Während Bachs früher Schaffensphase war noch die mitteltönige Stimmung bei Tasteninstrumenten verbreitet, in der vom C aufsteigend alle großen Terzen rein gestimmt waren und sich die anderen Intervalle unterschiedlich unsauber darum herum gruppierten. Damit ließen sich nur die ersten fünf Tonarten in jeder Richtung des Quintenzirkels halbwegs sauber spielen. Bach bewegte sich daher in seinen ersten Kompositionen wie seine Zeitgenossen ausschließlich im Bereich von C-Dur und den Kreuztonarten bis E-Dur sowie den B-Tonarten bis höchstens As-Dur und deren parallelen Molltonarten.
Bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert begann der Orgelbauer Andreas Werckmeister an einer Instrumentenstimmung zu tüfteln, die das pythagoreische Komma, also die natürliche Unstimmigkeit innerhalb der Oktave, gleichmäßiger auf alle Intervalle verteilte. Diese temperierte Stimmung ermöglichte endlich auf Tasteninstrumenten ein relativ wohltönendes Spiel in allen Tonarten und auch erstmals Tonartenwechsel ohne auffällige Missklänge.
Das Wohltemperierte Klavier enthält von jedem Grundton aus je ein Präludium und eine Fuge in der Dur- und der Molltonart, wobei die Reihenfolge vom C aus in Halbtonschritten aufsteigt. Während Band I sich als geschlossener Zyklus von Lehrstücken präsentiert, erscheint der zweite eher als freie Sammlung von Werken aus unterschiedlichen Schaffensphasen.
Bach schrieb den ersten Teil in den Jahren 1717 bis 1722, den zweiten Teil stellte er erst 1740/42 zusammen. Seit August 1717 stand er nach anstrengenden Jahren als Hoforganist in Weimar im Dienst des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen, der ihm endlich ausreichend Zeit für seine Kompositionen ließ. Für die Kinder, sechs hatte er bereits mit seiner ersten Frau Maria Barbara, schrieb Bach spezielle Werke für den theoretischen Unterricht, da es seinerzeit noch keine pädagogische Klavierliteratur gab.
CD 1 Track 4: Präludium und Fuge in cis moll BWV 849
In diesen Notenbüchlein finden sich einige Fragmente der später in das Wohltemperierte Klavier aufgenommenen Stücke, allein elf der Präludien sind in ihrer Erstfassung im Klavierbüchlein für den damals neunjährigen Wilhelm Friedemann Bach von 1720 enthalten.
Bach beschränkte sich zwar darauf, die formalen Vorlagen nur des Präludiums und der Fuge zu verwenden, diese führte er jedoch mit allen nur denkbaren Stilmitteln mit großer Variationsvielfalt zur Perfektion. Während manche kurzen Präludien allein ihre Funktion als Einstimmung auf die Fuge erfüllen, sind einige selbst schon kleine Meisterwerke, die sich als eigenständige Vortragsstücke eignen.
Das eröffnende C-Dur-Präludium wirkt schlicht und klar, perlende Akkorde über einem Generalbass verleihen ihm eine sanfte und eingängige Wirkung, obwohl ständige Harmoniewechsel bei aller Einfachheit für junge Pianisten auch ihre Übungszwecke erfüllen. Durch die Bearbeitung von Charles Gounod zu „Ave Maria“ avancierte es im 19. Jahrhundert zum Klassik-Hit. Das anschließende Präludium in C-Moll dagegen wurde zu den am häufigsten gespielten Unterrichtsstücken Bachs, nicht zuletzt da Carl Czerny es als ideales Lehrstück für das Zusammenspiel der Hände propagierte.
Auch bei den Fugen wechseln sich hochkomplexe durchorganisierte Stücke in Vollendung der kontrapunktischen Technik mit stimmungsvoll melodiösen Kompositionen ab. Dabei finden sich sämtliche Formvarianten von der zweistimmigen bis zur fünfstimmigen Fuge, während auch die Anzahl der Themen zwischen einem und drei variiert.
Das Wohltemperierte Klavier beeinflusste wie kaum ein anderes Werk das Schaffen der nachfolgenden Generationen und bestimmte grundlegend die Kompositionen der Klassik. Mozart setzte einige Fugen für Streichquartett und Streichtrio um, später ließ sich auch Frédéric Chopin von dem großen Vorgänger zu seinen Préludes inspirieren. Im 20. Jahrhundert entwickelten Paul Hindemith mit dem Klavierzyklus „Ludus Tonalis“ und Dmitri Schostakowitsch mit seinen 24 Präludien und Fugen op. 87 moderne Nachbauten der Bachschen Architektur.
Unter den unzähligen hörenswerten Aufnahmen des Zyklus, der sowohl auf dem Cembalo als auch dem Klavier gespielt wird, gelten bis heute die Einspielungen von Edwin Fischer aus dem Jahr 1936 und von Glenn Gould 1975 als Meilensteine. Beide hauchten mit ihren spezifischen Interpretationen dem Werk Leben ein und erhoben es weit über das pure Lehrstück hinaus.
Quelle: Elke Geyer: Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach
CD 2 Track 5: Präludium und Fuge in h moll BWV 869
TRACKLIST Johann Sebastian Bach DAS WOHLTEMPERIERTE KLAVIER 48 Präludien und Fugen BWV 846-893 Historische Gesamtaufnahme THE WELL-TEMPERED CLAVIER 48 Preludes and Fugues BWV 846-893 Historic Complete Recording CD 1 TEIL I / BOOK I 01 NR. 1 C-DUR (a 4 voci), BWV 846 / NO.1 IN C MAJOR, BWV 846 3:06 02 NR. 2 C-MOLL (a 3 voci), BWV 847 / NO. 2 IN C MINOR, BWV 847 2:58 03 NR. 3 CIS-DUR (a 3 voci), BWV 848 / NO. 3 IN C SHARP MAJOR, BWV 848 3:32 04 NR. 4 CIS-MOLL (a 5 voci), BWV 849 / NO. 4 IN C SHARP MINOR, BWV 849 7:20 05 NR. 5 D-DUR (a 4 voci), BWV 850 / NO. 5 IN D MAJOR, BWV 850 2:56 06 NR. 6 D-MOLL (a 3 voci), BWV 851 / NO. 6 IN D MINOR, BWV 851 3:33 07 NR.7 ES-DUR (a 3 voci), BWV 852 / NO. 7 IN E FLAT MAJOR, BWV 852 5:14 08 NR. 8 ES-MOLL (a 3 voci), BWV 853 / NO. 8 IN E FLAT MINOR, BWV 853 8:49 09 NR. 9 E-DUR (a 3 voci), BWV 854 / NO. 9 IN E MAJOR, BWV 854 2:05 10 NR. 10 E-MOLL (a 2 voci), BWV 855 / NO. 10 IN E MINOR, BWV 855 3:05 11 NR. 11 F-DUR (a 3 voci), BWV 856 / NO. 11 IN F MAJOR, BWV 856 2:08 12 NR. 12 F-MOLL (a 4 voci), BWV 857 / NO. 12 IN F MINOR, BWV 857 6:04 13 NR. 13 FIS-DUR (a 3 voci), BWV 858 / NO. 13 IN F SHARP MAJOR, BWV 858 2:48 14 Nr. 14 FIS-MOLL (a 4 voci), BWV 859 / NO. 14 IN SHARP MINOR, BWV 859 4:40 15 NR. 15 G-DUR (a 3 voci), BWV 860 / NO. 15 IN G MAJOR, BWV 860 3:15 16 NR. 16 G-MOLL (a 4 voci), BWV 861 / NO. 16 IN G MINOR, BWV 861 4:12 17 NR. 17 AS-DUR (a 4 voci), BWV 862 / NO. 17 IN A FLAT MAJOR, BWV 862 3:35 18 NR. 18 GIS-MOLL (a 4 voci), BWV 863 / NO. 18 IN G SHARP MINOR, BWV 863 4:45 19 NR. 19 A-DUR (a 3 voci), BWV 864 / NO. 19 IN A MAJOR, BWV 864 3:38 Total Time: 77:54 CD 2 TEIL I / BOOK I 01 NR. 20 A-MOLL (a 4 voci), BWV 865 / NO. 20 IN A MINOR, ßWV 865 5:41 02 NR. 21 B-DUR (a 3 voci), BWV 866 / NO. 21 IN B FLAT MAJOR, BWV 866 2:28 03 NR. 22 B-MOLL (a 5 voci), BWV 867 / NO. 22 IN B FLAT MINOR, BWV 867 6:36 04 NR. 23 H-DUR (a 4 voci), BWV 868 / NO. 23 IN B MAJOR, BWV 868 3:47 05 NR. 24 H-MOLL (a 4 voci), BWV 869 / NO. 24 IN B MINOR, BWV 869 9:01 TEIL II / BOOK II 06 NR. 1 C-DUR (a 3 voci), BWV 870 / NO. 1 IN C MAJOR, BWV 870 4:02 07 NR. 2 C-MOLL (a 4 voci), BWV 871 / NO. 2 IN C MINOR, BWV 871 4:26 08 NR. 3 CIS-DUR (a 3 voci), BWV 872 / NO. 3 IN C SHARP MAJOR, BWV 872 4:24 09 NR. 4 CIS-MOLL (a 3 voci), BWV 873 / NO. 4 IN C SHARP MINOR, BWV 873 6:33 10 NR. 5 D-DUR (a 4 voci), BVW 874 / NO. 5 IN D MAJOR, BVW 874 6:48 11 NR. 6 D-MOLL (a 3 voci), BVW 875 / NO. 6 IN D MINOR, BVW 875 2:43 12 NR.7 ES-DUR (a 4 voci) BVW 876 / NO. 7 IN E FLAT MAJOR, BVW 876 4:25 13 NR. 8 DIS-MOLL (a 4 voci), BVW 877 / NO. 8 IN D SHARP MINOR, BVW 877 6:10 14 NR.9 E-DUR (a 4 voci), BVW 878 / NO. 9 IN E MAJOR, BVW 878 7:07 15 NR. 10 E-MOLL, BVW 879 (Präludium) / NO. 10 IN E MINOR. BVW 879 (prelude) 3:16 Total Time: 77:35 CD 3 TEIL II / BOOK II 01 NR. 10 E-MOLL (a 3 voci) BVW 879 (Fuge) I / NO. 10 IN E MINOR, BVW 879 (fugue) 2:45 02 NR. 11 F-DUR (a 3 voci), BVW 880 / NO. 11 IN F MAJOR, BVW 880 4:18 03 NR. 12 F-MOLL (a 3 voci), BVW 881 / NO. 12 IN F MINOR, BVW 881 4:41 04 NR. 13 FIS-DUR (a 3 voci), BVW 882 / NO. 13 IN F SHARP MAJOR, BVW 882 5:44 05 NR. 14 FIS-MOLL (a 3 voci), BVW 883 / NO. 14 IN F SHARP MINOR, BVW 883 6:56 06 NR. 15 G-DUR (a 3 voci) BVW 884 / NO. 15 IN G MAJOR, BVW 884 3:27 07 NR. 16 G-MOLL (a 4 voci) BVW 885 / NO. 16 IN G MINOR, BVW 885 5:45 08 NR. 17 AS-DUR (a 4 voci) BVW 886 / NO. 17 IN A FLAT MAJOR, BVW 886 7:00 09 NR. 18 GIS-MOLL (a 3 voci), BVW 887 / NO. 18 IN G SHARP MINOR, BVW 887 7:52 10 NR. 19 A-DUR (a 3 voci), BVW 888 / NO. 19 IN A MAJOR, BVW 888 2:51 11 NR. 20 A-MOLL (a 3 voci) BVW 889 / NO. 20 IN A MINOR, BVW 889 3:52 12 NR. 21 B-DUR (a 3 voci), BVW 890 / NO. 21 IN B FLAT MAJOR, BVW 890 5:45 13 NR. 22 B-MOLL (a 4 voci), BVW 891 / NO. 22 IN B FLAT MINOR, BVW 891 8:32 14 NR. 23 H-DUR (a 4 voci), BVW 892 / NO. 23 IN B MAJOR, BVW 892 4:50 15 NR. 24 H-MOLL (a 3 voci) BVW 893 / NO. 24 IN B MINOR, BVW 893 3:58 Total Time: 78:25 EDWIN FISCHER, Klavier / piano, aufg. / recorded in 1933-36
CD 3 Track 7: Präludium und Fuge in g moll BWV 885
Robert Howlett: Isambard Kingdom Brunel (1857)
Robert Howlett: Isambard Kingdom Brunel, 1857 |
Die Great Eastern gilt als das größte Dampfschiff des 19. Jahrhunderts. Ein Stahl gewordener Traum von der Besiegbarkeit der Elemente. Erbauer des Schiffs mit dem ursprünglichen Namen Leviathan war der geniale Ingenieur Isambard Kingdom Brunel, dessen Porträt genau genommen Teil einer der ersten fotografischen Industriereportagen war.
Täuschen wir uns nicht: Der hohe Zylinder gehört durchaus noch zu den Standards der Bekleidung des britischen Gentleman. Der halblange Gehrock auch, die Weste, der Querbinder über einem Kragen, der noch keineswegs, wie heute üblich, umgeschlagen wird. Fast ließe sich von einem »Full dress« im Sinne abgestimmter und sich ergänzender Elemente sprechen, wären da nicht die betont lockere Haltung des Dargestellten, die auf geradezu schlampige Art Falten werfende Weste, bei der im korrekten Fall der untere, nicht der obere Knopf zu öffnen wäre, die in die bemerkenswert hoch angesetzten Hosentaschen gesteckten Hände und vor allem die unübersehbar verdreckten Schuhe und Hosenbeine.
Die kess aus dem rechten Mundwinkel ragenden Zigarre nicht zu vergessen, die unserem Protagonisten einen nachgerade dandyhaften Zug verleiht. Wenngleich daran erinnert werden muss, dass die von George Bryan Brummel bis Oskar Wilde stilbildend vorgetragene Geste des Arbiter elegantiarum das unbedingte Gegenteil von Lässigkeit und Nonchalance darstellt. Aber Dandy im Sinne selbstverliebter Eitelkeit war wohl auch nicht die Rolle, in der sich der hier porträtierte Isambard Kingdom Brunel wiedergefunden hätte. Obwohl er zweifellos beides war, selbstverliebt und eitel - nur dass sich der britische Baumeister, Architekt und Ingenieur nicht in erster Linie über seine Person, sondern die geschaffenen industriellen »Monumente« definierte, jene staunenswerten Hervorbringungen des kapitalistischen Zeitalters, mit denen die bürgerliche Welt quasi nahtlos an die Antike und ihre Weltwunder anzuknüpfen suchte. So gesehen wären die schmutzigen Stiefel und Hosen durchaus als Teil einer ganz der Idee des Schaffens und Kreierens verpflichteten Uniform zu werten, zu der auch das zusammengeklappte Augenglas und die an einer langen Kette getragene Uhr gehört - die Uhr auch und nicht zuletzt als Medium, durch das menschliche Arbeitsleistung messbar geworden ist.
Im November 1857 hat der junge Londoner Fotograf Robert Howlett Isambard Kingdom Brunel porträtiert. Er tat dies, ungewöhnlich genug, unter freiem Himmel. Und er exponierte - noch ungewöhnlicher für eine Zeit, in der antikisierende Dekors bürgerlichem Selbstbewusstsein so etwas wie einen im doppelten Wortsinn klassischen Hintergrund vermitteln sollten - vor der gewaltigen Ankerkette eines Schiffs, mit dem der Ingenieur alle bis dato gültigen Normen und Dimensionen im Schiffsbau sprengen sollte. Dem Bild, keine Frage, haftet etwas Babylonisches an. Der Mensch, klein von Statur, fragil neben dem wirkungsmächtig aufgerollten Eisen, weiß sich doch stolz in der Gewissheit, dies alles geschaffen zu haben. Das Foto, so sehr wie das gewaltige Schiff selbst, muss die Zeitgenossen verblüfft und in Staunen versetzt haben.
Robert Howlett: Bau der Great Eastern, Albuminabzug, 1857 |
Genau genommen ist es Teil einer größeren Serie, heute würden wir sagen: Reportage, die Robert Howlett im Auftrag der Illustrated Times unmittelbar vor dem Stapellauf der Leviathan oder der, wie das Schiff schon bald im Volksmund hieß, Great Eastern angefertigt hat. Wohlgemerkt, die Fotografie als technisches Bildmittel ist erst seit anderthalb Jahrzehnten in Gebrauch. Mit dem 1851 durch Frederick Scott Archer gefundenen Nasskollodiumverfahren bekommt erstmals Glas als Schichtträger praktische Bedeutung. Das heißt, die Negative zeichnen schärfer als die vormals üblichen Kalotypie- sprich Papiernegative. Auch sinken die Belichtungszeiten. Andererseits erfordern die noch in nassem Zustand zu belichtenden Platten einen ungleich höheren technisch-logistischen Aufwand. Die Rede ist von nicht weniger als 18 Arbeitsschritten von der Sensibilisierung der Platte bis hin zur vollendeten Aufnahme. Dem selbstbewussten Ingenieur Isambard Kingdom Brunel dürfte folglich ein nicht minder selbstbewusster Fotograf gegenübergetreten sein. Auch Robert Howlett wird sich als Pionier, als Neuerer im industriellen Zeitalter gefühlt und verstanden haben, wenn auch auf dem ganz anderen Gebiet der Fototechnik und -ästhetik.
Robert Howlett: Bau der Great Eastern, Albuminabzug, 1857 Im rechten Bildteil unübersehbar ist die aufgewickelte Ankerkette, vor der Isambard Kingdom Brunel für den Fotografen posierte. |
Vergleichsweise wenig wissen wir über Robert Howlett, was erstaunt, wenn wir uns die heutige Wertschätzung seiner Person und seines Werkes vor Augen halten. So nannte ihn Mark Haworth-Booth einen der »führenden Berufsfotografen seiner Zeit«. Und Waeston Neaf erkannte in ihm »einen der kühnsten Neuerer in der britischen Fotografie der 1850er Jahre«. Gleichwohl sind die Daten über Howlett spärlich. Dies mag zum einen der Tatsache geschuldet sein, dass die Fotografie des 19. Jahrhunderts noch immer allenfalls in Ansätzen erforscht ist; zum anderen dürfte es daran liegen, dass Howlett bereits mit 27 Jahren starb, also nur wenige, dafür umso eindrucksvollere Spuren hinterlassen hat. 1831 als Sohn eines norwegischen Geistlichen geboren, soll er eine Zeit lang Partner des Fotografen Joseph Cundall (1818-75) gewesen sein. Er hat unter dem Titel On the various methods of printing photographic pictures upon paper (1856) ein weit verbreitetes fotografisches Lehrbuch verfasst. Außerdem entwickelte er ein tragbares Dunkelkammerzelt, das ihm nicht zuletzt bei der Arbeit auf den Londoner Docks gute Dienste geleistet haben dürfte.
Vor allem aber hat sich Howlett auf die unterschiedlichsten Anwendungsformen des noch jungen Mediums eingelassen. Belegt sind Porträts von Krimkriegsveteranen, die der Kamerakünstler im Auftrag von Königin Victoria ausgeführt haben soll. Daneben sind Landschaften und Architekturstudien erhalten geblieben. Schließlich war Howlett auch noch tätig auf dem Gebiet der Kunstreproduktion und hat seinerseits Aufnahmen gefertigt, die bildenden Künstlern als Vorlage dienten. So soll der Maler William Powell Frith bei der Abfassung seines Gemäldes Derby Day (1858) auf Arbeiten von Howlett zurückgegriffen haben. Zu Recht am bekanntesten wurde freilich seine Bildserie rund um den Stapellauf der Great Eastern, entstanden übrigens genau ein Jahr bevor Robert Howlett im November 1858 überraschend starb, ob an Typhus oder, wie gelegentlich behauptet wird, durch sorglosen Umgang mit den nicht ungefährlichen Fotochemikalien jener frühen Jahre, sei einmal dahingestellt.
War Robert Howlett mit Isambard Kingdom Brunel befreundet? Es wird mitunter geschrieben und würde erklären, warum der Ingenieur auf fast jeder Aufnahme der Serie zu sehen ist. Wenngleich unterstrichen werden muss, dass Brunel zu seiner Zeit bereits so etwas wie ein Star in der Zunft der Ingenieure war, seine Präsenz im Bild also durchaus im Interesse einer auf Publikum zielenden Reportage lag. Brunel war wohl so etwas wie der Protagonist einer von ungebrochenem Fortschrittsglauben getriebenen Zeit, in der die Grenzen des Machbaren als ständige Herausforderung den Wettlauf bestimmten. Mit nachgerade atemberaubender Geschwindigkeit hatte sich seit dem 17. Jahrhundert der Wandel von einer primär agrarischen oder durch das Manufakturwesen bestimmten Erwerbsgesellschaft zu einer kapitalistischen Industriegesellschaft vollzogen, wobei England hier bekanntlich eine führende Rolle beanspruchen durfte. Neue Materialien (voran das Eisen), neue Energiequellen (voran Kohle bzw. Dampfkraft) und neue Technologien bestimmten den Rhythmus des Fortschritts und führten letztlich zu neuen Lebensformen, neuen Schichten und Klassen einschließlich der später von Karl Marx und Friedrich Engels beschriebenen Antagonismen.
Als purer Technokrat war Brunel, geboren 1806 und Sohn des als Ingenieur gleichfalls profilierten Mark Isambard Brunel, an den sozialen Implikationen seines Tuns allerdings wenig interessiert. Ingenieurskunst hieß für ihn die Eroberung der Elemente, wobei die Reise nicht weit genug gehen konnte. Entsprechend schrieb der Morning Chronicle, als Brunel am 15. September 1859 starb: »Die Geschichte der Erfindungen verzeichnet kein weiteres Beispiel, dass große Neuerungen von ein- und demselben Menschen so kühn erdacht und so erfolgreich ausgeführt wurden. Er war weniger erfolgreich, wenn er weniger kühn war ... Brunel konnte ein Ingenieur-Epos, aber kein Ingenieur-Sonett schaffen. Wenn er nicht gewaltig sein konnte, war er überhaupt nichts ...«
Robert Howlett: Bau der Great Eastern, Albuminabzug, 1857 |
Tunnels hat er gebaut, Hafenanlagen realisiert, sich im Eisenbahnwesen engagiert und nicht zuletzt Schiffe konzipiert, finanziert, realisiert. Der britische Historiker Francis D. Klingender lässt die Geschichte der Dampfschifffahrt mit Brunels Great Western (1838) beginnen. 1843 geht seine mit 3000 Tonnen für damalige Verhältnisse gewaltige Great Britain vom Stapel: Fast schon wieder bescheidene Dimensionen angesichts der Great Eastern, die ab 1852 auf den Schlammbänken der Themse allmählich Kontur gewinnen sollte. Die Literatur spricht von 27000 Tonnen Wasserverdrängung, einer Länge von 211 und einer Breite von 25 Metern. Für 4000 Fahrgäste soll das Schiff ausgelegt gewesen sein. Es besaß sechs Segelmasten und fünf Schlote. Eine Dampfmaschine mit 11000 PS setzte ein Schaufelrad von fast 18 Meter Durchmesser in Bewegung. Außerdem war an Bord Raum für etwa 15000 Tonnen Kohlen, was bedeutete, dass das Schiff den Atlantik überqueren konnte, ohne dass zwischendurch Brennstoff an Bord genommen werden musste. Zeitgenössische Berichterstatter sahen sich genötigt, den Londoner Stadtplan zu bemühen, um ihren Lesern eine Vorstellung von den Dimensionen des Schiffs zu geben: »Weder Grosvenor noch der Belgrave Square«, hieß es da, »würden die Great Eastern fassen; allenfalls der Berkely Square könnte sie der Länge nach aufnehmen.«
Das kaum Glaubliche zu belegen, ist von Anfang an Aufgabe der Fotografie gewesen. Das Mechanische, quasi Selbsttätige des Verfahrens verlieh fotografischen Bildern Beweiskraft, ungeachtet ästhetischer Forderungen, die von anderer Seite an das Medium herangetragen wurden. Obwohl Howletts im November 1856 realisierte Bildserie der im Bau befindlichen Great Eastern unbestritten ästhetische Qualität besitzt und in diesem Sinne zu den großen Leistungen früher Kamerakunst zu rechnen ist, ging es dem Fotografen doch in erster Linie um die Visualisierung eines Ereignisses. Momentaufnahmen waren aufgrund der Kompliziertheit des Verfahrens nicht möglich. Also stellte Howlett die Protagonisten, allen voran Isambard Kingdom Brunel, mitten hinein ins frappante Dekor des gewaltigen Schiffsneubaus, zweifellos versehen mit der Bitte, sich nicht zu bewegen. Wie viele Platten Howlett belichtet hat, wissen wir nicht.
Robert Howlett: Isambard Kingdom Brunel, Albuminabzug, 1857 Der geniale Ingenieur hier in einer weniger geläufigen Bildvariante |
Speziell eine marxistische Kunstwissenschaft hat das Fehlen von Arbeitern in Howletts Bildfindungen bemängelt. Tatsächlich treten, wenn überhaupt, Arbeiter nur klein, im Hintergrund und meist verschwommen auf. Noch regiert das Konzept des Patriarchen, dem allein technisch-industrieller Fortschritt geschuldet ist. So gesehen entlarvt Robert Howletts Aufnahme des selbstsicheren Ingenieurs die Ideologie eines Jahrhunderts, die den bürgerlichen Helden ins Zentrum des Geschichtsinteresses rückt. Dass Brunel selbst die Jungfernfahrt seines Schiffs nicht mehr erleben durfte, gehört zu den tragischen Nebenaspekten eines Bildes, das quasi emblematisch für die Technikbegeisterung des frühen 19. Jahrhunderts stehen kann. 1867 stach die Great Estern in See: an Bord kein Geringerer als der Schriftsteller Jules Verne. Durch ihn haben die Utopien Isambard Kingdom Brunels ihre, wenn auch »nur« literarische Vollendung gefunden.
Quelle: Hans-Michael Koetzle: Photo Icons. Die Geschichte hinter den Bildern. (Band I:) 1827-1926. Taschen, Köln, (Jubiläumsausgabe) 2008, ISBN-978-3-8365-0801-8. Zitiert wurden Seite 52-61.
Robert Howlett
Geboren 1831. Im London der 1850er Jahre tätig als erfolgreicher Auftragsfotograf. Teilhaber der Firma Cundall and Downs. Hervorgetreten u. a. mit Porträts von Krimkriegsveteranen und Innenansichten des Buckingham Palastes.
1857-58 Bilder vom Stapellauf der Great Eastern. Porträts ihres Erbauers, Isambard Kingdom Brunel.
16. Januar 1858 Bildbericht in der Lononer Illustrated Times nach seinen Aufnahmen. Im selben Jahr verstorben. Aufnahmen in der Sammlung des Victoria and Albert Museum, London, und der Kollektion der Gilman Paper Company, USA.
CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 54 MB
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Unpack x204.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue+Log Files 3 CDs FLAC+CUE+LOG [233:54] 9 parts 772 MB
Reposted on October 29th, 2015
1 Kommentar:
Herzlichen Dank fuer Bach.
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