12. Juni 2017

Bernhard Molique: Streichquartette op. 18 Nr 3 und op 28

Wilhelm Bernhard Molique - ein Name, weitestgehend unbekannt in unseren Konzertsälen, in seiner deutsch-französischen Zusammensetzung jedoch weit vorausweisend in ein Europa der grenzüberschreitenden Freundschaften. Als Molique starb, am 10. Mai 1869, da allerdings trat, mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870, erst einmal die angeblich deutschfranzösische Erbfeindschaft auf den Plan.

Molique, dessen Name auch in den Varianten Molik - so schrieb sich sein Vater Christian und so steht es im Taufregister von Sankt Lorenz in Nürnberg - und Molick zu finden ist, Bernhard Molique, wie er sich selbst schrieb, kam am 7. Oktober 1802 in Nürnberg zur Welt. Vater Christian war aus dem Unterelsaß eingewandert, der Abstammung nach zweifelsfrei lothringisch, weniger zweifelsfrei, aber laut Familienlegenden mit Jeanne d‘Arc, der Jungfrau von Orleans, verwandt.

Bernhard Moliques Jugendzeit ist nur spärlich dokumentiert; der Vater hatte sich in Nürnberg als Stadtmusikus (Violine und Fagott) niedergelassen, »unbesoldet«, das heißt ohne regelmäßiges Gehalt; es waren die unruhigen Zeiten der napoleonischen Kriege, in die Bernhard hineingeboren wurde: 1800 und 1809 besetzten die Franzosen Nürnberg, danach vier Jahre lang immer wieder Durchmärsche und Einquartierungen und, als sei das nicht schon genug, obendrein eine Typhus-Epidemie.

Trotzdem kam die Musik nicht zu kurz, der Vater unterrichtete den Filius in »ziemlich allen der gangbarsten Instrumente«, wie sein Biograph Fritz Schröder (1923) es formuliert, vermutlich waren es eher »spielerische Versuche« statt regelrechten Unterrichts. Die Geige wird Moliques bevorzugtes Instrument, mit 8 Jahren tritt er als »Wunderkind« auf. Wer ihn zum Pianisten mit »namhafter Fertigkeit« ausgebildet hat, bleibt offen. War er hier Autodidakt?

Als Louis Spohr 1815 in Nürnberg konzertierte, stellte er sich, vierzehnjährig, dem Geiger vor und erhielt von ihm einigen Unterricht, »weil der Knabe schon damals ausgezeichnetes für seine Jahre leistete«, wie Spohr in seiner Autobiographie vermerkt, und Molique hat sich danach ein Leben lang auf Spohr als seinen eigentlichen Meister berufen.

1816 bringt ihn der Vater nach München; König Maximilian legt des Sohnes weitere Ausbildung in die Hände des Hofviolinisten Pietro (Peter) Rovelli, eines Rudolph-Kreutzer-Schülers, möglicherweise hatte hier Spohr seine Hand im Spiel, Kompositionsunterricht vermutlich bei Joseph Grätz (Gratz), einem Schüler von Michael Haydn.

Bernhard Molique
Zwei Jahre später sitzt Molique als Geiger im Orchester des Theaters an der Wien, und es wurde, zumal in der Wiener klassikgeschwängerten Atmosphäre, »gerade das klassische Ideal zum Leitstern für ihn als schaffenden wie als ausübenden Künstler«.

Hat Molique die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und Kontakt mit Beethoven aufgenommen? Es geht die Rede von einem Besuch, der taube Beethoven habe für ihn das notorisch mißgestimmte Klavier traktiert, Molique daraufhin – grußlos! - die Flucht ergriffen. Am 15. März 1818 trat er in einem Konzert neben Franz Schubert auf, ein näherer Kontakt scheint nicht zustande gekommen zu sein. Von zwei engeren Bekanntschaften lediglich geht die Fama, mit dem Geiger und zeitweiligen Beethoven-Faktotum und -Vertrauten Karl Holz und dem Pianisten Ignaz Moscheies.

Vier solistische Konzertauftritte Moliques sind für die beiden Wiener Jahre belegt. Immerhin.

1820 kehrt er als Hofviolinist nach München zurück, fünf Jahre später schlägt ihn der Hofmusik-Intendant Freiherr von Poißl zum Konzertmeister vor, doch das Königliche Kabinett lehnt ab: Molique, mit 24, sei zu jung - tempora mutantur: Keine 200 Jahre später können führende Positionen nicht jung genug besetzt werden!

Im selben Jahr hatte Molique geheiratet, die Hofschauspielerin Anna Maria Wanney, Nichte und Adoptivtochter des Komponisten und Hofkapellmeisters Peter von Winter. Moliques vier überlebende Töchter blieben unverheiratet und kinderlos, Caroline, die Älteste und Czerny-Schülerin, wurde Konzertpianistin.

Bereits im folgenden Jahr geht Molique als Königlicher Musikdirektor und Konzertmeister nach Stuttgart, wo Peter Joseph Lindpaintner Hofkapellmeister ist und 1829 Abonnementskonzerte einführen wird. Molique bleibt 23 Jahre in der schwäbischen Metropole, erregt als Solist und Kammermusiker Aufsehen, dirigiert das Orchester während Lindpaintners Krankenjahr und gewinnt Ansehen als Pädagage. Von den 20 Geigern im Hoforchester waren am Ende 16 Molique-Schüler.

Felix Mendelssohn Bartholdy in einem Brief an Carl Friedrich Zelter (15. Februar 1832) lobte das Orchester, nannte Molique allerdings einen »dicken Weinbürger«, der es sich in seiner Behaglichkeit eingerichtet habe. 10 Jahre später fand Hector Berlioz die Stuttgarter Orchestergeiger dank Moliques Einfluß »vortrefflich«, mußte sich aber bei der Aufführung seiner Symphonie Phantastique mit der halben Geigengruppe zufrieden geben, die andere war infolge »wahrer oder vorgeschützter Krankheiten«, wie Berlioz in seinen Memoiren moniert, abwesend. Es steht zu vermuten, daß Molique, der dieser »neuen« Musik ablehnend gegenüberstand und aus seinem Herzen wohl keine Mördergrube machte, seine Hand im Spiel hatte.

Bernhard Molique
Der Pianist und Dirigent Hans von Bülow verkehrte 1848 als Gymnasiast im Hause Molique, später spielte er manchmal das eine oder andere Moliquesche Klaviertrio. Mit Robert Schumann kam Molique nicht zu Rande (»Der Schumann is a langweiliger Kerl, der sitzt da und schwätzt nix und tramt!«), so wenig wie Schumann mit ihm, »dem nichts recht ist, der über alles raisonniert und dabei ein so trockener Gesell ist«. Ganz anders (wenn wir hier chronologisch kurz vorgreifen dürfen) Joseph Joachim, der große Geiger und Brahms-Freund: »Molique sehe ich öfter und habe den würdigen alten, ehrlichen Schwaben [sic] sehr lieb gewonnen.« Am 28. Oktober 1862 aus London an Clara Schumann). Daß Molique der Geburt nach Franke war, hatte seine Stuttgarter Seßhaftigkeit offensichtlich vergessen machen.

Tourneen in den 1830er Jahren durch Deutschland, Österreich, Frankreich, Holland, England und Rußland machten Molique zu einer europäischen Berühmtheit, er galt als einer der größten zeitgenössischen Violinisten, auch wenn er mit den Hexenkünsten eines Paganini nicht konkurrieren konnte oder wollte; auf das große Publikum wirkte er eher »ernüchternd, aber desto größer war der Genuß der Kenner«. Eduard Hanslick, der gefürchtete Wiener Star-Kritiker, beschrieb ihn (in der »Geschichte des Konzertwesens in Wien«, 1869) als einen »ernsten, etwas unbehilflichen Schwaben [!] von behäbigem, gedrungenem Körperbau«, er »trug weder geheimen Liebesschmerz noch lange Haare, dafür - o Graus! - eine schwarze Hornbrille!« Und schnupfte obendrein Tabak! Moliques Kompositionen nannte Hanslick »männlich, ernst, gediegen«.

1849, nach drei vorausgegangenen Londoner Konzertreisen (1840, 1842, 1848), zag Molique in die englische Hauptstadt, was seinem Biographen angesichts der dortigen gerade auflösungsgefährdeten Theater- und schwierigen Musiklage nicht ganz verständlich ist, was wir aber angesichts der konservativen Musikgesinnung der Londoner im Gegensatz zu den musikalischen Strömungen im deutschen Sprachraum durchaus nachvollziehen möchten: Richard Wagners Musik und der ganzen Neudeutschen Richtung begegnete man in London mit »Abscheu«, da galt Molique leicht als Fortschrittler »in the direction of liberty« (was immer auch darunter zu verstehen ist), schuf sich vor allem als Kammermusiker eine einträgliche Stellung, und gehörte bald zu den bekannten Londoner Persönlichkeiten, nicht zuletzt durch sein »wunderliches Englisch«, das er sich in siebzehn Londoner Jahren (hier trifft er sich mit dem Kollegen Händel) nicht abgewöhnen konnte. Im Jahre 1861 wurde er Kompositionsprofessor an der Royal Academy of Music, zeitweise war er Präsident der Londoner Konservatoriums-Konzerte.

Seine sich verschlechternde Gesundheit bewog ihn, 1866 ouf den Kontinent zurückzukehren, noch Bad Cannstatt, wo er 1869 starb. Die Obduktion ergab eine »wunderbar seltene Schönheit des Gehirns, [eine] merkwürdige Tiefe und Vollkommenheit der Stelle, wo noch Gall der Musiksinn liegt«. Nun ja, dahinter werden wir den Wunsch als Vater des Untersuchungsergebnisses vermuten dürfen.

Der schwäbische Dichter Johann Georg Fischer schlug in seinem Nekrolog den lyrischen Bogen um Mensch und Werk: »Wer seine Kompositionen vernahm, der empfand, hier steht ein Mensch im besten Sinne vor mir.«

Quelle: Wolfgang Binal, im Booklet


TRACKLIST

Bernhard Molique (1802-1869)     
  
String Quartet op. 18 No 3 in E flat major   29'49   
[1] Allegro                          10'58   
[2] Andante                           9'35   
[3] Menuetto                          3'51   
[4] Presto                            5'24   

String Quartet op. 28 in F minor             27'41   
[5] Allegro                          11'28   
[6] Andante                           7'39   
[7] Scherzo                           3'00   
[8] Rondo                             5'33   

                                       T.T.: 57'39   
Mannheimer Streichquartett     
  Andreas Krecher, 1st Violin     
  Shinkyung Kim, 2nd Violin     
  Niklas Schwarz, Viola     
  Armin Fromm, Violoncello     

Recording: Kammermusikstudio des SWR Stuttgart, 13.-15. November 2006
Recording Supervisor + Digital Editing: Michael Sandner
Recording Engineer: Martin Vögele
Executive Producers: Marlene Weber-Schäfer, Burkhard Schmilgun
Cover Painting: Carl Spitzweg: Der Kaktusliebhaber, c. 1865, Privatbesitz.

(P) 2009


Vom Mangel zum Überfluß

Das romantische Naturbild


»Zurück zur Natur«, mit dieser Parole formierte sich die Gegenbewegung zur raschen Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Getragen wurde sie von der Rousseau'schen romantischen Verklärung der Natur als der »reinen, echten, erhabenen Welt«, die noch nicht entweiht ist durch die Menschen. Diese fortschrittsfeindliche Haltung richtete ihre Blicke zurück in eine zum Paradies erklärte Vergangenheit; vergleichbar den ersten Versen der Äneis von Vergil über das Goldene Zeitalter, in dem ohne Verbrechen aus freien Stücken und ohne Recht oder Gesetz in Friede und Eintracht gelebt worden war. Da dieser Zustand schon zu Vergils Zeiten eine für die römische Zivilisation sehr ferne, mystifizierte Vergangenheit war, suchten die Romantiker den glückseligen Naturzustand bei den »in paradiesischer Nacktheit lebenden Wilden«, von denen die europäische Welt zunehmend mehr über Forschungsreisende erfuhr. […]

Für die »Aussteiger« des 19. und des nahenden 20. Jahrhunderts boten die Wilden hingegen die idealisierbaren Vorhilder für das Gesuchte, für Arkadien und Eden. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?«, fragte Goethe gleichsam auffordernd zur Reise in den Süden. Seine Italienische Reise ist durchsetzt von verklärt-romantischer Naturschilderung. Bei Goethe wird aber deutlicher, wie sehr er damit eigentlich die kultivierte Natur meint. Italien ist für ihn so schön, weil das Land seit Jahrtausenden gepflegt worden war. Er ergeht sich in Träumereien von der Antike mit ihrer Kunst und Kultur. In wallendem, fast altrömisch wirkendem Gewand und mit breitkrempigem, schattenspendendem Hut lässt er sich malen. Seine in tagebuchartiger Schilderung verfasste Italienische Reise verändert sich von der anfänglichen Beschreibung des Reiseweges, die insbesondere bei der Alpenüberquerung und der Fahrt durch Oberitalien noch eine echte Reiseschilderung darstellt, zu einem Versinken in die Vergangenheit des Schönen und Guten.

Mit dem »Zurück zur Natur« meinten die Romantiker keineswegs »hinauf auf die Bäume, ihr Affen!«, sondern Genuss und Muße eines zivilisierten Lebens in der schönen Natur. Diese gibt von sich aus reichlich, wenn sie, wie die Mutter von guten Kindern, mit Verehrung bedacht und gut behandelt wird. Daraus erwuchs ganz von selbst die Richtung: Schönheit und Ehrwürdigkeit sollten in der Natur gesucht und erlebt werden. »Gefährlich« blieb es, »den Leu zu wecken« und »verderblich des Tigers Zahn«, weil auch die Romantik aus einem zähnefletschend drohenden Wolfsgesicht kein Schoßhündchen machte. Wo sich die Natur übermächtig zeigte, nahm der Romantiker ihre Wirkungen mit dem Schauder der Ehrfurcht hin. Die Donner würden ja verhallen, das Brausen des Sturmes vergehen und den lauen Lüften mit herrlicher Sonne Platz machen. Gemälde wie der »Wanderer über dem Nebelmeer« von Caspar David Friedrich drücken auf subtile Weise aus, dass der Mensch, der Wanderer, eben doch erhaben und selbstsicher über dem Meer des wabernden Nebels steht. Nicht verloren hat er sich darin wie in der Warnung »Gefährlich ist's über Moor zu gehen, wenn das Röhricht knistert im Hauche«; auch an den schroffen Kreidefelsen von Rügen lässt das Bild keine Absturzgefahr erkennen. Das »Eismeer« desselben Künstlers bestaunt man im Binnenland, wo man zwar von den größeren Flüssen spätwinterliche Treibeismassen kennt und die von ihnen ausgelösten Winterhochwasser fürchtet, aber sich nicht mit Leib und Leben bedroht fühlt.

Der weitaus größte Teil der Naturbilder der Romantik ist ganz unmittelbar dem Schönen gewidmet. Hütejungen mit munteren, gesunden Kühen, in faulem Nichtstun versunken und an einem Grashalm kauend, nette Mädchen, die eine Schar Gänse mit einer harmlosen Gerte zum Dorfteich treiben, friedlich schlafende Hofhunde oder Bauersleute, die von reifem Korn überquellende Wagen ins Dorf fahren. Mag auch ein Gewitter drohen, es ist den Menschen keine Panik in die Gesichter gemalt, denn die Natur ist ihrer Natur nach inzwischen »gut« geworden, solches zeigen die Bilder. Die Bächlein und ihre Quellen sprudeln rein. Sie laden zu erfrischendem Tranke. Die knorrigen, uralten Bäume bieten Schutz oder dienen dem Reigen der Dorfjugend. Sie symbolisieren die Beständigkeit, die sich gegen alle Widrigkeiten der Jahrzehnte und Jahrhunderte behauptet hat. Und überall, wo es die Zeit des Bildes zulässt, blühen Blumen. Sie halten nun auch Einzug in die Gärten, und sie schmücken die Balkone. Dass südafrikanische Geranien zum »typisch bayerischen Bauernhausschmuck« werden, stört das romantische Empfinden ebenso wenig wie die gleichfalls fremdländischen, vom damals nicht gerade geschätzten Balkan kommenden Kastanien der Biergärten.

Überhaupt holt man sich ungeniert das Schöne und das Gute aus aller Welt zusammen, um die Gärten zu schmücken, um die Natur zu bereichern und um neue Möglichkeiten auszuprobieren, die Pflanzen und Tiere anderer Herkunft bieten könnten. Fast alle Arten von Pflanzen, die in unserer Zeit vermeintliche oder echte Probleme verursachen, weil sie sich ausbreiten und »Heimisches« zu überwuchern drohen, stammen aus dem 19. Jahrhundert. Damals holte man sich das so prächtig und variantenreich blühende Springkraut (Impatiens glandulifera) aus dem Himalaja. Es wurde zur »Orchidee der Vorgärten« ernannt. Die ob ihrer Größe und Wuchsform besonders eindrucksvolle »Herkulesstaude«, der Riesenbärenklau (Heracleum mantegazzianum), galt als »ornamental«, also als Schmuck der Gärten, und außerdem diente er als spätsommerlich ergiebige Bienenweide für die Imkerei. Mancher Waldrand wurde mit Samen des Riesen besät, um diese gewaltigen Stauden dort zum Aufwachsen zu bringen.

In dieser Spannung formt sich das neue Naturbild. Es greift zurück auf das Herkömmliche, das zu verschwinden droht, und integriert Neues, um die Schönheit zu steigern. Steige werden an Wildbäche und Wasserfälle herangeführt, Gipfel erstiegen, und man leistet sich Sommerfrische. Gegen die immer stärker verrußenden Städte wird der Kontrast des guten und gesunden Landlebens aufgebaut. Das steigert den politischen und gesellschaftlichen Gegensatz: Stadt ist schlecht, Land ist gut! So lautet die Grundformel. Bis in unsere Zeit geht der Naturschutz davon aus. Das Naturbild, auf das er sich stützt, entspricht jedoch keineswegs der unberührten Natur. Vielmehr handelt es sich um eine geschundene, um eine jahrhundertelang ausgebeutete und übernutzte Natur. Mangel herrschte allenthalben. Die Ernten haben den Böden zu lange zu viele Nährstoffe entzogen. Die Erträge sind zurückgegangen. Auch die letzten Reste und Raine müssen genutzt werden. Was wie eine »extensive Nutzung« aussieht, stellt in Wirklichkeit eine höchst intensive dar. Sie hinterlässt kaum Rückstände. Alles muss in den Kreislauf zurück, wenn es irgendwie geht, weil die Nährstoffe gebraucht werden. Häusliche Abwässer und Jauche vom Vieh werden nicht getrennt, sondern zusammen zur Düngung der Wiesen verwendet. Die Felder bekommen den Mist aus den Viehställen. Dieser reicht nicht aus, um die Erträge zu erhalten. So muss jeweils ein Ruhejahr eingeschoben werden, in dem sich der Boden wieder etwas erholen kann für die nächste Feldbestellung.

Die tropisch bunten Bienenfresser machen sich nun auch nördlich
 der Alpen breit. Eine Folge des Klimawandels.
Die schon angeführte »Dreifelderwirtschaft« basiert auf diesen Zwängen. Sie bringt als Nebenprodukt etwas hervor, das nun zur Leitvorstellung für die Romantik, den Heimatbegriff und den Naturschutz wird: blühende Landschaften, in denen bunte Falter über einer farbenprächtigen Fülle von Blumen gaukeln, Lerchen jubilierend aufsteigen und der mit seiner Scholle verwurzelte Bauer sieht, dass alles gut ist. Ausgeblendet wurden die harte Arbeit der bäuerlichen Bevölkerung, die guten Grund zu den »Bauernaufständen« zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte, und die verarmten, weithin karg gewordenen Böden. Noch verstand niemand den engen Zusammenhang zwischen Mangel an Nährstoffen und reichem Blühen. […] Die bäuerliche Bevölkerung mag eher den wirklichen Zusammenhang gespürt haben. Wo bunte Blumen in großer Vielfalt blühen, wo Thymian (Thymus serpyllum) duftet und der winzige Augentrost (Euphrasia minor) seine fein ziselierten weißen Blüten öffnet und in diesen mit gelbem Saftmal kleine Insekten anlockt, da war kein Ertrag an Gras und Heu zu erwarten. Wo der Boden gut war, hatte der Bauer einen steten Kampf gegen das wuchernde Unkraut zu führen; mit der Hacke in der Hand oder, später, mechanisiert und schließlich im letzten halben Jahrhundert mit stärksten Giften. Mochten die Kräuter auch gut duften oder in der Volksmedizin dienlich gewesen sein, sie sollten und durften den Ertrag an Getreide oder an Futter für das Vieh nicht schmälern. So paradox es auch klingen mag, das Land war dort am romantischsten, wo es den geringsten Ertrag lieferte.

Die Hochleistungsfelder von heute wären nie Quell romantischer Empfindungen und Verklärungen geworden. Aus ihnen steigen auch keine Lerchen mehr auf. Alauda war ihre Gattung genannt worden, um damit im wissenschaftlichen Namen auszudrücken, dass ihr Aufsteigen in den Frühsommerhimmel als ein »ad laudam«, »zum Lobe« (Gottes), empfunden werden sollte. Lerche und Nachtigall, Amsel, Drossel, Fink und Star, sie alle, »die ganze Vogelschar«, schienen mit ihren so vielfältigen wie schönen Gesängen wenn nicht Gott direkt, so doch zumindest die wunderschöne Natur zu loben. Die Nachtigall »schluchzt« nun »herzzerreißend«, die Amseln und Drosseln »flöten«, der Zaunkönig »schmettert« und die Spechte »trommeln« nicht nur in lautmalerischem Wortsinn, sondern in der romantischen Verklärung als Ausdruck der reinen Lebensfreude in der Natur. In dieser ist alles bestens geordnet. Jedes Tier, jede Pflanze hat ihren Platz und selbstverständlich Aufgaben in der Gemeinschaft zu erfüllen. Die Parabel von den »Blumen und den Bienchen« wird sprichwörtlich. Das eine Kernstück des vom Menschen abgelösten Naturverständnisses hat damit Form angenommen: Natur »an sich« ist »schön« und »gut«. Sie würde immer so sein und bleiben, gäbe es den Menschen nicht, der in ihren geordneten Haushalt »eingreift«. Das zweite Kernstück kam durch die Übernutzung des Landes mit der Vielfalt hinzu. Natur an sich wurde nun automatisch als vielfältig angesehen. Wo sie das nicht (mehr) war, musste etwas passiert sein, das ihr mitsamt der Vielfalt auch wesentliche Aspekte ihrer Schönheit genommen hatte. Es verhält sich allerdings genau umgekehrt.

Krähen an Biertischen im Münchener Englischen Garten.
Durch die seit Jahrhunderten schon anhaltende intensive Nutzung hatte die Artenvielfalt in der Natur Mitteleuropas stetig zugenommen. Soweit wir das aus den alten Angaben rekonstruieren können, dürfte der Höhepunkt der Vielfalt etwa Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts erreicht gewesen sein. Denn danach, spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts mehren sich die Klagen über den Rückgang bestimmter Arten wie Feldhasen, Rebhühner oder Drosseln. Wo allgemein Mangel in den Böden herrschte, konnten sich nicht, wie in unserer Zeit, rasch einige wenige auf Kosten der vielen anderen Arten ausbreiten und die Schwächeren verdrängen. Wo hingegen die Ressourcen reichlich zur Verfügung stehen, vereinheitlicht die verstärkte Nutzung. Aus Vielfalt wird Einförmigkeit.

Gewiss, es hat immer Unterschiede in der örtlichen Verfügbarkeit von Nährstoffen in den Böden gegeben. Auch zur Zeit der intensivsten Landnutzung im 18. und frühen 19. Jahrhundert waren die guten Lehm- und Lößlehmböden vergleichsweise ertragreich, wie zum Beispiel der »niederbayerische Gäuboden« oder die »Magdeburger Börde«, aber sie blieben deutlich artenärmer als die schon von Natur aus mageren Sandböden und insbesondere die meist nur mit Schafbeweidung genutzten Kalkmagerrasen. Letztere entwickelten die größte Vielfalt an Pflanzen und Insekten, obgleich im Ausdruck Mager-Rasen schon der sie kennzeichnende Mangel geäußert wird. Auch die von den Hochwassern immer wieder mit frischen Nährstoffen versorgten Flussauen erreichten ihre besondere Artenvielfalt erst durch die vielfältigen Formen der Nutzung als Quelle von Brennholz, als Weideland sowie durch die »Störungen« und Vernichtungen, die direkt von den Hochwassern ausgingen. Als alle drei Einwirkungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend oder ganz aufhörten, ging in den nicht mehr genutzten Auwäldern die natürliche Vielfalt drastisch zurück.

Das heutige naturschützerische Leitbild der reichhaltigen, schönen Natur aus der Zeit der Romantik begründete sich also auf den zerstörerischen Nutzungen des Landes. Gerade weil die Menschen die letzten Winkel erfassten und aus allem noch etwas herauszuholen versuchten, machten sie die Natur so vielfältig. Als die künstliche Düngung die Erträge steigerte und Maschinen zunehmend die Handarbeit ersetzten, fing »die Natur« an zuzuwachsen. Wie sehr, wird wohl für fast jedes Flusstal und für viele Städte anhand von Bildern aus dem 19. Jahrhundert nachvollzogen werden können. Wo vor 150 oder gut 100 Jahren noch offene Weitblicke auf die Städte die Bilder beherrschen, zum Beispiel über die Isar mit ihrer Aue, den »Englischen Garten«, hinweg nach München, findet man heute von denselben Standorten aus alles dicht zugewachsen vor. Natürlich ist damit nicht eine sich ausbreitende Bebauung gemeint. Vielmehr ist fast alles, das einst »offen« gewesen war, von Wald oder Buschwerk bedeckt. Nicht anders verhält es sich mit den vielen kleinen Bachtälern in den Mittelgebirgen. Seit Jahrzehnten beklagt der Natur- und Landschaftsschutz, dass der Wald vorrückt, die Täler überzieht und so das alte Bild stört, das man für den freien Blick hatte erhalten wollen.

Ein Marder ist in der Millionenmetropole New York heimisch geworden.
Ist es aber nicht »natürlich«, dass sich die Natur holt, was ihr einstens genommen worden war, könnte man fragen. Gehört es nicht zur Natur der Natur, dass sie »dynamisch« auf Veränderungen reagiert und nicht auf alten Positionen beharrt, wenn sich neue Bedingungen eingestellt haben? Welche Natur ist die richtige? War der Zustand um die vorvorige Jahrhundertwende, den Goethe auf seine Weise und die Romantiker auf ihre Art beschrieben und verherrlicht hatten, der beste aller möglichen? Kann es sein, dass die für die meisten Menschen so schlechten Zeiten von damals »die gute alte Zeit« der Natur gewesen ist?

Ein paar weitere Facetten des Naturschutzes verstärken die Zweifel an einer solchen Sicht. Damals war nicht nur der Massenfang von Singvögeln in weiten Teilen Mitteleuropas völlig normal und legitim, sondern es gehörte sich auch, dass die Buben Vogelnester suchten und »ausnahmen«. Mit großer Mühe und mit einem Ringen, das mehrere Generationen lang dauerte, gelang es schließlich im 20. Jahrhundert, die Singvögel generell für »gut« und nützlich zu erklären und das Ausnehmen von Vogelnestern zu ächten. Auf dem Land verschwand dieses Tun sogar erst in den 1950er und 1960er Jahren weitgehend. Eine andere Facette betrifft die Unterteilung der Arten in »nützlich« und »schädlich«. Die kleine Meise war nützlich, weil sie schädliche Raupen verzehrt und so dem Obst- und Gartenbau hilft, auch wenn sie keine Unterschiede zwischen schädlichen Insekten und den rar gewordenen, unter besonderem Artenschutz stehenden macht. Die Greifvögel waren schädlich und wurden als »Krummschnäbel« bis zur großen Wende im Naturschutz, dem europäischen Naturschutzjahr von 1970, gnadenlos verfolgt, obwohl sie als eifrige Mäusevertilger bekannt waren. Denn sie raubten dem Jäger sein Nutzwild. Die romantische Verklärung hatte offenbar gar nicht zum Ziel, alle Lebewesen in der Natur für grundsätzlich schön und wichtig einzustufen. Schädlich waren und blieben weit mehr Arten als die besungenen Nachtigallen und Lerchen, die Marienkäfer und Falter. Schon deren Raupen blieben zumeist verdächtig, mochte auch der Schmetterling noch so schön sein.

Es dauerte daher bis in die neue Zeit eines ganz anderen Naturverständnisses, bis der Artenschutz einigermaßen aus der Falle von »nützlich-schädlich« herauskam. Doch dafür muss er jetzt begründen, ob eine bestimmte Art überhaupt, und falls ja, warum, im sogenannten Naturhaushalt benötigt würde. Die Spaltung von Mensch und Natur blieb erhalten. Der gern auch so wörtlich verstandene biblische Auftrag »Macht euch die Erde untertan« wirkt praktisch ungeschwächt weiter. Und so versucht der heutige Naturschutz, in nach wie vor romantischer Natursuche zu einer Natur zurückzukommen, die vor zweihundert Jahren eigentlich eine ganz außerordentlich geschundene Landschaft gewesen war. Folglich sind heute die »besten« (weil artenreichsten) Naturschutzgebiete solche Flächen, die als Grenzertragsböden eingestuft werden, oder Wälder, die kaum noch in der Lage sind zu wachsen, weil das Grundwasser zu sehr abgesenkt worden ist. Wie einst dort Wald übrig geblieben war, wo sich die Flächen als nicht gut genug für die Landwirtschaft erwiesen, so sind es nun jene insgesamt unergiebigen Flächen, die eine »naturschutzwürdig reichhaltige Natur« tragen. Es ist der »Ertrag«, der unsere Sicht der Natur bestimmt! Nach wie vor verhält es sich so. Naturschützer werden für »Romantiker« gehalten. […]

Blick auf München über die Isar um 1835. Gemälde von Ernst Kaiser.
 Das Bild zeigt, wie offen und wie intensiv genutzt das Isartal war, wo heute der
Englische Garten und die Hirschau dicht bewachsen und eigentlich
 Hochwald geworden sind.

Justus von Liebig und der Kunstdünger


Die große Wende löste im Stillen ein herausragender, bis in die Gegenwart hoch geehrter deutscher Chemiker aus, als er das zugrundeliegende Prinzip für die Produktivität der Natur erkannte. Justus von Liebig formulierte es als das (sein) »Minimum-Gesetz«. Danach begrenzt jener Nährstoff die (landwirtschaftliche) Produktion, der im Verhältnis zu den anderen benötigten Stoffen im Minimum ist. Das kann etwas so Einfaches sein wie das fehlende Wasser in der Wüste oder der Mangel an Wärme in den polaren Regionen. Letztere lassen sich schwerlich heizen. In zu kalten Gebieten können nur Glashäuser eine gewisse Lösung sein. Die Wüste kann man bewässern. Das ist seit Jahrtausenden bekannt und vielfach gemacht worden. Liebigs Leistung lag nun darin, den Schlüssel für die Produktionsverbesserung gleichsam für das normale Land gefunden zu haben. Die chemische Analyse kann feststellen, ob der Boden genug Stickstoff- oder Phosphorverbindungen, Kalium oder Eisen enthält, oder wie viel ihm davon, bezogen auf den Bedarf der Nutzpflanzen, fehlt. Der Mangel lässt sich bestimmen und direkt im Verhältnis zu den anderen Mineralstoffen messen. Das ermöglicht die richtige Versorgung mit Kunstdünger.

Das Zauberwort zur nachhaltigen und außerordentlich starken Anhebung der Produktion lautete alsbald ›Nitrophoska‹. In diesem Kunstdünger wurden die drei mengenmäßig bedeutendsten Wirkstoffe, nämlich Stickstoff (Nitro), Phosphor (phos) und Kalium (ka), in ziemlich genau den Verhältnissen geboten, in denen sie von den Kulturpflanzen für Wachstum und Fruchtbildung benötigt werden. Entsprechend nachhaltig ließ sich die Produktion, gemessen an Hektarerträgen, in kurzer Zeit steigern. Sobald Kunstdünger preiswert genug zur Verfügung stand, merkten die Landwirte, dass sie auch ohne aufwendige Analysen nach dem einfachen Prinzip »viel hilft viel« ihre Erträge steigern konnten. Großtechnische Erzeugung senkte die Preise für den Kunstdünger. Die Landwirtschaft wurde zu einem der Hauptabnehmer von Produkten der chemischen Industrie. Deutsche Firmen stiegen in die Weltspitze auf, weil in Mitteleuropa bei ziemlich guten Böden ein Missverhältnis zwischen Produktionsflächen und Bedarf zustande gekommen war. Die Bevölkerung brauchte weit mehr Nahrungsmittel, als das Land in der herkömmlichen Weise erzeugen konnte. […]

Die Erträge konnten nur vor Ort in Deutschland gesteigert werden, wo Böden und Klima für brauchbare Ernten weit verlässlicher waren als in den tropischen Kolonialgebieten. Doch hier gab es, vor allem im Südwesten und Süden, ein strukturelles Problem. Die Agrarflächen waren durch Erbteilung extrem stark zersplittert, sodass sie eher den Eindruck von Handtuchstreifen als von Produktionsflächen machten. Nur im preußischen Junkerland war das anders. Dort standen für den Großeinsatz auch Großflächen zur Verfügung. Die strukturellen Vorteile wurden rasch offensichtlich, weil auf den zusammenhängenden Flächen weit wirkungsvoller Getreide und andere Feldfrüchte als auf den kleinteiligen Fluren im Süden des Reiches angebaut werden konnten. Diese taugten für die Selbstversorgung, nicht aber für die Läden und Märkte der rasch wachsenden Städte oder für die bevölkerungsreichen Industriegebiete an Rhein und Ruhr. Die großtechnische Erzeugung und der großflächige Einsatz von Kunstdünger veränderten die Lage, aber richtig zur Wirkung kam dieser erst, als nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Flurbereinigung ein ganz neuer Anfang gemacht werden konnte.

Verteilung des Artenreichtums von Vogelarten in Mitteleuropa, die in den
betreffenden Lebensräumen brüten, von den Innenstädten übers Land bis zu
den für besonders artenreich zu erachteten Flussauen. Die Befunde zeigen, wie
reichhaltig die Städte im Vergleich zur offenen Flur in unserer Zeit geworden sind.
Die beiden Weltkriege hatten die Entwicklung weitgehend unterbrochen und gleichsam auf den Anfang zurückversetzt. Noch zwischen den Kriegen bestand die Vollwertdüngung deutscher Flur in einer Menge von 30 bis 50 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr. So viel gelangt seit rund 20 Jahren allein auf dem sogenannten Luftweg als Dünger flächig übers Land. Die Quellen davon sind die modernen Großfeuerungsanlagen, die bei hohen Betriebstemperaturen Luftstickstoff mitverbrennen und so zu Dünger aus der Luft werden lassen, aber auch der Autoverkehr, wenn die Motoren in hohen Drehzahlen laufen. Der direkte Einsatz von Düngemitteln stieg unabhängig von dieser »Düngung nebenbei« produktionsbezogen stark an. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts übertraf die Bilanz zwischen Ernteentzug und Düngung fast überall in Mitteleuropa die Grenze von 100 Kilogramm Stickstoff (als Reinstickstoff gerechnet) je Hektar und Jahr. In den agrarischen Intensivgebieten verdoppelte sich dieser Überschuss und wurde zur Hauptbelastung für Boden, Grundwasser und auch der Luft, weil immer größere Mengen organischen Düngers nicht mehr, wie früher, als Festmist auf die Fluren gebracht wurde, sondern in Form von flüssiger Gülle.

Diese Entwicklung veränderte das Grundwasser, die Nährstoffgehalte der Böden und über diese Lebensgrundlagen auch die Artenzusammensetzung und -vielfalt der Fluren weit stärker als alle früheren »Eingriffe«. Denn nun trat genau das auf, was der Mangel verhindert hatte. Einzelne Pflanzen, die sehr »wüchsig« sind und dafür auch reichlich Nährstoffe brauchen, wucherten und erdrückten die genügsameren und zarteren Arten. Der Stickstoff wurde zum »Erstick-Stoff« für die Artenvielfalt. Die Vegetation wächst nun seit Jahrzehnten schon aufgrund dieser Düngung im Frühjahr viel früher und viel dichter auf als in den »mageren Zeiten«. Bodennah wird es daher im Frühsommer und Sommer feucht und kühl. Je dichter die Vegetation, desto stärker wird dieser Abkühlungseffekt. Die wärmebedürftigen Arten nehmen ab und verschwinden, obgleich »offiziell« das Klima im genau gleichen Zeitraum wärmer wurde. Doch für die Pflanzen und für die meisten Tiere zählen nicht die meteorologisch standardisierten Messwerte, sondern die tatsächlichen Bedingungen in ihren Lebensräumen.

Für die Grille oder für die Raupe am Wiesenboden bleibt das Mikroklima kalt und feucht, auch wenn einen Dreiviertelmeter darüber, wo die Pflanzendecke endet, schönster Sonnenschein frühsommerliche Wärme liefert. Nicht das schmelzende Eis der Gletscher ist, als rein physikalischer Vorgang, maßgeblich für die Auswirkungen leichter Erhöhung der Durchschnittstemperaturen, sondern die Art und Weise, wie die Pflanzendecke reagiert. Sie bestimmt in ausgeprägter Weise die thermischen Lebensbedingungen und damit Mikro- und Mesoklima auf den kleinen und mittleren Ebenen der Natur. In unserer Zeit drehte die übermäßige Versorgung des Landes mit Pflanzennährstoffen somit die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts geradezu ins Gegenteil um. Damals wurden, wie schon ausgeführt, die Fluren schnell aufgewärmt und abgetrocknet, weil sie weithin offen und intensiv genutzt waren. Jetzt sind sie »zugewachsen«, weil weder Ziegen noch Schafe oder fleißige Hände jeden Streifen und alle Ränder frei halten.

Die Städte sind seit Jahrzehnten »magerer«, artenreicher und vielfältiger als »die Natur« draußen auf den Fluren. Denn in Städten, Siedlungen und Industrieanlagen enthalten die Böden inzwischen vielerorts weit weniger Nährstoffe für das Pflanzenwachstum als die anhaltend überdüngten Felder und Wiesen. Die Bodenversiegelung mit Pflaster, Beton und Teer leitet das Niederschlagswasser schnell in die Kanalisationen, sodass sich an vielen Stellen trockenwarme Verhältnisse halten können. Die Aufwärmung der Gebäude durch die Heizungen im Winter und die Aufnahme und (nächtliche) Speicherung von Sonnenwärme im Sommer verstärkt diese Effekte und macht die Städte zu »Wärmeinseln«. Entsprechend groß ist der Kontrast in der Artenvielfalt geworden. Das Land verliert sie, während die Städte umso mehr Arten gewinnen, je größer sie sind. Diese Entwicklung stellt das Leitbild Artenvielfalt im Naturschutz seit geraumer Zeit grundsätzlich infrage. Denn es stammt, wie ausgeführt, aus dem 19. Jahrhundert. Die damaligen Verhältnisse werden jedoch auf absehbare Zeit sicherlich nicht wieder nachzuahmen (und anzustreben) sein. Das geht allein schon deswegen nicht mehr, weil der erreichte, sehr hohe Grad der Selbstversorgung mit den Grundnahrungsmitteln ohne Not nicht wieder aufgegeben werden wird - und auch nicht mehr aufgegeben werden soll. Zurück dreht sich das Rad der Zeit ohnehin nicht. Wie groß die Unterschiede zwischen Stadt und Land in der jüngsten Vergangenheit geworden sind, illustrieren die nachfolgenden Abbildungen.

Die Defizite können direkt berechnet werden, wenn der allgemeine Landesdurchschnitt zugrunde gelegt wird. Für die Vögel gibt es genügend Befunde, aus denen ein solcher berechnet werden kann. Danach sind pro Quadratkilometer Landfläche in Mitteleuropa rund 43 Vogelarten zu erwarten, die auf dieser Fläche auch brüten. Mit Hilfe einer Formel kann berechnet werden, wie viele Arten von Brutvögeln auf Flächen unterschiedlicher Größe zu erwarten wären, wenn diese durchschnittlichen Verhältnissen entsprechen. Die tatsächlichen Befunde ergeben nun im Vergleich mit den Erwartungswerten das Ausmaß an erhöhtem oder vermindertem Artenreichtum. Wo die Minderung unter die Grenze zufälliger Schwankungen abfällt, handelt es sich um echte Defizite. Solche treten ganz besonders auf den großflächig landwirtschaftlich genutzten Fluren auf, während die Städte allgemein über dem Durchschnitt liegen und oft einen Artenreichtum erreichen, wie er in hochwertigen Naturschutzgebieten auftritt oder erwartet wird.

Da nun aber der gesamte Siedlungsraum, einschließlich der Industrieflächen, mit seinem beträchtlichen Artenreichtum in Mitteleuropa nur rund 10 Prozent der Landesfläche einnimmt, die Wälder mit geringen Defiziten an Diversität gut 30 Prozent und die agrarisch genutzte Flur aber 55 Prozent ausmachen, während Naturschutzgebiete und die besonders artenreichen Truppenübungsplätze oder weitere »Restflächen« geringer Nutzungsintensität die restlichen 5 Prozent stellen, kommt insgesamt der in »Roten Listen gefährdeter Arten« dokumentierte, so starke Artenschwund zustande. Hauptverursacher ist die quasiindustrielle Landwirtschaft mit ihrer Überdüngung und der zu ihrer Leistungssteigerung durchgeführten Vereinheitlichung der strukturellen Verhältnisse auf den Fluren. […]

Sofern zu Vorkommen und Häufigkeit der Arten vor 150 Jahren brauchbare Angaben vorliegen, ergibt sich ein gewaltiger Artenschwund für die Fluren. Denn diese waren damals die besonders artenreichen Lebensräume gewesen und nicht die Städte. Pflanzen und Tiere der Fluren stellen daher auch die weitaus höchsten Anteile in den »Roten Listen«. Sie schwanken zwischen gut 50 und über 90 Prozent bei den Rückgängen. Die »Roten Listen der gefährdeten Arten« wurden auch immer länger, weil die Intensität der agrarischen Bewirtschaftung zunahm, und nicht kürzer, weil Maßnahmen des Artenschutzes wirksam geworden wären. Solche kamen nur wenigen Arten zugute, und zwar fast ausnahmslos solchen, die früher intensiv verfolgt worden waren und nun geschützt sind. Hier geht es darum, eine Gesamtbilanz zu ziehen.

Professor Josef Helmut Reichholf im Museum "Mensch und Natur"
im Münchner Schloss Nymphenburg
Sie ergibt für den flächengrößten Anteil der mitteleuropäischen Landschaften, die Flur, die ganz starken Rückgänge der Artenvielfalt und die größte Belastung des Landes. Die Entwicklung führte in weniger als einem halben Jahrhundert vom Mangel zur massiven Überdüngung. Diese, im internationalen Fachjargon Eutrophierung genannte Überversorgung von Böden und Gewässern mit mineralischen und organischen Nährstoffen stellt eines der wichtigsten Kennzeichen der Natur des 20. Jahrhunderts europaweit dar. Doch auch in weiten Regionen der übrigen Welt schreitet die Eutrophierung fort. Sie ist eine der Hauptquellen für klimawirksame Gase wie Methan und Ammoniak, und sie wird im Zusammenhang mit den Klimaveränderungen aus anderem Blickwinkel wieder aufgegriffen. Ausgelöst wurde sie von der Erfindung des Kunstdüngers. Dieser machte Deutschland und weitere große Staaten Europas zu Exporteuren von landwirtschaftlichen Produkten auf dem Weltmarkt. Die davon entscheidend mitdiktierten Preise nehmen Einfluss auf die weitere Intensität der Produktion in Europa wie auch auf die übrigen Produktionsgebiete global - mit ganz gewaltigen Folgen für die Natur und für das Klima.

Umgekehrt bedeuteten Kunstdünger und Ertragssteigerungen natürlich die ungleich bessere Lösung der zu Beginn des 20. Jahrhunderts real vorhandenen Versorgungsproblematik. Der Versuch einer »Ausweitung des Lebensraumes« nach 0sten war der absolut falsche Weg. Verbesserte landwirtschaftliche Produktion und Zurückdrängung des Hungers stabilisierten sodann die Weltlage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewiss mehr als alle politischen Aktivitäten. Die »Grüne Revolution« trug mit ertragreicheren Getreidesorten dazu ebenso maßgeblich bei wie Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel von der chemischen Seite. Das 20. Jahrhundert wird sicher zu Recht als eine neue Stufe mit einem Quantitätssprung in der Nutzung der Produktionskapazität der Erde eingehen. Eine Zunahme der Nahrungsproduktion in diesem Ausmaß und in so kurzer Zeit hatte es vorher noch nie gegeben. Die »Grüne Revolution« entspricht in mancher Hinsicht der »Neolithischen Revolution« mit der Entwicklung des Ackerbaus vor rund 10000 Jahren. Nichts veränderte im ganzen letzten Jahrtausend die Natur in Europa und darüber hinaus weltweit so sehr wie die industrialisierte Landwirtschaft. Der globale »Impakt« der Industrie bleibt weit hinter dem der Landwirtschaft zurück.

Quelle: Josef H. Reichholf: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends. Fischer, Frankfurt/M. 2007. ISBN 978-3-10-06294-5. Zitiert wurden die Seiten 138-146 und 187-197


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