23. März 2018

Anton Rubinstein (1829-1894): Cello Sonaten

Das Standesregister der Kleinstadt Berditschew belegt, dass Anton Grigoriewitsch Rubinstein, obwohl aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammend, im Juli 1831 getauft wurde. Seine erste musikalische Ausbildung sowie die Entdeckung seiner pianistischen Begabung verdankt er seiner Mutter. Als seine Eltern sich in Moskau niederließen, wurde er zusammen mit seinem Bruder Nikolaus (1855-1881) der künstlerischen Obhut des berühmten Pädagogen Alexandre Villoing (1804-1878) anvertraut. Dieser war französischer Abstammung und ein ehemaliger Schüler von John Field. Schon im Jahre 1859 nahm er die beiden Brüder nach Paris mit und ließ sie in Gegenwart von Chopin und Liszt vorspielen. Anton blieb bis 1841 in der französischen Hauptstadt und begleitete dann seinen Lehrer auf einer langen Tournee durch Europa (Holland, deutsche Herzogtümer, Wien, London, Oslo, Bergen und Stockholm). Die beiden Brüder wurden 1844 nach Berlin geschickt, wo Anton Komposition studierte, und zwar bei Siegfried Dehn (1799-1858), einem bedeutenden Musiktheoretiker dieser Zeit, der ihn ebensowohl mit der Musik Bachs und Händels vertraut machte als mit den ‘Modernen’: Beethoven, Hummel, Schumann‚ Chopin und Mendelssohn.

Nach einer Konzertreise mit dem Flötisten Heindl in Österreich-Ungarn, kehrte er nach Sankt-Petersburg zurück, wo ihm von nun an die Großherzogin Helene eine kunstsinnige Gönnerin war. Sie war es, die ihm nahe legte, für die Bühne zu komponieren. Er schrieb drei Opern: Dmitri Donskoi (1852), Sibirskie okhotniki (Die sibirischen Jäger) und Fomka Durachok (Thomas der Narr, 1855). Mit der diplomatischen und finanziellen Hilfe der Großherzogin unternahm er dann eine noch längere Tournee durch Europa (1854-58), ließ seine Werke in Berlin veröffentlichen und wurde nach seiner Rückkehr zum Hofpianisten und Hofkapellmeister ernannt. Im Jahre 1862 gründet er das Kaiserliche Konservatorium, das er bis 1867 selbst leitet. Dabei setzt er als Virtuose und Komponist seine internationale Karriere fort; als Klaviervirtuose erlangt er einen Ruhm, der sich mit dem Liszts vergleichen lässt, als Dirigent und Komponist mit dem Mendelssohns. 1872-75 reist er in die Vereinigten Staaten und gibt dort eine Reihe von Konzerten, die königlich belohnt werden. Er begleitet den Geiger Henryk Wienawski und erregt großes Aufsehen als der erste Pianist, der bei Klavierabenden auswendig spielt. Von 1887 bis 1891 leitet er aufs neue das Kaiserliche Konservatorium, bevor er sich bis 1894 in Dresden niederlässt. Erst im Sommer 1894 kehrt er, kurz vor seinem Tod, nach Russland zurück.

Franz Xaver Winterhalter: Porträt der Großfürstin
Helena Pawlowna (1807-1873, Mäzenin des jungen
Rubinstein), 1862. 123 x 89,5 cm,
Hermitage Museum, St. Petersburg
Rubinsteins geschichtliche Bedeutung ist deshalb sehr groß, weil durch sein Wirken möglich wurde, dass sich die russische Musik das abendländische Erbe von Bach bis Chopin aneignete‚ ohne dabei die spezifisch russische melodische Erfindung, die aus den Quellen der Volksmusik schöpft, preiszugeben. Ohne Rubinsteins pädagogischen Beitrag, was die Grundlagen der musikalischen Formen betrifft, hätte das sinfonische Werk eines Borodine oder eines Tschaikowsky keinen so hohen Grad an Universalität erreichen können. Im Bereich der Instrumentalmusik hat er das Fundament der russischen Klavierschule gelegt und damit Rachmaninow sowie Skrjabin die Wege geebnet. Rubinstein wurde wegen seiner perfekten Technik, seines kraftvollen Spiels bewundert: seine Oktavenläufe waren berühmt. Man schätzte ebenfalls die gleichsam philosophische Tiefe seiner Interpretationen: als erster vermochte er, die als ‘schwierig’ empfundenen Sonaten von Beethoven durchzusetzen.

Komponiert hat er ein halbes Jahrhundert lang: in seiner ersten Schaffensphase (1849-1857) stand er natürlicherweise unter dem Einfluss von Mendelssohn, Hummel und Schumann. Zu dieser Phase gehört das im vorliegenden Album enthaltene Originalprogramm für Cello und Klavier. Als Komponist war Rubinstein zu Lebzeiten nicht weniger berühmt denn als Klaviervirtuose: den größten Beifall erntete er mit seiner 2. Sinfonie (er schrieb deren 6) ‘Der Ozean’ (1851-1880), die in Berlin, London und New York aufgeführt wurde, mit seinem 4. Klavierkonzert op.70 (er schrieb deren 5), sowie mit seiner Oper ‘Der Dämon’ nach Lermontow (1875), die neulich (2002) dank Valeri Gergiew ihr Wiedererstehen auf der Bühne erlebte. Dennoch haben fast ein Jahrhundert lang nur wenige Werke Rubinsteins einen festen Platz im Repertoire gehabt: dazu gehören einige beliebte Stücke für Soloklavier wie die Melodie in F-Dur, die Romanze und Kamennoi Ostrow.

Die beiden Sonaten für Cello und Klavier sind verhältnismäßig groß angelegte Kompositionen, in denen Rubinstein dem Cello die Rolle des gefühlvollen Sängers eindeutig zuschreibt, während das Klavier eine deshalb nicht weniger große Bedeutung beibehält. Sie dokumentieren die menschlich verinnerlichte Tendenz, die ihm das Studium der Sonaten op. 5 und 69 Beethovens sowie der Sonaten op. 45 und 58 Mendelssohns nahegebracht hatte, während die 1854 geschriebenen Stücke op.11 — die ebenfalls in einer Fassung für Violine und Klavier vorliegen — sich mit Eleganz und Bravour an gewisse Lieder ohne Worte anlehnen. In ihren nie schleppenden Tempi unterstreichen sie prachtvoll die spezifischen Vorzüge des Cellos. Im Kopfsatz Andante quasi adagio erscheint dieses in der Nachfolge von Schumanns ersten Stücken als gern zur Melancholie neigendes, manchmal launiges Melodieinstrument; im zweiten Satz Allegro con moto erweist es sich als ebenbürtiger Partner des Tasteninstruments‚ besonders im mittleren Register (D-Saite). Im Schlusssatz Allegro risoluto behauptet sich die traditionelle Vorherrschaft des Klaviers; der Cellist hat jedoch immer wieder Gelegenheit, seine Bogentechnik (Détaché) bewundern zu lassen.

Ilja Repin: Porträt Anton Rubinstein, 1887. Öl auf Leinwand,
 110 x 85 cm. Russisches Staatsmuseum, St. Petersburg
Die Sonate Nr. 1 op. 18 (1852) zeigt die vorklassische dreisätzige Struktur. Wie in zahlreichen Sonaten Boccherinis fehlt hier eine ausgesprochen langsame Episode. Das erste Thema in D-Dur wird unvermittelt vorgetragen: dieser heitere Marsch in Schuberts Manier erfahrt nach und nach eine reiche Ausschmückung im Dialog zwischen Klavier und Streichinstrument. Das zweite Thema in d-moll hat einen weiträumigeren Zug und erweist sich in seiner durch ausdrucksvolle Pausen gekennzeichneten Phrasierung als zurückhaltender und sinniger. Der Cellopart bewahrt sich seinen wesentlich melodischen Charakter, wenn man von der vor der Wiederholung stehenden Kadenz absieht, als das Klavier die originelle Gestaltung dieses Eingangs allegro brillant krönt. Der Mittelsatz, ein Moderato assai in d-moll, zeigt die Form eines Sicilianos im 6/8-Takt und besitzt einen russischen Duft, der den nichtslawischen Interpreten oft entgangen ist. Im abschließenden Teil moduliert dieses Wiegenlied nach F-Dur und damit erreicht das reizvolle Stück seine höchste Ausdruckskraft. Das Finale Allegro molto strotzt von Vitalität, ist technisch sehr anspruchsvoll, und gipfelt in einer glühenden Hymne, die an die leidenschaftliche Art Mendelssohns im Opus 45 erinnert.

Die Sonate Nr. 2 op. 39 (1857) verbirgt in allen vier Sätzen ihren romantischen Charakter nicht. Hier ist die technische Entwicklung des Komponisten zu erkennen, der die Form der Durchführungsepisoden variiert und selbstbewusst seinen Willen kundgibt, hier eine Kompositionsweise von Beethovenscher Kraft zu erzielen. Das Werk wird ohne vorbereitende Episode vom Cello in G-Dur eingeleitet, moduliert dann nach D-Dur. In den zwei aufeinander folgenden Themen wird ein geschwinder Marschrhythmus einer weiträumigen Kantilene entgegengesetzt, welche dem Cello Gelegenheit gibt, vom wesentlich lyrischen Register zu einem betont heroischen überzugehen. Das Allegro con moto in g-moll ersetzt ein Scherzo; dieser kurze Satz ist durch einen markierten Rhythmus charakterisiert, dem zwar ein virtuoser Zug eigen ist, aber der nichtsdestoweniger eine ergreifende Größe erreichen kann, insbesondere im mittleren Trio, das gleich dem Scherzo allegro im Erzherzogstrio Beethovens mit Basseffekten spielt. Die Reexposition leitet zum Es-Dur-Andante über, das Stellen voller Ernst und Intensität mit ruhelosen, fast fiebrigen vom Klavier ausgelösten Momenten alternieren lässt. Diese ambivalente Stimmung scheint das sehnsüchtig Vorwärtsdrängende in Brahms Frühwerken (Klaviertrio Nr. 1, op. 8; Sonate für Violoncello und Klavier Nr. 1, op. 38) vorwegzunehmen. Ein Klaviervorspiel leitet das Finale Allegro ein, mit dem Vortrag des Appassionato—Themas am Cello erreicht die expressive Spannung ihren Gipfelpunkt. Dieses Thema wird dann vom Klavier kommentiert und erweitert, das hier von der berühmten Oktaventechnik des Virtuosen Rubinstein Gebrauch macht.

Quelle: Pierre E. Barbier, im Booklet. Deutsche Fassung: Prof. Jean Isler


CD 2, Track 2: Cello Sonata No 2 in G, Op. 39 - II. Allegretto con moto


TRACKLIST


Anton Rubinstein
(1829-1894)

Cellosonaten


CD 1                                44:39

Sonata for cello and piano No. 1 in D major, Op. 18 (1852)
Cellosonate Nr. 1 D-Dur op. 18
Sonate pour violoncelle et piano n 1 en ré majeur op. 18

1. I.   Allegro con moto            11:43
2. II.  Allegretto                  06:39
5. III. Allegro molto               09:28

Three pieces, for cello and piano, Op. 11/3
Drei Stücke für Klavier und Violoncello, op. 11
Trois morceaux pour piano et violoncelle op. 11

4. I.   Andante quasi adagio        04:22
5. II.  Allegro con moto            06:22
6. III. Allegro risoluto            05:46

CD 2                                37:08

Sonata for cello and piano No. 2 in G major, Op. 39 (1857)
Cellosonate Nr. 2 G-Dur op. 39
Sonate pour violoncelle et piano n 2 en sol majeur op. 39

1. Allegro                          13:20
2. Allegretto con moto              05:29
3. Andande                          09:14
4. Allegro                          08:59

Total Playing Time:                 81:47


Michal KANKA, cello / Violoncello / violoncelle
Jaromir KLEPAC, piano / Klavier


Recorded in St. Vavrinec Church, Prague, September 3-4, 2003
Recording Producer: Jiri Gemrot
Sound Engineers: Jan Lzicar and Karel Soukenik

Illustration: Ilja Repin: Anton Rubinstein, Russian Museum, Saint Petersburg
(P) 2004 


Manlio Brusatin:


Auftauchen und Verschwinden der Bilder


Tizian: Venus mit dem Spiegel, 1555. National Gallery of Art, Washington
Unter Kaiser Hadrian wurden Bronzemünzen mit dem Bild seines Günstlings Antinoos geprägt — der wohl den Tod des Narziß gestorben ist —, die so gearbeitet sind, daß die Münze seitlich einen Schlitz hat. In ihrem Inneren verbirgt sich eine hauchdünne Scheibe versilberter Bronze: ein Spiegel. Doch einzig die Münzen, die Antinoos zeigen, sind nach diesem Verfahren gefertigt. Der Spiegel war damals ein Werkzeug, das zwar faszinierte, doch noch nicht wirklich vollendet war: ein mit glänzender Silberfolie überzogener Metallträger, der täglich von neuem schwärzlich anlief und den man fortwährend putzen mußte.

Für Besitz eines Spiegels bezichtigte man Apuleius der Zauberei, und er schrieb auf ihn eine einfache und effektvolle Lobeshymne. In seiner Eigenschaft, die Bilder einzufangen, übertrifft der Spiegel die Tonarbeit, die ohne Energie ist, den weißen Marmor, der keine Farbe hat, die gemalte Tafel, die weder Körper noch Volumen besitzt, und vor allem hat er die Fähigkeit, in seinem engen Rahmen die Bewegung des Bildes einzufangen. Indem er die einzelnen Bewegungen der an ihm vorüberziehenden Objekte und Personen erfaßt, stellt der Spiegel fragmenthaft den Raum der Lebensjahre eines Menschen und seiner Veränderungen still. Apuleius weist auch darauf hin, daß diese glänzende Erfindung zugleich ein Fließen ist: die Existenz der Figuren ist eine erfundene, weil das Bild keinen Körper hat. Der Spiegel ist unerschütterlich und passiv, sammelt Erinnerungen auf unvergleichliche Weise und stürzt doch die Bilder um, zerlegt sie auch in materieller Hinsicht, indem er sie einige Momente lang fixiert.

Tizian: Junge Frau zwischen zwei Spiegeln, 1515.
 Louvre, Paris.
Ibn Arabî berichtet uns, daß die Königin von Saba fürchtete, ihre Gewänder könnten naß werden, als sie im Palast des Salomo über einen Kristallfußboden schritt, der vielleicht aus schwarzem, spiegelblank poliertem Marmor war, der am ehesten wie die Tiefe eines stehenden Wassers aussieht. Der Spiegel beglaubigt die Spiele von »Gleichheit und Unähnlichkeit« und ist damit ein wunderbares Instrument der Offenbarung zwischen göttlicher Schöpfung und menschlicher Erkenntnis, die einander spiegeln, um sich ineinander zu erkennen. Zugleich ist er Täuschung: der Träger einer Verschleierung der Wahrheit, wie in der Anekdote vom Wettstreit zwischen einem östlichen und einem westlichen Maler zu sehen ist (die zur Zeit des späten Manierismus nach den Orientreisen des Paters Matteo Ricci in Europa zirkulierte). Ein chinesischer Maler, der sich bewußt war, daß die Kunst der Miniatur und die zeichnerische Fähigkeit nicht mit der Klarheit und der Suggestivkraft der Kunst der Perspektive würde mithalten können, stellte unbemerkt einen Spiegel vor sein Gemälde. Das Spiegelbild vervielfachte die Tiefenwirkung des Bildes, welche die westliche Malerei mit solcher Leidenschaft anstrebte. Und gerade sollte er den Preis entgegennehmen, als ein Vorhang zwischen den beiden Gemälden fiel, der Spiegel seine Leere offenbarte und der simple Betrug aufgedeckt wurde.

Man sollte stets daran denken, daß der Spiegel das Leben der Dinge und der Erfindungen lebt. Daß er in spätrömischer Zeit solchen Erfolg hatte, lag an seiner Seltenheit. Die spärlichen und schwarz angelaufenen Überreste der versilberten Folien römischer Spiegel, die zudem stark geschrumpft sind, reichen nicht an die moderne Machart von Spiegeln heran. Die ersten mittelalterlichen Spiegel entstanden eher zufällig aus quecksilbergefüllten Fläschchen, bevor man das Verfahren herausfand, Quecksilber auf die Oberfläche einer Kugelkappe aus Glas aufzutragen. Der makellose Glanz der neuen Spiegel läßt einen der zauberischen Begrenztheit der Silberfolie oder der versilberten und polierten Scheibchen nachtrauern, die noch bis Ende des 13. Jahrhunderts in Gebrauch waren. Das Verfahren der Glasbläserei erlaubte es, eine Kugel von ausreichender Größe herzustellen, um ein zufriedenstellendes und nicht besonders entstelltes Bild zu erhalten.

Die Hoffart. Aus: Sebastian Brant, Das Narrenschiff.
Bei der Betrachtung ihrer selbst in runden Konvexspiegeln aber mußten die Damen schon fest von ihrer Schönheit überzeugt sein, um vor dem Spiegel zu verweilen und mit dem Blick die Deformationen korrigieren zu können, die das Gesicht aus der Nähe erfuhr. Vielleicht war es gar nicht einmal die Betrachtung des eigenen Gesichts als vielmehr die Untersuchung eines jeden Details, die nur der Spiegel des Blickes der anderen zu einem Ganzen zusammensetzte: und vor allem für sie waren wohl all die Handgriffe der weiblichen Toilette bestimmt, vom Schminken bis zur Frisur, dem Pudern mit Zypernpuder und der Farbe von »Drachenblut«. Im Spiegel aber vereinen sich unmittelbar das Vorher und das Nachher der Effekte der Kosmetik und der Maskerade der Schönheit, die der Zeit hinterherläuft und den Moden.

Die Herstellung von Spiegeln, unauflöslich an die Glasbearbeitung gebunden, wird zur exklusiven Angelegenheit der Venezianer, die ab dem 16. Jahrhundert neben Konvexspiegeln zunehmend auch Planspiegel fertigen und das Problem der Fabrikation von Spiegeln mit flacher Oberfläche schließlich lösen. Anstelle der Kugeln werden dazu zylinderförmige Ballons geblasen, die eine ganz und gar flache Schicht ergeben. Die Produktion dieser Spiegel untersteht der strengen Kontrolle der Venezianer, die das Patent darauf bis zu den Zeiten des Sonnenkönigs halten können.

Die venezianische Malerei des 16. Jahrhunderts von Giorgione, Lorenzo Lotto und Tizian‚ die gerade an der Seite des Spiegels steht, zelebriert ihr Primat im »Reich der Bilder« in Konkurrenz und im Triumph über die Rundplastik der Skulptur. Das Dreifach-Porträt (Frontalansicht, Profil und Rückansicht) gemahnt in deutlich belehrender Aussage an die drei Lebensalter des Menschen und ist damit Emblem der »Umsicht«. Ebenso beim (nackten) Amor sacro und dem (bekleideten) Amor profano Tizians, wo es eines Spiegels bedarf, um das Trugbild der eigenen Vanitas in Richtung Jenseits auszudehnen. Neben einem raffinierten Verweischarakter, der die heimlichen Bestrebungen des Primats der Malerei weitestgehend erfüllt, bewirkt der quadratische Planspiegel auch einen deutlichen sittlichen Eindruck, den das Bild ausstrahlt, welcher der Körperhaftigkeit der Malerei eine taktile Erweiterung verleiht (Bildnis des Gaston de Foix von Savoldo). Nicht die Vorrangstellung des Zeichens und des Zeichnens, das nach der toskanischen Schule das moralische Privileg der Ideation und des Entwurfs nach sich zieht, wird hier bekräftigt, sondern eine neue Dreidimensionalität des »Effekts« wird auf eine Stufe mit den anderen Verführungskünsten der Malerei gestellt und bewegt sich dort neben dem genuin venezianischen Gegenstand der Farbe, innerhalb eines Wertesystems zwischen »Weisheit« und »Umsicht«, das konstruiert ist von der auf Dauer ausgerichteten Kunst des Künstlers, die den menschlichen Unternehmungen und dem Bild der Mächte ein längeres Leben verleiht, als deren relativ kurze Dauer es vermöchte.

Lorenzo Lotto: Drei Ansichten des Goldschmieds, 1530,
 Kunsthistorisches Museum, Wien.
Wie Paolo Pino und Vasari berichten, verstand es keiner der italienischen Maler besser als Giorgione, dieser Forderung mit einem malerischen Trick nachzukommen. Eine Person mit entblößten Schultern spiegelt sich in einem Teich; von der einen Seite sieht man ihre rechte Seite in einer glänzenden Rüstung gespiegelt, auf der anderen Seite befindet sich ein Spiegel, der die Ansicht zur Linken reflektiert. An keinem anderem Ort als in Venedig, der Hauptstadt der Spiegel, konnte diese malerische »Reflektion« besser formuliert werden, in der sich der Vorzug der Malerei im goldenen Wettstreit der Künste behauptete. Ähnlich dem wissenschaftlichen Offenbarungsvermögen des Spiegels konnte die Malerei in einem Augen-Blick enthüllen, mit einer Unmittelbarkeit und Simultaneität, die dem Bildhauer nicht zu Gebote stand. In diesem nachgerade vierfachen Blick, der universale Symbole in eins bringt, verbirgt sich der Blick des Philosophen vor dem Spiegel, sein »einzigartige« bärtiges Antlitz in naiver Nachdenklichkeit versunken angesichts der metaphysischen Kraft, die stets in den Falten und Leeren des Gesichts wohnt, wie jede Wahrheit des Spiegels in der Figur der Masken.

Im Eigensatz zum Planspiegel und seiner aufklärenden Funktion kommen der Konvex- und auch der Konkavspiegel (mit seiner Brennwirkung einer Sonne, die eine Fackel entzündet) im Spiegel-Porträt von Parmigianino (1530) zum Stehen, das sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien befindet. Die Freuden des Sehens gehen in abgemilderter Form weiter, als die Betrachtung einer natürlichen Form, die man nicht in der Schönheit sieht, fragil, weil sie zuviel zeigt. Spiegel und »venustas« gelten Malern wie Jan Brueghel als Allegorie des Sehens, während er bei anderen, etwa bei Abraham Bosse, mehr und mehr zum Emblem der Malerei selbst wird, die nicht nur Zeichnung und Farbe ist, sondern vor allem Technik, während sich nach und nach die staunenerregenden und fesselnden Motive der »Vanitas« des 17. Jahrhunderts entfalten, wie sie Guido Cagnacci, Mattia Preti und Francesco del Cairo gestalten.

Girolamo Savoldo: Mann in Rüstung. Genannt "Bildnis Gaston de Foix",
um 1529. Louvre, Paris
Doch das Antlitz, vom Grund des Spiegels geholt und bestaunt in der unergründlichen Geographie seiner Physiognomie, läßt sich wie eine Landkarte darstellen und durchqueren, als der sichtbare Teil der Seele, die im Inneren des Körpers verborgen liegt.

Die physiognomische Erforschung der verschiedenen Ansichten eines Gesichtes, um aus den verschiedenen Gesichtsausdrücken und Modulationen die Diversität der Charaktere zu erkennen, ist eine naturalistische und sophistische Praktik. Seit der klassischen Antike gibt es physiognomische Traktate mit echt aristotelischem Einschlag, etwa die eines Pseudo-Aristoteles, des Akademikers Polemon (4. Jhdt. v. Chr.) und des Sophisten Adamantius (4. Jhdt. n. Chr.), die als Grammatiken gedacht sind, um Menschen an der offensten aller Sprachen zu erkennen, nämlich ihrem Gesicht. Diese Werke verbergen nicht ihre Funktion als praktische Handbücher, die nach Aristoteles nützlich für diejenigen waren, die Diener brauchten und vorweg deren charakterliche Anlagen beurteilen wollten: Rechtschaffenheit, Hingabe und Ehrlichkeit, Gaben, die man in genau definierten Eigenheiten der Gesichtszüge und des Körperbaus ansiedelte.

Die Blütezeit der rhetorischen Techniken der Sophistik‚ welche die wahren Absichten der Personen verbergen können, gibt einen plausiblen Anlaß für jene naturalistischen Kataloge wie zum Beispiel die Charakterbilder des Theophrast, in denen die Tugenden und Laster der Menschen zusammengefaßt werden, um sie überhaupt unterscheiden zu können. Theophrast gibt an, seine Beobachtungen noch mit neunundneunzig Jahren anwenden zu können, und stellt fest, daß die Bewohner ein und derselben Stadt, mit dem gleichen Gesetz, der gleichen Sprache, der selben Religion nach einigen wohldefinierten Unterschieden, das heißt Charakteren eingeordnet werden könnten, die nach der theophrastischen Typologie von der Ironie bis zum Geiz reichen — wobei erstere die subtile Kunst der Verstellung ist und letztere damit beginnt, daß man sich Kleinigkeiten leiht, die nicht der Rede wert sind und die zurückzufordern man sich schämen würde, um sie den Gebern dann nie zurückerstatten.

Parmigianino: Selbstbildnis im konvexen Spiegel,
1523-34. Kunsthistorisches Museum, Wien.
Die mittelalterlichen Texte zur Physiognomie von Michael Scot (Physiognomia), Pietro d’Abano (Liber compilationis physionomiae), Giovanni Buridano (Quaestiones super Physianomicam) und Michele Savonarola (Speculum Physionamiae) stehen unter deutlich naturalistischem Einfluß, dominierend aber ist die Astrologie: Noch ließ sich nicht denken, daß das Leben des Menschen allein von den Zeichen des Gesichts und des Körpers und nicht von den Planeten abhängig sei. Die Physiognomik ist die Kunst der Menschenkenntnis ausgehend vom Gesicht, das heißt von ihrer Gestalt, in der das zukünftige Schicksal der jeweiligen Person angedeutet ist. Dies läßt sich nicht trennen von der Herrschaft der Astrologie, welche die Natur des Menschen zugleich beherrscht und mit ihr in einem Wechselverhältnis steht. Die Humana Physionomia (1586) von Giambattista della Porta fällt jedoch (nach den Traktaten von Coclès, 1531 und Johannes Indagine, 1549) in eine regelrechte Krisenzeit jener »richterlichen« Astrologie, welche die Zukunft der Menschen voraussagt.

Wir wissen, daß diese Praxis bis ins 16. Jahrhunderts nicht nur drohende Katastrophen und Sintfluten heraufbeschworen und damit die Bevölkerungen in Angst und Schrecken versetzt hatte, sondern auch den Tod von Herrschern und Kirchenfürsten verkündete und damit beunruhigende anarchische Tendenzen unter Untertanen und Gläubigen säte, welche sich auf die »Wissenschaftlichkeit« der Weissagung der Gestirne stützen konnten. Doch mit der Bulle von Papst Sixtus V. (1589), in der die Abweichungen der Astrologie mit dem Kirchenbann belegt werden, eröffnen sich neue Wege und Möglichkeiten für eine Astronomie, die an obskuren Weissagungen und unheilverkündenden Horoskopen über das Leben Einzelner kein Interesse mehr hat. Sind die astronomischen Fernrohre gen Himmel gerichtet, lassen sich auch heliozentrische Theorien legitim begründen, welche die feststehenden Prinzipien des Verhältnisses zwischen Untertanen und Machthabern nicht im geringsten stören. Damit aber eröffnet sich die Physiognomia, nach der Corporis humani fabrica von Andreas Vesalius (1543), einen eigenen, indirekt wahrsagerischen Raum jenseits von Charaktereinteilung und -analyse und legt ein Verhältnis präzise bestimmbarer Zeichen fest, die das Gesicht, der Körperbau und am besten die Stirn offenbart, um — in einem Wort — Gott im Antlitz des Menschen aufzusuchen.

Verschiedene Physiognomien. Aus: Giuseppe Rosaccio,
 Fabrica universale dell'huomo, Venedig 1627.
In der Metoposcopia von Gerolamo Cardano (1550) und Giovanni Antonio Magini (1605) wird die menschliche Stirn zum Hauptgegenstand physiognomischen Interesses, deren Linien und Temperaturschwankungen den Projektionsschirm der medizinischen Untersuchung des Kranken bildet.

Die zwischen dem 16. und dem l7. Jahrhundert vielfach aufgelegte Humana Physionomia von Giambattista della Porta, die zahlreiche Nachahmungen erfuhr, faßte nicht nur die vielfältigen Anforderungen naturwissenschaftlicher Untersuchung und Klassifizierung zusammen, sondern stellte auch und zugleich eine Form der Erkenntnis des Menschen dar, die im Vergleich zu dem experimentell nachprüfbaren Wissenschaften nachgerade psychologisch war; sie schloß aber auch die irreversible Zerrissenheit der protestantischen Welt hinsichtlich der Vorherbestimmtheit der Seele. Die eigentliche Ambiguität der Physiognomia ist ihre wissenschaftliche Wahrheit. Es handelt sich um eine durchaus praktische, »autoptische« und »heteroptische« Erkenntnis des Blicks auf sich selbst und auf den Anderen, die keine bloßen Vergleiche zieht, sondern Unterschiede hinsichtlich möglicher Wahrheiten bestimmt, deren Klassifizierung auf den Modifikationen der Form beruht, ohne einem starren Gesamtbild zu folgen, aus dem stets nur a posteriori Schlüsse zu ziehen wären.

Es läßt sich also zeigen, daß ein schwacher Psychologismus, dem sich keine wissenschaftliche Beobachtung entziehen kann, ein Aspekt der Physiognomie war, der diese jedoch immer wieder auch in die Nähe einer stets suspekten Parawissenschaft rückte. Der Magier Della Porta bekam das Siegel eines entschiedenen Anti-Galileo verpaßt, eine doppelsinnige Auffassung, die über Lavater, Gall und Lombroso bis zu den letzten Auswüchsen des Positivismus fortdauerte — und dies gerade in den Wissenschaften, die direkte soziologische Anregungen bereitwilligst aufnehmen. In diesem Sinne lassen sich auch in der modernen Biologie, die »archetypisch« etwas von der physiognomischen Praxis an sich hat, jene Spiele unbegründeter Weissagungen hinsichtlich des Verlaufs des Lebens der Individuen wiederentdecken und ans Licht bringen, etwa was das mögliche Auftreten von Krankheiten betrifft, die sich an der ausgedehnten Landkarte der »Risikofaktoren« ablesen lassen.

Gesichtsausdrücke. Aus: Charles Le Brun,
Nouveaux principes de dessein et différents caractères de passion. 
Wie kann man an dem, was erscheint und was nicht anders kann, als zur Erscheinung zu kommen — einem Gesicht, einem Körper —, das erraten, was sich verbirgt und verborgen zu bleiben wünscht? — nicht allein Schicksale und Tugenden, sondern auch Wünsche und Absichten? Bis zu welchem Punkt können die Geheimnisse der Seele von den Körperzeichen erzählt werden, und wie können sie ihre eigene Form besitzen, die uns die Zukunft vorauszusehen hilft?

Die »neue Phvsiognomie« jenseits des 17. Jahrhunderts folgt nicht nur der Maxime der klassischen Moral des »Erkenne dich selbst«, sondern ist eine Art und Weise der Erkenntnis der Anderen trotz ihrer selbst. Eine milde Technik der Gesichtsinspektion, die Techniken der Vortäuschung und des Verhehlens aufdeckt. Denn Vortäuschen bedeutet, etwas zu zeigen, was man nicht hat. Verhehlen heißt, etwas zu verbergen, was man doch besitzt. Und wenn uns nun etwas schadet, wie kann man es so drehen, daß es uns womöglich, zum Leidwesen der anderen, nützt? Von diesem Aspekt wird im nächsten Kapitel zu reden sein, wenn es um die »Lebensbilder« geht, hier interessiert uns die Erkenntnis, daß das Antlitz nicht eigentlich der Spiegel der Seele ist, sondern das Fenster zu etwas, was innen liegt, sich jedoch nicht so ohne weiteres eröffnet. Dafür gibt es den erfahrenen Blick der Physiognomik, der es versteht, im Wahren etwas zu entdecken, was sich offen verbirgt.

Die Werke der Nächstenliebe, so warnten die Prediger, seien auf keine Weise von geistlichem Nutzen, wann immer sie an den »Falschen und Gottlosen« verübt würden. Um die eigenen Werke der Barmherzigkeit ins rechte Licht zu rücken, sah sich daher jeder Gläubige gezwungen, die wahren von den falschen Bedürftigen zu unterscheiden, ebenso die wahren von den falschen »Guten«. Physiognomische Beobachtungen unterster Stufe unterstützten den umsichtigen Bürger darin, niemals jemandem Geld zu leihen, der es ohnehin nicht zurückgeben könnte, und niemandem Vertrauen zu schenken, der es nur mißbrauchen würde. Aber erkennt man nicht die Laster an den Taten, und müssen nicht Verurteilungen sich nach schlechten Angewohnheiten richten, und wie sollte man all dies vorneweg an der Bindehaut der Augen, den Mundwinkeln und dem Stirnansatz ablesen können?

Giambattista della Porta:
De humana physiognomonia libri IIII, 1586. Seite 60 [Quelle]
Der offenste Feind der Humana Physiognomia von Della Porta zu ihrer Blütezeit sind die neuen experimentellen Naturwissenschaften, die sich »wiederholen und nachprüfen« lassen. Diese Gewißheiten einer schlichten Wissenschaft von der Wahrheit werden brüchig, obschon sie ihre disziplinierende Funktion beibehalten, sobald sie sich den Techniken mehr oder weniger offener, mehr oder weniger einfallsreicher Vortäuschung gegenüber finden. Torquato Accetto (La dissimulazione honesta, 1641) und Baltasar Gracián (Agudeza y Arte de Ingenio, 1642-48) erläutern verführerisch die Techniken scharfsinniger Durchdringung der Gefühle anderer, ohne die eigenen durchschimmern zu lassen. Sie reflektieren auch die cartesische Untersuchung der »Leidenschaften der Seele«‚ die als solche zu Erkenntnisinstrumenten werden, ohne als besondere Kennzeichen ihres Trägers wahrgenommen zu werden.

Verwandt damit sind die im 17. Jahrhundert florierenden Techniken zum Abfassen von Geheimbotschaften. Durch die »steganografischen« Künste läßt sich eine ganz gewöhnliche Botschaft zu etwas undurchdringlichem synthetisieren. Es wird zur verbreiteten Ansicht, daß ein reines Bild nicht die Wahrheit enthüllen könne, und daß häufig gerade die sichtbarsten Aspekte dazu dienen können, etwas Ungeheuerliches zu verbergen, was nicht entdeckt werden soll. »Gesten« ebenso wie »Episteln« bestehen aus hochkomplizierten Anspielungen, die nach außen hin naiv wie ganz banale Wahrheiten aussehen, zwischen den Zeilen jedoch völlig andere Bedeutungen zu verstehen geben. Die überaus nützlichen Künste der Andeutungen (Bonifacio, 1616) sind eine Seitenlinie der klassischen Physiognomik und dennoch deren Folge, indem sie gerade am Schwachpunkt eines äußeren Zeichens ansetzen, um dessen Wahrheit einzufangen und sich seiner zu unseren Gunsten und, wenn man will, zu seinem Schaden zu bedienen. Es stimmt nicht ganz, daß die Wahrheit vom professionellen Simulanten immer vorgetäuscht sein muß. Wer sich klug der Simulation bedient, muß sie immer gegenüber verschiedenen Personen anwenden, sonst könnte ihm überhaupt nie Glauben geschenkt werden, auch wenn der perfekte Simulant an der Simulation zugrunde gehen muß.

Lateinische Ausgabe von Descartes "Passions de l'âme",
 1650, bei Ludovicum Elzevirium, Amstelodami
(Erste lateinische Quart-Ausgabe) [Quelle]
Wie also der Zwickmühle der falschen Wahrheiten, der wahren Lügen entkommen? — wie sich dieses Rüstzeugs klug und auf raffinierte und ganz besondere Weise bedienen‚ mit all seinen verschiedenen Verhaltensweisen, die zum Gelingen und zum Triumph verhelfen? Eine Anleitungsliteratur beginnt aufzublühen, in der Hofmänner, Sekretäre und Minister in die Lebenskunst eingeführt werden, um lächerliche oder falsche Schritte zu vermeiden und um die Ordnungen (oder die unausgesprochene Unordnung) der Konventionen der Gesellschaft und bei Hofe zu beachten. Die einfache pädagogische Kunst der aristotelischen Physiognomie sollte dem Herrscher helfen, seine Diener auszuwählen, nun wird gelehrt, ein Leben nach Herrscherart zu führen und dabei, wenn überhaupt, Diener zu sein, nachzulesen etwa im Breviarium politicorum (1684) nach Kardinal Mazarin.

Die Passions de l'âme (1645-46) von Descartes zeichnen systematisch und eindrücklich, fast gekünstelt die jeweiligen Ausdrücke der Leidenschaften nach, wenn die Gesichtszüge von Gefühlen durchdrungen sind, von Begierde, Angst, Freude, Wut, Reue oder Flehen. Auch der Maler und Theoretiker Charles Le Brun unterzieht die verschiedenen Ausdrücke des menschlichen Geistes seiner Betrachtung. In der großen Aufgabe, der sich die Malerei stellen muß, um die Würde der Gefühle wiederzugeben und dabei das Heroische dem Erbärmlichen und Niedrigen gegenüberzustellen, sollte es nicht dabei sein Bewenden haben, dem menschlichen Antlitz die Züge des Löwen, des Schweins, des Adlers, des Affen zu verleihen, an denen die Leidenschaften durch das einfache physische Aussehen der Tiere unmittelbar zu erkennen wären. Explizit didaktisch wird das Werk, wenn Le Brun auf die Wiedererkennbarkeit der Prinzipien und Modelle pocht (Nouveaux principes de dessein et différents caractères des Passions), doch weisen diese unendliche Variationen und Möglichkeiten auf. Auch die Bilder des beigefügten Illustrationsteils machen auf das Auge des Betrachters einen doppelsinnigen Eindruck (die Stimmung des Betrachters ist nicht unabhängig vom Urteil). Wer kann mit Gewißheit sagen, daß das Lachen Lachen ist und nicht Überheblichkeit? Die Freude Freude und nicht einfach Heiterkeit, die Ruhe Ruhe und nicht stumpfe Blödheit, die Traurigkeit Traurigkeit und nicht Reue, die Hochachtung Hochachtung und nicht Eigeninteresse oder Schmeichelei, die Verwunderung Verwunderung und nicht Furcht oder, schlimmer noch, Angst?

Quelle: Manlio Brusatin: Geschichte der Bilder. Diaphanes, Berlin 2003. ISBN 3-935300-19-0. Zitiert wurden die Seiten 57 bis 73.


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