Weg, gibt sich immer mehr einem trügerischen Traum und dem Reiz der Ferne hin und fällt Stufe um Stufe ins Verderben und in Vernichtung. Ist das moralisch? Ist es trostreich? Der Verfasser scheint sich die Frage nicht gestellt zu haben. Er hat sich nur eines gefragt: Ist es wahr? Man möchte glauben, daß er selber Ähnliches beobachtet hat oder daß es ihm zum mindesten beliebte, in diesem so fest gefügten Ausschnitt manches zur Gestalt zu verdichten, daß er das Ergebnis verschiedentlicher Wahrnehmungen zusammenfassen wollte, bei einer Grundstimmung bitterster Ironie.

Eine andere Besonderheit, gleichermaßen bemerkenswert: unter all diesen ganz wirklichen, ganz lebendigen Personen ist auch nicht eine, in der sich der Autor vermuten lassen möchte: keine ist von ihm zu einem andern Ende gehegt worden, als damit sie sich mit aller Genauigkeit und Grausamkeit abgeschildert sehe, niemanden hat er geschohnt, wie man Freunde schont. Dieser Autor hat sich völlig zurückgehalten, er ist nur da, um alles zu sehen, alles zu zeigen und alles zu sagen. Aber in keinenm Winkel des Romans merkt man auch nur seinen Schatten. Das Werk ist ganz und gar unpersönlich. Eine starke Probe seiner Kraft.

Die wichtigste Gestalt neben Madame Bovary ist Herr Bovary. Charles Bovary, der Sohn (denn er hat einen Vater, der gleichfalls nach der Natur abgeschildert wird), erscheint uns seit seiner Schulzeit als ein ordentlicher junger Mensch, fügsam, aber ungeschickt, unbedeutend oder doch heillos mittelmäßig, ein bißchen „blöde“, ohne jede Eigenheit, ohne Neigung, unempfindlich gegen Reize, geboren, um zu gehorchen, Schritt für Schritt den gebahnten Weg zu gehen und sich führen zu lassen. Der Vater war zuvor Hilfschirurg in der Armee und nicht im besten Ruf, aber der Sohn hat nichts von seinem Leichtsinn und von seinen Lastern. Die Ersparnisse seiner Mutter haben es ihm ermöglicht, sich in Rouen schlecht und recht durchzustudieren, und so ist er Amtsarzt geworden. Nicht ohne Mühe graduiert, hat er jetzt nur noch den Ort seiner Wirksamkeit zu wählen. Er entscheidet sich für Tostes, einen kleinen Ort nicht weit von Dieppe; man verheiratet ihn mit einer Witwe, die viel älter ist als er und eine mäßige Rente haben soll. Er läßt es geschehen, und es fällt ihm nicht einmal ein zu bemerken, daß er nicht glücklich ist.

Eines Nachts wird er unversehens auf einen Hof geholt, gut sechs Meilen weit, um dem alten Rouault ein gebrochenes Bein einzurenken, einem behäbigen, verwitweten Landmann, der mit seiner einzigen Tochter zusammenhaust. Der Weg durch die Nacht, zu Pferd, immer näher heran an das reiche Gehöft (es heißt Bertaux) — und wie man es dann sieht, wie er anlangt und von dem jungen Mädchen empfangen wird, das so gar keine Bäuerin ist, sondern in einem Kloster als Fräulein erzogen wurde, das Verhalten des Kranken, alles das ist wunderbar geschildert und Punkt für Punkt wiedergegeben, als ob wir dabei wären: es ist holländisch, flämisch, normannisch. Bovary nimmt die Gewohnheit an, Bertaux zu besuchen und sogar öfter, als es für die Verbände des Kranken nötig wäre; ja, er geht auch nach der Heilung immer wieder hin. Die Besuche auf dem Hof sind ihm, ohne daß er es recht weiß, nach und nach nötig geworden, in der Mühseligkeit seines Tuns liebe Entspannung.

„An solchen Tagen stand er früh auf, enteilte im Galopp, spornte das Tier, stieg dann ab, um die Füße im Gras abzustreifen und zog seine schwarzen Handschuhe an, bevor er eintrat. Er hatte es gern, wenn er so in den Hof kam, wenn er seine Schulter gegen die sich wendende Schranke drückte, wenn der Hahn auf der Mauer krähte und die jungen Burschen ihm entgegenkamen. Er liebte die Scheune, die Ställe: liebte Vater Rouault, der die Hand in die seine schlug und ihn seinen Retter nannte; liebte Fräulein Emmas kleine Holzpantinen auf den sauberen Fliesen der Küche: die hohen Stöckel machten sie ein wenig größer, und wenn sie vor ihm herging, klappten die hölzernen Sohlen, rasch aufgerichtet, mit einem trockenen Schlag gegen das Leder am Schuh.

Sie brachte ihn immer bis an die erste Stufe der Treppe. Wenn sein Pferd noch nicht herangeführt war, blieb sie da. Man hatte sich verabschiedet, sprach nicht mehr; um sie war die freie Luft, und sie hob ihr die kleinen Haare im Nacken wirr durcheinander oder zerrte am Schürzenband über ihrer Hüfte, daß es sich wand wie ein Wimpel. Einmal, bei Tauwetter, tropfte es von den Rinden der Bäume auf den Hof herab, und der Schnee auf den Bedachungen der Gebäude schmolz. Sie stand auf der Schwelle; ging ihren Schirm holen, machte ihn auf. Die taubengraue Seide des Schirms beleuchtete, sonnendurchschimmert, mit huschendem Flimmern die weiße Haut in ihrem Gesicht: sie lächelte darunter in der lauen Wärme‚ und man hörte die Wassertropfen, einen um den andern, auf den gespannten Stoff fallen.“

Kann man sich ein frischeres Bild denken oder eines, das feiner oder besser umrissen, besser beleuchtet wäre, eines, das die Erinnerung an Formen der Antike besser ins Moderne hinübertäuschen könnte? Dieses Geräusch der Tropfen von geschmolzenem Schnee, die auf den Schirm fallen, erinnert mich an jenes andere der Eistropfen, die klingen, wenn sie von den Zweigen auf die trockenen Blätter am Steig fallen: in den „Mittagsspaziergängen im Winter" von William Cowper. Eine köstliche Eigenschaft unterscheidet Herrn Gustave Flaubert von den andern mehr oder minder genauen Beobachtern, die heutzutage darauf aus sind, einzig die Wirklichkeit ins Bewußtsein zu bringen und die es manchmal treffen: er hat Stil. Er hat sogar ein bißchen zuviel davon; seiner Feder behagen Absonderlichkeiten und Winzigkeiten, die er unaufhörlich beschreibt, und das schadet gelegentlich dem Gesamteindruck. Bei ihm werden die Dinge und die Gestalten, die er am meisten betrachtet haben mochte, ein wenig verlöscht oder verdrängt durch das allzu deutliche Hervortreten von Gegenständen um sie herum. Madame Bovary selbst, dieses Fräulein Emma, das wir soeben und so reizvoll auftreten sahen, wird uns so oft im einzelnen und im kleinsten beschrieben, daß ich nicht recht imstande bin, ihren äußeren Eindruck als Ganzes festzuhalten, und sie ist mir weder vollkommen deutlich noch bleibend gegenwärtig.

Die erste Frau Bovary stirbt, und Fräulein Emma wird die zweite und einzige Frau Bovary. Das Kapitel von der Hochzeitsfeier in Bertaux ist ein vollendetes Gemälde von reicher, fast überquellender Wirklichkeitstreue, ein Gemisch von Natürlichkeit und Sonntagsgeziere, von Häßlichkeit, Steifheit, grober Freude und auch Anmut, von Üppigkeit und gefühlvoller Schilderung. Diese Hochzeit, der Besuch und der Ball auf dem Schloß von Vaubyessard, der dazu förmlich das Gegenstück bietet, dieser ganze Auftritt der Landwirtschaftsversammlung, der späterhin folgen wird, das gibt Bilder, die man, wären sie gemalt, wie sie geschildert sind, in einer Galerie zu dem besten Genre hängen könnte.

So ist also Emma Frau Bovary geworden, daheim in dem Häuschen von Tostes mit seinen engen Räumen und mit einem Gärtchen, das eher tief als breit ist und nach den Feldern zu liegt. Alsbald bringt sie Ordnung hinein, Sauberkeit, einen Schein von Eleganz; der Mann, der nur daran denkt, ihr etwas Liebes zu tun, kauft einen gerade erreichbaren Kutschierwagen, damit sie nach Belieben auf der Landstraße oder in die Umgebung hinausfahren könne. Und er ist, zum erstenmal in seinem Leben, glücklich, er merkt's; tagsüber mit seinen Kranken beschäftigt, findet er, wenn er heimkommt, Frieden und süßen Rausch; er ist in seine Frau verliebt. Er wünscht sich nichts mehr, als daß dieses bürgerlich-ruhige Glück dauere. Aber sie, die Besseres erträumte und sich in der Mädchenlangenweile mehr als einmal gefragt hat, wie man es anstellen müßte, um glücklich zu sein, sie merkt rasch genug, und seit den Flitterwochen, daß sie es nicht ist.

Hier beginnt eine tiefgründige, feine, gedrängte Analyse; ein grausames Sezieren hebt an und hört nicht mehr auf; wir dringen in das Herz der Frau Bovary. Wie wäre da zu sondern? Sie ist eine Frau; ist, im Beginn, nur romantisch, ist durchaus nicht verderbt. Der Maler, Herr Gustave Flaubert, schont sie nicht. Er verrät uns die raffinierten, koketten Liebhabereien des kleinen Mädchens, des Pensionsfräuleins, er zeigt sie verträumt und maßlos empfänglich für allerhand Vorstellungen, er treibt seinen Spott mit ihr und kennt kein Erbarmen. Darf ich's gestehen? Man ist, genau genommen, nachsichtiger gegen sie, als er zu sein scheint. Emma hat, an dem Platz, der ihr nun zugewiesen ist und an dem sie etwas sein sollte, eine Eigenschaft zu viel oder eine Tugend zu wenig: das ist der Beginn ihres ganzen Unrechts und ihr Unglück. Die Eigenschaft, die sie zu viel hat — sie ist eben nicht nur eine romantische Natur, sondern auch eine, die Bedürfnisse des Herzens, des Verstandes, Ehrgeizes kennt, die ein höheres, reicheres, ein mehr verfeinertes Dasein ersehnt als das, wie es ihr eben zuteil geworden ist. Und die Tugend, die ihr fehlt — sie hat nicht gelernt, daß die Grundbedingung eines ordentlichen Lebens die Fähigkeit ist, Langeweile ertragen zu können, dieses ungewisse Entbehren, diesen Mangel an einem angenehmeren, unseren Neigungen besser entsprechenden Dasein; sie versteht es nicht, sich ganz still zu fügen, ohne sich etwas merken zu lassen, vermag es nicht, sich selber, sei es in der Liebe ihres Kindes, sei es durch ein nützliches Wirken in ihrer Umgebung, Verwendung für ihren Tätigkeitsdrang zu schaffen, Bindung, Schutz, einen Zweck. Kein Zweifel, sie kämpft dagegen an und kehrt sich nicht an einem Tag vom rechten Weg ab, sie wird ein paarmal, jahrelang ansetzen müssen, bevor sie ins Verderben rennt. Aber sie tut jeden Tag einen Schritt näher hin, und zuletzt ist sie verirrt und toll verloren. Doch ich berede es, und der Verfasser der Madame Bovary hat nur vorgehabt, uns seine Gestalt Tag für Tag, Minute für Minute in ihrem Denken und Handeln zu zeigen.

Die langen, schwermütigen Tage, die Emma in der Einsamkeit verbringt, in den ersten Monaten ihrer Ehe sich selber überlassen, ihre Spaziergänge bis an das Buchenwäldchen von Banneville in Gemeinschaft mit Djali, dem getreuen Windspiel, Grübeleien ins Endlose über ihr Schicksal, ihre Fragen, wie es sonst hätte kommen können, alles das wird abgelöst und abgeleitet mit der gleichen analytischen Feinheit, mit gleich zartem Verständnis wie in einem noch so sehr verinnerlichten Roman früherer Zeit, noch so sehr bestimmt, Träumen Nahrung zu geben. Die Eindrücke draußen in der Natur, sie dringen wie in den Tagen des René oder Oberman über Launen und Anfälle in ihre bekümmerte Seele und erwecken unbestimmte Sehnsucht:

„Es kam manchmal in Stößen der Wind, kamen Brisen vom Meer, fegten in einem Ansprung über das ganze Plateau von Caux und brachten weit hinein ins Gefilde eine salzige Frische. Das Rohr pfiff dicht an der Erde, und die Buchenblätter rauschten in heftigem Schauer auf, während die Wipfel, immerzu schaukelnd, unaufhörlich murmelten. Emma preßte ihr Tuch um die Schultern und stand auf.

In der Allee erhellte grünes Licht, vom Laubwerk niedergedrückt, das rosige Moos; leise krachte es unter ihren Schritten. Die Sonne senkte sich; der Himmel flammte zwischen den Zweigen, und die gleichragenden Stämme der Bäume, in gerader Linie gepflanzt, sahen aus wie braune Säulen über einem Goldgrund. Es ergriff sie Angst, sie rief Djali, ging schnell auf der Straße nach Tostes zurück, sank in einen Lehnstuhl und sprach über den ganzen Abend hin nichts.“

Um diese Zeit gibt ein Nachbar, der Marquis d’Andervilliers, der als Politiker seine Wahl vorbereitet, einen großen Ball auf seinem Schloß, und er lädt alles ein, was in der Umgebung Glanz und Einfluß hat. Ein Zufall hat ihn mit Bovary bekannt gemacht, der ihn, in Ermangelung eines anderen Arztes, einmal von einem Abszeß an der Lippe geheilt hat; der Marquis hat dann gelegentlich in Testes Madame Bovary gesehen und sie mit einem Blick würdig befunden, zu dem Ball geladen zu werden. Und so kommt es zu dem Besuch von Herrn und Frau Bovary auf Schloß Vaubyessard; es ist eine der wichtigsten Stellen im Buch, ist mit besonderem Können erreicht.

Dieser Abend, an dem Emma so höflich empfangen wird, wie es einer jungen, schönen Frau überall gewiß ist, da sie schon beim Eintreten einen Hauch des aristokratisch-eleganten Lebens atmet, von dem sie träumt, eben das, wofür sie sich geboren glaubt, der Abend, an dem sie tanzt, sich im Walzer wiegt, ohne es gelernt zu haben, alles errät, was vonnöten ist und einen ganz anständigen Erfolg hat, dieser Abend berauscht sie und wird mit schuld an ihrem Untergang: sie ist wie vergiftet von dem Parfüm. Das Gift wirkt nur langsam, aber es ist in ihre Adern gedrungen, ist nicht mehr wegzubekommen. Alle Vorfälle, und selbst die nichtigsten an diesem denkwürdig-einzigen Abend, bleiben ihr ins Herz geprägt, und da arbeitet es dumpf weiter: „Ihre Reise nach Vaubyessard hatte eine Bresche in ihr Leben gerissen, vergleichbar den großen Spalten, die der Sturm in einer einzigen Nacht im Gebirge manchmal aushöhlt." Wie sie am Tage nach dem Ball frühmorgens von Vaubyessard abreisen und zur Speisestunde daheim sind und sich nun, Herr und Frau Bovary, in dem kleinen Zuhause wiederfinden, vor ihrem bescheidenen Tisch, auf dem eine Zwiebelsuppe dampft und ein Stück Kalbfleisch in Sauerampfer, und wie sich dann Bovary die Hände reibt vor Glück und sagt: „Es freut einen, wieder daheim zu sein“ — da blickt sie mit unaussprechlicher Verachtung zu ihm hin. Sie hat seit gestern im Geist einen tüchtigen Weg gemacht und in ganz entgegengesetzter Richtung. Als die zwei in ihrem Wägelchen zu dem Fest hinfuhren, waren sie nur sehr verschiedene Menschen: jetzt, da sie zurück sind, trennt sie ein Abgrund.

Ich kürze da, was Seiten füllt und sich über Jahre hin dehnt. Die Gerechtigkeit muß man Emma widerfahren lassen: sie braucht Zeit. Sie möchte ihrer angespannten Tugend zu Hilfe kommen; und sie sucht in sich und ringsum. In sich: aber sie hat einen schweren Fehler, sie hat nicht viel Herz; ihre Phantasie hat frühzeitig alles eingenommen, alles erfüllt. Um sich herum: neues Unheil! Der gute Charles, der sie liebt und den sie manchen Augenblick versuchen will wieder zu lieben, hat nicht die Art, sie zu verstehen oder zu erraten. Wenn er wenigstens Ehrgeiz hätte, sich's angelegen sein ließe, in seinem Beruf hervorzuragen, sich durch Studium, durch Arbeit emporzumühen, seinen Namen zu Ehren und Geltung zu bringen! Aber nein, er hat keinen Ehrgeiz, keine Wißbegierde, nichts von den Trieben, die einen über seinen Kreis hinausbringen, vorwärts drängen, eine Frau überall stolz sein lassen auf den Namen, den sie trägt. Darüber regt sie sich auf: „Das ist doch kein Mann, dieser Mensch. Ein armer Teufel, ruft es in ihrem Innern, ein ganz armer Teufel.“ Einmal durch ihn gedemütigt, wird sie ihm nicht mehr verzeihen.

[…]

Quelle: [Charles-Augustin] Sainte-Beuve: Literarische Portraits. Aus dem Frankreich des XVII. - XIX. Jahrhunderts. Herausgegeben von Stefan Zweig. Gerd Hatje, Calw, 1947. Zitiert wurde der Beginn des Porträts "Flaubert / Madame Bovary", Seite 803 ff. (übersetzt von Paul Stefan)

Die Abbildungen zu diesem Artikel zeigen Jennifer Jones in der Rolle der Emma Bovary in der Verfilmung von Vincente Minnelli (USA, 1949)


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Giacinto Scelsi beim Musikprotokoll 1989 (Steirischer Herbst, ORF) | Fanny von Galgenberg - die älteste Frauenstatuette der Welt


Susie Ibarra Trio: Songbird Suite (2002) | Die Anamorphose deformierte absichtlich ihre Bildgegenstände, die nur von einem genau festgelegten und ausgerichteten Standpunkt aus gesehen sich zu erkennbaren Bilder zusammensetzten.

Aribert Reimanns Klavierwerke | "Was soll man zu der Eisenbahn von Herrn Manet sagen? Es ist nicht möglich, mit größerem Talent schlechter zu malen."

Prokofjew: Violinsonaten Nr. 1 & 2 - Fünf Melodien op. 35bis | 歌川 広重 Utagawa Hiroshige - Die Landschaft erobert den Holzschnitt



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9. März 2020

Henri Pousseur: Aquarius-Memorial

Henri Pousseur (1929-2009), einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten in Belgien, war noch keine 20 Jahre alt, als er den Weg der seriellen Musik einschlug, und dieser Schritt hat aus ihm, neben Pierre Boulez und Karl-Heinz Stockhausen, einen der Pioniere und später einen der Hauptvertreter der Avantgarde und der verschiedenen daraus entstandenen Wege gemacht. Als leidenschaftlicher Forscher und Theoretiker ist er allen Klangwelten und allen Beiträgen, die das musikalische Schaffen erweitern können, gegenüber offen, und es war ihm sehr früh bewusst, wie schwierig es ist, sich der kreativen Subjektivität zu entziehen, und ebenso, dass der Komponist der ausschließliche Meister seines Werkes ist. Hierher stammt seine Vorliebe für das Konzept des "oeuvre ouverte" (offenes Werk), das Umberto Eco übernehmen wird, und bei dem versucht wird, die Distanz zwischen Komponist und Interpret zu reduzieren, wenn nicht sogar zwischen Komponist, Interpret und Publikum.

So entstanden Ende der 50er Jahre eine Anzahl von Werken, bei denen es dem Interpreten oder dem Publikum oder sogar beiden ermöglicht wurde, sowohl das Material auszuwählen als auch den Verlauf des Szenarios zu beeinflussen. Das ist zum Beispiel der Fall bei Scambi aus elektronischen Klängen, bei Mobile für zwei Klaviere, bei Répons für sieben Musiker und einen Schauspieler, bei Ephémérides d'Icare 2 für einen Solisten und ein in ein Trio und ein Quartett geteiltes Instrumentalensemble, bei der "fantaisie variable, genre opéra" (variablen Fantasie in der Art einer Oper) Votre Faust, erstes Opus (1961-1967) aus einer treuen und fruchtbaren Zusammenarbeit mit Michel Butor, bei dem die letzte Szene und der Weg dorthin von der Wahl des Publikums abhängt, welches an einigen Stellen eingreifen kann.

Diese dem Interpreten und dem Publikum eingeräumte Freiheit, und auch die soziale Utopie (mit klar formulierten Übernahmen von Fourier), auf der sie basiert - eines von Pousseurs Werken, geschrieben 1971 und Erweiterung von Ephémérides, heißt Invitation à l'Utopie - haben einen Dialog ausgelöst, eine dialektische Erforschung und Bemächtigung, mit mehr oder weniger von unserer musikalischen Tradition entfernten Momenten der Vergangenheit - Votre Faust, die Erprobung des Petrus Hebraicus / Le Procès du jeune chien, Seconde Apothéose de Rameau, Dichterliebesreigentraum, L'Effacement du prince Igor ... - und mit seiner eigenen Produktion - die vielen Satellitenwerke von Votre Faust, La Guirlande de Pierre ...

Henri Pousseur (1929-2009)
Es ist diese Tendenz zur reduzierten Dichte und zum Prozess einer "Begegnung-Übernahme-Dialog", die in ihrem Konzept der großen "offenen" Form und ihrer Entstehung als "work in progress" die vier Stücke des Zyklus Aquarius-Memorial illustriert. Es handelt sich um eine Sammlung, die Henri Pousseur zwischen 1994 und 1999 im Rahmen seiner sechsjährigen "Amtszeit" an der Universität von Leuven, die ihm nach dem Tod von Karel Goeyvaerts, der diese Position voher inne hatte, angeboten wurde, komponiert hat. Die Anordnung der Stücke (die nicht die originale, chronologische ist) verläuft wie ein Stoffstrang aus Beziehungen und Zusammenfügungen von Erinnerungsteilen: Les Litanies d'Icare, Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine, Les Fouilles de Jéruzona und Icare aux jardins du Verseau.

Goeyvaerts, um einige Jahre älter als Pousseur, spielte im flämischen Teil des Landes eine ähnliche Rolle wie Pousseur im französischen: als Pionier der post-seriellen Avantgarde (Sonate pour deux pianos von 1950/51) hat er sich der elektronischen Musik zugewandt, um dann zu einer freieren Schreibweise in Kombination mit traditionelleren Mitteln zurückzukehren. Die letzten Jahre seines Lebens dienen dem Reifungsprozess (fünf Litanie für verschiedene Solisten und kleine Ensembles, komponiert zwischen 1979 und 1982) und zwischen 1983 und 1993 der definitiven Ausarbeitung des visionären, utopischen und "abstrakten" Opern-Oratoriums Aquarius. Es ist für 16 Stimmen und großes Orchester komponiert und wurde kurz nach dem Ableben des Autors in Antwerpen und später in Brüssel von Pierre Bartholomée und dem Orchestre Philharmonique de Liège uraufgeführt.

Aquarius-Memorial lebt somit von der Ähnlichkeit in der intellektuellen und künstlerischen Entwicklung und von der thematischen Verwandtschaft.

Karel Goeyvaerts (1923-1993)
Mit einem großen Stück für Klavier solo - das Klavier war Goeyvaerts Instrument - hat Pousseur den posthumen Dialog mit dem Werk und dem Idiom seines älteren Kollegen eingeleitet, und hat sich dabei durch die Übernahme von Themen aus Icare und Mnémosyne der utopischen, symbolisierten Thematik bedient. Die gleichen Titel einiger ihrer Partituren sind rein zufällig - ohne über die Projekte von Goeyvaerts informiert zu sein, hatte auch Pousseur in den 80er Jahren eine Serie von Litanies komponiert, bei der er auf seine Weise die Frage der Wiederholbarkeit behandelt hat.

Die Litanies d'Icare entwickeln sich aus sehr einfachem Material: die Ton-Konstellation A, E, G, A, Es, die sich durch die fünf Teile des Werkes zieht, findet sich (A, E, G, A, S) in dem Namen von Karel Goeyvaerts. Dieses Material ist nach einem für Henri Pousseur seit über 35 Jahren sehr wichtigen Prinzip organisiert, als ein Netzwerk, das Transformationsprinzipien unterworfen ist und sich fortschreitend in einem einzigen "Klangbogen" ausbreitet, "ein liebevolles Heraufbeschwören einer Abwesenheit" (H. Pousseur). Das Werk wurde als erster Teil des Zyklus Aquarius-Memorial, das nach damaligem Plan drei Teile enthalten sollte, von Frederic Rzewski im Februar 1995 in Leuven im Rahmen des Festivals "Nieuwe Stemmen" uraufgeführt.

Die beiden folgenden Stücke richten sich nur an das Orchester, und zwar das der Beethoven Akademie mit seinen 36 Musikern unter der Leitung von Jan Caeyers, welches im ersten Teil, Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine, durch einen Schlagzeuger bereichert ist. Es entstand später als die in offener Form komponierten Fouilles de Jéruzona und wurde, als Antwort auf eine ausdrückliche Anfrage nach einem relativ kurzen Stück in traditioneller Schreibweise, im Oktober 1998 uraufgeführt. Es war von Anfang an als Einführung in den ersten Entwurf konzipiert, wo es eine Art Scherzo darstellt, und bildet auf diese Weise mit den grammatikalischen Elementen des gesamten Zyklus ein Echo zu dem Kammermusiktheaterstück Don Juan à Gnide ou les Séductions de la Chasteté, welches 1996 zum 70. Geburtstag von Michel Butor komponiert wurde, sowie zu dessen Serien von in proportionalen Verhältnissen organisierten Tanzrhythmen (Passepied, Gigue, Badinerie / Bosniaque, Gaillarde, Thébaine / Sarabande, Sicilienne, Pavane) und auch zur Erinnerung - variiert in Rhythmus, Stärke, Klangfarbe und Register -an die melodischen Konturen der Romanze Le temps des Cerises, die seit Anfang der 70er Jahre ein wichtiges Thema der Pousseurschen Utopie waren.

Pierre Bartholomée (* 1937)
Das zweite Stück ist nur für Orchester, und der Titel Les Fouilles de Jéruzona erinnert durch seine Mischung und Verkettung der, von nun an nicht mehr vorhandenen, historischen Zitate an Ruines de Jéruzona, eines der zahlreichen 20 Jahre früher komponierten Satellitenwerke von Votre Faust. Denn aus der Gesamtheit der kreativen Initiativen jedes einzelnen Interpreten wird eine neue Musik aus dem Reservoir an Noten, die ihm die Partitur anbietet, geschaffen, welche der Komponist als "jungfräulich" bezeichnet. Dieses Konzept der mehr oder weniger spontanen Öffnung und Improvisation, die Pousseur seit mehr als vierzig Jahren studiert und ausfeilt, damit es nicht zu Unordnung oder Unleserlichkeit der Musik führt, wird hier auf relativ strenge Wiederholungsphänomene angewendet, die dem späten Goeyvaerts sehr wichtig waren:

Jeder der 36 Musiker (organisiert in Sechsergruppen) muss eine bestimmte Anzahl an ziemlich einfachen Figuren erfinden, die dann nach einer durch die Partitur festgelegten polyphonen Steigerung wiederholt werden, aber gleichzeitig die anfängliche Wahl der Interpreten verändern. Es folgt eine zentrale, etwas träumerische Episode, bei der die Improvisation, die weiterhin auf den gegebenen allgemeinen Harmonien, dieselben wie in Litanies d'Icare, wo sie vollständig bestimmt sind, basiert, etwas flexibler ist. Das Stück endet mit einer Reprise des Materials, das in dem ersten Teil geschaffen wurde, und nimmt an Komplexität in der Art eines Decrescendos ab. Dieser Teil von Aquarius-Memorial wurde von seinen Widmungsträgern im Herbst 1995 uraufgeführt.

Frederic Rzewski (* 1938)
Das letzte Stück des Zyklus, Icare aux Jardins du Verseau, wurde schließlich im Winter 1998/99 komponiert und ist bei weitem das längste und komplexeste: in einer Art Synthese der drei anderen verbindet es das Klavier solo mit dem Orchester aus 37 Musikern (weiterhin geteilt in Sechsergruppen und einen zusätzlichen Schlagzeuger in halbsolistischer Funktion). Die Struktur des Ensembles greift auf die von Litanie d'Icare zurück, indem sie in allen Dimensionen vervielfacht wird: das von dem Klavier geführte Orchester spielt bis zu vier Variationen der Litanies gleichzeitig, was die Dichte merklich verstärkt, während der Solist seinerseits langsam immer freiere Improvisationen hinzufügt. Im Moment des Höhepunktes dieser Entwicklung, ungefähr nach drei Viertel der Zeit, erscheinen breite Zitate aus Fouilles de Jéruzona, zu denen sich noch überarbeitete, in neue prismatische Transformationen gelangte Erinnerungen aus Danseurs gnidiens mischen. Dieses mehr und mehr überladene bunte Treiben führt in eine große Kadenz, bei der der Solist all seine improvisatorischen Fähigkeiten maximal entfalten kann. Durch ein schnelles Abnehmen von der stärksten zu einer sehr reduzierten Dichte, welche den ersten Klavierteil beendet, gelangt man dann in die Atmosphäre der Litanies zurück.

So schließt sich der Kreis, und das Wenigerwerden, mit dem drei seiner Bestandteile, hier besonders feinfühlend, enden, ist wie die Wiederholung des bewegten Abschiednehmens von einem Komponisten, "dessen lächelndes Schweigen geheimnisvolle Tiefe heraufbeschwörte" (Henri Pousseur).

Die vollständige Version von Aquarius-Memorial wurde im Oktober 2000 in Leuven von Frederic Rzewski und der Beethoven Academie unter der Leitung von Pierre Bartholomée uraufgeführt.

Quelle: Marie-Isabelle Collart (Übersetzung: Monica Winterson), im Booklet


This is an aerial view of Times Square looking north from the New York Times
 newspaper building at 42nd St., during a dim-out in midtown Manhattan on
May 20, 1942 in World War II. The large signs illuminating Broadway,
street on left, are out in addition to the marquee lights above the theaters
 and restaurants along Seventh Ave., right.

TRACKLIST

Henri Pousseur
(1929-2009)


Aquarius-Memorial

01 Les litanies d'Icare                              24:14

02 Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine   11:21

03 Les fouilles de Jéruzona                          17:31

04 Icare aux jardins du verseau                      28:44

                                          Total time 79:02
                                          
Frederic Rzewski, Piano

Beethoven Academie, directed by Pierre Bartholomée
                                          
                                          
Recording: Leuven, Lemmens Institut, 23 October 2000 (live) and 24 October
Producer: Michel Stockhem
Sound Engineer: Emmanuelle Bailliet 
Editing: Emmanuelle Bailliet 
Premastering: Louis-Philippe Fourez

(P)(C) 2001 


Theodor W. Adorno:

Minima Moralia

Aus dem zweiten Teil der Minima Moralia (1945)

Customers gather at soft drink stand during a dimout in Times Square,
New York, May 21, 1942. Dimouts were necessary to conserve energy and
also cloak the city and surrounding waters in darkness in case of enemy attack.
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Moral und Stil. — Man wird als Schriftsteller die Erfahrung machen, daß, je präziser, gewissenhafter, sachlich angemessener man sich ausdrückt, das literarische Resultat für um so schwerer verständlich gilt, während man, sobald man lax und verantwortungslos formuliert, mit einem gewissen Verständnis belohnt wird. Es hilft nichts, alle Elemente der Fachsprache, alle Anspielungen auf die nicht mehr vorgegebene Bildungssphäre asketisch zu vermeiden. Vielmehr bewirken Strenge und Reinheit des sprachlichen Gefüges, selbst bei äußerster Einfachheit, ein Vakuum. Schlamperei, das mit dem vertrauten Strom der Rede Schwimmen, gilt für ein Zeichen von Zugehörigkeit und Kontakt: man weiß, was man will, weil man weiß, was der andere will. Beim Ausdruck auf die Sache schauen, anstatt auf die Kommunikation, ist verdächtig: das Spezifische, nicht bereits dem Schematismus Abgeborgte erscheint rücksichtslos, ein Symptom der Eigenbrötelei, fast der Verworrenheit. Die zeitgemäße Logik, die auf ihre Klarheit so viel sich einbildet, hat naiv solche Perversion in der Kategorie der Alltagssprache rezipiert. Der vage Ausdruck erlaubt dem, der ihn vernimmt, das ungefähr sich vorzustellen, was ihm genehm ist und was er ohnehin meint. Der strenge erzwingt Eindeutigkeit der Auffassung, die Anstrengung des Begriffs, deren die Menschen bewußt entwöhnt werden, und mutet ihnen vor allem Inhalt Suspension der gängigen Urteile, damit ein sich Absondern zu, dem sie heftig widerstreben. Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei. Wer ihr entgehen will, muß jeden Rat, man solle auf Mitteilung achten, als Verrat am Mitgeteilten durchschauen.

After 18 months in the dark, theater marquees on Broadway light up again while
 underneath the crowds come out of the dimout gloom in New York, Nov. 2, 1943.
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Pseudomenos. — Die magnetische Gewalt, welche die Ideologien über die Menschen ausüben, während sie ihnen bereits ganz fadenscheinig geworden sind, erklärt sich jenseits der Psychologie aus dem objektiv bestimmten Verfall der logischen Evidenz als solcher. Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher Präformation trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die Institutionen der öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend faktische Belege und alle Beweiskraft mitgeben, deren die totale Verfügung habhaft werden kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Charakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist überdies zu arm, um in Konkurrenz mit dem hochkonzentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen. Über den gesamten Mechanismus belehrt das deutsche Extrem. Als die Nationalsozialisten zu foltern begannen, terrorisierten sie damit nicht nur die Völker drinnen und draußen, sondern waren zugleich vor der Enthüllung um so sicherer, je wilder das Grauen anstieg. Dessen Unglaubwürdigkeit machte es leicht, nicht zu glauben, was man um des lieben Friedens willen nicht glauben wollte, während man zugleich davor kapitulierte. Die Zitternden reden sich darauf hinaus, es werde doch viel übertrieben: bis in den Krieg hinein waren in der englischen Presse Einzelheiten über die Konzentrationslager unerwünscht. Jedes Greuel in der aufgeklärten Welt wird notwendig zum Greuelmärchen. Denn die Unwahrheit der Wahrheit hat einen Kern, auf den das Unbewußte begierig anspricht. Nicht nur wünscht es die Greuel herbei. Sondern der Faschismus ist in der Tat weniger »ideologisch«, insoweit er das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert, das anderswo sich versteckt. Was immer die Demokratien an Humanem ihm entgegenzustellen haben, kann er spielend widerlegen mit dem Hinweis darauf, daß es ja doch nicht die ganze Humanität, sondern bloß ihr Trugbild sei, dessen er mannhaft sich entäußerte. So desperat aber sind die Menschen in der Kultur geworden, daß sie auf Abruf das hinfällige Bessere fortwerfen, wenn nur die Welt ihrer Bosheit den Gefallen tut zu bekennen, wie böse sie ist. Die politischen Gegenkräfte jedoch sind gezwungen, selbst immer wieder der Lüge sich zu bedienen, wenn nicht gerade sie als destruktiv völlig ausgelöscht werden wollen. Je tiefer ihre Differenz vom Bestehenden, das ihnen doch Zuflucht gewährt vor der ärgeren Zukunft, um so leichter fällt es den Faschisten, sie auf Unwahrheiten festzunageln. Nur die absolute Lüge hat noch die Freiheit, irgend die Wahrheit zu sagen. In der Vertauschung von Wahrheit und Lüge, die es fast ausschließt, die Differenz zu bewahren, und die das Festhalten der einfachsten Erkenntnis zur Sisyphusarbeit macht, kündet der Sieg des Prinzips in der logischen Organisation sich an, das militärisch am Boden liegt. Lügen haben lange Beine: sie sind der Zeit voraus. Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht, der Wahrheit selber nicht sich entziehen kann, wenn sie nicht von der Macht vernichtet werden will, unterdrückt sie nicht bloß, wie in früheren Despotien, sondern hat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr und Falsch ergriffen, an deren Abschaffung die Söldlinge der Logik ohnehin emsig mitwirken. So überlebt Hitler, von dem keiner sagen kann, ob er starb oder entkam.

A huge crowd in New York’s Times Square jubilantly welcome the news that
 the Japanese had accepted the allies terms of surrender on Aug. 14, 1945.
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Galadiner. — Wie Fortschritt und Regression heute sich verschränken, ist am Begriff der technischen Möglichkeiten zu lernen. Die mechanischen Reproduktionsverfahren haben sich unabhängig von dem zu Reproduzierenden entfaltet und verselbständigt. Sie gelten für fortschrittlich‚ und was an ihnen nicht teilhat für reaktionär und krähwinklerisch. Solcher Glaube wird um so gründlicher gefördert, als die Superapparaturen‚ sobald sie irgend ungenützt bleiben, in Fehlinvestitionen sich zu verwandeln drohen. Da aber ihre Entwicklung wesentlich das betrifft, was unterm Liberalismus Aufmachung hieß, und zugleich durch ihr Eigengewicht die Sache selber erdrückt, der ohnehin die Apparatur äußerlich bleibt, so hat die Anpassung der Bedürfnisse an diese den Tod des sachlichen Anspruchs zur Folge. Der faszinierte Eifer, die jeweils neuesten Verfahren zu konsumieren, macht nicht nur gegen das Übermittelte gleichgültig, sondern kommt dem stationären Schund und der kalkulierten Idiotie entgegen. Sie bestätigt den alten Kitsch in immer neuen Paraphrasen als haute nouveauté. Auf den technischen Fortschritt antwortet der trotzige und bornierte Wunsch, nur ja keinen Ladenhüter zu kaufen, hinter dem losgelassenen Produktionsprozeß nicht zurückzubleiben, ganz gleichgültig, was der Sinn des Produzierten ist. Mitläufertum, das sich Drängeln, Schlange Stehen substituiert allenthalben das einigermaßen rationale Bedürfnis. Kaum geringer als der Haß gegen eine radikale, allzu moderne Komposition ist der gegen einen schon drei Monate alten Film, dem man den jüngsten, obwohl er von jenem in nichts sich unterscheidet, um jeden Preis vorzieht. Wie die Kunden der Massengesellschaft sogleich dabei sein wollen, können sie auch nichts auslassen. Wenn der Kenner des neunzehnten Jahrhunderts sich nur einen Akt der Oper ansah, mit dem barbarischen Seitenaspekt, daß er sein Diner von keinem Spektakel sich mochte verkürzen lassen, so kann mittlerweile die Barbarei, der die Auswegsmöglichkeit zum Diner abgeschnitten ist, an ihrer Kultur sich gar nicht sattfressen. Jedes Programm muß bis zu Ende abgesessen‚ jeder best seller gelesen, jeder Film während seiner Blütetage im Hauptpalast beguckt werden. Die Fülle des wahllos Konsumierten wird unheilvoll. Sie macht es unmöglich, sich zurechtzufinden, und wie man im monströsen Warenhaus nach einem Führer sucht, wartet die zwischen Angeboten eingekeilte Bevölkerung auf den ihren.

An open pushcart vendor cleans fresh fish before weighing it for a customer
 at the corner of Orchard St. and Stanton in the Jewish section of New York’s
 Lower East Side on June 1, 1946.
86

Hänschen klein. — Der Intellektuelle, und gar der philosophisch gerichtete, ist von der materiellen Praxis abgeschnitten: der Ekel vor ihr trieb ihn zur Befassung mit den sogenannten geistigen Dingen. Aber die materielle Praxis ist nicht nur die Voraussetzung seiner eigenen Existenz, sondern liegt auch auf dem Grunde der Welt, mit deren Kritik seine Arbeit zusammenfällt. Weiß er nichts von der Basis, so zielt er ins Leere. Er steht vor der Wahl, sich zu informieren oder dem Verhaßten den Rücken zu kehren. Informiert er sich, so tut er sich Gewalt an, denkt gegen seine Impulse und ist obendrein in Gefahr, selber so gemein zu werden wie das, womit er sich abgibt, denn die Ökonomie duldet keinen Spaß, und wer sie auch nur verstehen will, muß »ökonomisch denken«. Läßt er sich aber nicht darauf ein, so hypostasiert er seinen an der ökonomischen Realität, dem abstrakten Tauschverhältnis überhaupt erst gebildeten Geist als Absolutes, während er zum Geist werden könnte einzig in der Besinnung auf die eigene Bedingtheit. Der Geistige wird dazu verführt, eitel und beziehungslos den Reflex für die Sache unterzuschieben. Die einfältig-verlogene Wichtigkeit, wie sie Geistesprodukten im öffentlichen Kulturbetrieb zugewiesen wird, fügt Steine zu der Mauer hinzu, welche die Erkenntnis von der wirtschaftlichen Brutalität absperrt. Dem Geistesgeschäft verhilft die Isolierung des Geistes vom Geschäft zur bequemen Ideologie. Das Dilemma teilt sich den intellektuellen Verhaltensweisen bis in die subtilsten Reaktionen hinein mit. Nur wer gewissermaßen sich rein erhält, hat Haß, Nerven, Freiheit und Beweglichkeit genug, der Welt zu widerstehen, aber gerade vermöge der Illusion der Reinheit — denn er lebt als »dritte Person« — läßt er die Welt nicht draußen bloß, sondern noch im Innersten seiner Gedanken triumphieren. Wer aber das Getriebe allzu gut kennt, verlernt darüber es zu erkennen; ihm schwinden die Fähigkeiten der Differenz, und wie den anderen der Fetischismus der Kultur, so bedroht ihn der Rückfall in die Barbarei. Daß die Intellektuellen zugleich Nutznießer der schlechten Gesellschaft und doch diejenigen sind, von deren gesellschaftlich unnützer Arbeit es weithin abhängt, ob eine von Nützlichkeit emanzipierte Gesellschaft gelingt — das ist kein ein für allemal akzeptabler und dann irrelevanter Widerspruch. Er zehrt unablässig an der sachlichen Qualität. Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch. Er erfährt drastisch, als Lebensfrage die schmähliche Alternative, vor welche insgeheim der späte Kapitalismus all seine Angehörigen stellt: auch ein Erwachsener zu werden oder ein Kind zu bleiben.

A pedestrian stops and enjoys a hot ear of corn from the vendor, at left,
with his corn cooking machine in New York, July 14, 1947.
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Dummer August. — Daß das Individuum mit Haut und Haaren liquidiert werde, ist noch zu optimistisch gedacht. Wäre doch in seiner bündigen Negation, der Abschaffung der Monade durch Solidarität, zugleich die Rettung des Einzelwesens angelegt, das gerade in seiner Beziehung aufs Allgemeine erst ein Besonderes würde. Weit entfernt davon ist der gegenwärtige Zustand. Das Unheil geschieht nicht als radikale Auslöschung des Gewesenen, sondern indem das geschichtlich Verurteilte tot, neutralisiert, ohnmächtig mitgeschleppt wird und schmählich hinunterzieht. Mitten unter den standardisierten und verwalteten Menscheneinheiten west das Individuum fort. Es steht sogar unter Schutz und gewinnt Monopolwert. Aber es ist in Wahrheit bloß noch die Funktion seiner eigenen Einzigkeit, ein Ausstellungsstück wie die Mißgeburten, welche einstmals von Kindern bestaunt und belacht wurden. Da es keine selbständige ökonomische Existenz mehr führt, gerät sein Charakter in Widerspruch mit seiner objektiven gesellschaftlichen Rolle. Gerade um dieses Widerspruchs Willen wird es im Naturschutzpark gehegt, in müßiger Kontemplation genossen. Die nach Amerika importierten Individualitäten‚ die durch den Import bereits keine mehr sind, heißen colorful personality. Ihr eifrig hemmungsloses Temperament, ihre quicken Einfälle, ihre »Originalität«, wäre es auch nur besondere Häßlichkeit, selbst ihr Kauderwelsch verwerten das Menschliche als Clownskostüm. Da sie dem universalen Konkurrenzmechanismus unterliegen und durch nichts anderes dem Markt sich angleichen und durchkommen können als durch ihr erstarrtes Anderssein, so stürzen sie sich passioniert ins Privileg ihres Selbst und übertreiben sich dermaßen, daß sie vollends ausrotten‚ wofür sie gelten. Sie pochen schlau auf ihre Naivetät, welche, wie sie rasch herausbekommen, die Maßgebenden so gern mögen. Sie verkaufen sich als Herzenswärmer in der kommerziellen Kälte, schmeicheln sich ein durch aggressive Witze, die von den Protektoren masochistisch genossen werden, und bestätigen durch lachende Würdelosigkeit die ernste Würde des Wirtsvolkes. Ähnlich mögen die Graeculi im römischen Imperium sich benommen haben. Die ihre Individualität feilhalten, machen als ihr eigener Richter freiwillig den Urteilsspruch sich zu eigen, den die Gesellschaft über sie verhängt hat. So rechtfertigen sie auch objektiv das Unrecht, das ihnen widerfuhr. Die allgemeine Regression unterbieten sie als privat Regredierte, und selbst ihr lauter Widerstand ist meist nur ein verschlageneres Mittel der Anpassung aus Schwäche.

A prospective customer grumbles under his breath at the prices scribbled on
 the window of this Bowery restaurant on New York’s Lower East Side,
Sept. 26, 1947. The high cost of living has hit the Bowery like every other
 place and it’s tough on the residents. One of the biggest selling items is
soup and coffee, for 10 cents. It used to be a Nickel. A room with a partition
 and an electric light is up from 30 cents to 40 cents.
The dormitories are 35 cents up from 20.
90

Taubstummenanstalt. — Während die Schulen die Menschen im Reden drillen wie in der ersten Hilfe für die Opfer von Verkehrsunfällen und im Bau von Segelflugzeugen, werden die Geschulten immer stummer. Sie können Vorträge halten, jeder Satz qualifiziert sie fürs Mikrophon, vor das sie als Stellvertreter des Durchschnitts plaziert werden, aber die Fähigkeit miteinander zu sprechen erstickt. Sie setzte mitteilenswerte Erfahrung, Freiheit zum Ausdruck, Unabhängigkeit zugleich und Beziehung voraus. Im allumgreifenden System wird Gespräch zur Bauchrednerei. Jeder ist sein eigener Charlie McCarthy: daher dessen Popularität. Insgesamt werden die Worte den Formeln gleich, die ehedem der Begrüßung und dem Abschied vorbehalten waren. Ein mit Erfolg auf die jüngsten Desiderate hin erzogenes Mädchen etwa müßte in jedem Augenblick genau sagen, was diesem als einer »Situation« angemessen ist, und wofür probate Anweisungen vorliegen. Solcher Determinismus der Sprache durch Anpassung aber ist ihr Ende: die Beziehung zwischen Sache und Ausdruck ist durchschnitten, und wie die Begriffe der Positivisten bloß noch Spielmarken sein sollen, so sind die der positivistischen Menschheit buchstäblich zu Münzen geworden. Es geschieht den Stimmen der Redenden, was der Einsicht der Psychologie zufolge der des Gewissens widerfuhr, von deren Resonanz alle Rede lebt: sie werden bis in den feinsten Tonfall durch einen gesellschaftlich präparierten Mechanismus ersetzt. Sobald er nicht mehr funktioniert, Pausen eintreten, die in den ungeschriebenen Gesetzbüchern nicht vorgesehen waren, folgt Panik. Um ihretwillen hat man sich auf umständliches Spiel und andere Freizeitbeschäftigungen verlegt, die von der Gewissenslast der Sprache dispensieren sollen. Der Schatten der Angst aber fällt verhängnisvoll über die Rede, die noch übrig ist. Unbefangenheit und Sachlichkeit in der Erörterung von Gegenständen verschwinden noch im engsten Kreis, so wie in der Politik längst die Diskussion vom Machtwort abgelöst ward. Das Sprechen nimmt einen bösen Gestus an. Er wird sportifiziert. Man will möglichst viele Punkte machen: keine Unterhaltung, in die nicht wie ein Giftstoff die Gelegenheit zur Wette sich eindrängte. Die Affekte, die im menschenwürdigen Gespräch dem Behandelten galten, heften sich verbohrt ans pure Rechtbehalten, außer allem Verhältnis zur Relevanz der Aussage. Als reine Machtmittel aber nehmen die entzauberten Worte magische Gewalt über die an, die sie gebrauchen. Immer wieder kann man beobachten, daß einmal Ausgesprochenes, mag es noch so absurd, zufällig oder unrecht sein, weil es einmal gesagt ward, den Redenden als sein Besitz so tyrannisiert, daß er nicht davon ablassen kann. Wörter, Zahlen, Termine machen, einmal ausgeheckt und geäußert, sich selbständig und bringen jedem Unheil, der in ihre Nähe kommt. Sie bilden eine Zone paranoischer Ansteckung, und es bedarf aller Vernunft, um ihren Bann zu brechen. Die Magisierung der großen und nichtigen politischen Schlagworte wiederholt sich privat, bei den scheinbar neutralsten Gegenständen: die Totenstarre der Gesellschaft überzieht noch die Zelle der Intimität, die vor ihr sich geschützt meint. Nichts wird der Menschheit nur von außen angetan: das Verstummen ist der objektive Geist.

A pedestrian walks between drifts of snow in Times Square in New York City,
 Dec. 27, 1947, following the record-breaking snowfall of the day before.
This view looks south on Broadway with the Times Building in the center
background.
91

Vandalen. — Was seit dem Aufkommen der großen Städte als Hast, Nervosität, Unstetigkeit beobachtet wurde, breitet nun so epidemisch sich aus wie einmal Pest und Cholera. Dabei kommen Kräfte zum Vorschein, von denen die pressierten Passanten des neunzehnten Jahrhunderts nichts sich träumen ließen. Alle müssen immerzu etwas vorhaben. Freizeit verlangt ausgeschöpft zu werden. Sie wird geplant, auf Unternehmungen verwandt, mit Besuch aller möglichen Veranstaltungen oder auch nur mit möglichst rascher Fortbewegung ausgefüllt. Der Schatten davon fällt über die intellektuelle Arbeit. Sie geschieht mit schlechtem Gewissen, als wäre sie von irgendwelchen dringlichen, wenngleich nur imaginären Beschäftigungen abgestohlen. Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, praktiziert sie den Gestus des Hektischen, des Hochdrucks, des unter Zeitnot stehenden Betriebs, der jeglicher Besinnung, ihr selber also, im Wege steht. Oft ist es, als reservierten die Intellektuellen für ihre eigentliche Produktion nur eben die Stunden, die ihnen von Verpflichtungen, Ausgängen, Verabredungen und unvermeidlichen Vergnügungen übrig bleiben. Widerwärtig, doch einigermaßen rational ist noch der Prestigegewinn dessen, der als so wichtiger Mann sich präsentieren kann, daß er überall dabei sein muß. Er stilisiert sein Leben mit absichtlich schlecht gespielter Unzufriedenheit als einen einzigen acte de présence. Die Freude, mit der er eine Einladung unter Hinweis auf eine bereits akzeptierte ablehnt, meldet den Triumph in der Konkurrenz an. Wie darin, so wiederholen sich allgemein die Formen des Produktionsprozesses im Privatleben oder in den von jenen Formen ausgenommenen Bereichen der Arbeit. Das ganze Leben soll wie Beruf aussehen und durch solche Ähnlichkeit verbergen, was noch nicht unmittelbar dem Erwerb gewidmet ist. Die Angst, die darin sich äußert, reflektiert aber nur eine viel tiefere. Die unbewußten Innervationen, die jenseits der Denkprozesse die individuelle Existenz auf den historischen Rhythmus einstimmen, gewahren die heraufziehende Kollektivierung der Welt. Da jedoch die integrale Gesellschaft nicht sowohl die Einzelnen positiv in sich aufhebt, als vielmehr zu einer amorphen und fügsamen Masse sie zusammenpreßt, so graut jedem Einzelnen vor dem als unausweichlich erfahrenen Prozeß des Aufgesaugtwerdens. Doing things and going places ist ein Versuch des Sensoriums, eine Art Reizschutz gegen die drohende Kollektivierung herzustellen, auf diese sich einzuüben‚ indem man gerade in den scheinbar der Freiheit überlassenen Stunden sich selber als Mitglied der Masse schult. Die Technik dabei ist, die Gefahr womöglich zu überbieten. Man lebt gewissermaßen noch schlimmer, also mit noch weniger Ich, als man erwartet leben zu müssen. Zugleich lernt man durch das spielerische Zuviel an Selbstaufgabe, daß einem im Ernst ohne Ich zu leben nicht schwerer fallen könnte sondern leichter. Dabei hat man es sehr eilig, denn beim Erdbeben wird nicht geläutet. Wenn man nicht mitmacht, und das will sagen, wenn man nicht leibhaft im Strom der Menschen schwimmt, fürchtet man, wie beim allzu späten Eintritt in die totalitäre Partei, den Anschluß zu verpassen und die Rache des Kollektivs auf sich zu ziehen. Pseudoaktivität ist eine Rückversicherung, der Ausdruck der Bereitschaft zur Selbstpreisgabe‚ durch die einzig man noch die Selbsterhaltung zu garantieren ahnt. Sekurität winkt in der Anpassung an die äußerste Insekurität. Sie wird als Freibrief auf die Flucht vorgestellt, die einen möglichst rasch an einen anderen Ort bringt. In der fanatischen Liebe zu den Autos schwingt das Gefühl physischer Obdachlosigkeit mit. Es liegt dem zugrunde, was die Bürger zu Unrecht die Flucht vor sich selbst, vor der inneren Leere zu nennen pflegten. Wer mit will, darf sich nicht unterscheiden. Psychologische Leere ist selber erst das Ergebnis der falschen gesellschaftlichen Absorption. Die Langeweile, vor der die Menschen davonlaufen, spiegelt bloß den Prozeß des Davonlaufens zurück, in dem sie längst begriffen sind. Darum allein erhält der monströse Vergnügungsapparat sich am Leben und schwillt immer mehr auf, ohne daß ein einziger Vergnügen davon hätte. Er kanalisiert den Drang dabei zu sein, der sonst wahllos, anarchisch, als Promiskuität oder wilde Aggression dem Kollektiv sich an den Hals werfen würde, das zugleich doch aus niemand anderem besteht als aus denen unterwegs. Am nächsten verwandt sind sie den Süchtigen. Ihr Impuls reagiert exakt auf die Dislokation der Menschheit, wie sie von der trüben Verwischung des Unterschieds von Stadt und Land, der Abschaffung des Hauses, über die Züge von Millionen Erwerbsloser, bis zu den Deportationen und Völkerverschiebungen im verwüsteten europäischen Kontinent führt. Das Nichtige, Inhaltslose aller kollektiven Rituale seit der Jugendbewegung stellt nachträglich als tastende Vorwegnahme übermächtiger historischer Schläge sich dar. Die Unzähligen, die plötzlich der eigenen abstrakten Quantität und Mobilität, dem von der Stelle Kommen in Schwärmen wie einem Rauschgift verfallen, sind Rekruten der Völkerwanderung, in deren verwilderten Räumen die bürgerliche Geschichte zu verenden sich anschickt.

This general view from the Steeplechase Pier shows part of the crowded beach
 at Coney Island in Brooklyn, N.Y., Aug. 28, 1948. In the background beyond
 the boardwalk is the ferris wheel, center, and the Cyclone roller coaster at right.
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Bilderbuch ohne Bilder. — Der objektiven Tendenz der Aufklärung, die Macht aller Bilder über die Menschen zu tilgen, entspricht kein subjektiver Fortschritt des aufgeklärten Denkens zur Bilderlosigkeit. Indem der Bildersturm nach den metaphysischen Ideen unaufhaltsam die ehedem als rational verstandenen, die eigentlich gedachten Begriffe demoliert, geht das von Aufklärung entbundene und gegen Denken geimpfte Denken in zweite Bildlichkeit, eine bilderlose und befangene, über. Mitten im Netz der ganz abstrakt gewordenen Beziehungen der Menschen untereinander und zu den Sachen entschwindet die Fähigkeit zur Abstraktion. Die Entfremdung der Schemata und Klassifikationen von den darunter befaßten Daten, ja die reine Quantität des verarbeiteten Materials, die dem Umkreis der einzelmenschlichen Erfahrung ganz inkommensurabel geworden ist, zwingt unablässig zur archaischen Rückübersetzung in sinnliche Zeichen. Die Männchen und Häuschen, die hieroglyphenhaft die Statistik durchsetzen, mögen in jedem Einzelfall akzidentiell, als bloße Hilfsmittel erscheinen. Aber sie sehen nicht umsonst ungezählten Reklamen, Zeitungsstereotypen, Spielzeugfiguren so ähnlich. In ihnen siegt die Darstellung übers Dargestellte. Ihre übergroße, simplistische und daher falsche Verständlichkeit bekräftigt die Unverständlichkeit der intellektuellen Verfahren selber, die von deren Falschheit — der blinden begriffslosen Subsumtion — nicht getrennt werden kann. Die allgegenwärtigen Bilder sind keine, weil sie das ganz Allgemeine, den Durchschnitt, das Standardmodell als je Eines, Besonderes präsentieren zugleich und verlachen. Aus der Abschaffung des Besonderen wird auch noch hämisch das Besondere gemacht. Das Verlangen danach hat sich bereits im Bedürfnis sedimentiert und wird allerorten von der Massenkultur, nach dem Muster der Funnies, vervielfacht. Was einmal Geist hieß, wird von Illustration abgelöst. Nicht bloß daß die Menschen sich nicht mehr vorzustellen vermögen, was ihnen nicht abgekürzt gezeigt und eingedrillt wird. Sogar der Witz, in dem einmal die Freiheit des Geistes mit den Fakten zusammenstieß und diese explodieren machte, ist an die Illustration übergegangen. Die Bildwitze‚ welche die Magazine füllen, sind großenteils ohne Pointe, sinnleer. Sie bestehen in nichts anderem als in der Herausforderung des Auges zum Wettkampf mit der Situation. Man soll, durch ungezählte Präzedenzfälle geschult, rascher sehn‚ was »los ist«‚ als die Bedeutungsmomente der Situation sich entfalten. Was von solchen Bildern vorgemacht, vom gewitzigten Betrachter nachvollzogen wird, ist, im Einschnappen auf die Situation, in der widerstandslosen Unterwerfung unter die leere Übermacht der Dinge alles Bedeuten wie einen Ballast abzuwerfen. Der zeitgemäße Witz ist der Selbstmord der Intention. Wer ihn begeht, findet sich belohnt durch Aufnahme ins Kollektiv der Lacher, welche die grausamen Dinge auf ihrer Seite haben. Wollte man solche Witze denkend zu verstehen trachten, so bliebe man hilflos hinterm Tempo der losgelassenen Sachen zurück, die in der einfachsten Karikatur noch rasen wie in der Hetzjagd am Ende des Trickfilms. Gescheitheit wird ganz unmittelbar zur Dummheit im Angesicht des regressiven Fortschritts. Dem Gedanken bleibt kein Verstehen als das Entsetzen vorm Unverständlichen. Wie der besonnene Blick, der dem lachenden Plakat einer Zahnpastaschönheit begegnet, in ihrem angestellten Grinsen der Qual der Folter gewahr wird, so springt ihm aus jedem Witz, ja eigentlich aus jeder Bilddarstellung das Todesurteil übers Subjekt entgegen, das im universalen Sieg der subjektiven Vernunft eingeschlossen liegt.

Three-quarters of a million people crowd into Times Square, in New York,
 Dec. 31, 1949, to welcome in the New Year.
Quelle: Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Bd. 1704). ISBN 978-3-518-29304-1. Zitiert wurden Auszüge aus dem 2. Teil (geschrieben 1945) auf den Seiten 114 bis 161.


B&W Photos Give Firsthand Perspective of Daily Life in 1940s New York (By Jessica Stewart on May 4, 2017)
New York City in the 1940s was buzzing with activity, with the population of Manhattan almost reaching 2 million inhabitants. These incredible black and white photographs, which document everyday life in New York City, are a glimpse back at this era.


Musik aus alter und neuer Zeit, aus der Kammermusikkammer:

Pierre Boulez: Polyphonie X | Poésie pour pouvoir | Structures II | Jacob Burckhardt: Die Ruinenstadt Rom.

Johannes Ciconia: Opera Omnia (Diabolus in Musica, La Morra) | Die Schönste im ganzen Land: Die Berliner Büste der Nofretete

W. B. Yeats: Poems / Gedichte | Das Haus des Tauben: Goyas „pinturas negras“

George Gershwin: Rhapsody in Blue | Ovid: Diana und Aktäon: "Dumque ibi perluitur solita Titania lympha, / ecce nepos Cadmi dilata parte laborum / per nemus ignotum non certis passibus errans / pervenit in lucum: sic illum fata ferebant."

Beethoven: Bagatellen, Sonaten und Trio (Glenn Gould, 1952/54) | Ninfa Fiorentina - Aby Warburg: Florentinische Wirklichkeit und antikisirender Idealismus.

Turina | Zilcher | Dvorák: Klaviertrios | Ein Paradies fürs Auge: Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance



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