Ibarra wuchs in einer von den Philippinen stammenden Arztfamilie in Seabrook (Texas) in der Nähe von Houston auf. Als Kind lernte sie Piano; später spielte sie in einer Punkband Schlagzeug. Während ihres Aufenthalts auf dem Sarah Lawrence College veranlasste sie ein Sun Ra-Konzert, sich intensiver mit Jazz zu beschäftigen. Sie beendete ihre formalen Studien auf dem Mannes College of Music und dem Goddard College, wo sie mit einem B.A. abschloss. Seit 1989 lebt Ibarra in New York, wo sie zunächst bei Milford Graves Schlagzeugunterricht nahm. Kulintang lernte sie bei Danongan Kalanduyan.
Ibarra arbeitete zunächst als Perkussionistin und interpretierte südostasiatische Gongmusik. Zunehmend arbeitete sie auch im Bereich der Neuen Improvisationsmusik und des Jazz. Sie spielte unter anderem mit dem David S. Ware Quartet, dem Matthew Shipp Trio, sowie mit John Zorn, William Parker, Assif Tsahar (mit dem sie verheiratet war), Pauline Oliveros, Joëlle Léandre, Derek Bailey, Wadada Leo Smith, Yo La Tengo und Thurston Moore. Daneben tritt sie aber auch solistisch auf. Seit 1999 nimmt sie Tonträger unter ihrem Namen auf; daneben spielt sie weiterhin mit Musikern unterschiedlichster Gattungen zusammen. Im Susie Ibarra Trio spielt sie mit Jennifer Choi und Craig Taborn, in der Gruppe Mephista mit Sylvie Courvoisier und Ikue Mori; weiterhin arbeitet sie im Duo mit Mark Dresser und im Quartett von John Lindberg. In der Gruppe Electric Kulintang mit Roberto Rodriguez trägt sie zum Asian American Jazz bei. 2011 wirkte sie bei Wadada Leo Smith’ Ten Freedom Summers mit. Auch arbeitet sie mit der Pianistin Yuko Fujiyama.
Sie komponiert neben Jazzstücken auch Opernmusik und Avantgardemusik. Derzeit ist sie vermutlich als Jazzmusikerin am bekanntesten. Ihre expressive Technik und der Einbezug unterschiedlicher Stile und Genres wie Blues, Gamelan und Kulintang sind besonders hervorstechend.
Track 4: Illumination
TRACKLIST Susie Ibarra Trio. Songbird Suite 01. Azul [04:15] 02. Songbird Suite [08:40] 03. Trance No. 1 [05:31] 04. Illumination [04:03] 05. Trance No. 2 [02:28] 06. Flower After Flower [05:43] dedicated to John Zorn 07. Nocturne [04:42] 08. Trance No. 3 [05:14] 09. Passing Clouds [05:12] Time Total [45:51] Susie Ibarra Trio: Jennifer Choi, violin Craig Taborn, piano, samples, electronics Susie Ibarra, drums Special guest: Ikue Mori, laptop computer (tracks 5,6, 8) All compositions by Susie Ibarra except Track 5 by Ikue Mori and Susie Ibarra Produced by Susie Ibarra Executive producer: John Zorn Associate producer: Kazunori Sugiyama Recorded by Jim Anderson at Avatar, NYC Mastered by Allan Tucker at Foothill Digital, NYC (P)+(C) 2002 "Only birds sing the music of heaven in this world" Kobayashi Issa
Bild und Ähnlichkeit
Achat mit Phantasielandschaft. |
Die »kuriose Perspektive«, wie man die Anamorphose auch nannte, deformierte absichtlich ihre Bildgegenstände, die nur von einem genau festgelegten und ausgerichteten Standpunkt aus gesehen sich zu erkennbaren Bilder zusammensetzten. Sie schuf etwa den falschen Eindruck einer belebten Landschaft mit Menschen, Tieren und Wolken, die mit perspektivischer Verkürzung von einem bestimmten Punkt aus gesehen (wie etwa im Convento dei Minimi in Trinità dei Monti in Rom) und nach einer besonderen, vom Erfinder der Anamorphose, François Niceron, vorgegebenen Bildarchitektur sich zum Gewand, zum Antlitz‚ zum im Gebet versunkenen Leib des Francesco da Paola zusammenfügten.
Die graugelben Steine von Bologna und Ferrara, die man paesine nannte, konnten fantastische und geisterhafte Städte, ja ganze Länder enthalten. Halbedelsteine und Achate, in denen sich Wolken türmten und Gewitter drohten, ließen sich in Paradiese verwandeln, indem man sie mit Engeln und Heiligen bemalte: in quer aufgeschnittenen Steinen lagen Figuren jeder Art offen, Heilige und Profane, Dämonen und Kruzifixe. Die Bilder, die Natura pictrix in sich birgt und zu entdecken gibt, gelten noch um die Mitte des 17. Jahrhunderts als »Scherze der Natur« (doch sind sie einfache Fossilien), die aufgrund ihrer Mißgestalt nicht zu den Wesen gezählt werden können, die jemals gelebt haben. Allenfalls mögen sie unvollkommene und mißlungene Wesen sein. Modelle und Vorformen von Wesen, die von Gott nie die Erlaubnis zur Vervollkommnung und zum Eingang in die Welt erhielten. Die Kultur der reinen Kuriosität und des Wunderbaren führt mögliche Erklärungen ein, gemäß derer sich das Bild des lebenden Körpers allmählich hatte wandeln und anpassen müssen, bevor es im »großen Welttheater« auftreten konnte. Die in den Sammlungen der Wunderkammern und der Kabinette der Raritäten und Kuriositäten enthaltenen Bilder oszillieren zwischen Natürlichem und Künstlichem, sind »Fälle« zwischen dem Okkasionellen und dem Seltenen, ob es sich um ein Lebewesen handelt oder um eine mechanische Konstruktion.
Das Zeichnen einer Landkarte. Aus: Paul Pfintzing: Methodus geometrica ... Nürnberg 1598. |
Beispielsweise sind die Hieroglyphen Bilder, die das übernatürliche wiederspiegeln, die Symbole sind an die Naturdinge gebunden, die Embleme und Motti geben Wege vor, die in den imprese zusammenlaufen, Erkennungszeichen und Herausforderung zugleich. Allegorien sind Bilder, die zwischen Realem und Imaginärem schweifen und repräsentieren als Kehrseite der Medaille des menschlichen Tuns einen Katalog aller möglichen Empfindungen. Die Ikonologie, eine wahrhaft enzyklopädische Synthese des im Bild darstellbaren, versammelt die Dicerie sacre (Giambattista Marino) und die »Philosophie der Bilder«, auf der Suche nach einem Ehrenzeichen, nach Brief und Siegel, nach einem Motto (S. Ammirato, Il Rota ovvero delle imprese, 1598, C.-F. Ménestrier, Les recherches du blason, 1683 und W. Tylkowski, Philosophia curiosa, 1680).
Die Klassifikationen einer Enzyklopädie der Bilder samt ihrem Gelehrtendiskurs überwölben das diffuse Gewimmel eines Alphabets aus Figuren und Repräsentationen, die, man ahnt es einen Einsatz oder einen Gewinn in sich bergen.
Im Einzelnen findet sich eine solche Kartographie, die ein Ziel entwirft, das zu erreichen wäre, im Holz und Stuck der Wappen und auf dem Pergament notarieller Karten, die mehr noch als der Vorabentwurf oder die Übersichtsdarstellung in der Kunst (wie Architekturzeichnung oder malerische Skizze) zum Zeugnis der physischen Konstruktion eines materiellen Guts werden, gefertigt nach der Vorstellung und dem Bilde einer »Menschengestalt«, als Formung seines Begehrens nach einem Palast, eines Stücks Land, eines Waldes oder Hügels. Jenseits von wissenschaftlicher Kartographie und Zeichnung, die den Regeln vor. Proportion und Perspektive gehorchen, bestehen diese Darstellungen als die notwendige anschauliche Ergänzung eines »Faktums« fort, als die Abbilder eines realen Raumes, in denen das Individuum seinen Besitzdrang wiedererkennt. Dabei muß man jedoch ausreichend der eigenen Seele versichert sein, um daran zu glauben, etwas vom eigenen Vermögen übermitteln zu können, wenn es nur auf einem Blatt Papier Gestalt annimmt.
Illustrationen aus Giuseppe Antonio Castelli: Questioni sulle servitú prediali. Mailand 1840. |
Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert werden Ländereien und Besitzungen ebenso wie die Nationalstaaten zu fest umschriebenen und definierten Bildern, und Flurkarten tragen in der Tat dazu bei, die Geltung von Rechten zu behaupten gegenüber denen, die nichts dergleichen geltend machen können. Jedenfalls bestimmen diese Karten ein genau umrissenes Gebiet, ziehen Grenzen und setzen Signale über Straßen, Flüsse, Hügel, nennen deren Namen und weisen auf sie mit jenen Händchen mit spitz ausgestrecktem Zeigefinger, Zeichen, die eine Botschaft, eine exemplarische Information unter vielen möglichen tragen und die Absicht verkörpern, einen Gegenstand haarklein zu präzisieren, eine Bestimmung zu erklären und sich »zueigen« zu machen: mit einem deutlichen, ikonisch freilich naiven Bild. Über die unmittelbar typographischen Angaben der allgemeinen Orientierung hinaus verdichten sich diejenigen Angaben, die hinsichtlich Zeit und Ort genauer sind, gemäß des malerischen Geschicks, das der Landvermesser beim Zeichnen der ihm unterstehenden Territorien walten ließ, und ergaben eine Art Vergleichstabelle: das Zeichen der Grenzen eines Besitzes gegenüber seiner Umgebung und die Umrisse, nach denen das Gut zu bestimmen und seine möglichen Erträge zu quantifizieren waren. In bunt kolorierten Flurbüchern sind die kleinen Heimaten von Familien und Individuen detailliert verzeichnet, was sie wiedererkennbar, quantifizierbar und somit übertragbar macht, wenn es auch Zeit braucht, bis eine solche »Partikular«—Karte in einen Universalatlas übertragen wird und damit endgültig gesichert ist.
Nach den Feldkarten zum militärischen Gebrauch sind die unter Maria Theresia und Napoleon erstellten Kataster detaillierte Rekompositionen des jeweiligen Territoriums, durch die die Staaten zu Nationen werden, indem sie über die Lebensund Sterbeakten der Bürger, über Arm und Reich walten und Profile, Grenzen, Teilansichten und Gesamtbilder entwerfen. Landkarten, Flurbücher und Kataster repräsentieren den Einzelnen nicht, wie es die impresa tat, sondern höchstens im Sinne eines Epitaphs, sie schließen ihn derart selbstverständlich ein, daß er selbst zur Nebensache wird. Das Territorium von seinen Gnaden führen sie als politische Karte vor Augen, mit allen hingenommenen Gewaltakten und täglichen Verteilungskämpfen. Obschon dieses dichte Geflecht einzelner Machtbereiche eine unendlich verzweigte historische Topographie bildet, läßt sich jede Masche dieses Netzes wissenschaftlich benennen und besetzen. Figuren mit vollkommen zufälligen Konturen registrieren und illustrieren die wildesten privaten Zwistigkeiten um Erbschaften, Mitgiften, Zuwendungen, Eingaben, Dienstverhältnisse, endgültige Brüche, Gunsterschleichungen.
Jede Landkarte repräsentiert präzise geographische Physiognomien, indem sie ein Territorium in eine Landschaft mit vorgefertigten und überlieferten Zügen verwandelt, auf die man sich beruft, um die Tradition der Hinterbliebenen und das verlorene Heil wiederzufinden. Der Parcours über eine Landkarte ist nichts anderes als eine Linie, die man mit dem Finger entlangzieht, die Straße eines möglichen Wiederfindens, die Rekonstruktion einer Geschichte. Ihre Einmaligkeit ist nicht selten die Ursache für ihr Verlorengehen, der unwiederbringliche Verlust eines Dokuments, das Identität bezeugen könnte.
Hans Mayer: Mi formò in monte e mi ritrasse in Carte / Natura a caso l'Arcimboldo ad arte. Holzschnitt. Oxford, Ashmoleian Museum. |
Der Pantogaph war dabei weniger ein Instrument für Künstler, die seit jeher Vergrößerungen anfertigten, indem sie das Zeichenblatt oder jeden anderen Bildträger in Quadrate einteilten, sondern er fand vor allem zu Verkleinerungszwecken in der Goldschmiedekunst und anderen Manufakturen Anwendung, in die er eine Präzision einführte, zu der bislang nur die fähigstem Miniaturisten in der Lage gewesen waren. Die Anwendung des Pantographen im industriellen Gebrauch durch Charles Langlois (1740) macht die Operationen von Reproduktion und Kopie zu einem Kinderspiel. Die nach Belieben vorzunehmende Verkleinerung eines Details oder eines »disegno« nimmt wiederum der Miniatur einiges von ihrer Anziehungskraft (beispielsweise für die flämische Malerei) und rückt sie in die Nähe jener Genreporträts und tragbaren Medaillons, die man um der Versprechen, Wünsche, Abschiede und Erinnerungen willen als kostbar schätzte.
Noch segensreicher ist der Pantograph für Reproduktionen »in groß« und für die schwierige Kunst, ein in kleineren Dimensionen angelegtes und vorgeformtes Gipsmodell »in« einen Marmorblock zu versetzen. Damit wird das Bild in Einzelteile zerlegbar und steht den verschiedensten Arbeitsschritten offen, wie der Herstellung eines Statuenmodells, deren Realisierung in Marmor oder Bronze, der Möglichkeit, Kopien, Detailansichten, Fragmente anzufertigen, das Ganze zu vergrößern oder zu vervielfältigen. Während die Zurechtmachung eines Modells, eines Umrisses und Profils in Ton oder Gips bzw. als Durchstäubung mittels Schablone auf den »Karton« die unabdingbaren Vorarbeiten darstellen, sind für die Ausarbeitung zu einer stabilen Form in der gewünschten Größe die Techniken der Vergrößerung und »Zentrierung« des Gegenstands eine absolute Notwendigkeit. Modellieren und plastisches Herausbilden sind nicht länger die furiose Kunst »mittels Abhebung« wie bei Michelangelo, sondern eine wahrhaft plastische Technik des Hinzufügens, Formens und Deformierens.
Giovanni Battista Piranesi: Il Campo Marzio dell 'Antica Roma, 1762. (Zweites Frontispiz). |
Die Botschaft der Suche und der Rettung des historischen Bildes, die bis auf uns gekommen ist in der modernen Sorge um das Zerfallende und die Entfremdung der Monumente, Städte, Landschaften und Bewohner nimmt mit einer Genremalerei des ausgehenden 17. Jahrhunderts und beginnenden 18. Jahrhunderts ihren Anfang, als die großen Atlanten und Kalender der akademischen Malerei in Scherben gehen, und ihre ideologisch-religiöse Bildsprache mit ihnen. Die Fragmentierung der Themen der neuen »kleinen« Bildgenres (Landschaften, Veduten‚ Ruinen, Capriccios) markiert die schlußendliche Befreiung aus dem geordneten Kosmos der »Ikonologie«‚ die keine produktiven Bilder und Modelle mehr hervorbringen, sondern allenfalls die Flüsse der Empfindsamkeiten, des Geschmacks, der Mode, der Launen verzeichnen. Das disziplinierte und von Bildern gesteuerte »stumme Buch« wird zu einem ABC von Figuren und Genres für jeden Geschmack.
Das Universum der kleinformatigen Genrebilder fragmentiert die große Komposition und reduziert das riesenhafte Prachtgemälde neuerdings auf Stilleben oder belebte Szenerien, die als kleines und leichtes Tafelbild gestaltet sind. Das Fernrohr gleicht einem Balkon des Subjekts, das sich im Angesicht einer stets unterschiedlichen und an sich nicht immer ergötzenden und arkadischen Szene befindet: der Schiffbruch beispielsweise oder der Zweikampf in der Schlacht sind beliebte Motive, um ausgesprochen moralische Botschaften wie das Unerwartete und den unglücklichen Zufall zu illustrieren, die als arbiträre Tatsachen das Betrachtersubjekt zur Entscheidung drängen, anstatt in Wartehaltung zu verharren. In diesem Sinne komponieren und zerlegen die verschiedenen »Akteure« wie der Landschafts-, der Figuren- und der Quadraturmaler die unterschiedlichen Arten von Gemälden, die im Geflecht der Tätigkeiten des Künstlerberufs und seiner Inspirationen vereint sind.
Es hat keinen Sinn, vor dem 17. Jahrhundert von einem Genre zu sprechen, das wir »Ruine« nennen und das die Szenerie einer Geschichte repräsentiert, die niemandem gehört und wo als die wahren Seelen der Welt nur noch »Tiere und Bettler« hausen. Erst im 18. Jahrhundert nistet sich das Ruinengenre als gleichsam spektakuläre Kategorie in Stadtansichten und Landschaften der Vedutenmalerei ein. Mit zunehmender modischer Verbreitung des Genres und einem Hang zum »Ruinismus«, der Landschaften und Architekturen in totaler Verwahrlosung schätzt, werden archäologische Überreste mehr oder weniger sprechender Natur gleichsam vom Podest geholt und in Alltagsszenen eingeführt: kombiniert mit einem Karren voll Heu oder einer Gruppe Wäscherinnen, wenn nicht gar »Touristen« oder aufmerksamer Besucher auf Geistesreise.
Antonio Joli zugeschrieben: Das Kolosseum mit Ruinen im 18. Jahrhundert. Brescia, Privatbesitz. |
Die ersten Ruinen auf den Gemälden von Poussin sind noch ein streng in der Landschaft eines mythischen Arkadiens angeordnetes Material, während auf dem eigentlichen Ruinengemälde weit verstreutes und chaotisches Material zu sehen ist, das »übriggelassen« zu sein scheint, sich aber auch nicht zu einer Gestalt zusammenfügen will (wie beim »ritratto ad arte« nach Arcimboldo), sondern ein kleines, magmaartiges Universum ergibt, wo der neue Betrachter tausenderlei verstreute Dinge nach seinem Geschmack aufsammeln kann.
Den entscheidenden Punkt, an dem die Ruine in einen neuen Darstellungsmodus eintritt, markiert zwischen 1740 und 1770 Giovanni Battista Piranesi. Mit den Ruinen, die aus einem neuen, bis ins letzte erfundenen und gefälschten Campo Marzio emporwachsen, entwerfen als glanzvolle Epopöe den virtuellen Plan einer Stadt, die in diesem Rahmen nirgendwo existiert, und lassen bereits die neue Dimension der Städte der Moderne erahnen, deren Fundamente sich über hinfälligen und besiegten Schicksalen erheben, mit zu Staub zerfallenem Gewissen.
Piranesis Produktion von schwarzweißen Stichen beschließt und besiegelt die Ruinenleidenschaft und das Capriccio emblematisch in der Chiffre eines totalen Werks, das dennoch architektonisch ist: mit einem ganz eigenen ethos versehen, das fast immer fortstrebt von jener Art von Bildern, die gehorchen und ergötzen wollen wozu der nützliche Moralismus des Discorso intorno alle immagini von Kardinal Paleotti aufgerufen hatte.
Bernardo Bellini: Die Ruinen der Kreuzkirche, 1765. Dresden, Gemäldegalerie. |
Eine der historischen Episoden, die einen zum Nachdenken bringt, ob nicht die Ruine von einem bestimmten historischer, Gedächtnis »provoziert« worden sei, ist die Bombardierung der Akropolis von Athen durch die Venezianer im Jahr 1697 auf Befehl des bayerischen Söldnerhauptmanns Königsmark. Zum ersten Mal wurde am entscheidenden Punkt einer militärischen Operation eine Diskussion politischer Ethik über die äußerliche Unversehrtheit von Monumenten vom Zaun gebrochen, zur Schmach einer Republik, die Notwehr vorschützte (ein türksches Pulverfaß‚ das sich angeblich im Parthenon befand), um ein Monument in Trümmer zu schießen, das über den Ursprung einer ethisch-ästhetischen Abstammungsreihe waltete, auf die sich die Souveränität des Angreifers berief. Und die Sieger, darunter Francesco Morosini, hatten nach dem Beschuß des Parthenon gut reden, wenn sie meinten, daß diese Aktion als Heiliger Krieg verstanden werden müsse, als ein Kreuzzug zur Verteidigung der Werte der Zivilisation und Architektur, deren Sachwater im mediterranen Raum Venedig zu sein meinte.
Die Gründe für eine Zerstörung um einer Rettung willen sind reichlich verworren, aber es handelt sich um den ersten Fall, daß sich die Ordnung des Diskurses eines abendländischen Bewußtseins um die Rettung von Bildern und historischen Monumenten dem verantwortungsvollen Schutz zuwendet, unter Berufung auf das Ritual, mit dem man seine Toten und seine Erinnerungen ehrt. Übrigens traf es sich, daß gerade zu jener Zeit (zwischen 1676 und 1682) zu Füßen des Parnaß das Orakel von Delphi wiedergefunden wurde, von dem man jede Spur verloren hatte, nachdem eine gegnerische Zivilisation unter »ikonoklastischem Regime« es geschleift und begraben, ja nachgerade ausradiert hatte, selbst in seiner Ortsbezeichnung. Diese Gleichsetzung von Orten mit den Kapiteln einer Geschichte der Zivilisation, nach deren Bild das Abendland sich schuf, bemächtigt aber noch nicht zur archäologischen Deportation historischer Hüllen, die man nach ihrer Entdeckung nur mitzunehmen brauchte, wie es im 18. und 19. Jahrhundert geschah, von den Marmorplastiken, die Lord Elgin ins British Museum brachte, bis hin zum »Wagenlenker von Delphi«, der sich heute im Louvre befindet.
Die schwarz-weißen, im scharfen Licht der letzten Sonnenstrahlen liegenden Ruinen der Totenstädte bahnten sich ihren Weg ins 17. Jahrhundert, im Schlepptau »Lumpengesindel und Vagabunden«, verkleidet als Zwerge, Kinder oder Banditen. In jener Gesellschaft repräsentierte das innere Nomadentum eine Form der »Kunst des Übrigbleibens«, vor dem Hintergrund gewaltiger Bevölkerungsdezimierungen durch Seuchen und der ohnehin hohen Sterblichkeit, bevor in den Städten nach und nach ein Gesundheitssystem eingerichtet wurde und die katastrophischen Pestepidemien in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ausgerottet waren, das ein Jahrhundert der Revolutionen, doch vor allem anderen ein Jahrhundert der Befreiung von der Gottesgeißel der Seuchen war.
Die menschlichen »Ruinen«, jener Zeit bestehen in Wirklichkeit aus einem Volk vom Schicksal »Gezeichneter«, die der Katastrophe entronnen sind, und die wenigen Figuren, welche die Ruinenlandschaften beleben sollen, sind nichts als wenngleich fröhliche Lichtblicke des Überlebens. Dafür erscheinen die Bauern, die eigentlichen Bewohner jener Landschaften, nicht länger nur als die friedlichen Wesen, die die Felder bestellen, um davon zu leben und die Stadt, die sie von sich fernhält, mit Gütern zu beliefern, sondern man sieht sie immer längere Pausen machen, »zwischen einem Tänzchen und einem guten Glas Wein«: bei des Tages Mühen, vor allem aber davon ausruhend, im Hintergrund ein klassisches Landhaus, das ein wenig verwahrlost ist, hat die Herrschaft in der Stadt doch Einträglicheres zu tun. Dies ist die Landschaft eines »ländlichen Philosophen«, der nach Ansicht physiokratischer Denkströmungen der Weisheit der eigenen Erde nähersteht als einer, der den Verlockungen städtischer Arbeit erliegt.
Meister aus Genua: Titanensturz, dargestellt als Erdbeben, 18. Jhdt. Mailand, Privatsammlung. |
Die Radierung Piranesis legt sich mit der Endgültigkeit eines Epitaphs über diese Landschaft niedergerissener Herrlichkeiten und illustrer Überreste, und nicht Rekonstruktion klingt daraus an, sondern ein Horizont scheint auf. Als deren wahrhaftiger Untergrund wachsen die Ruinen selbst empor, bühnenhafte Elemente, die eine ungeordnete Ordnung in Bewegung setzen, eine aufgehäufte und durcheinandergebrachte Wirklichkeit. Darin zeigt sich ein zerstörerisches Prinzip gegenüber den Bildem‚ die die Ruine hat entstehen lassen, eine Laune der Vollendung, wo eine neue Art von Ordnung aus einer objektiven Unordnung erwächst, altes Gerümpel, das zusammengesucht und aus seinen eigenen Scherben neu zusammengelegt wird wie ein kostbarer Körper.
Der Eindruck von Zerquetschtem und Begrabenem, von Abriß und Zertrümmerung entsteht aus der dichten Atmosphäre eines Erdbebens, das alle Formen erfaßt zu haben scheint, amalgamiert, miteinander verschmilzt, wieder in seine ursprünglichen Bahnen zwingt, während man selbst abseits steht. Hier aber erhebt die Archäologie des Subjekts sich auf ihr Piedestal und rekonstruiert Säulenstümpfe und Fragmente, alles, was an geschändeten Teilstücken gefallen und verstreut liegt. Sich über Ruinen zu beugen ist wie der Akt der Veronika: im Geist entsteht der Abdruck eines anderen Bildes, der so verschieden ist von dem Bild, das zurückgelassen wurde.
Quelle: Manlio Brusatin: Geschichte der Bilder. Diaphanes, Berlin 2003. ISBN 3-935300-19-0. Zitiert wurden die Seiten 125 bis 144.
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