6. August 2012

Debüts mit Ferruccio Busoni

Am 31. März 1881 veröffentlichte die »Grazer Tagespost« die folgenden emphatischen Zeilen des Dirigenten und Musikpädagogen Wilhelm Mayer, als Komponist besser bekannt unter seinem Pseudonym W. A. Remy:

»Endgefertigter bestätigt hiermit, dass Ferruccio Busoni, aus Empoli bei Florenz gebürtig, bei ihm während der Zeit vom 1. Jänner 1880 bis 19. März (1881) den vollständigen Kurs der musikalischen Komposition, insbesondere die Tonlehre, Rhythmik, Melodik, die gesamte Harmonielehre einschließlich des Generalbasses, der Modulation und der Begleitung gegebener Choral- und weltlicher Melodien, ferner die Lehre von den homophonen und polyphonen (kontrapunktischen) und gemischten Kunstformen, endlich die Organik und die angewandte Vokal- und Instrumentalkomposition mit ausgezeichnetem Erfolge absolviert und während des ganzen Lehrganges nicht nur das vollkommene Verständnis der so genannten Theorien, sondern auch deren praktische Verwertung in mannigfachen häuslichen Arbeiten mit vorzüglichem Fleiße an den Tag gelegt hat.«

Diese Charakterisierung legt nicht nur Zeugnis für die enorme Bedeutung seiner Grazer Zeit für den jungen Busoni ab - noch Jahre hindurch sollte Ferruccio mit seiner Familie die Sommermonate in Frohnleiten verbringen -, sondern präjudiziert hellsichtig die Karriere Busonis als ein ständig in kritischer Auseinandersetzung mit der musikalischen Tradition arbeitender Komponist. Unmittelbar nach Abschluss seiner Studien in Graz legte der 15jährige Busoni ein eigenes Werkverzeichnis an, das mit dem Opus 1, einem »Ave Maria« für Singstimme und Klavierbegleitung, beginnt.

Mehrere Jahre später war Busoni in Bezug auf seine künstlerische Selbsteinschätzung freilich reifer und einsichtiger geworden, wie folgendes Zitat veranschaulicht: »Im ideellen Sinn fand ich meinen eigenen Weg als Komponist erst mit der zweiten Violinsonate, op. 36a, die ich unter Freunden auch mein Opus eins nenne.«

Auch in dieser CD-Einspielung steht die 1898 abgeschlossene Violinsonate in e-Moll an erster Stelle, und in der Tat erweckt dieses 40 Minuten lang dauernde Werk bis heute den Eindruck früher kompositorischer Souveränität und expressiver Meisterschaft.

Dabei ist die formale Disposition der »Sonate« ungewöhnlich genug! Einem Zyklus von sechs Choral-Variationen und einer Coda geht eine in sich in drei Teile zerfallende »Einleitung« voraus, die mit ihrer Dauer von nicht weniger als einer Viertelstunde jedoch als völlig autonomer Formteil anzusehen sein dürfte. »Langsam«, mit dieser einzigen deutschsprachigen Tempoangabe, setzt das Werk ein, »Presto« im 6/8-Takt folgt eine aufgewühlte e-Moll-Passage, an die sich eine in cis-Moll beginnende rhapsodische Musik anschließt, die sich unendlich diskret zum Einsatz des Choral-Themas vortastet. Busoni entnahm dieses Variationsthema dem zweiten Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach, in dem diese selbst den Kirchengesang »Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen, wenn ich in deiner Liebe ruh'« (BWV 517) notiert hatte. Nebenbei bemerkt sollte Busoni auf diesen Choral in seinen »Variationen über das Bachsche Chorallied Wie wohl ist mir O Freund der Seele« für zwei Klaviere aus dem Jahr 1916 zurückkommen.

Auf diesen introvertiert-schlichten Choral, dessen originale Textworte Busoni unter den jeweiligen Takten minutiös in sein Autograph eintrug, folgen sechs »Charakter«-Variationen, deren zweite etwa einen parodistischen Geschwindmarsch darstellt. Die fünfte Variation - ein zu glühender Intensität gesteigertes Fugato - ist für Alexandra Goloubitskaia, die Pianistin dieser Aufnahme, das emotional-geistige Zentrum des gesamten Werkes.

In geradezu verklärt-transzendentale Sphären führt schließlich die Coda, die, im Piano verklingend, in einer Geste scheuer Melancholie die Anfangstakte und mit ihnen die versunkene Stimmung des Werkes zum Abschluss im vollen Wortsinn in Er-Innerung ruft.

Ausdruck von Busonis tiefer Kenntnis der deutschen Kultur, der er mit seiner Übersiedlung nach Berlin auch biographischen Tribut zollte, sind die beiden Vertonungen von Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe, mit dem Busoni vor allem die lebenslange Faszination für den Faust-Stoff - dieser sollte beide Künstler zu deren summa opera inspirieren - verband. Die beiden hier eingespielten Lieder stammen hingegen aus dem hochesoterischen »West-östlichen Divan«, den Goethe im Umkreis seiner Freundschaft mit Marianne von Willemer um 1814/15 mit deren dichterischer Beteiligung verfasst hatte. Das Gedicht »Schlechter Trost« aus dem »Buch der Liebe« handelt vom nächtlich-visionären Versuch der Selbstdistanzierung des Liebeskranken von seinen Gefühlen, wobei »der Klang der schwunglosen und pausenreichen Freien Rhythmen das trostlose Sprechen ins Leere« symbolisiert (Erich Trunz).


Schlechter Trost

Mitternachts weint' und schluchzt' ich,
Weil ich dein entbehrte.
Da kamen Nachtgespenster,
Und ich schämte mich.
»Nachgespenster«, sagt' ich,
»Schluchzend und weinend
Findet ihr mich, dem ihr sonst
Schlafendem vorüberzogt.

Große Güter vermiss' ich.
Denkt nicht schlimmer von mir,
Den ihr sonst weise nanntet,
Großes Übel betrifft ihn!« -
Und die Nachtgespenster
Mit langen Gesichtern
Zogen vorbei,
Ob ich weise oder törig,
Völlig unbekümmert.


Aus dem »Buch des Unmuts«, einer Sammlung scharfsinniger Konstatierungen und hellsichtig-prophetischer Invektiven, stammt das folgende Lied, eine ironisch gebrochene Warnung vor egozentrischer Enge, besonders in Dichtung und Kunst. Die Wendung »grobes Selbstempfinden« in der letzten Strophe hat hier freilich noch keinen abschätzigen Beigeschmack, sondern meint ganz einfach »unmittelbares Selbstbewusstsein«, durchaus analog zum Gebrauch dieser Wendung in der früh romantischen Hermeneutik Schleiermachers oder vergleichbar mit der positiven Konnotierung des Begriffs »naiv« bei Schiller.

Lied des Unmuts

Keinen Reimer wird man finden,
Der sich nicht den besten hielte,
Keinen Fiedler, der nicht lieber
Eigne Melodien spielte.

Und ich konnte sie nicht tadeln;
Wenn wir andern Ehre geben,
Müssen wir uns selbst entadeln;
Lebt man denn, wenn andre leben?

Und so fand ich's denn auch juste
In gewissen Antichambern,
Wo man nicht zu sondern wußte
Mäusedreck von Koriandern.

Das Gewesne wollte hassen
Solche rüstige neue Besen,
Diese dann nicht gelten lassen,
Was sonst Besen war gewesen.

Und wo sich die Völker trennen
Gegenseitig im Verachten,
Keins von beiden wird bekennen,
Daß sie nach demselben trachten.

Und das grobe Selbstempfinden
Haben Leute hart gescholten,
Die am wenigsten verwinden,
Wenn die andern was gegolten.


Busonis berühmtestes Orchesterwerk ist die »Berceuse élégiaque« op. 42, ein vom französischen Wort für Wiege hergeleitetes Wiegenlied, und zwar dasjenige eines Mannes am Sarge seiner Mutter. Bereits Goethe in seinem berühmten »Venezianischen Epigramm« über die Gondel und Franz Schubert im Schlussgesang seiner »Schönen Müllerin« hatten die tiefenpsychologische bzw. ontologische Einheit von Wiege und Sarg künstlerisch singulär gestaltet, ein Verfahren, dem hier auch Busoni folgt. Im Juni 1909 hatte er die hier eingespielte »Berceuse« (BV 252) für Soloklavier komponiert, am 3. Oktober desselben Jahres verstarb seine geliebte Mutter Anna Weiß-Busoni. Der Sohn gestaltete seine Trauer durch die Orchesterinstrumentierung des vorahnungsvollen Klavierstückes sowie durch eine berührende Zeichnung, die den Sohn über seine eigene Wiege gebeugt zeigt, während draußen der Sarg der Mutter im Kondukt vorbei getragen wird. - Die a-Moll-Klavieretüde entstammt einem sechsteiligen Etüden-Zyklus aus dem Jahr 1883, komponiert noch vor der Übersiedlung der Familie Busanis von Triest, der Heimatstadt der Mutter, nach Wien.

Im Jahr 1920 eskalierte die bereits zuvor mit unverhohlener Animosität geführte ästhetische Debatte zwischen Paul Bekker, Ferruccio Busoni und Hans Pfitzner, der in diesem Jahr ein Pamphlet mit dem Titel »Die Neue Ästhetik der musikalischen Impotenz. Ein Verwesungssymptom?« veröffentlichte. Der angegriffene Busoni reagierte darauf mit einem offenen Brief an Paul Bekker, der den Titel »Junge Klassizität« trug und folgende berühmte Passage enthält: »Unter einer Jungen Klassizität verstehe ich die Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente: ihre Hineintragung in feste und schöne Formen. Diese Kunst wird alt und neu zugleich sein – zuerst.«

Auf kaum ein anderes Werk Busonis scheint dieses Diktum besser anwendbar zu sein als auf das 1918 komponierte »Concertino für Klarinette und kleines Orchester« op. 48. Nach seinen drei Fixsternen Bach, Beethoven und Liszt entdeckte Busoni während seines kriegsbedingten Züricher Exils von 1916-1920 immer mehr die beglückende Luzidität der Musik Mozarts, deren mildes Licht auch dieses Werk für Klarinette und Kammerorchester überstrahlt. Gewiss nahm Busoni an der Behandlung des Tons der Klarinette beim späten Mozart Maß (Konzert, Quintett, Requiem, Titus etc.) und gestattete sich überdies ein ironisch gebrochenes »Tempo di Minuetto« am Schluss des Werkes - trotzdem aber ist das Werk niemals Ausdruck von schlaffem Eklektizismus oder akademisch-restaurativem Klassizismus, sondern in seiner burschikosen Frische und diskretem Empfindungsreichtum eben eines der erfrischendsten musikalischen Dokumente »junger Klassizität«, ganz im Sinne des Ästhetikers Busoni.

Quelle: Harald Haslmayr, im Booklet

Diese CD entstammt der Reihe »Klangdebüts«, die ausschließlich Aufnahmen von Studierenden der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (»Kunstuni Graz«) in einem breitgestreuten stilistischen Spektrum veröffentlicht. Die Reihe verfolgt das Ziel, den jungen Musikerinnen und Musikern den technisch-künstlerischen Hergang eines Aufnahmevorgangs zu vermitteln und ihnen gleichzeitig »Gesellenstücke« für den Einstieg ins Berufsleben in die Hand zu geben. Die Reihe ist nicht im allgemeinen Musikhandel erhältlich, sondern kann direkt bei der Universität bestellt werden.

Track 7: Lied des Unmuts


TRACKLIST


FERRUCCIO BUSONI
(1866-1924)

Sonate für Klavier und Violine Nr. 2 e-Moll, op. 36a 
01. Langsam                                                8.17
02. Presto                                                 3.10
03. Andante piuttosto grave                                3.37
04. Andante con moto (Choral von J. S. Bach)               3.12
05. Alla marcia, vivace - Andante - Tranquillo assai -    13.29
  Allegro deciso, un poco maestoso 
Albana Laci - Violine 
Alexandra Goloubitskaia - Klavier 

Aus Fünf Goethe-Lieder für Bariton und Klavier, BV 278/281
(J. W. v. Goethe, West-östlicher Divan) 
06. Schlechter Trost                                       2.44
07. Lied des Unmuts                                        2.49
Tomaz Kovacic - Bariton 
Alexandra Goloubitskaia - Klavier 

08. Berceuse für Klavier, BV 252                           4.41

09. Etüde für Klavier a-Moll, op. 16 Nr. 2                 4.50
Ryoko Ohashi - Klavier 

Concertino für Klarinette und kleines Orchester, op. 48 
10. Allegretto sostenuto                                   3.28
11. Andantino                                              2.44
12. Quasi Recitativo (sostenuto, quasi Adagio) -
  Allegro sostenuto - Tempo di Minuetto, 
  sostenuto e pomposo                                    4.51
Mátyás Firtl - Klarinette 
Opernorchester KlangImPuls, Dirigent: Wolfgang Schmid 

                                              CD total: 58.00

Violine: Albana Laci, Hsamik Danielyan, Tamara Bakardzieva, Felix Korsch, 
       Andreas Homoki, Michael Leitner, Szilard Szigeti, Katrin Lenzenweger 

Viola:   Daniel Grosza, Lászlo Abraham, Nikolai Demerdzhiev 

Cello:   Penelopi Papavasileiou, Gergely Koloszvari, Tibor Szábo 

Kontrabass: Darko Ziopasa, Yuan-Chuan Pan 

Oboe:    Doris Hopf 

Soloklarinette: Mátyás Firtl 

Fagott:  Adrienn Kerekes, Monika Toth 

Horn:    Petur Paszternak, Tai Chia Lee 

Triangel: Franz Hofferer 

Aufnahme: 17. / 18.10., 6.12.2003, Aula der KUG 
Aufnahmeleitung: Heinz Dieter Sibitz 
Tontechnik und Schnitt: Rudolf Aigner, Heimo Knopper 
DDD


Track 11: Concertino für Klarinette und kleines Orchester op. 48, II. Andantino


Kasimir Malewitsch: Schwarzes Quadrat, um 1923, Öl auf Leinwand, 106 x 106 cm, Russisches Staatsmuseum, St. Petersburg

Ein schwarzes Quadrat ist ein schwarzes Quadrat ist ...
Von abstrakter und gegenstandsloser Kunst

«Das schwarze Quadrat von Malewitsch gilt als eine Wendemarke in der Entwicklung der Kunst. Es ist in unser aller Kopf, obwohl wir es nicht kennen. Wir haben von ihm Nachrichten - Beschreibungen und Abbildungen -, die ungenau sind und die voneinander abweichen, je nachdem auf welche Fassung des Schwarzen Quadrates sie sich beziehen. Die erste Fassung des Bildes soll sich im Depot des Russischen Museums in Leningrad befinden, sie wird nicht öffentlich gezeigt. Allererst in der Ausstellung Paris - Moskau im Centre Pompidou in Paris 1979 hat man uns eine spätere Ausführung des Bildes zugänglich gemacht.»

So schrieb der Hamburger Künstler Dietrich Helms 1979, nachdem seine Zeichenaktion auf der Spur von Malewitschs schwarzem Quadrat beendet und als kleine Publikation veröffentlicht worden war. 1974 hatte er begonnen, befreundete Künstler zu fragen, wie sie sich das Schwarze Quadrat vorstellten. Sie zeichneten auf Streichholzschachteln, Rechnungen, kleinen Zetteln, wie man sie in der Tasche findet, auf Bierdeckeln. Nachdem die spätere Ausführung des Bildes, das Schwarze Quadrat von 1929, in Paris zu sehen war, beendete Helms die Aktion, wählte aus, ordnete, publizierte, es wurde eine kleine Ausstellung daraus, gezeigt in Berlin, Düsseldorf, Ludwigshafen.

Überzeugend war der Beitrag der Künstlerin Lili Fischer. Aus einem alten Buch übernahm sie das (Hexen-)Rezept: «Schwefel, Teufelsdreck, Bibergeil, Rauten. Diese Stücke untereinander gestoßen, und einen Rauch damit gemacht.» Und mit eigener Schrift fügte sie hinzu: «und es erscheint das schwarze Quadrat.»

Bühnenbild Akt 1, Szene 3, zur «Sieg über die Sonne», 1913

Damit ist der Mythos, der um das Schwarze Quadrat entstanden ist, hervorragend ausgedrückt. Schon bei seiner ersten Präsentation 1915 wurde es als «Ikone der Kunst» bezeichnet und entsprechend installiert, wie noch zu zeigen ist. Später verschwand es in einem Depot, keiner wußte, wo es sich befand. Heute kennen wir die ruinöse erste Fassung, durchzogen von Rissen und Krakeluren wie ein altes Meisterwerk. Dabei ist das Gemälde mit den bescheidenen Maßen 79,2 mal 79,5 Zentimeter keine hundert Jahre alt.

Um die Aura, die dieses Werk umgibt, zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf die Situation in Rußland um die Wende zum 20. Jahrhundert werfen. Bereits seit dem 18. Jahrhundert hatte sich das Zarenreich europäischen Einflüssen geöffnet. Doch die Orientierung nach Westeuropa betraf nur die Oberschichten und insbesondere den Adel. Die für damalige europäische Verhältnisse unvorstellbaren Mißstände wie die Armut, unter der ein Großteil der Bevölkerung litt, riefen nicht nur Kritiker auf den Plan, sondern beförderten auch Utopien, die weiter reichten als die Forderungen der Französischen Revolution nach «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit». Der Gedanke, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, die im 19.Jahrhundert von Schriftstellern wie Nikolaj Tschernyschewskij beschworen wurde, fand Anfang des 20.Jahrhunderts auch Eingang in die Kreise bildender Künstler und verband sich mit dem Wunsch, russische Traditionen wiederaufleben zu lassen, ohne jedoch die europäischen Einflüsse ganz abzulehnen. So entwickelte sich aus dem französischen Kubismus, dem italienischen Futurismus und russischer Volkskunst eine Stilrichtung, die als Kubofuturismus bezeichnet wird.

Plakat mit der Ankündigung der Letzten Futuristischen Bilderausstellung 0,10 am 19.Dezember 1915 in St. Petersburg

Eine wichtige Rolle in diesem Prozeß kam den Ikonen zu, die als Abbilder der Heiligen und der göttlichen Wesen keine Realität, sondern deren göttliche Kraft darstellten. Damit machten sie Unsichtbares sichtbar. Die wichtige transzendente Funktion der Ikone für die moderne Kunst, wie sie den Russen vorschwebte, formulierte einer von ihnen - Iwan Puni - 1913 sehr präzise: «Wir glauben daran, daß die Ikone in ihrer großartigen und lebendigen Schönheit die zeitgenössische Kunst zu Errungenschaften führt, die sich von denen unterscheiden, von denen die europäische Kunst in den letzten Jahrzehnten lebte.»

In demselben Jahr 1913 entwarf Kasimir Malewitsch in St. Petersburg für die futuristische Oper Sieg über die Sonne Bühnenbild und Kostüme. Die Oper war ein Gemeinschaftswerk des Dichters Alexei Krutschonych, der für Libretto und Regie verantwortlich zeichnete, des Komponisten Michail Matjuschin und des bildenden Künstlers Malewitsch. Darin besiegt ein «futuristischer Kraftmensch» die Kräfte des Kosmos. Zunächst wird die Sonne gefangen genommen, dann ein Zukunftsland ohne Sonne entworfen. Als Vorhang für den ersten Akt hatte Malewitsch das Schwarze Quadrat geplant, doch wurde es aufgrund der «Ignoranz» eines Verantwortlichen für die Aufführung nicht verwirklicht.

Im darauffolgenden Jahr entwickelte Malewitsch aus den Erfahrungen mit dem Bühnenbild und seinen virulenten Vorstellungen eine neue Kunst, die er «Suprematismus» nannte. Noch vor Preisgabe dieses Namens schrieb er im Mai 1915 an Matjuschin: «Die Arbeiten, die ich 1913 für ihre Oper Sieg über die Sonne ausführte, haben mir sehr viel Neues gebracht, es hat nur niemand bemerkt.» Und als Erklärung fügte er hinzu: «Ich schicke Ihnen ... die Zeichnung für den Vorhang des ersten Aktes. Der Vorhang stellt ein schwarzes Quadrat dar, den Keim aller Möglichkeiten, der in seiner Entwicklung zu fürchterlicher Kraft anwächst. Er ist der Urahn des Würfels und der Kugel; seine Spaltung bringt in der Malerei eine erstaunliche Kultur hervor. In der Oper bezeichnet er den Beginn des Sieges.»

Letzte Futuristische Bilderausstellung 0,10, St. Petersburg, 1915
Als Malewitsch diese Sätze schrieb, dürfte die erste Fassung des Schwarzen Quadrats vollendet gewesen sein, die er 1915 in der Letzten Futuristischen Bilderausstellung 0,10 in St. Petersburg dem staunenden Publikum als Ikone präsentierte. In einem Ausstellungsraum hingen 39 seiner Bilder, auf keinem einzigen waren Gegenstände zu erkennen. Rechtecke, Balken, sich teilweise überkreuzend, und andere geometrische Formen bevölkerten die Leinwände. Und in einer Ecke des Raumes, direkt unter der Zimmerdecke mit stuckierter Hohlkehle, hing das Schwarze Quadrat. Seine Position - übereck, direkt unter der Decke - ist der angestammte Platz der Ikone in russischen Wohnungen. Malewitsch nannte das Bild folgerichtig die «nackte, ungerahmte Ikone meiner Zeit».
Anläßlich der Ausstellung veröffentlichte der Künstler auch sein Credo, das Suprematistische Manifest. Kurz gesagt, ist Suprematismus die absolute Herrschaft des rein bildnerischen Ausdrucks ohne jede Beziehung zum Gegenstand. In dieser Gegenstandslosigkeit unterscheidet sich der Suprematismus von dem Prinzip der Abstraktion eines Wassily Kandinsky, auch wenn die Bezeichnungen «abstrakt» und «gegenstandslos» landläufig als Synonyma gebraucht werden. Dennoch ist die Geschichte der abstrakten Kunst eine andere als die der gegenstandslosen. An beiden Geschichten aber sind merkwürdigerweise vornehmlich Russen beteiligt, die Orte, an denen sie spielen, sind jedoch weit voneinander entfernt: Es sind Moskau, München und Paris. Wir wenden uns jetzt zuerst München zu, weil die Geschichte der abstrakten Kunst dort bereits 1910 begonnen haben soll.

Kasimir Malewitsch: Rotes Quadrat
1910 malt Wassily Kandinsky sein Erstes abstraktes Aquarell und damit das erste Bild, auf dem keine Gegenstände mehr zu erkennen sind. Das jedenfalls hat er so überzeugend behauptet, daß man es noch immer so lesen kann. Inzwischen wissen wir jedoch, daß Kandinsky diese Studie zu Komposition VII, die sich heute in Paris befindet, 1913 in München gemalt hat, aber in späteren Jahren auf 1910 rückdatierte und ihr den oben genannten programmatischen Titel gab. Wahrscheinlich wollte er nicht in Wettbewerb zum Malerehepaar Sonia und Robert Delaunay treten, die in Paris mit den Simultankontrasten der Farben experimentierten und einen eigenständigen Stil entwickelten, dem der Kunstkritiker Guillaume Apollinaire den Namen Orphismus gab. 1913 malte Robert Delaunay dann seine ersten abstrakten Kreisformen. Seine aus Rußland stammende Frau Sonia hatte mit Bildern wie Simultan-Kontraste von 1912 und mit Werken der angewandten Kunst die Vorarbeiten geleistet.

Indem der Gegenstand immer stärker abstrahiert wurde, entstanden sowohl bei den Delaunays als auch bei Kandinsky Bilder, in denen die Farbformen dominierten. Für Delaunay war dabei die Farbe Form und Inhalt zugleich, vergleichbar einer musikalischen Komposition. Ebenso hatte Kandinsky den Gegenstand immer stärker abstrahiert. Sieht man seine frühen abstrakten Bilder, stellen sich schnell Assoziationen ein, können Kandinsky-Spezialisten sogar Metaphern finden, die sie gegenständlich interpretieren und die meist auf einen religiösen Inhalt schließen lassen. Und so wird Kandinskys berühmte Komposition VII von 1913 heute als eine Verbindung der Themen Auferstehung, Jüngstes Gericht, Sintflut und Garten der Liebe interpretiert.

Malewitsch hingegen begann gleichsam bei Null. Er entwickelte aus seinen noch gegenständlichen Bildern kein schon fast gegenstandsloses, sondern setzte eine geometrische - ungegenständlicheForm, ein schwarzes Quadrat, auf einen Bildgrund. Schon bald hieß die gegenstandslose Kunst «konkrete Kunst». Der niederländische Maler, Graphiker, Architekt und Kunsttheoretiker Theo van Doesburg lieferte 1930 die wohl griffigste Definition: «Konkrete Malerei also, keine abstrakte, weil nichts konkreter, nichts wirklicher ist als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche.»

Kasimir Malewitsch: Schwarzes Kreuz, 42" x 42", 1923, Russisches Staatsmuseum, St. Petersburg
Der noch jüngst erhobene Vorwurf, Malewitsch habe mit dem Schwarzen Quadrat den Mythos genährt, «die absolute Kunst habe in dieser Erstgeburt das Licht der Welt erblickt, als hätte es die abstrakten Bilder Kandinskys nie gegeben», erweist sich nach dem zuvor Gesagten und aufgrund der Gleichzeitigkeit von Kandinskys erster abstrakter Komposition, Delaunays erstem Kreisbild und Malewitschs Bühnenbildern zum Sieg über die Sonne als Fehlurteil.
Aber auch wenn Abstraktion und Gegenstandslosigkeit zwei unterschiedliche Kunstäußerungen sind, die nicht einfach über einen Kamm zu scheren sind, wie dies bis heute viel zu oft getan wird, so besaßen Kandinsky und Malewitsch doch ein gemeinsames Ziel: Sie wollten eine radikal neue Kunst schaffen. Allerdings stand Kandinsky dabei stärker in der europäischen Tradition als Malewitsch. Und deshalb gelingt es auch nicht, das Schwarze Quadrat mit tradierten europäischen Vorstellungen in Einklang zu bringen, obwohl auch Malewitsch danach suchte, «das absolut Vollkommene radikal einfach zu formulieren».
Zwar ist die Vorstellung seit der Antike geläufig, der Mensch habe durch Kreis- und Quadratform an der kosmischen Harmonie teil, doch für Malewitsch war nicht das menschliche Maß entscheidend. Und so lehnte er auch die Annahme ab, Michelangelo habe die Figur des David aus dem Marmorblock herausgearbeitet. Für ihn hatte Michelangelo dem Marmor damit Gewalt angetan, ein herrliches Stück Stein verunstaltet, denn «aus Marmor soll man solche Formen herleiten, die gleichsam aus seinem eigenen Körper stammen, und ein herausgehauener Würfel oder eine andere Form sind wertvoller als jeglicher David».


Kasimir Malewitsch: Schwarzes Quadrat und Rotes Quadrat, 1915
Dieser Argumentation entspricht das suprematistische Zeichensystem. Dessen Grundelemente hatte Malewitsch aus dem Quadrat entwickelt: Durch Drehung entsteht aus dem Quadrat der Kreis, durch Teilung das Rechteck oder das Dreieck, durch Verlängerung der Balken, durch Überschneidung zweier Balken das Kreuz. Hinzu kommt eine reduzierte Farbigkeit: Neben reinem Schwarz und Weiß sind Rot, Smaragdgrün, Kobaltblau und Gelb zugelassen.

Das Schwarze Quadrat war also Ausgangspunkt für eine Malerei, die zwar noch andere geometrische Formen, aber keinen abbildbaren Gegenstand erlaubte. Ebenso war die Vorstellung von einem Oben und einem Unten aufgehoben, vergleichbar der fehlenden Schwerkraft im Weltall. Später dann hat sich Malewitsch für diese Überlegungen auf die Relativitätstheorie Albert Einsteins berufen, doch als er das Schwarze Quadrat malte, konnte er sie noch gar nicht gekannt haben.

Weil wir Probleme mit dem Nichts haben, lassen wir es (unbewußt) nicht zu und sprechen bei diesem Bild beharrlich vom Schwarzen Quadrat auf weißem Grund. Diese Bezeichnung suggeriert Räumlichkeit, wo keine ist. Auf das annähernd quadratische Bildfeld ist in der Mitte ohne Lineal, sondern frei Hand das schwarze Quadrat aufgetragen. Darum herum und anschließend(!) hat Malewitsch das Weiß gemalt. Das Schwarz des Quadrats sitzt also nicht auf dem Weiß des Grundes, sondern beide Farben befinden sich nebeneinander auf einem Feld.

Nun wäre natürlich einzuwenden, diese Unterscheidung sei Haarspalterei und bei den Farben sei es doch egal, ob sie nebenoder übereinander gemalt worden seien. Aber der Unterschied ist vor allem dann entscheidend, wenn es sich bei den Bildgegenständen einzig um Farbe und Form handelt. «Wenn die Denkgewohnheit verschwunden sein wird, in Bildern das Abbild von Winkelchen der Natur, von Madonnen und schamhaften Venus-Geschöpfen zu sehen, dann werden wir ein reines Produkt der Malerei erblicken. Ich habe mich in das Nichts der Formen verwandelt und habe mich aus dem stinkenden Morast der akademischen Kunst herausgefischt», schrieb Malewitsch 1915 in seinem Suprematistischen Manifest.


Jeannot Simmen formulierte es 1998 ähnlich: «Ein schwarzes Quadrat auf Weiß wird Zeichen in der Leere. Figur und Grund sind in konsequenter Reduktion verhandelt, das Schwarz ist bindungslos im Weißen. Keine Identifikation mit der Bildfigur, keine körperassoziative Annäherung oder sinnliche Entsprechung will sich einstellen. Figur und Grund, erweitert: Materie und Raum sind ästhetisch proportioniert. Die Form wird zum Mittel, Materie und Raum in ihrer vernichtend-bedrohlichen Unbestimmtheit zu bändigen. Durch Formen werden die endlosen Stoffe, wird der unendliche Raum (das Nichts) erst wahrnehmbar, wird diesen das Bedrohliche und Vernichtende genommen. Position von Schwarz im weißen Nichts.»

Und auch wenn nicht der Suprematismus, sondern der sozialistische Realismus die Staatskunst der UdSSR wurde, auch wenn man Malewitsch spätestens seit Ende der zwanziger Jahre im eigenen Land diffamierte und im Westen der Holländer Piet Mondrian mit der Gruppe De Stijl die konkrete Kunst publik machte, so war es eben doch das Schwarze Quadrat von Malewitsch, «das sich ... zum Werk einer neuen Epoche, zum Jahrhundertbild und zur Vision einer anderen Welt entwickelt(e)» und damit «die unvergleichliche abbildlose Konzentration spiritueller Möglichkeiten», darstellt. Auch wenn es jahrzehntelang nur in Kunstkreisen bekannt war, so hat es in seiner Rezeption durch die Künstler auf unsere Sehgewohnheiten eingewirkt und vor allem das Nichts zugelassen. Nichts anderes wollte Malewitsch mit seiner «Ikone der Kunst» auch erreichen. Bereits 1915, im Suprematistischen Manifest, heißt es: «Ich habe den Ring des Horizonts zerbrochen und bin dem Kreis der Dinge entkommen, dem Ring des Horizonts, in welchem der Künstler und die Formen der Natur eingeschlossen sind. Dieser verdammte Ring, der immer Neues aufdeckt, führt den Künstler von seinem Ziel fort zum Untergang ... In der Kunst ist Wahrheit, nicht Aufrichtigkeit vonnöten.»


Quelle: Susanna Partsch: Sternstunden der Kunst. Von Nofretete bis Andy Warhol, C.H. Beck, München 2003, ISBN 3 406 49412 9. (Leseprobe) Zitiert wurde Seite 199-206

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Reposted on July 18th, 2015
Das Infopaket enthält auch ein PDF mit dem Titel Räumliches Mobilisieren, eine Unterlage zu der Vorlesung vom 06.01.2011 am Institute of media und design der TU Braunschweig.

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