19. März 2012

Brahms: Klavierquintett, Streichquintette, Klarinettenquintett

Auf das Jahr 1860 läßt sich der Zeitpunkt datieren, an dem in der Musikkultur des 19. Jahrhunderts die Spaltung in zwei Parteien offen zutage trat. Hauptrepräsentant der einen war Johannes Brahms. Seit seiner enthusiastischen Würdigung durch Robert Schumann stand er im Blickpunkt einer neugierigen Musik-Öffentlichkeit und hatte sich zu einer Unterschrift eines Manifestes drängen lassen, mit dem eine Gruppe »ernst strebender Musiker« gegen Ideale der »Neudeutschen Schule« polemisierte. Diese scharte sich um Wagner, Liszt, Cornelius, von Bülow und Raff, besaß in der »Neuen Zeitschrift für Musik« ihr publizistisches Sprachrohr und propagierte als neue Gattungen das Musikdrama und die Symphonische Dichtung. Ihre Anhänger verachteten die Musiker um Brahms, J. Joachim Scholz und J.O. Grimm als »Konservative« und warfen ihnen vor allem das Festhalten an klassischen Formen und Gattungen wie der Symphonie, dem Lied und der Variation als unzeitgemäß vor. Obwohl Brahms heute vor allem durch sein »Deutsches Requiem«, die vier Symphonien, die Klavierkonzerte, das Violinkonzert oder die »Ungarischen Tänze« im öffentlichen Musikleben präsent ist, betrachteten ihn seine Gegner vor allem als Komponisten von Kammermusik. Diese wurde in Deutschland und Österreich von einer Schicht getragen, die Arnold Schering einmal so charakterisierte:

»Hier, in den Familien der Gelehrtenschaft, des gehobenen Beamten- und Kaufmannsstandes, der repräsentativen Künstler einer Stadt, herrscht bei allem Liberalismus in politischer Beziehung ein gut konservativer Geist, ein gesunder Sinn für Erhaltung und Weitergabe überkommener Kulturgüter und das Bestreben, das tägliche Leben durch Pflege idealischer Gesinnung so wertvoll wie möglich zu gestalten. [...] Der Mittelpunkt der Musikpflege war die Kammermusik, ausgeübt im Rahmen von Hauskonzerten unter Beteiligung befreundeter Künstler und vor Hörern, auf deren feine literarische und Gemütsbildung man sich verlassen konnte.«

Eine treffende Bestätigung dieser Ansicht findet, wer im Zusammenhang mit Brahms' Kammermusiken sich den Ort ihrer ersten Aufführungen und den Freundeskreis des Komponisten betrachtet. Zu seinen engsten Vertrauten zählte dabei der berühmte Anatom und Chirurg Theodor Billroth. Brahms hatte sich mit dem Gelehrten, gewandten Pianisten, erträglichen Geiger und Bratscher und künstlerisch Interessierten schon in Zürich angefreundet - als dieser 1867 einem Ruf an die Wiener Universität folgte, nutzte auch Brahms bald die Gelegenheit, Wien zu seiner Wahlheimat zu machen. Brahms versäumte kaum, dem phantasievollen Arzt die jeweils neuesten Werke schon im Manuskript zu zeigen, und der war so hellhörig und sensibel, daß er aufgrund des Partiturlesens die Zweite Symphonie mit den Worten beschrieb: »Das ist ja lauter blauer Himmel, Quellenrieseln, Sonnenschein und kühler grüner Schatten! Am Wörthersee muß es doch schön sein.«

Eduard Hanslick, Johannes Brahms und Theodor Billroth. Beistiftzeichnung von A. F. Seligmann (ca. 1913) Quelle: Sammlung William Meredith, Geschenk von Joan und Paul Kaufmann

In der großzügigen Billroth-Villa in der Wiener Vorstadt Alsergrund erklang ein Großteil der Brahmsschen Kammermusiken zum erstenmal, bevor es zu öffentlichen Aufführungen kam - nach scherzhafter Aussage des Wiener Kritikers und Brahms-Freundes Eduard Hanslick hatte sich Billroth das »ius primae noctis« auf neue Brahms-Kompositionen vorbehalten. Bei einem solchen Abend vereinigten sich die besten erreichbaren Interpreten mit dem Komponisten am Klavier (falls das zum Werk gehörte), und da der Hausherr als ausgesprochener Epikuräer seine ausgewählte Gästeschar auch kulinarisch sorgfältig bewirtete, gehörten diese Zusammenkünfte für Brahms zu den schönsten Erinnerungen seines Lebens: »Du glaubst nicht, wie schön Und erwärmend man eine Teilnahme wie die Deine empfindet; in dem Augenblick meint man doch, das sei das Beste vom Komponieren und allem, was drum und dran hängt«. (an Billroth)

Die beiden Streichquintette op. 88 und op. 111 entstanden 1882 bzw. 1890 und gelten als Werke an der Grenze von Brahms' Spätstil. In beiden ist, wie auch bei Mozarts Quintetten, die Bratsche verdoppelt, so daß die Alt-Tenor-Lage im Klang dominiert. Im op. 88 (Brahms nannte es sein »Frühlingsprodukt« überrascht die vielfältige Abschattierung, die bei fast durchgehend vollständigem Satz »im Neben- und Ineinander von quasi orchestraler Klangballung und kammermusikalischer Durchsichtigkeit, Ausnutzung hoher und tiefer Klanglagen, kontrapunktischer und motivischer Gleichbehandlung der Stimmen eine außerordentliche Flexibilität zeigt« (W. Ludewig). Der formal interessanteste Satz steht an zweiter Stelle: Langsamer Adagio-Satz und Scherzo sind miteinander kombiniert, wobei der Presto-Schluß ein großartiges Beispiel dafür darstellt, wie Brahms einem Thema durch Variation einen völlig anderen Charakter verleiht. Das ebenfalls in Bad Ischl entstandene Schwesterwerk des op. 111 wollte Brahms für lange Zeit als sein letztes Werk überhaupt angesehen haben - sein Biograph Kalbeck ging dann allerdings so weit, bei diesem vitalen und konzentrierten Alterswerk einen »Brahms im Prater« zu erkennen.

Ursprünglich konzipierte Brahms auch sein op. 34 im Jahre 1862 als Streichquintett, ehe das Werk nach mannigfachen Umarbeitungen zehn Jahre später als Klavierquintett veröffentlicht wurde. Und das Klarinettenquintett op. 115 (1891) verdankt seine Entstehung, ebenso wie das Klarinettentrio, dem Können des phänomenalen Meininger Klarinettisten Richard Mühlfeld. Es wurde »ein Werk des Rückblicks und des Abschieds. Bilder der Vergangenheit mit ihren Freuden und Leiden, ihrem Sehnen und Hoffen ziehen an dem alternden Meister vorüber, der sie in zart gedämpften, wehmütigen Tönen wieder erstehen läßt« (K. Geiringer).

Quelle: Uwe Kraemer: Für Gehobene Kreise. Aus dem Booklet.

Disk 1 Track 6: Streichquintett F-Dur Op 88 - II. Grave ed appassionato - usw.


TRACKLIST


JOHANNES BRAHMS (1833-1897) 

The Complete Quintets


CD 1                                                               1.09'37"  

Piano Quintet in F minor, Op. 34 
Klavierquintett f-moll 
Quintette en fa mineur pour piano, 2 violons, alto et violoncelle 

[1] 1. Allegro non troppo                                            14'56"
[2] 2. Andante, un poco adagio                                        9'20"
[3] 3. Scherzo. Allegro                                               7'28"
[4] 4. Finale. Poco sostenuto - Allegro non troppo                   10'42"

String Quintet in F, Op. 88 
Streichquintett F-dur 
Quintette à cordes en fa majeur 

[5] 1. Allegro non troppo, ma con brio                               10'35"                             
[6] 2. Grave ed appassionato - Allegretto vivace - Tempo I - Presto  10'37"
[7] 3. Allegro energico                                               5'22"

WERNER HAAS piano · Klavier (Op.34) 
Members of the 
BERLIN PHILHARMONIC OCTET 
Alfred Malacek violin · Violine · violon 
Rudolf Hartmann violin · Violine · violon (Op. 34)
Ferdinand Mezger violin . Violine · violon (Op. 88) 
Kunio Tsuchiya Viola · alto 
Dietrich Gerhard Viola · alto (Op. 88) 
Peter Steiner cello · Violoncello · violoncelle 


CD 2                                                                1.02'19" 

String Quintet in G, Op. 111 
Streichquintett G-dur 
Quintette à cordes en sol majeur 

[1] 1. Allegro non troppo, ma con brio                                9'51"
[2] 2. Adagio                                                         6'09"
[3] 3. Un poco allegretto                                             5'28" 
[4] 4. Vivace ma non troppo presto                                    4'32" 

Clarinet Quintet in B minor, Op. 115
Klarinettenquintett h-moll 
Quintette en si mineur pour clarinette, 2 violons, alto et violoncelle
[5] 1. Allegro                                                       11'10"
[6] 2. Adagio                                                        11'09"
[7] 3. Andantino - Presto non assai, ma con sentimento                4'40"
[8] 4. Con moto                                                       8'41"

Members of the 
BERLIN PHILHARMONIC OCTET 
Herbert Stähr clarinet · Klarinette · clarinette (Op. 115) 
Alfred Malacek violin · Violine · violon 
Ferdinand Mezger violin . Violine· violon 
Kunio Tsuchiya Viola · alto 
Dietrich Gerhard Viola · alto (Op. 111) 
Peter Steiner cello · Violoncello · violoncelle 


Recorded · Aufnahmen · Enregistrements: 
Germany, 12/1970 (Op. 88,111); 4/1972 (Op. 115); 7/1973 (Op. 34) 
® 1971, 1972. 1974 - This compilation ® 1995 


Disk 2 Track 7: Klarinettenquintett h-moll Op 115 - III. Andantino


William Blake: Selbstportrait

Wer war William Blake?

Blake war seinen Zeitgenossen eher als Kupferstecher und Maler vertraut und nicht so sehr durch seine Dichtung, die kaum jemandem bekannt war. Um so bekannter aber waren Blakes Exzentrizitäten. Blake, der schon als Kind Engel in einem Baum sah, der mit Toten Gespräche führte und der auch nach seinem Tod zu seiner Frau Catherine zurückkehrte, um sie beim Verkauf seiner Bilder zu beraten, muß ein skurriler Mensch gewesen sein. Von staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Konventionen hielt er wenig und überraschte einmal seine Zeitgenossen damit, daß er mit seiner Frau nackt im Garten sitzend Paradise Lost rezitierte, um den paradiesischen Mythos nachzuempfinden. Trotz seiner scheinbaren Losgelöstheit von irdischen Bindungen fühlte er sich der Atmosphäre Londons verbunden und verbrachte nur drei Jahre seines Lebens außerhalb seiner Stadt. Auch wenn er »mit einem anderen Gesicht« geboren war - ein Kind seiner Zeit war er dennoch.

Blake, Sohn eines Strumpfmachers und damit Angehöriger der unteren Mittelschicht, wuchs bis zum Alter von zehn Jahren in einer schullosen Freiheit auf, die in »Der Schulknabe« noch als Ideal anklingt: »Wie kann der Vogel, zur Freude geboren / Im Käfig noch ans Singen denken?« 1767 wurde er in Henry Pars' Zeichenschule geschickt, vermutlich um ein praktisches Metier zu erlernen, denn Buchillustratoren waren gefragt. 1772 wurde er Lehrling beim Kupferstecher Henry Basire. Blake stand zeit seines Lebens zwischen der privaten Kunst, die er für sich selbst und wenige Kenner produzierte, und seinen in der Öffentlichkeit bekannten Illustrationen, überwiegend Stichen, die seinen zeitweiligen Erfolg begründeten und mit denen er sich seinen Lebensunterhalt sicherte.

Über seinen genauen Bildungsgang ist wenig überliefert, aber wir wissen, daß Blake Autodidakt war, später Bücher in verschiedenen Sprachen las und die literarischen und philosophischen Werke seiner Zeit und Bildungstradition kannte. Anders als viele Dichter seiner Epoche erhielt er in jungen Jahren keine klassische humanistische Unterweisung. Daher orientierten sich sein Stil, seine Symbolik und seine spätere Mythologie zunächst nicht an Homer, Vergil und Dante, sondern eher an biblischen Traditionen. Seine Lektüre von religiösen und philosophischen Schriften und von Miltons Bibelepik verliehen seinem Schreiben eine eigene Prägung.

Einen starken Einfluß stellten auch die Bücher und die historischen Themen dar, zu denen er Stiche anfertigte. Ein frühes und zentrales Bildungserlebnis waren die Zeichenarbeiten, die er von 1774 bis 1779 für Basire in der Westminsterabtei anfertigte und die seinen späteren Stil und sein Interesse an der englischen Geschichte prägten. 1779 wurde er als Student in die Royal Academy aufgenommen, wo er sich mit anderen Künstlern anfreundete und gegen den bekannten und arrivierten Maler Sir Joshua Reynolds eine lebenslange Antipathie zu entwickeln begann, die sich generell auf akademische, erfolgreiche und sich anpassende Kunst erstreckte.

1782 heiratete Blake Catherine Boucher, über die wir leider nicht allzu viel wissen. Catherine, einem Freund zufolge die »Verrückteste von beiden«, war ebenso eigenwillig und unkonventionell wie Blake, mit dem sie auch nach Jahrzehnten noch eine sehr enge und liebevolle Beziehung hatte. Wie er war sie politisch radikal und lernte, Visionen zu haben. Um ihrem Mann zu helfen, zeichnete und stach sie und vollendete nach seinem Tod noch einige seiner Werke. Ihr Farbgefühl wurde auch von anderen zeitgenössischen Künstlern gelobt. Man darf also annehmen, daß William nicht der alleinige Produzent seiner Werke war.

William Blake: Catherine Blake

Im Jahr nach der Eheschließung wurden die Poetischen Skizzen als Privatdruck angefertigt - Blakes einzige Dichtung, die als »normaler« Druck herauskam. Zu diesem Zeitpunkt schien er noch eine aussichtsreiche Karriere vor sich zu haben. 1780 hatte er einige seiner Bilder in einer Ausstellung der Royal Academy präsentiert. Gleichzeitig verdiente er sein Geld mit Buchillustrationen. Im Lauf seines Lebens bearbeitete er eine große Zahl literarischer wie nichtliterarischer Themen, zeichnete Figuren zu Dantes und Miltons Epen, illustrierte aber auch ephemere Texte. Blake war nie der über dem Alltag stehende Künstler, der die reine Kunst vertrat, sondern er mußte aus seinen Fähigkeiten Kapital schlagen. Was lag für den Sohn eines Geschäftsinhabers näher, als selbst ein Unternehmen zu betreiben? 1784 richtete er mit James Parker eine Druckerei mit einem Graphikgeschäft ein, allerdings währte diese Partnerschaft nicht lange. Blake besaß keine besondere Affinität zum Materiellen, weder in seinen philosophischen Spekulationen noch im Alltag.

Neben der kommerziellen Buchillustration experimentierte Blake mit einer Produktionsweise für seine eigenen Texte, die diese im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zu einzigartigen Kunstwerken machte. Blake erfand aufgrund einer »Eingebung« durch seinen toten Bruder Robert das »illuminierte Drucken«, dessen genaue Funktionsweise erst 1947 experimentell nachvollzogen wurde. Er gravierte den handgeschriebenen Text und das Bild auf eine Platte und kolorierte den Druck hinterher von Hand, so daß keine zwei Exemplare identisch waren. Auch die Anordnung der Seiten variierte in den einzelnen Ausgaben. Blake, der so sein eigenes künstlerisches Medium erfand, stellte all seine »illuminierten Bücher« unter Mithilfe seiner Frau selbst her. Gekauft wurden sie von Zeitgenossen, die sich diese individuellen Liebhaberstücke leisten konnten. Aufgrund jener Produktionsweise wurde Blake zu seiner Zeit nur in geringem Umfang rezipiert. Heute sind von den »illuminierten Büchern« nur wenige erhalten. Allein die »Lieder der Unschuld und Erfahrung« fanden ein größeres Publikum, ansonsten kann man nur raten, wie gering die Auflagenhöhen waren. Damit fehlte dem Radikalen und Propheten Blake eine wichtige Dimension, nämlich die unmittelbare Publikumswirksamkeit - das Geschick vieler Propheten, die von ihren Zeitgenossen verkannt worden sind.

Coleridge, dem viele der »Lieder der Unschuld und Erfahrung« gefielen, sah Blake als Mystiker, als wahnsinniges Genie. Den meisten Literaten seiner Zeit war er kaum bekannt - zu groß war die Distanz zum Klassizismus des achtzehnten Jahrhunderts und zum Naturschwelgen à la Wordsworth. Seine wenigen Leser fühlten sich häufig durch seine radikale, obskure und sexuell explizite Schreibe abgestoßen. »Man stelle sich Jane Austen bei der Lektüre der Sprichwörter der Hölle vor«, kommentiert Julien Green. Man kann sie sich eigentlich nicht vorstellen - Jane Austens aufstiegsorientierte Damen und Herren bewegen sich auf einem anderen Parkett als die mythischen Teufels- und Engelsfiguren Blakes.

Titelblatt zu Songs of Innocence And Songs of Experience

Blake fuhr dennoch fort, mit der Methode des »illuminierten Druckens« esoterische Werke zu produzieren, etwa Die Hochzeit von Himmel und Hölle, vermutlich 1793 gedruckt. Die Erscheinungsdaten sind bei Blake nicht immer mit letzter Sicherheit festzustellen. Nach den stark politisch orientierten Texten Die Französische Revolution, Amerika, Visionen der Töchter Albions und Europa begann Blake in den neunziger Jahren an prophetisch-mythologischen Werken zu arbeiten: Das Buch von Urizen, Das Buch von Ahania, Das Buch von Los und Das Lied von Los. In diesen (vergleichsweise) kurzen Texten entwickelte Blake die Grundzüge einer Mythologie, die später in den großen Schriften Milton, Jerusalem und Vala zu ihrer vollen Entfaltung gelangte. Daneben schrieb er in jenen Jahren und danach Gedichte, teilweise in Briefen an Bekannte, teilweise in sein Notizbuch. Daß er ihnen keinen hohen Status zuerkannte, zeigt die Tatsache, daß er sie nicht druckte.

Blake zog sich zunehmend zurück, von Freunden wie von beruflichen Kontakten, blieb aber immer ein Arbeitstier, das sich nie einen Tag Pause gönnte. Als er wegen eines Mangels an Aufträgen in finanzielle Nöte geriet, erhielt er zunehmend Unterstützung von Thomas Butts, der zu seinem langjährigen Patron wurde. Von 1800 bis 1803 siedelte er sich auf Einladung des Dichters William Hayley in Felpham (Sussex) an, wurde aber von seinem Förderer eher wie ein Sekretär behandelt und empfand die von ihm zu leistenden Arbeiten als trivial. In gewisser Weise führte Blake dort - wie auch sonst - ein Doppelleben: Während er Auftragsarbeiten anfertigte, sich im Malen von Miniaturporträts übte und Griechisch und Hebräisch lernte, weilte er innerlich in Visionen und Psychodramen, verarbeitete diese im ersten seiner langen prophetischen Bücher, Vala oder Die vier Zoas, und bewegte sich in Welten, die einem Durchschnittsmenschen wie Hayley völlig fremd sein mußten.

1803 wurde er nach einem Streit mit einem Soldaten der Aufwiegelung angeklagt. Blakes schlimmste Befürchtung, die Freiheitsberaubung durch staatliche Institutionen, schien bevorzustehen. Aber der Richter, der offensichtlich Blakes revolutionär-prophetische Schriften nicht kannte, sprach ihn frei.

Nach der Rückkehr nach London wandte sich Blake seinen beiden anderen großen Prophezeiungen, Milton und Jerusalem, zu und vollendete Milton vermutlich 1804. 1809 stellte Blake, der als Illustrator mittlerweile aus der Mode gekommen war, seme Gemälde aus, konnte aber kaum lnteressenten herbeilocken. Zunehmend vereinsamt, arbeitete er bis 1820 an seinem dritten prophetischen Werk, Jerusalem, und zog sich immer stärker in seine Visionen zurück. Daß er von seinen Zeitgenossen als verrückt betrachtet und auf seine mangelnde Sauberkeit angesprochen wurde, störte ihn anscheinend nicht. »Mr Blakes Haut schmutzt nicht«, so der Kommentar seiner Frau. Eine gewisse Anerkennung wurde ihm durch die »Ancients« zuteil, eine Gruppe junger Künstler, für die er als eine Art Mentor und Nestor fungierte.

Blakes prophetische Dichtungen, sein literarisches Schaffen, erschien den Zeitgenossen als so unwichtig, daß sich nach seinem Tod im Jahre 1827 eine im Monthly Magazine erschienene Todesanzeige nicht etwa auf den Dichter bezog. Sie lautete: »William Blake, Kupferstecher«. Dieser karge Lakonismus wird Blake kaum gerecht, war er doch auch noch Radikaler, Revolutionär, Visionär, Exzentriker, Ausgegrenzter und sich selbst Ausgrenzender.

Quelle: Susanne Schmid: Nachwort. In: William Blake. Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke. Übersetzt von Thomas Eichhorn. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1996. Zitiert wurden die Seiten 474-477.
[Leseprobe]



William Blake’s Gedichte, ausgewählt und übersetzt von Wolfgang Schlüter

LIEDER DER UNSCHULD UND ERFAHRUNG

Die Lieder der Unschuld entstanden etwa von 1784 bis 1789 und wurden von Blake 1789 in Einzelbänden als kolorierte Stiche veröffentlicht. 1794 hat Blake sie erstmals mit den größtenteils zwischen 1790 und 1792 entstandenen Liedern der Erfahrung in einem Gesamtband vereinigt, jedoch auch weiterhin Separatbände angefertigt.

Wie der Untertitel bereits angibt, zeigen die beiden Sammlungen »die beiden gegensätzlichen Zustände der menschlichen Seele« und bilden so eine der anderen Komplement. Dies erweist sich besonders deutlich in den »Gegengedichten« gleichen Titels (wie etwa Nurse's Song), die dasselbe Motiv aus der jeweils anderen Perspektive deuten, aber auch in den Gedichten, deren Titel bereits einen Kontrast bilden, wie etwa The Lamb und The Tyger.




The Chimney-Sweeper

When my mother died I was very young,
And my Father sold me while yet my tongue
Could scarcely cry «'weep! 'weep! 'weep! 'weep!»
So your chimneys I sweep, & in soot I sleep.

There's little Tom Dacre, who cried when his head,
That curl'd like a lamb's back, was shav'd: so I said
«Hush, Tom! never mind it, for when your head's bare
You know that the soot cannot spoil your white hair.»

And so he was quiet, & that very night
As Tom was a-sleeping, he had such a sight!
That thousands of sweepers, Dick, Joe, Ned, & Jack,
Were all of them lock'd up in coffins of black.

And by came an Augel who had a bright key,
And he open'd the coffins & set them all free;
Then down a green plain leaping, laughing, they run,
And wash in a river, and shine in the Sun.


Als mein Mutter starb, war ich noch ganz jung,
und mein Vater verkauft' mich, als noch kaum meine Zung
von dem sweep! 'weep! 'weep!, von dem weep! was wußt,
und so kehr ich euern Rauchfang und so schlaf ich in dem Ruß.

Da ist Little Tom Dacre, der heulte als sein Haar,
das gelocket wie ein Lammfell, ward geschoren ganz & gar;
Also sprach ich «Husch, Tom! Macht doch nichts, wenn ganz bar
ist dein Haupt - denn der Ruß? nicht verdirbet dein weiß Haar.»

Und da weinte er nicht mehr. Und in just derselben Nacht,
da im Schlaf Little Tom, ihm ein Traumgesichte lacht:
Daß Tausende von Kehrern, Dick und Joe und Jack und Bert
wären allesamt in Särge ganz in Schwarz eingesperrt;

Und ein Engel mit ei'm funkelschönen Schlüssel käm herbei
und der öffnete die Särge und der ließ sie alle frei:
da sprängen sie ins Grün hinunt, und lachten voller Wonn'
und sie badeten im Strome & sie glänzten in der Sonn.


Im Zeitalter der industriellen Revolution mußten in England Knaben für einen kärglichen Lohn die engen Kaminschlote hinunterkriechen, um sie von Ruß zu säubern. Diese unwürdige Praxis, die mit der geistigen Unterdrückung der Kinder Hand in Hand ging, wird von Blake angeklagt; dennoch ist es ihm gelungen, den Gegenton der »Unschuld« im Gedicht zu erhalten.

weep, weep: wörtlich: weint, weint; gleichzeitig aber die Verkürzung des Ausrufs »sweep, sweep«, deutsch etwa: Der Feger kommt!





Holy Thursday

Is this a holy thing to see
In a rich and fruitful land,
Babes reduc'd to misery,
Fed with cold and usurous hand?

Is that tremblillg cry a song?
Can it be a song of joy?
And so many children poor?
It is a land of poverty!

And their sun does never shine,
And their fields are bleak & bare,
And their ways are fill'd with thorns:
It is eternal winter there.

For where-e'er the sun does shine,
And where-e'er the rain does fall,
Babe can never hunger there,
Nor poverty the mind appall.

Ist dies denn heilig anzuschn
In einem reichen, fruchtbarn Land,
Wie Kinder klein ins Elend gehn
Genährt aus kalter Wucherhand?

Ist jener Zitterschrei ein Lied?
Kann das ein Lied der Freude sein?
Und so viele Kinder arm?
Es muß ein Land der Armut sein!

Und ihre Sonn hat nimmer Schein,
Ihr Feld ist immer kahl und bar;
Ihr Weg ist stets mit Dornen voll:
Es ist dort Winter immerdar.

Doch wo auf ewig Sonnenschein,
Wo Regen fließt, die Flur zu decken,
Kann nimmer hungern Kindlein klein,
Kann Armut nie den Geist erschrecken.


Entgegen dem heutigen englischen Sprachgebrauch, in dem der »Holy Thursday« zumeist dem Gründonnerstag gleichgesetzt ist, bezeichnete der Heilige Donnerstag zu Blakes Zeiten den ersten Donnerstag im Mai (nach anderen Kommentatoren den Tag von Christi Himmelfahrt), an dem Kinder aus Waisen- und Armenhäusern in einer jährlich stattfindenden Prozession zum Gottesdienst in die St.Pauls-Kathedrale geführt wurden.





London

I wander thro' each charter'd street,
Near where the charter'd Thames does flow,
And mark in every face I meet
Marks of weakness, marks of woe.

In every cry of every Man,
In every Infant's cry of fear,
In every voice, in every ban,
The mind-forg'd manacles I hear.

How the Chimney-sweeper's cry
Every black'ning Church appalls;
And the hapless Soldier's sigh
Runs in blood downn Palace walls.

But most thro' midnight streets I hear
How the youthful Harlot's curse
Blasts the new born Infant's tear,
And blights with plagues the Marriage hearse.

Dicht wo die gültge Themse kocht
Durch jede gültge Straß ich geh
Und spür in jedem Antlitz doch
Die Spur von Schwachheit, Spur von Weh.

In jedem Schrei von Jedermann,
In jedem Kinderschrei der Pein,
In jeder Stimme, jedem Bann
Hör ich die Fesseln geistgeschmied't.

Und wie des Rauchfangkehrers Leid
Jed rußig Kirche bangen macht
Und wie der Unglückssöldner ach!,
Im Blut von Pallastwändcn nässen.

Doch meist hör ich durch Mittnachtstraßen
Wie jugendlicher Dirne Fluch
Des Neugebornen Thräne sehrt,
Mit Plagen schlägt der Ehe Leichentuch.


Auch dieses Gedicht zählt mit Recht zu Blakes berühmtesten. Die soziale Anklage gegen Ausbeutung und Krieg ist zugleich eine Anklage gegen eine heuchlerische Moral: die gesellschaftliche Depravation der Liebe, wie sie sich in der Prostitution ausdrückt, macht in Blakes Vision zugleich jedes menschliche Glück unmöglich.

charter'd: bezieht sich auf durch Urkunden verbriefte Rechte und Privilegien. Blake betont hier den unterdrückenden Charakter der charters, die umfassende Kommerzialisierung. Charter'd Thames verweist auf die Einscbränkung der natürlichen Freiheit durch den Kommerz.


VERSE UND FRAGMENTE

Etwa ab 1787 benutzte Blake für Skizzen zu den Zeichnungen der Lieder der Unschuld und Erfahrung ein Notizbuch, in das er von etwa 1793 bis 1799 und nach einer Unterbrechung wieder von 1800 bis 1803 auch Gedichte und Gedichtentwürfe einzutragen begann, die er teilweise in die Lieder der Erfahrung übernahm. Der englische Dichter Dante Gabriel Rossetti erwarb dieses Notizbuch im Jahre 1847.

Das Pickering-Manuskript, das von Basil Montague Pickering 1866 erworben wurde, besteht dagegen aus elf losen Blättern, die die saubere Abschrift von Gedichten enthalten, die um 1803 oder später entstanden.




Long John Brown and Little Mary Bell

Little Mary Bell had a fairy in a nut,
Long John Brown had the devil in his gut;
Long John Brown loved little Mary Bell,
And the fairy drew the devil into the nutshell.

Her fairy skipped out and her fairy skipped in;
He laughed at the devil, saying
The devil he raged, and the devil he was wroth,
And the devil entered into the young man's broth.

He was soon in the gut of the loving young swain,
For John ate and drank to drive away love's pain;
But all he could do he grew thinner and thinner,
Though he ate and drank as much as ten men for his dinner.

Some said he had a wolf in his stomach day and night,
Some said he had the devil, and they guessed right;
The fairy skipped about in his glory, joy and pride,
And he laughed at the devil till poor John Brown died.

Then the fairy skipped out of the old nutshell,
And woe and alack for pretty Mary Bell!
For the devil crept in when the fairy skipped out,
And there goes Miss Bell with her fusty old nut.

Little Mary Bell hatt nen Kobold in der Nuß,
Long John Brown hatt den Teufel im Gekrös;
Long John Brown liebte Mary Bell klein,
Und der Kobold jagt' den Teufel in die Nuß-Schal hinein.

Ihr Kobold hüpfte raus, hüpfte rein, hüpfte rund;
Er höhnete den Teufel und sprach .
Den Teufel packte Rage, und er ward wutgemein,
Und der Teufel sprang dem Jungen in die Suppe hinein.

Er war bald im Gedärm des verliebten jungen Geck,
Denn John aß; und John trank; doch das Liebweh ging nicht weg;
Und es half alles nichts: er ward dünner und dünner,
Ob er gleich aß und trank, wie zehn Männer bei dem Dinner.

Manche sagten, 's sei der Wolf ihm im Magen Tag und Nacht,
Manche sagten, 's sei der Teufel -: und diese hatten recht;
Der Kobold wippte eitel, voller Stolz, voller Freud',
Und er höhnete den Teufel, bis zu Ende John Browns Leid.

Doch da schlüpfte der Kobold aus der Alt-Nuß-Schal',
Und nun Weh! Und nun Ach! für die hübsche Mary Bell,
Denn der Teufel kroch hinein, als der Kobold schlüpfte 'naus,
Und hier stakst nun Fräulein Bell mit ihrer ranzig tauben Nuß.


In William Blakes (aus rhythmischen Gründen fast unübersetzbarem) Long John Brown and Little Mary Bell z.B. verlangt nicht nur der galante Hornpipe-Rhythmus, in dem die Sexualität des Gedichts sich aufschaukelt, den Versakzent unangetastet zu lassen und einzig den Buchstaben A im Wort «and» in ein U zu verwandeln. Denn nicht nur die Namen, einschließlich des hier nicht so sehr adjektivischen als heraldisch nominalen «Long», auch der besondere Klangreiz des Little ist unübersetzbar: nur so klingelt das Glöckchen, das Mary Bell in ihrer Nutshell hat.

Quelle: Wolfgang Schlüter: Nachwort zu My Second Self When I Am Gone. Englische Gedichte, übersetzt von Wolfgang Schlüter, Urs Engeler Editor, Weil am Rhein, 2003.





Milton. Preface

And did those feet in ancient time
Walk upon England's mountains green?
And was the holy Lamb of God
On England's pleasant pastures seen?

And did the Countenance Divine
Shine forth upon our clouded hills?
And was Jerusalcm builded here
Among these dark Satanic Mills?

Bring me my Bow of burning gold;
Bring me my Arrows of desire:
Bring me my Spear: O clouds unfold!
Bring me my Chariot of fire.

I will not cease from Mental Fight,
Nor shall my Sword sleep in my hand
Till we have built Jerusalem
In England's green & pleasant Land.

Sah man solch Füß in alter Zeit
Auf Englands grünen Bergen gehn?
Und ward das heilge Gotteslamm
Auf Englands schöner weid gesehn?

Konnt göttlichen Gesichtes Schein
Auf unsre Wolkenhügel zielen?
Ward hier Jerusalem gebaut
Bei diesen dunklen Satansmühlen?

Bringt meinen Bogen mir aus Brennegold!
Bringt meine Pfeile von Verlangen!
Den Speer!: Ihr Wolken, seid entwolkt!
Bringt mir aus Feuer meinen Wagen!

Ich will vom Geistes Kampf nicht lassen,
Nicht ruhn solls Schwert in meiner Hand
Bis wir Jerusalem gebaut
In Englands grünem, schönem Land.


Blake legt eine Legende zugrunde, die in der englischen Geschichte eine erhebliche Rolle gespielt hat: Joseph von Arimathäa, Jesu Onkel (so die Legende) sei als Reisender öfters in Cornwall gewesen, um Zinnvorräte für die Bronzeherstellung einzukaufen. Bei einer dieser Reisen habe er den jungen Jesusknaben mitgenommen, der also bei dieser Gelegenheit in England gewesen sei. Blake verbindet diese mittelalterliche Legende mit einer nationalpatriotischen Sicht Englands, die in der Überwindung des industriellen Zeitalters ("those dark Satanic Mills") ein neues Jerusalem auf dem Boden Großbritanniens entstehen sieht.

Im 1. Weltkrieg wurde das Gedicht als Ausdruck patriotischer Gefühle wiederentdeckt. C. Hubert H. Parry vertonte es 1916, und 1922 schuf Sir Edward Elgar für das Leeds Festival eine Orchesterfassung. Seitdem liegt das kleine Gedicht Großbritanniens berühmtestem patriotischem Musikstück zugrunde. König Georg V. sagte, er würde dieses Lied als Nationalhymne dem meistgespielten "God save the King" vorziehen. Im letzten Kriegsjahr 1945 benutzte es die Labour Party als Motto ihrer Wahlkampagne (Wiederaufbau Englands als "neues Jerusalem"). Das englische Cricket-Team verwendet es als Hymne vor jedem Spiel, und jedes Jahr wird es bei der "Last Night of the Proms" in der Royal Albert Hall und draußen im Park von Tausenden von Menschen gesungen. Bei englischen kirchlichen Hochzeiten ist es das meistgespielte Lied (z. B. zu hören in dem Film "Four Weddings and a Funeral"). Emerson, Lake & Palmer haben es als Eröffnungsstück für ihr Album "Brain Salad Surgery" verwendet, und auch sonst ist die Zahl der musikalischen Umsetzungen Legion.

Selbst die Amerikaner lieben das Lied, auch wenn sie es umdichten, um den Englandbezug zu streichen. So ist es in einem Arrangement von Michael McCarthy bei Ronald Reagans Beerdigung 2004 in Washington mit einem veränderten Text gespielt worden. In Schottland hat die Church of Scotland angeregt, "England" im Text in "Albion" zu ändern, um Blakes Hymne auch in Schottland ohne Irritationen singen zu können. Der konservative Parlamentarier Daniel Kawczynski hat kürzlich vorgeschlagen, "Jerusalem" zur offiziellen Nationalhymne Englands zu machen ("God save the Queen" ist die Hymne Großbritanniens und des Commonwealth, aber nicht speziell Englands).

Quelle: Marco Frenschkowski: Mysterien des Urchristentums. Marix, Wiesbaden, 2007, Seiten 236 ff.


Quellen:

Orginale und Übersetzungen der Gedichte aus: Wolfgang Schlüter: My Second Self When I Am Gone. Urs Engeler Editor, Weil am Rhein, 2003, ISBN 3-905591-52-9. [Rezension des Buchs im Perlentaucher]

Die Kommentare zu den Gedichten stammen, wenn nicht anders angegeben, von Thomas Eichhorn aus der oben genannten Blake-Ausgabe.

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