28. Oktober 2013

Luciano Berio (1925-2003): Sequenze I - XIV

Luciano Berio hat zwar ein umfangreiches, vielgestaltiges Œuvre hinterlassen, zu dem unter anderem fünf große Bühnenwerke, verschiedene kürzere dramatische Stücke, eine Reihe bemerkenswerter Chor- und Orchesterwerke (nicht zuletzt die berühmte Sinfonia von 1968) sowie ein ansehnlicher Katalog instrumentaler und vokaler Stücke gehören; dennoch ist seine Musik in der Serie der Sequenze zusammengefasst, die sich über einen kreativen Zeitraum von 34 Jahren erstreckt. Nicht allein, dass viele dieser Stücke hinsichtlich der Leistungsfähigkeit und des Stehvermögens neue Maßstäbe setzten; jedes einzelne von ihnen definierte vielmehr auch die technischen Grenzen des jeweiligen Instruments neu und etablierte so ein Profil des Ausdrucks, in dem die bisherige Evolution genutzt und gleichzeitig die zukünftige Entwicklung erleichtert wurde. Virtuos und doch kommunikativ, sind die Sequenze ein Prüfstein für den Dialog zwischen Interpret und Zuhörer.

1994 bat Berio den Autor Edoardo Sanguineti um Epigraphe zu den bis dahin zwölf Sequenze. Diese Verse können vor der Aufführung vom Musiker rezitiert oder vom Hörer gelesen werden, sind aber weder als Erklärung noch Illustration des Inhalts gedacht. Vielmehr wollen sie den Geist des Hörers auf die Mnsik lenken, die gleich erklingen wird.

Sequenza I entstand 1958 für den Flötisten Severino Gazzelloni. Damit beginnt auf radikale Weise die Suche nach einem polyphonen (vielstimmigen) Diskurs für ein Instrument, das seit der Zeit des Barock ein monodisches (einstimmiges) gewesen war. So entwickelt sich die Harmonik aus der melodischen Linie; dabei wird ein großes technisches Spektrum entfaltet, um eine möglichst vielgestaltige Schreibweise zu ermöglichen, ohne dass die graziöse und kapriziöse Natur des Instruments unterlaufen würde.

Sequenza II, geschrieben 1963 für den Harfenisten Francis Pierre, stellt mehr einen Übergang dar - insofern sie sich bemüht, von der dekorativen Manier wegzukommen, die man von den musikalischen Impressionisten des 19. Jahrhunderts kennt. Das Instrument wird zu einem Orchester an sich, das vom reinen Klanghauch bis zu dicht übereinander gelagerten Schichten reicht, die eine bis dahin im Repertoire weitgehend unerforschte räumliche Tiefe suggerieren.

Sequenza III, entstanden 1965 für die Vokalistin Cathy Berberian, ist eines von mehreren Werken, in denen Berio nach einer neuen Beziehung zwischen Text und "Vertonung" suchte, indem er die Semantik zerstörte, um sie musikalisch neu zu erschaffen. Markus Kutters Text ist eine Folge von Gesten, die sich zu einern abstrakten Musiktheater verbinden; jemand umreißt ein imaginäres Szenarium, in dem es um das Verhältnis der Interpretin zu ihrer Stimme geht.

Gib mir              ein paar Worte   die eine Frau 
singen kann          eine Wahrheit    die uns erlaubt 
ein Haus zu bauen    ohne Sorgen      bevor die Nacht kommt

Luciano Berio
Sequenza IV entstand 1966 für die Pianistin Jocy de Corvalho und entwickelt sich in einer kontrastierenden Folge unterschiedlicher Timbres und Texturen: Es ist ein Dialog zwischen akkordischen (harmonischen) und linearen (melodischen) Fassungen ein- und desselben Gedankens, eine simultane Entwicklung auch von Materialien, die auf den Tasten und als Resonanz des Haltepedals zu hören sind. Das Ergebnis ist eine Musik, die die Möglichkeiten des Klaviers zu einer eindrucksvollen Wirkung zusammenfasst.

Sequenza V, 1965 für den Posaunisten Stuart Dempster geschrieben, verbindet Instrument und Spieler in einer Symbiose, bei der jenes "vokalisiert" und dieser "instrumentalisiert" wird. Das Stück wurde durch Berios Erinnerungen an den Clown Grock angeregt, dessen kunstvolle Routinen oft darin gipfelten, dass er sein Publikum ganz direkt fragte: "Warum?" Hier gibt das Wort dem gesamten Stück seinen expressiven Zusammenhalt.

Sequenza VI entstand 1967 für den Bratscher Serge Collot. Das Stück verlangt die technischen Fertigkeiten eines Paganini, um eine im wesentlichen gleichbleibende harmonische Sequenz zu entwickeln und zu transformieren. Aus der zunehmend kunstvolleren Schreibweise entsteht der einzig denkbare Höhepunkt: eine nüchterne Melodielinie, die anscheinend in keinem Bezug zum Inhalt des Werkes steht und sowohl die musikalische Essenz destilliert als auch eine radikal andere Vorgehensweise vermuten lässt.

Sequenza VII[a] von 1969 entstand für den Oboisten Heinz Holliger. Anch in diesem Stück ist der Kontrast der Schlüssel zur Evolution. Daher werden gewisse Töne, Intervalle und Register betont, indessen alle andern praktisch ausgeschlossen siud. Der Satz enthält einen tonalen Kontext durch den Ton H, der von "irgendeinem anderen Instrument" gespielt wird. Zu bemerken ist hier ferner, dass auf diskrete Weise der historische "Hintergrund" des Instruments beschworen wird.

Sequenza VIIb wurde 1995 für Claude Delangle arrangiert. Diese Fassung verleiht der ursprünglichen Musik durch das Sopransaxophon eine zusätzliche Würze und Prägnanz. Wiederum ist das Hinterbühnen-H präsent.

Sequenza VIII entstand 1976 für den Geiger Carlo Chiarappa. Einerseits ist sie eine Hommage an das technische Potential des Instruments, wobei der Inhalt im wesentlichen aus den Tönen A und H entsteht. Gleichermaßen zollt sie, indem die Form einer Chaconne ähnelt (Variationen über einer im Bass wiederholten melodischen oder rhythmischen Idee), Johann Sebastian Bach ihren Tribut - jenem Komponisten, der mit seinen Sonaten und Partiten das Fundament für alle nachfolgende Violinmusik legte.

Sequenza IXa entstand 1980 für den Klarinettisten Michel Arrignon. Hier wird eine melodische Linie einem großen Spektrum musikalischer Transformationen unterworfen. Formal beherrschen zwei verschiedene Tonhöhenfolgen das Stück: eine siebentönige, die weitgehend auf ein und dasselbe Register fixiert ist, sowie eine fünftönige, die sich recht frei zwischen den Registern hin- und herbewegt. Das lineare Fortschreiten wird dergestalt durch die Einbeziehung des musikalischen Raumes bereichert.

CD 1, Track 1: Luciano Berio: Sequenza I for flute (Nora Shulman, 1999)


Sequenza IXb wurde 1981 für Claude Delangle arrangiert. Wenn die kühlen melodischen Konturen, auf denen das Stück basiert, mit der Stimme des Altsaxophons erklingen, werden sie noch einschmeichelnder und sogar jazzig.

Sequenza X, 1984 für den Trompeter Thomas Stevens geschrieben, ist insofern ungewöhnlich, als hier die Erweiterung der anerkannten technischen Grenzen des Instruments vermieden wird. Die Beschreibung "für Trompet in C und Klavier-Resonanz" ist bezeichnend: Das Klavier hält während des Stückes bei gehaltenem Pedal verschiedene Tasten niedergedrückt, und auf diese Weise wird der starre Trompetenton durch Myriaden harmonischer Obertöne "gepolstert", so dass sich sein expressives Spektrum entfaltet.

Sequenza XI entstand 1988 für den Gitarristen Eliot Fisk und ist von einer doppelten Kontrastschicht durchzogen. Harmonisch stehen sich die eigene Stimmung der Gitarre und eine solche des Komponisten gegenüber; technisch kontrastieren Aufführungsgesten der Flamenco-Tradition mit solchen der klassischen Praxis. Der Dialog zwischen unterschiedlichen harmonischen und historischen Levels lässt sich durch einen komplexen und doch kraftvoll abgegrenzten Diskurs hindurch entdecken.

Sequenza XII entstand 1995 für den Fagottisten Pascal Gallois und benutzt den weiten Tonumfang als Repräsentanten sehr verschiedener Persönlichkeitsfacetten von gleichem Wert. Als "Meditation" über dieses technische und expressive Spektrum bewegt sich das Stück vermöge unterschiedlicher Tempi und Artikulationsarten zwischen verschiedenen Registern: Es ist ein Portrait des Fagotts, das den seelenvollen und den humorigen Möglichkeiten des Instruments gleichermaßen gerecht wird.

Sequenza XIII, 1995 für den Akkordeonisten Teodoro Anzellotti geschrieben, wird im Untertitel als "Chanson" bezeichnet, womit auf die ungezwungene, spontane Art der Musik hingewiesen werden soll, die die folkloristischen und volkstümlichen Wurzeln des Akkordeons zwar nutzt, ihnen aber nicht verpflichtet ist und diese mit des Komponisten Ansichten über das Instrument verbindet, das sich noch immer im Frühstadium seiner Entwicklung befindet. Trotz seiner großen texturalen Dichte bewahrt das Stück durchweg einen lyrischen Charakter.

Sequenza XIV entstand 2002 für den Cellisten Rohan de Saram und setzt der Serie ein ereignisreiches Ende. Fasziniert von der ceylonischen Kandyan-Trommel, erzeugt Berio Schlagzeugeffekte auf dem Corpus des Instruments, die sich auf natürliche Weise mit Pizzikato-Akkorden verbinden; diese Kombination wechselt ihrerseits mit melodischen Arco-Abschnitten ab. Es ergibt sich eine charaktervolle Meisterschaft, die das Stück bis zu seinem maßvollen und doch zweifelnden Abschluss trägt.

Quelle: Richard Whitehouse, im Booklet [Deutsche Fassung: Cris Posslac]

CD 2, Track 1: Luciano Berio: Sequenza VIII for violin (Jasper Wood, 2000)


TRACKLIST

Luciano BERIO (1925-2003)     

Sequenzas I-XIV

CD 1 63:02   

[1] Sequenza I for flute (1958)                            5:16
    Nora Shulman        
    Recorded on 21st November, 1999   

[2] Sequenza II for harp (1963)                            9:28
    Erica Goodman
    Recorded on 7th October, 2000         
    
[3] Sequenza III for female voice (1966)                   7:37
    Tony Arnold
    Recorded on 26th January, 2002
    
[4] Sequenza IV for piano (1966)                          10:56
    Boris Berman
    Recorded on 17th June, 1998
    
[5] Sequenza V for trombone (1965)                         5:34 
    Alain Trudel
    Recorded on 4th May, 2000

[6] Sequenza VI for viola (1967)                          14:53 
    Steven Dann
    Recorded on 17th and 18th June, 2002
    
[7] Sequenza VIIa for oboe (1969)                          9:17
    Matej Sarc
    Recorded on 11th and 12th January, 2002
    
CD 2 60:09

[1] Sequeuza VIII for violin (1976)                       12:32 
    Jasper Wood 
    Recorded on 16th and 17th December, 2000 

[2] Sequenza IXa for clarinet (1980)                      14:01   
    Joaquin Valdepenas     
    Recorded on 25th and 26th October, 2003
    
[3] Sequenza X for trumpet in C and pianoresonance (1984) 17:08   
    Guy Few     
    Recorded on 1st and 2nd October, 2000
    
[4] Sequenza XI for guitar (1987-88)                      16:28   
    Pablo Sáinz Villegas     
    Recorded on 10th and 11th May, 2003     
       
CD 3 58:48   
    
[1] Sequenza XII for bassoon (1995)                       16:18   
    Ken Munday     
    Recorded on 10th and 11th January, 2004
    
[2] Sequenza XIII for accordion (chanson) (1995)           8:16   
    Joseph Petric     
    Recorded on 18th December, 2000     
             
[3] Sequenza XIV for cello (2002)                         13:09   
    Darrett Adkins     
    Recorded on 29th and 30th May, 2004     
             
[4] Sequenza VIIb for soprano saxophone (1995)             7:15   
    Wallace Halladav     
    Recorded on 12th and 13th February, 2004    

[5] Sequenza IXb for alto saxophone (1981)                13:50
    Wallace Halladay 
    Recorded on 5th and 6th September, 2003 

                                          Playing Time: 3:01:59

All tracks recorded at St John Chrysostom Church, Newmarket, Ontario, Canada. 
Production and Editing: Bonnie Silver and Norbert Kraft - Engineer: Norbert Kraft  
Cover image: Bodega by Juan Hitters  
(P) + (C) 2006 

CD 3, Track 3: Luciano Berio: Sequenza XIV for cello (Darrett Adkins, 2004)




Auf der Suche nach der reinen Malerei


Voraussetzungen für die Entwicklung des Abstrakten Expressionismus in den Vereinigten Staaten

"The Irascibles", 1950; Reihe vorne v. l. n. r.: Theodoros Stamos, Jimmy Ernst,
Barnett Newman, James Brooks, Mark Rothko; mittlere Reihe: Richard
Pousette-Dart, William Baziotes, Jackson Pollock, Clyfford Still, Robert Motherwell,
 Bradley Walker Tomlin; Reihe hinten: Willem de Kooning, Adolph Gottlieb,
Ad Reinhardt und Hedda Sterne (Nina Leen, Magazin Life, 15. Jänner 1951)
Die Geschichte des amerikanischen abstrakten Expressionismus beginnt mit einem Freitag. Es war der 24. Oktober 1929. Der Kurssturz an der New Yorker Börse, der den Beginn der Weltwirtschaftskrise markierte, ging als "Schwarzer Freitag" in die Geschichte ein. Einige Jahre später sollte New York erneut zu einem Epizentrum werden, diesmal jedoch handelte es sich um ein künstlerisches Erdbeben. Ausgelöst wurde es durch eine Gruppe von Künstlern, die 1951 als die Zornigen, die Reizbaren gemeinsam in Erscheinung traten. Das Etikett "abstrakte Expressionisten" erhielten sie von dem legendären Kurator des Museum of Modern Art, Alfred H. Barr. Es kennzeichnet eine gemeinsame Geisteshaltung, kann jedoch keineswegs auf die Kunst dieser derart heterogenen Individualisten übertragen werden. Zu ihnen gehörten so unterschiedliche Künstler wie Adolph Gottlieb, Willem de Kooning, Theodoros Stamos, Ad Reinhardt, Hedda Sterne, Arshile Gorky, Barnett Newman, Jimmy Ernst, William Baziotes, Clyfford Still, James Brooks, Jackson Pollock, Lee Krasner, Richard Pousette-Dart, Robert Motherwell, Mark Rothko, Mark Tobey, Franz Kline, Aaron Siskind, Bradley Walker Tomlin, Sam Francis und der Bildhauer David Smith.

Ihre Kunst ist zwar abstrakt, aber nur in seltenen Fällen expressionistisch; sinnvoller erscheint eine Unterteilung in Farbfeldmalerei und gestische Malerei. In diesem Beitrag soll der Voraussetzungen dieses Bebens nachgespürt werden, dessen Auswirkungen in der Kunst noch heutzutage spürbar sind. Angestrebt sei jedoch nicht eine vollständige Summierung aller amerikanischen Künstler, welche sich zum abstrakten Expressionismus zählen lassen, sondern eher die Ausarbeitung der wirtschaftlichen und lebensphilosophischen Grundlagen, der Einfluß des Surrealismus, hierbei speziell die Fragestellung nach Automatismus und Mythos, und schließlich die Orientierung an der fernöstlichen Lebensphilosophie des Zen-Buddhismus, die in der Kalligraphie zum Ausdruck kommt.

Die amerikanische Kunst der Depressionszeit in den dreißiger Jahren wird häufig mit Realismus, selten jedoch mit Moderne und Abstraktion gleichgesetzt, dennoch fanden in jenen Jahren die Weichenstellungen statt, die zum abstrakten Expressionismus führen sollten. Der durch die wirtschaftliche Depression entstandenen Isolation und Schaffenskrise der amerikanischen Künstler wurde durch föderale Arbeitsbeschäftigungsprogramme entgegengewirkt wie dem "Public Works of Arts Project" (PWAP, 1933-34), dem die "Section of Painting and Sculpture" des amerikanischen Finanzministeriums (1934-1943) nachfolgte oder das "Federal Arts Project" der "Works Progress Administration" (WPA/FAP, 1935-1943). Diese "staatliche Auftragskunst" in Form von Förderprogrammen bevorzugte zumeist regionalistische, großstädtische und ländliche Themen, die einer Ästhetik des sozialen Idealismus entsprangen. Verstärkt wurde dies noch durch das Auftreten der mexikanischen "Muralisten" Diego Rivera und Jose Clemente Orozco, die die großformatige Wandmalerei als populäre Ausdrucksform wiederbelebten.

Max Ernst, La grande forêt, 1927, Öl auf Leinwand, 114,5 x 146,5 cm,
Kunstmuseum Basel.
Die Öffentlichkeit, in dieser Zeit der wirtschaftlichen Depression hauptsächlich mit dem Kampf um das tägliche Brot beschäftigt, fand kaum Interesse an den künstlerischen Produktionen. Diese Nicht-Beachtung künstlerischer Aktivität und fehlende öffentliche Anerkennung zogen Frustrationen nach sich und hatte verheerende Folgen. Sie führten zahlreiche Künstler weg von der Gesellschaft hin zur gleichgesinnten Gemeinschaft der inneren Emigration, zu einer Art schöpferischen Egoismus, der sich mit Fortschreiten des zweiten Weltkrieges in einem apokalyptischen Laisser-faire äussern sollte. Treffend hierzu die Erinnerung von Barnett Newman, der 1966 sagte: "Ich selber hatte in jener Zeit um 1941 herum das Gefühl, die Welt nähere sich ihrem Ende. Und wenn die Welt zu Ende ging, spielte die Malerei keinerlei Rolle mehr." Diese Flucht nach Innen - quasi vom öffentlichen Wandbild hin zum verinnerlichten Atelierbild - brachte die Beschäftigung mit den eigenen seelischen Vorgängen, und schien die einzige Möglichkeit, bleibende Werte zu schaffen.

Diese Entfremdung wird schließlich durch das Verlangen ergänzt, "die so kompliziert gewordene Wirklichkeit im Kunstwerk zu vereinfachen, auf Wesentliches zu konzentrieren." Auf "Wesentliches zu konzentrieren" ist eine der Voraussetzungen zum unmittelbaren Erfolgsdenken, dem Kennzeichen des amerikanischen Pragmatismus. Gemäß seinen Hauptvertretern Charles Peirce, William James und John Dewey lehrt der Pragmatismus, daß als Voraussetzung zur Erkenntnis das Handeln des Menschen und dessen praktische Konsequenzen dienen; Handeln und Denken müssen außerdem einen praktischen Nutzen haben. Als Grundlage dient die Vorstellung von einer Welt, die vom "Zufall dominiert" ist, "von der ungesicherten Entscheidung, von der Überraschung, vom ganz Neuen". Laut William James wird die Welt als "ein Wesen im Wachstum" gesehen. Das Handeln ist demnach "die einzige Form der Erkenntnis und des Fortschrittes." Da der Mensch ausserdem allein verantwortlich für sein Schicksal ist, und dieses für sich immer wieder neu gestalten muß, gibt die Maxime "Sein ist Tun" eine gute Rechtfertigung für die Bevorzugung des Prozesses vor dem Produkt, aber auch des Handelns vor dem Denken. Der Pragmatist John Dewey vertritt die Ansicht, daß die Gedanken nur ein "Instrument des Handeins" sind. Er bezeichnet das Individuum selbst "als energetischen Prozeß", das "im Zusammenwirken mit anderen Energien seine Eigenart verbessern" soll.

Die erste Auflage von Deweys Publikation "Art as Experience" kam 1934 auf den Markt. Sie setzt sich mit dem Kunstschaffen auseinander. Dieses wird als energetischer Prozeß von "doing" und "undergoing" gesehen, d. h. als ein Ringen zwischen der Energie des Ich und der Energie des Materials, als ein ständiger Austausch, der die Unterscheidung von Subjekt und Objekt hinfällig mache: "Die Hand bewegt die Radiernadel oder den Pinsel, das Auge zieht aus dem, was getan ist, die Konsequenzen ... Die Verbindung zwischen beiden ist so eng, daß aus Tun und Sehen ein simultaner Vorgang der Kontrolle wird. ... Im künstlerischen Erlebnis sind Hand und Auge nur die Instrumente, durch welche die gesamte lebendige Kreatur in voller Aktivität und Bewegung operiert." Hand und Auge werden als Instrument bezeichnet, folglich dient das Material als Medium, in welchem sich der Künstler ausdrücken muß; das Material wird nur dadurch zu einem Element der Kunst, daß es sich mit einem lebendigen Individuum verkörpert. Demnach ist die Gestaltung selbst und nicht das endgültige Resultat Inhalt der Kunst oder wie es der Kunsttheoretiker Konrad Fiedler formuliert: "Das Werk findet statt, wenn ein menschliches Wesen mit dem Produkt kooperiert". Einigen jungen amerikanischen Künstlern galt John Deweys Publikation "Art as Experience" als Aufruf zum Handeln.

Willem de Kooning, Ohne Titel, 1967, 65,3 x 55,5 cm,
Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien.
Während die dreißiger Jahre eher den Eindruck eines Wetteiferns verschiedener Stile hinterlassen, nimmt die amerikanische Kunst in den vierziger Jahren die Tradition der europäischen Moderne in sich auf und schafft hierauf heftig reagierend etwas Neues. Maßgeblichen Anteil am Ende der Isolation und an der langsam weiterführenden Internationalisierung der amerikanischen, besonders der New Yorker Kunstszene hat die Ankunft der aus Europa emigrierten Künstler. Durch die Emigration von Künstlern wie Hans Hofmann, Josef Albers (1933), Lyonel Feininger, Lászlò Moholy-Nagy (1937), Mies van der Rohe (1938), Amedée Ozenfant (1939), Piet Mondrian, Salvador Dali, Yves Tanguy, Robert Matta, André Breton (1940), Max Ernst und André Masson (1941) wurde New York langsam zur künstlerischen Hauptstadt Europas. Sowohl die Elite der abstrakt-geometrischen Künstler, als auch die surrealistische Crème de la Crème war zu dieser Zeit in New York vertreten. Gleichgesinnte suchten und fanden sich. So kam es 1936 zur Gründung der Gruppe der "American Abstract Artists"; zu der u.a. Albers, Ozenfant, Mondrian und Hofmann gehörten. Ad Reinhardt trat der Gruppe bereits 1937 bei. Den Gegenpol zur geometrischen konstruktivistischen Abstraktion bildete die Gruppe der "American Surrealist Painters" .

Von der früheren Konfrontation mit surrealistischer Kunst (Höhepunkt verstärkter Ausstellungstätigkeit in New Yorker Galerien dürfte hierbei die Ausstellung "Fantastic Art, Dada, Surrealism", die 1936 im Museum of Modern Art stattfand, gewesen sein) zeigte sich die amerikanische Kunstszene wenig beeindruckt. Der literarische Surrealismus Bretons, aber auch die "handgemalten Traumphotographien" Dalis wurden als eine Rückkehr zum Akademismus empfunden. Erst nach der Einwanderung ab 1939 und der bald darauf verstärkt einsetzenden Öffentlichkeitsarbeit der Europäer entstand eine Nachfrage und somit auch die Grundlage zu einer kritischen Auseinandersetzung. Stellvertretend für die zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträge der Surrealisten, die dem amerikanischen Kunstpublikum die Entstehungsgeschichte und die Brisanz des Surrealismus zu erläutern suchten, soll an dieser Stelle die neue Zeitschrift "VVV" genannt werden, die im Juni 1942 unter der Mitarbeit von André Breton und Max Ernst erschien.

In diesem ersten Heft fand sich - u. a. mit Zeichnungen Robert Mattas illustriert - Bretons Entwurf zu einem dritten surrealistischen Manifest. Thema dieses Manifestes sind der "reine Psychische Automatismus" und die Suche nach neuen Mythen, nach persönlichen Mythologien aus dem Unbewußten. Der Klärung des Begriffs Mythos geht eine Erläuterung des "Automatismus" voraus. Was verbarg sich nun hinter diesem "reinen psychischen Automatismus"? Der Surrealismus als eine gewollt antirationalistische Geistesrichtung, die stark durch die Psychoanalyse Sigmund Freuds geprägt war, forderte ein vom Intellekt nicht kontrolliertes geistiges Schaffen, um die hinter der scheinbaren Wirklichkeit stehende Realität erfassen und darstellen zu können. Um nun an die reale Wirklichkeit heranzukommen, sollte der Künstler die Leitung seines geistig-künstlerischen Schaffens dem Unbewußten oder dem Unterbewußten überlassen. Dieses sollte im - von André Breton und Philippe Soupault 1924 definierten - "reinen psychischen Automatismus" zum Vorschein kommen.

Mark Tobey, Entfaltet, 1960,24 x 31 cm,
Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien.
André Masson gibt die Anfertigung einer automatischen Zeichnung wie folgt an: "Das Materielle: etwas Papier, etwas Tinte. Psychisch: man muß Leere in sich schaffen; die automatische Zeichnung, die ihren Ursprung im Unbewußten nimmt, erscheint wie eine unvoraussehbare Geburt. Die allerersten graphischen Niederschläge auf dem Papier sind reine Geste, Rhythmus, Beschwörung; Resultat: reine Flecken (Geschmiere). Das ist die erste Phase. In der zweiten Phase beansprucht das bisher latent vorhandene Bild sein Recht. Ist es herausgelöst, hält man an. Dieses Bild ist lediglich eine Spur, Strandgut. Von ihm hängt es ab, daß ein Stillstand zwischen beiden Phasen vermieden wird. Entsteht eine Pause, so wird das erste Ergebnis völlig abstrakt sein, die Aufdringlichkeit der zweiten Phase akademisch, surrealistischer Provenienz." […]

Die écriture automatique entsprach durch ihre spontane, unreflektierte und im unbegrifflichen Bereich befindliche Entstehung den schon bei John Dewey geforderten Vorstellungen. Dem Automatismusverständnis Bretons, der die unterbewußten Impulse mit gegenständlichen Inhalten füllte, standen zahlreiche der jungen amerikanischen Künstler meist ablehnend gegenüber. Viel eher war es ihr Bestreben, diese Impulse aufzufangen, wenn sich jene noch im abstrakten, d.h. im nichtgegenständlichen Bereich befanden. Als methodisch-technische Grundlage hierzu bot sich einerseits der "symbolische Automatismus" an, der sich sog. halbmechanischer Bildverfahren wie Grattage oder Frottage bediente und andererseits der "kalligraphisch-rhythmische Automatismus" André Massons, der oben bereits beschrieben wurde. Mittels der Technik der Frottage gelang es dem surrealistischen Künstler Max Ernst, vorgefundene Materialien und Gegenstände unmittelbar in den künstlerischen Entstehungsprozeß einfliessen zu lassen.

Am 10. August 1925 entdeckte Max Ernst durch einen Zufall die Technik der Frottage. "Ich beschloß, dem symbolischen Gehalt dieser Heimsuchung nachzugehen und, um meine meditativen und halluzinatorischen Fähigkeiten zu unterstützen, machte ich von den Fußbodendielen eine Serie von Zeichnungen, indem ich auf sie ganz zufällig Papierblätter legte und diese mit einem schwarzen Blei rieb." In einem zweiten Schritt unterwarf Ernst das Vorgefundene der gestaltenden Komposition nach dem Prinzip der Montage und wertete es darüberhinausgehend noch durch die Vergabe lyrisch-poetischer Titel auf. […]

Während die Surrealisten sich zu Sigmund Freud bekannten, orientierten sich die amerikanischen Künstler an Carl Gustav Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie. Im Gegensatz zu Sigmund Freud, der im Mythos eine Sublimation des Sexualtriebes sah, spiegelt der Mythos laut Jung gewisse Grundmuster und Strukturen menschlichen Seelenlebens wider. Ihren Ausdruck finden diese in Archetypen, in Urbildern und Urformen, die nur unter bestimmten Gegebenheiten in Bildern, Abläufen und Symbolen wahrnehmbar werden. Sie treten in Mythen, Sagen, Märchen, in Kunstwerken primitiver Völker, in Träumen, Visionen und Phantasien des Menschen auf und thematisieren u.a. Licht und Finsternis, Gut und Böse, Weltursprung und kosmische Bilder (z.B.: Mandala).

Die Symbolsprache der primitiven Kunst, so Jung, hat nicht nur für die prähistorische Vergangenheit, sondern auch für die moderne Zeit Relevanz. So bot der Mythos den Künstlern die Möglichkeit, ihre Empfindungen, ihr existentielles Erleben und ihre Individualität auszudrücken und somit möglicherweise bleibende Werte zu schaffen. Jedoch benutzten sie den Mythos nicht im allegorischen, also erzählend oder darstellenden Sinn, sondern die mythischen Gestalten wurden im Sinne von Archetypen als "autonome Gestalten des Geistes betrachtet, die aus sich selbst, aus einem spezifischen Prinzip der Sinn- und Gestaltgebung begriffen werden müssen." Die Auseinandersetzung mit Mythos, Ritual und primitiver Kunst - so sammelte Mark Tobey Totempfähle der Indianer - diente dem Wunsch, tief und stark empfundene Emotionen auszudrücken. Der nächste Schritt sollte den Künstler von rein emotionellen, persönlichen Ausdrucksformen hin zu zeitlosen, universellen Inhalten führen.

Jackson Pollack, Nr. 1, 1950, Öl, Email und Aluminium auf Leinwand,
221 x 300 cm, National Gallery of Art, Washington.
Esteban Frances, Gordon Onslow-Ford und Robert Matta bildeten die neue und letzte Welle des Automatismus in der surrealistischen Malerei. Für Matta, der 1939 nach New York kam, war der Surrealismus "vor allem ein Mittel zur vollkommenen Befreiung des Geistes und all dessen, was ihm gleicht." Er orientierte sich in seinen "psychologischen Morphologien" am Schaffen von Yves Tanguy. Tanguy ging bereits über das surrealistische Verständnis von Automatismus hinaus, wenn er über seinen Arbeitsprozeß sagte: "In der künstlerischen Schöpfung ist das Überraschungselement für mich das wichtigste. Ein Bild, an dem ich arbeite, entwickelt sich vor meinen Augen, liefert dabei nach und nach seine Überraschungen, und gibt mir dadurch ein Gefühl völliger Freiheit, das mir bei meiner Arbeit unerläßlich ist. Ich bin deshalb auch unfähig, einen Plan oder eine vorbereitende Skizze zu machen." Auch weigerte Yves Tanguy sich, das entstandene Bildergebnis zu analysieren oder zu interpretieren. "Wenn ich versuchen wollte, meine Malerei zu erklären das wäre ein wenig, wie wenn ich mich selbst ins Gefängnis sperrte," so Tanguy in einem ausführlichen Interview im Jahre 1954.

Robert Matta löste jedoch dessen Härte der skulpturalen Landschaften auf, glättete ihre Konturen und verneinte durch stärkere Farbkontrastierung den milchigen, nebulosen Charakter der Bilder Tanguys. Matta gab sich als einer der Ersten einer informellen, spontanen und lyrischen Malerei hin; als Mittel flüssige Farbe benutzend, bildeten sich bizarre Landschaften neben atmosphärischen Räumen, in denen fremdartige und unbekannte Objekte siedelten. Seine "psychologischen Morphologien" - Matta sprach von "Gestaltlehren psychologischer Funktionen wie Morphologie der Sehnsucht, Morphologie des Schmerzes" - wurden später von den "Great Invisibles" abgelöst. Ein unbestimmter, virtueller Raum wird hier von anthropomorphen Apparaten und phantastischen Figuren bevölkert. Matta forderte schließlich: "Es gab immer Kunst, die das Bewußte dargestellt hat. Es ist an der Zeit, eine Kunst zu begrüßen, die das Unbewußte zeigt."

Dieses "Auftauchen einer expressiven, surrealpsychologischen Raum- und Realitätsdarstellung" wurde schließlich zur Keimzelle des Abstrakten Expressionismus. Hinzu kamen die durch die Erfahrungen des zweiten Weltkrieges grundlegenden Erschütterungen der Gesellschaft, die einen radikalen Wandel des Bewußtseins und somit der Wirklichkeitsauffassung nach sich zogen. Die realen Kriegserfahrungen wurden als ein irreales Erlebnis begriffen. Der Surrealismus erschien den Künstlern als legitimer Ausgangspunkt einer Darstellungsform, die dem Wirklichkeitsbewußtsein der vierziger Jahre entsprach. Angesichts dieser Veränderungen war eine neue Form moralischer Aussage und Darstellung von Wahrheit dringend erforderlich geworden. Adolph Gottlieb, abstrakter Expressionist der ersten Stunde, äußerte sich Mitte der vierziger Jahre wie folgt hierzu: "Heute, wo sich unsere Bestrebungen auf einen verzweifelten Versuch reduziert haben, dem Verderben zu entkommen, und die Zeiten aus den Fugen geraten sind, sind unsere obsessiven, untergründigen und piktographischen Bilder ein Ausdruck der Neurose, als die sich unsere Wirklichkeit darstellt. Meiner Ansicht nach ist eine bestimmte Art sogenannter abstrakter Kunst in diesem Sinne gar nicht abstrakt. Im Gegenteil: sie ist der Realismus unserer Tage." So boten sich die frühesten Werke der später abstrakten Expressionisten als halbabstrakte Bilder mit surrealistischem Einschlag.

Clyfford Still, Painting, 1957, Öl auf Leinwand, 289 x 408 cm, Kunstmuseum Basel
Arshile Gorky gilt einerseits als letzter Surrealist, andererseits bereits als Pionier der New York School. Auf seinen Bildern scheint GegenständIiches und Ungegenständliches in Einklang gebracht. André Breton bezeichnete sie als "hybrid", und charakterisierte sie als "Ergebnisse, die in einem Betrachter hervorgerufen werden, der nachsinnt über ein Naturschauspiel und einen Strom von Kindheits- und anderen Erinnerungen." Gorky verknüpft die optisch erfahrbare Welt mit der subjektiven Erfahrung der Erinnerung. Durch diese Verknüpfung setzt er die Zeit außer Kraft. "Wir träumen alle", so Gorky "und unter diesem gemeinsamen Nenner konnte ich eine Sprache finden, die jeder versteht." Seine Bilder bilden eine Synthese, deren Einzelbestandteile sich in der Farbigkeit des frühen Kandinsky, im flüssigen Farbgrund und der mythisch automatischen Figuration Mattas, aber auch in der Miróschen Zeichensetzung finden lassen. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß Gorky seinen Hauptmotiven, wie "Agony", "Waterfall", "The Liver is the Cock's Comb" oder "The Betrothal" jahrelang viele Skizzen und Zeichnungen widmete. Auf einem flüssigen, homogenen Farbgrund läßt Gorky organische, biomorphe Gestalten entstehen. Diese, durch feine Strichführung gerahmt, befinden sich farbig kontrastierend in Beziehung zueinander. Ähnlich wie Willem de Kooning bedient sich Gorky der Nicht-Umgebung, des Non-Environments. Standen bei Yves Tanguy noch die Gegenstände vor dem sie umgebenden Raum, so schafft Gorky einen atmenden Körper, ein Konglomerat biomorpher Formen.

Bei Willem de Kooning wirken die Gemälde wie verzerrte Suchbilder, die zwar aus abstrakten, halbabstrakten und figurativen Elementen bestehen, andererseits aber ihre Traditionen und künstlerischen Vorbilder - wie Rubens, Rembrandt oder Picasso - nicht leugnen. In gestischer Heftigkeit vehement gemalt, erscheinen die Frauenbilder de Koonings trotz ihrer starken körperlichen Präsenz in einer expressiven Aggressivität, die entrüstet und zugleich fasziniert. Sein Frauenbildnis "Woman I" von 1950-1952 wurde als "Mona Lisa der Neuen Welt" bezeichnet. Kennzeichen dieser Malerei war der lebensbedrohende Schaffenskampf ihrer Entstehung. Als unmittelbarer "Ausdruck der authentischen Existenz des Künstlers zu einer Zeit, da die existenzialistische Philosophie in Mode" war, zählte de Kooning zu den einflußreichsten Künstlern der fünfziger Jahre. Er lehnte die Zuordnung zu einem bestimmten Stil ab, ließ als "eklektischer Maler" Beeinflussungen anderer Künstler zu und nahm, was ihm gegeben wurde, als selbstverständlich hin. "De Kooning existierte für uns alle," wie sich der Pop Art Künstler Jim Dine zu einem späteren Zeitpunkt über den radikalen Vorreiter äußerte. Von dieser Damoklesschwerthaften "Vaterschaft" löste sich Robert Rauschenberg, indem er 1953 eine Zeichnung von de Kooning beinah gänzlich ausradierte und dies zu seinem eigenen Werk erklärte. […]

Im selben Jahr [1943] schrieben Adolph Gottlieb, Barnett Newmann und Mark Rothko einen Brief an den Herausgeber der New York Times über die Konzeption und den Weg zu einer neuen Malerei. In diesem Brief erklärten sie ihre bevorzugte Verwendung von primitiven und mythologischen Gegenständen in abstrakten Formen als den angemessenen Weg zu einer Malerei, die die zeitgenössische Wirklichkeit durch die Sprache der fortschrittlichsten zeitgenössischen Kunst ausdrücken konnte. Beeinflußt von einem Formenvokabular, welches sich bei Klee, Arp, Miró, Tanguy und Matta finden ließ, basierte die Bildwelt auf biomorphen Formen, auf tierischen und pflanzlichen Strukturen, auf primitiven Symbolen, auf Formen, die sich aus dem freien Umgang mit Farbe ergaben. […]

Barnett Newman, Who's afraid of Red, Yellow and Blue?, IV, 1969/70, Öl auf Leinwand, 274 x 603 cm,
Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz.
Diese eher mythische Phase des Abstrakten Expressionismus dauerte von 1942 bis 1947. Dann verwandelte sich das "Mythenmachen" in eine Suche nach einer immerwährenden, allgemeingültigen Bildsprache, in eine Suche nach dem "abstrakten Erhabenen", dem "abstrakt Sublimen." Die Loslösung von mythischen Vorgaben führte die Künstler hin zu radikalen und extremen Positionen, die auf den folgenden Seiten kurz skizziert werden sollen.

Einen Ausweg bot die Beschäftigung mit der Kalligraphie als Ausdrucksform fernöstlicher Philosophien. Gemäß der Philosophie des Zen wächst das Werk aus dem Sein. Der Schöpfungsprozeß wird nicht als ein Machen, sondern als ein Entstehen aus dem Sein verstanden und somit kann das Kunstwerk auch nicht das fertige Produkt eines Prozesses sein. Um ein Werk zu schaffen, versetzt sich der Künstler innerlich in das zu Schöpfende. Er strebt eine Identität an, die "in den Kern des Daseins zurückgreift, wo noch keine Entzweiung stattgefunden hat". Der sehende Künstler und das gesehene Objekt, oder aber ein Gefühl, eine Idee, ein Ausdruck sollen eine Einheit bilden. Um diese Identität mit seiner gesehenen oder gedachten Sache zu erreichen, bedient sich der Sehende der Meditation; somit wird er zum Medium der Naturkräfte.

Theodoros Stamos erläutert diese Einheit: "Um die innere Sicht zu erlangen, versuchte der Künstler des Ostens, zum Gegenstand selbst zu werden. Anders ausgedrückt, wenn sich ein Maler 10 Jahre lang intensiv mit Bambus beschäftigt hat, dann wird er schließlich selbst zum Bambus und vergißt völlig diesen Bambus, den er gerade malt." Der Künstler löscht den zielgerichteten Geist, den eingreifenden und formenden Verstand aus. Aus einer wartenden Verfassung heraus läßt er die Natur sein Werk übernehmen und dadurch den natürlichen Impulsen freien Lauf. Schnelle spontane Gestik hält die Impulse fest; das Material der dünnflüssigen Tusche oder Farbe ist dazu bestens geeignet. […]

Mark Tobey fand seinen Weg zur fernöstlichen Lebensphilosophie durch eine Asienreise, von der er 1935 seinen "kalligraphischen Impuls" mitbrachte. So trat für ihn "die Linie, genauer, die von Bewegungsimpulsen gelenkte kleinteilige "Schrift", an die Stelle, die bisher in der Malerei Masse, Volumen, Körperlichkeit beansprucht hatten." Tobey fand durch die Kalligraphie die Übersetzungsmöglichkeit der in "Lichtsensationen eingespannten großstädtischen Architekturen in graphische Felder." Anfänglich gesetzte Zeichen verbanden sich zu einem Linienlabyrinth im Sinne einer bildfüllenden All Over-Konfiguration und spiegelten somit das rastlose Pulsieren der modernen Großstadt wieder. Die Aneinanderreihung der zahlreichen Zeichen brachte einen Rhythmus hervor. Sie schuf eine einheitliche Struktur, die den einzelnen Pinselstrich entmaterialisierte und somit auch die Perspektive zerstörte. Das Bildfeld Tobeys wirkte schließlich wie ein zufällig getroffener Ausschnitt aus einer großen Struktur und nahm im Kleinen vorweg, was Jackson Pollock in seinen Dripping-Bildern anstrebte.

Mark Rothko, Ohne Titel, 1949, Öl auf Leinwand,
206,7 x 168,6 cm, National Gallery of Art, Washington
Jackson Pollock, von der Presse jener Jahre auch "Jack the Dripper" genannt, führte durch sein "Action Painting" den Automatismus in ungeahnte Höhen. "Wenn ich in meinem Gemälde bin, reflektiere ich nicht, was ich tue. Erst nach einer "Kennenlernphase" sehe ich, was ich getan habe. Ich habe keine Scheu, Änderungen vorzunehmen, auch Zerstörungen, da das Gemälde ja ein Eigenleben hat. Dieses suche ich durchkommen zu lassen. Nur wenn ich die Fühlung zum Bild verliere, rutscht es ab ins Chaos. Wenn die Fühlung da ist, herrscht reine Harmonie, ein fließendes Geben und Nehmen, und das Gemälde gelingt." Pollocks Malerei, bei der er die Farbe auf die am Boden liegende Leinwand aufspritzt, schleudert und tröpfelt, ist als rein gestisches Geschehen heftig und unmittelbar im Hier und Jetzt verankert. Als Malerwerkzeug verwendete er Messer, Stöcke, Spachtel, tropfende, flüssige Farbe, mit Tusche gefüllte Spritzen, aber auch schweres aus Sand und Glasscherben bestehendes Impasto. Durch die wirren Linienarabesken wird Energie und Bewegung sichtbar gemacht. Es entsteht ein dichtes gleichmäßiges Netz, ein unbegrenzter Raum, der sich in seiner Komposition als strenge ästhetische Ordnung entlarvt und somit den Zufall ausgrenzt. […]

Vergleicht man den monolithischen Werkblock von Clyfford Still mit der aggressiv-gestischen figurativen Abstraktion von Willem de Kooning oder den fliessenden fulminanten All Over-Räumen von Jackson Pollock, dann versteht man, warum der Kunstkritiker Robert Rosenblum 1959 diese Malerei als Inbegriff des "Abstract Sublimen" charakterisierte. Mit dem Palettmesser skulptierte Still seit 1938 förmlich die Farbe Scholle für Scholle auf der Leinwand. Diese Loslösung von zeichenhaften, symbolischen Inhalten und Rücknahme der mythologischen Sprache zugunsten der Klarheit, Einfachheit und Reinheit der konsequenten Darstellung hatte eine grenzenlose Öffnung des Bildraumes zur Folge. Die spannungsgeladene Ausgewogenheit der brüchigen Formen prägt neben der meist erdigen Eindringlichkeit der Farben den zeit- und raumlosen Eindruck der Werke. Auf der Suche nach dem ureigenen Bild fand Still zum Begriff des Erhabenen, Sublimen.

Barnett Newman war in der Entwicklung seiner Position der Farbfeldmalerei nicht minder radikal und revolutionär. In der Hinterfragung "dogmatischer Positionen der Puristen, Neoplastizisten und anderen Formalisten ... , welche Rot, Gelb und Blau zum ideellen Konstrukt reduzierte", beschloß Newman die Primärfarben "mehr expressiv als didaktisch einzusetzen und sie von ihrer Hypothek zu befreien. Warum sollte irgend jemand Angst haben vor Rot, Gelb und Blau?" Die Serie jener rot-gelbblauen Werke markierte das Ende einer langen Entwicklung, die von botanischen Studien zu abstrakt-biomorphen Formen über schematisch skizzierte Farbfelder hin zu monochromen Tafeln führt, die nur vereinzelt durch vertikale Bänder unterbrochen werden. […]

In einem Interview mit David Sylvester vom 3. März 1967 formulierte Newman als wichtigste Anforderung, "daß der Betrachter vor meinem Bild empfindet, daß er anwesend ist, diese Empfindung ist nicht nur ein Geheimnis, sondern die Empfindung einer metaphysischen Tatsache. Ich mißtraue dem Episodischen immer mehr, und ich hoffe, daß meine Kunst eine Kraft hat, einem Menschen - so wie sie es mir vermittelt - das Gefühl seiner Ganzheit, seines Fürsichseins, seiner eigenen Individualität zu vermitteln und gleichzeitig das Gefühl seiner Verbindung zu anderen, die auch für sich sind." […]

Ad Reinhardt, Red Painting, 1953, Öl auf Leinwand, 61,5 x 51,5 cm,
Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien
Die Malerei Mark Rothkos wurde schließlich zu einer Metapher für das Geistige schlechthin. Hatte Rothko in den frühen Vierzigern noch Mythen und Archetypen berücksichtigt, da diese ewige Symbole sind, beseitigte er gegen Ende des Jahrzehnts schließlich jegliche ausgeprägte Konturlinie um ein fließendes Kontinuum atmosphärischer Oberflächen zu bilden. Rothko eröffnet dem Betrachter die Möglichkeit "im Prozeß des Anschauens die innere Qualität, das Wesen" der Farben - die von Goethe bezeichnete sinnlich-sittliche Wirkung der Farben - "selbst zu erfahren." Laut Rothko wird ein Bild "durch ein Miteinander zum Leben erweckt. Es entfaltet sich und wird belebt in dem Moment, wo ein aufnahmebereiter Mensch es betrachtet." In dem Bewußtsein, ein neues Schauen zu vermitteln, arbeitete Rothko konsequent an der reinen Naturansicht, die durch farbiges Licht und pure Atmosphäre die Seherfahrung des Betrachters in einen Zustand der Transzendenz emporheben sollte. So geht laut Mark Rothko "nichts über ein gutes Bild über das Nichts. Man hat nichts - nur Aussage."

"Das Auge ist eine Bedrohung des klaren Blicks." Angesichts der monotonen, fast monochromen, auf Rot, Blau oder Schwarz reduzierten Malerei von Ad Reinhardt erscheint dieses Zitat beinahe als Affront. Aber wer sehend seine Wahrnehmung und Erkenntnis schärfen möchte, muß bereit sein, sich vom Ballast des Wissens und der Zeichen zu lösen und sich dem reinen Sehen als Prozeß unverfälschter Wahrnehmung hinzugeben. Die Malerei Reinhardts markiert in ihrer Konsequenz einen Endpunkt und zugleich einen Neubeginn. Der Sprachlosigkeit gegenüber dem Werk steht das Sehen als wahrhaft persönliche Hingabe gegenüber. Die Bilder sind jedoch keineswegs eindimensionale monochrome Flächen, sondern weisen eine Verdichtung auf, die bis zu sechzig übereinandergelegte Lasuren aufweisen kann. Trotz dieser Schwere wirken sie leicht und transparent. Die gemalten Manifestationen von Ad Reinhardt, der sich zeitlebens mit östlichen Kulturen, u. a. dem Zen-Buddhismus, der Kunst der Khmer, aber auch islamischer Architektur beschäftigte, können durch eine Bemerkung aus dem Chieh Tzü Yüan treffend erläutert werden: "Wo das Malen Göttlichkeit erreicht hat, ist die Materie am Ende."

"Rothko zog den Rolladen herunter, Newman schloß die Tür und Reinhardt löschte das Licht aus." Mit diesem Bonmot, welches Harold Rosenberg zugeschrieben wird, läßt sich abschließend treffend die gemeinsame Geisteshaltung und die extrem heterogene Individualität dieser Künstler jener Jahre bezeichnen. Der abstrakte Expressionismus existiert nicht als einheitliches Ganzes, sondern als ein Nebeneinander der Farbfeldmalerei und der gestischen Malerei. Ausgehend von einem überaus starken Gemeinschaftsgefühl veränderten die Abstrakten Expressionisten nicht nur das klassische Medium der Malerei und den Kunstbegriff von Grund auf, sondern legten damit auch die Rolle des Betrachters als eines aktiv Mitwirkenden neu fest. […]

Eigentlich endet die Geschichte des amerikanischen abstrakten Expressionismus abrupt an einem Samstag. Es war der 11. August 1956. Pollock, depressiv, stark angetrunken, fuhr mit hoher Geschwindigkeit. Er, der Katalysator der gestischen Malerei, für den, "jeder gute Künstler malt, was er ist", für den, Malen "Seinszustand" und unmittelbare "Selbstentdeckung" bedeuteten, sollte diesen Tag nicht überleben.

Quelle: Harald Krämer: Auf der Suche nach der reinen Malerei. Voraussetzungen für die Entwicklung des Abstrakten Expressionismus in den Vereinigten Staaten. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. Heft 1/1997, ISSN 1025-2223, Seiten 88-105 (gekürzt).

HARALD KRÄMER studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Geschichte, und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.

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Reposted on April 17th, 2016



1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

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