13. Januar 2014

Orlando di Lasso: Hieremiae prophetae lamentationes (1585)

Orlando di Lasso (um 1532-1594), geboren im flämischen Mons, kam schon im Alter von zwölf Jahren als Sänger nach Mantua und hielt sich in der Folge an verschiedenen italienischen Höfen auf, bis er 1552 Leiter des Chores der römischen Lateranbasilika wurde. In seinen italienischen Jahren erwarb er sich außerdem beachtliche kompositorische Reife. 1555 veröffentlichte er in Antwerpen eigene Werke. Ab 1556 gehörte er zunächst als Sänger und Komponist, dann als Kapellmeister zum Münchner Hof Albrechts V. und seines Nachfolgers Wilhelm V.

Lassos fünfstimmige Vertonung der Klagelieder des Propheten Jeremias, entstanden während seiner letzten Schaffensphase, erschien 1585 im Druck. Er führt hier den Stil der später so bezeichneten »Klassischen Vokalpolyphonie« zu einem Höhepunkt an Klarheit und ungezwungener Textbezogenheit bei gleichzeitiger großer Dichte des Stimmengeflechts. Obwohl die Musik bereits der langsam sich etablierenden Dur-Moll-Tonalität zuneigt und vom Hörer schon in hohem Maße akkordisch-vertikal wahrgenommen wird, basiert sie noch auf den Kirchentonarten - der zum Klage-Duktus der Dichtung passende phrygische Modus spielt eine große Rolle - und ist hinsichtlich der Satztechnik grundsätzlich polyphon gearbeitet.

Die vollkommene Ausgewogenheit zwischen klanglicher Entfaltung und struktureller Durchgestaltung führt in Verbindung mit den poetischen, schwermütigen Bibeltexten über die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und die anschließende babylonische Gefangenschaft des Volkes Israel zu höchst ausdrucksstarker und intensiver Musik, deren liturgischer Ort das Offizium der Karwoche, genauer gesagt die Matutin des Gründonnerstags, Karfreitags und Karsamstags ist. Lassos Lamentationes stehen am Ende einer langen Tradition polyphoner Klagelied-Vertonungen, zu der u. a. Meister wie Palestrina, Tallis, Byrd, Victoria und Brumel großartige Kompositionen beigetragen haben.

Rundum gelungen ist die Einspielung von PRO CANTIONE ANTIQUA unter BRUNO TURNER in einfacher, nur aus Männern bestehender Besetzung: Sie zeichnet sich aus durch gute Intonation, klangliche Geschlossenheit und spannungsreiche Gestaltung der großen Bögen.

Quelle: Michael Wersin: CD-Führer Klassik. Reclam, Stuttgart, 2.Aufl. 2007, Seite 25-26

Orlando di Lasso

Track 1: First Lamentation for Maundy Thursday


TRACKLIST


ORLANDUS LASSUS (1532-1594)
(Orlando di Lasso / Roland de Lassus)

THE LAMENTATIONS OF JEREMIAH for five voices
Hieremiae prophetae lamentationes (1585) 

PRO CANTIONE ANTIQUA, Directed by BRUNO TURNER 


THREE LAMENTATIONS FOR MAUNDY THURSDAY [22'08]
[1] First Lamentation   [7'25]
[2] Second Lamentation  [7'18]
[3] Third Lamentation   [7'15] 

THREE LAMENTATIONS FOR GOOD FRIDAY     [21'39]
[4] First Lamentation   [7'24]
[5] Second Lamentation  [7'03]
[6] Third Lamentation   [7'02] 

THREE LAMENTATIONS FOR HOLY SATURDAY   [20'51]
[7] First Lamentation   [7'23]
[8] Second Lamentation  [6'24]
[9] Third Lamentation   [6'04] 

Total:                                 [64'38] 


Pro Cantione Antiqua:
Charles Brett, Timothy Penrose, Kevin Smith (countertenors);
James Griffett, Ian Partridge (tenors);
Michael George, Christopher Keyte, Stephen Roberts (basses);
with Elizabeth Lane, Suzanne Flowers, Nancy Long (sopranos);
Directed by Bruno Turner

Recorded in St John's Church, Hackney, London, on 24,26,28,29 August 1981 
Recording Producer MARK BROWN; Engineer TONY FAULKNER 
Front Cover: detail from 'Lamentation over the Dead Christ' by van der Weyden (workshop) © The National Gallery

Rogier van der Weyden (Werkstatt): Lamentation (Pietà), um 1464, Öl auf Holz, 35,5 x 45 cm, National Gallery, London

Die bösen Mütter


Was dachten sich die Brüder Grimm?

Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag, »ach, wenn wir doch ein Kind hätten!« und kriegten immer keins. Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch, und zu ihr sprach: »dein Wunsch wird erfüllt werden, und du wirst eine Tochter zur Welt bringen.« Was der Frosch vorausgesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, daß der König vor Freude sich nicht zu lassen wußte, und ein großes Fest anstellte. Er ladete nicht bloß seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen würden. Es waren ihrer dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, konnte er eine nicht einladen. Die geladen waren kamen, und als das Fest vorbei war, beschenkten sie das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem, was Herrliches auf der Welt ist. Als elfe ihre Wünsche eben getan hatten, kam die dreizehnte herein, die nicht eingeladen war, und sich dafür rächen wollte. Sie rief »die Königstochter soll sich in ihrem funfzehnten Jahr an einer Spindel stechen, und tot hinfallen«. Da trat die zwölfte hervor, die noch einen Wunsch übrig hatte: zwar konnte sie den bösen Ausspruch nicht aufheben, aber sie konnte ihn doch mildern, und sprach »es soll kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt«.

Das also ist die Exposition. Man wird sich fragen dürfen: Was dachten sich die Brüder Grimm, als sie den Servicebestand einer königlichen Hofhaltung auf zwölf Teller beschränkten? Und warum lassen die Eltern Dornröschen ausgerechnet an ihrem fatalen Geburtstag alleine im Schloß zurück - haben sie diesem Tag nicht fünfzehn Jahre lang entgegengebangt?

Das Auffällige nicht nur an Dornröschen ist, daß sich immer wieder dieselbe Fee vom Tisch erhebt und im Garten spazierengeht, die Fee des Namens »Gesunder Menschenverstand«. Schneewittchen fällt auf die Krämerin mit dem giftigen Kamm herein - gut. Aber hätte sie sich nach zwei beinahe tödlichen Erfahrungen nicht zu dem Prinzip durchringen können, fahrenden Händlerinnen keine Ware abzukaufen? Der in seinem Verließ schmachtende Eisenhans des gleichnamigen Märchens: Woher will er wissen, daß der Schlüssel zu seiner Kerkertür unterm Kopfkissen der Königin liegt, wie kommt er zu so intimen Erkenntnissen? Warum müssen in dem Blaubartmärchen Fitschers Vogel zwei Schwestern zerhackt werden, bevor die dritte den Gedanken faßt, daß man sich beim Durchstöbern verbotener Kammern leichter tut, wenn man dabei kein Ei in Händen balanciert? […]

Märchen sind naiv, und sie sind auffallend grausam. Man könnte auch sagen: sie sind grausam naiv. Wenn in ihnen gevierteilt wird, kann man noch von Glück reden, solange es nur um Königreiche geht. Zerhackt und zerstückelt wird hier mehr als eine brave Schwester, und mehr als eine böse Stiefmutter wird scheußlich zu Tode gebracht. Eine Spezialität der Märchen ist dabei, daß sich die Übeltäterinnen das Urteil selber sprechen. Es genügt, daß der König die Frage einflicht: Was wäre eine Frau wert, die den Herrn so und so betrogen hätte? Und anstatt zu stutzen, weil es genau das Register der eigenen Sünden ist, das ihnen vorgehalten wird, plappern sie darauf los: Oh, die sei nichts Besseres wert, als splitternackt ausgezogen in ein inwendig mit spitzen Nägeln beschlagenes Faß geworfen und darin von zwei Pferden über die Gassen zu Tode geschleift zu werden! Sie fügen sogar noch hinzu: zwei weißen Pferden; und von denen werden sie dann selber geschleift. […]

Ludwig Richter: Hänsel und Gretel gehen mit ihren Eltern in den Wald, wo sie
ausgesetzt werden sollen. In: Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
Gesamtausgabe mit 90 Holzschnitten und 6 Tonbildern
 von Ludwig Richter. Leipzig: Schmidt & Günther [1931]
Alltagslogik spielt in den Märchen ganz offensichtlich keine Rolle. Und auch auf Seelenlogik kommt es nicht an. Keinem anderen literarischen Genre würde man auch nur einen Bruchteil der psychologischen Abstrusitäten durchgehen lassen, von denen die Märchen wimmeln. Würde eine Mutter ihr Töchterchen in Lebensgefahr bringen, nur damit die Großmutter mit Kuchen und Wein versorgt wird? Soll sie doch Wasser trinken! Was mag dann aber der Grund dafür sein, daß Rotkäppchen in den Wald geschickt wird, wo doch jeder weiß, daß dort Wölfe umgehen?

Man glaube nicht, daß diese Frage leicht zu beantworten ist. Eher ahnen als beweisen kann man, daß die Wurzeln dieses Märchenwaids bis tief hinab in die Frühgeschichte der Menschheit reichen und daß sich Reste von Druidinnen-Zauber und Opferkulten in ihm bewahren. Eine jüngere Lesart entziffert die rote Kappe als Merkzeichen der Menarche und verdächtigt den Wolf eher der Sexual- als der Freßgier. Ganz an den Haaren herbeigezogen ist diese Deutung nicht. Märchen handeln von den Dingen des Lebens, und deren erstes, als des Lebens Ursprung, ist die Fortpflanzung und die Sexualität. Vor allem die Zeit des Übergangs vom Mädchen zur Frau wird immer wieder symbolisch erzählt. So grob und plump die Märchen oft sein können, darin sind sie manchmal geradezu sublim. Am Ende von Hänsel und Gretel überqueren die Geschwister mithilfe eines Entchens einen mythischen Fluß. Es ist eine Handlung, für die man heute den Ausdruck rite de passage bereit hält und die die Kinder in die Pubertät befördert. Sublim daran ist, daß am Anfang des Märchens immer Hänsel voranging, daß es diesmal aber Gretel ist, die zuerst das Entchen besteigt und den Fluß überquert: Mädchen kommen früher in die Pubertät als Jungen.

Das Element des Wassers scheint im Märchen für die geschlechtlichen Passagen reserviert. Die Königin in Dornröschen sitzt im Bade, als ihr der Frosch erscheint und ihr aus der Kinder-Klemme hilft. Der Schlamm, die Kloake, aus der er als altes Fruchtbarkeitssymbol kommt, ist offenbar mit dem Urschlamm der Zeugung und dem obszönen Dunkelgeschäft der Mutter Natur verbunden. Auch daß der Frosch in Märchenvarianten durch einen Kuß zum Prinzen werden kann - wenn auch nicht jeder Frosch, sondern nur der richtige -, ist eine Variante dieses Motivs. Der krude, tierische Sexus wird durch das seelisch-erotische Element des Kusses abgemildert und den Jungfräulein dadurch akzeptabel gemacht. Die klassische Darstellung dieser Metamorphose findet sich in La Belle et la Bête, wo sich das Monströse, das der männlichen Sexualität in den Augen des Mädchens anhaftet, allmählich in etwas Liebenswertes verwandelt.

Mit Fruchtbarkeit hat auch der Dorn zu tun, von dem Dornröschen im fünfzehnten Jahr gestochen wird. Man wagt ja kaum, es in dieser überplumpen Symbolik zu verstehen, aber die Forschung wartet hier mit zwingenden Beweisen auf. Die Vorgängerin Dornröschens wird in der spanischen Fassung von 1650 mit Zwillingen schwanger. Bei Perrault fragt sie den Prinzen noch, ob er mit ihr schlafen will. Und ganz unverblümt heißt es 1570 bei Fischart von dem Stich mit dem Dorn, daß der Magd »der Bauch davon geschwoll«. Bei den Brüdern Grimm, die tunlichst alle sexuellen Anspielungen tilgen, schwillt natürlich kein Bauch mehr an, und ein zarter Kuß ist alles, was von der Wollust übrig blieb.

Ludwig Richters Illustration des Hexenhauses
Auch daß bei Rapunzel, die jede Nacht in ihrem Turm vom Königssohn besucht wird, nach einiger Zeit die Kleider eng werden, verwarfen sie als zu indezent: es bleibt nur die Anspielung darauf, daß Rapunzel schwerer geworden sei. Ob Rapunzel, eine Art Feldsalat, zu jenem Gemüse gehört, das nach alter Rechtsauffassung von Schwangeren ungestraft auch aus Nachbarsgärten genommen werden durfte? Auch das Umgekehrte wurde gelegentlich vertreten, daß Rapunzel nämlich ein von weisen Frauen empfohlenes Abtreibungsmittel gewesen sei. Diese Deutung widerspricht wohl zu eindeutig dem Sinn des Erzählten, denn trotz gierigen Verzehrs des Rapunzelsalats kommt die Mutter ja mit einem gesunden Töchterchen nieder. Aber klar wird durch diese botanisch-medizinische Frage, daß sich in Märchen immer wieder Archaisches mit Historischem vermischt, wie wir es am Beispiel von Hänsel und Gretel noch genauer betrachten wollen. […]

[…] Warum gibt es so viele Stiefmütter in den Märchen? Der Tod im Kindbett war damals sehr häufig, viele Mütter starben jung, und dementsprechend viele Männer heirateten ein zweites Mal. Daß diese zweiten Frauen später die eigenen Kinder besser behandelten als die Stiefkinder, zumal in Zeiten der Not, scheint als psychologisches Detail glaubwürdig. Es stimmt nur nicht, wie die Forschung uns belehrt. Die berühmten bösen Stiefmütter der Märchen waren in den früheren Fassungen fast immer Mütter. Die Brüder Grimm wollten ihre Leser schonen und ihnen den archaischen Schrecken der bösen Mutter ersparen. Die böse Stiefmutter, die inzwischen redensartlich geworden ist, verdankt sich einer frommen Lüge. Warum aber, das ist die zweite Auffälligkeit, sind diese Mütter so böse? Wer die Grimmschen Märchen in einem Rutsch liest, wird frappiert darüber sein, wie schlecht die Frauen in ihnen wegkommen. Die Väter in diesen Märchen sind nie perfide oder heimtückisch, es sind die Mütter, die einander an Grausamkeit übertreffen. Eine von ihnen prügelt sogar ihr Kind zurück ins Grab. Wieviel monströser, um Himmels willen, kann man Frauen noch malen? Und wer hatte ein Interesse daran, sie als solche Monstren zu malen?

Dumme Frage, wird das weibliche Publikum rufen: natürlich die Männer, die diese Märchen aufgezeichnet haben. Es sind ja ausschließlich Männer, die wir als Bearbeiter auf den Titelblättern der Märchenausgaben finden. Bewußt oder unbewußt ließen sie ihren Ressentiments freien Lauf und schoben den Frauen alles Übel zu.

Angenommen, das wäre der Fall, stellte sich aber sogleich die nächste Frage: warum sind dann die Männer in den Märchen oft solche Nieten? Sie sind nicht perfide, aber sie sind schwach - willensschwach, entscheidungsschwach, durchsetzungsschwach. Ein, zwei Nächte lang liegt ihnen das Weib damit in den Ohren, man solle doch die Kinder im Wald aussetzen, und schon geben sie nach, auch wenn ihnen das Herz dabei bricht. Wäre das die Perspektive, in der sich Männer gern selbst verewigt hätten? […]

Es sei dem wie immer, wir kommen zurück zu dem berühmtesten Märchen der Grimmschen Sammlung. Auch in ihm ist die böse treibende Kraft die Mutter. Daß Hänsel und Gretel in den Wald der Hexe geraten, liegt allein an ihr, gegen die sich der gute Vater nicht durchsetzen kann. […] Jedem Leser, der sich um den fremden Blick bemüht, stellt sich bei diesem Märchen das alte Rätsel wieder mit aller Wucht. Was wollen die Brüder uns eigentlich subkutan einträufeln? Was sollen diese bizarren Geschichten?

Die Hexe prüft, ob Hänsel fett genug zum Schlachten ist.
Illustration von Philipp Grot Johann. Holzstich von R. Brend'amour.
In: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm.
 Volksausgabe mit Illustrationen von P[hilipp] Grot Johann und R[obert]
Leinweber. Stuttgart u.a.: Deutsche Verlags-Anstalt [1893].
 Hänsel und Gretel, S. 48-53. Hier S. 52.
Als sie am dritten Tage wieder bis zu Mittag gegangen waren, da kamen sie an ein Häuslein, das war ganz aus Brot gebaut, und war mit Kuchen gedeckt, und die Fenster waren von hellem Zucker. »Da wollen wir uns niedersetzen, und uns satt essen«, sagte Hänsel, »ich will vom Dach essen, iß du vom Fenster, Grethel, das ist fein süß für dich.« Wie nun Grethel an dem Zucker knuperte, rief drinnen eine feine Stimme

»knuper, knuper, kneischen,
wer knupert an meinem Häuschen?»
Die Kinder antworteten
»der Wind, der Wind,
das himmlische Kind» .

Und aßen weiter. Grethel brach sich eine ganze runde Fensterscheibe heraus, und Hänsel riß sich ein großes Stück Kuchen vom Dach ab. Da ging die Tür auf, und eine steinalte Frau kam heraus geschlichen. Hänsel und Grethel erschraken so gewaltig, daß sie fallen ließen was sie in Händen hatten. Die Alte aber wackelte mit dem Kopf, und sagte »ei, ihr lieben Kinder, wo seid ihr denn hergelaufen, kommt herein mit mir, ihr sollts gut haben«, faßte beide an der Hand, und führte sie in ihr Häuschen. Da ward gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannkuchen mit Zucker, Äpfel und Nüsse, und dann wurden zwei schöne Bettlein bereitet: da legten sich Hänsel und Grethel hinein, und meinten sie wären im Himmel.

Die Alte aber war eine böse Hexe, die lauerte den Kindern auf, und hatte bloß um sie zu locken ihr Brothäuslein gebaut, und wenn eins in ihre Gewalt kam, da machte sie es tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag. Da war sie nun recht froh wie Hänsel und Grethel ihr zugelaufen kamen. Früh, ehe sie noch erwacht waren, stand sie schon auf, ging an ihr Bettlein, und wie sie die zwei so lieblich ruhen sah, freute sie sich, und murmelte »das wird ein guter Bissen für mich sein«.


Oft sind es gerade die einfachsten Fragen, mit denen man die Schale eines Problems ritzen und zu seinem Kern durchdringen kann. Bei Hänsel und Gretel wäre diese einfache Frage: Warum will die Hexe Hänsel und Gretel essen? Allgemeiner gefaßt: Warum sollte überhaupt jemand einen anderen essen?

[…] Nun, aus Hunger. Damit aber sind wir schon ganz dicht am glühenden Kern. Hat die Hexe diese Art der Nahrungszufuhr eigentlich nötig? Gerade nicht, denn sie lebt in einem Knusperhäuschen in Saus und Braus und hat unter keinerlei Mangel zu leiden. Wer aber sonst könnte so hungrig sein, daß er zu diesem letzten verzweifelten Mittel greifen muß? […] Das berühmteste Märchen der Brüder Grimm beginnt bekanntlich so:

Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker, der hatte nichts zu beißen und zu brechen und kaum das tägliche Brot für seine Frau und seine zwei Kinder, Hänsel und Grethel. Endlich kam die Zeit, da konnte er auch das nicht schaffen, und wußte keine Hilfe mehr für seine Not. Wie er sich nun abends vor Sorge im Bett herumwälzte, sprach seine Frau zu ihm: »Höre, Mann, morgen früh nimm die beiden Kinder, gib jedem noch ein Stückchen Brot, dann führ sie hinaus in den Wald, mitten hinein, wo er am dicksten ist, da mach ihnen ein Feuer an, und dann geh weg und laß sie dort allein, wir können sie nicht länger ernähren.« - »Nein, Frau«, sagte der Mann, »das kann ich nicht über mein Herz bringen, meine eigenen lieben Kinder den wilden Tieren im Wald zu bringen, die sie bald würden zerrissen haben.« - »Nun, wenn du das nicht tust«, sprach die Frau, »so müssen wir alle miteinander Hungers sterben.«

Ludwig Richter: Märchen. Tonbild. In: Kinder- und
 Hausmärchen der Brüder Grimm. Gesamtausgabe mit
 90 Holzschnitten und 6 Tonbildern von Ludwig Richter.
 Leipzig: Schmidt & Günther o.J. Titelillustration.
So müßten sie alle miteinander Hungers sterben - es sei denn … Das Geheimnis von Hänsel und Gretel ist, daß es seine wahre Geschichte aufspaltet. Die wahre Geschichte wäre zu grausam, deshalb wird eine zweite Deck- und Tarngeschichte eingeführt. Die wahre Geschichte spielt nicht an zwei Orten, sondern an einem Ort. Was den Kindern von der Hexe droht, ist genau das, was ihnen von der Mutter droht. Blieben sie zu Hause, blühte ihnen eben das Schicksal, dem sie im Hexenhaus gerade noch entkommen. Die hexenhafte Mutter täte Hänsel an, was die mütterliche Hexe ihm antun will. Das Thema von Hänsel und Gretel ist eines der traumatischsten und tabuträchtigsten der Menschheitsgeschichte: Kindskannibalismus aus Hungersnot.

1614-1648: Man muß fürchten, daß diese Zahlen niemandem mehr das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die Daten bezeichnen Anfang und Ende einer der bestialischsten Phasen der europäischen Geschichte vor den zwei Weltkriegen des letzten Jahrhunderts. Der Dreißigjährige Krieg bedeutete einen Zusammenbruch der Humanität und ein kollekrives Trauma, von dem sich besonders die Deutschen lange nicht erholen sollten - manche Historiker sagen: bis heute nicht. Es war der blutigste Krieg um ein geistiges Thema, ein Religionskrieg, bei dem die Katholiken versuchten, die Protestanten in Deutschland zu rekatholisieren. Söldnerheere, zusammengewürfelt vor allem aus Spaniern, Italienern und Kroaten, bahnten sich ihren Weg durch Deutschland. Weil sie ohne Sold blieben, ernährten sie sich vom eroberten Gebiet; plünderten, brandschatzten, vergewaltigten so lange, bis die Bevölkerung panisch in die Wälder floh. Die jungen Männer schlossen sich, um zu überleben, den marodierenden Truppen an. Die Protestanten holten die Schweden ins Land und taten das gleiche: das Vieh schlachten, die Häuser, Hütten und Felder niederbrennen, die Frauen vergewaltigen. Das eindrücklichste Bild dieser Zeit gibt noch heute der 1667 veröffentlichte Roman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch von Grimmelshausen.

Man macht es sich nicht immer genügend klar, aber: Das ist die Welt der Grimmschen Märchen. Noch die vielen abgedankten, abgebrannten Soldaten, die durch sie streunen, sprechen von der Entstehungszeit, dem Dreißigjährigen Krieg. Dessen Bilanz war verheerender als die jedes europäischen Krieges zuvor. In manchen Gebieten, wie in Hessen und Magdeburg, waren zwei Drittel der Bevölkerung umgekommen. Seuchen breiteten sich aus, die Pest wütete, Geschlechtskrankheiten ließen die Menschen am lebenden Leib verfaulen, die Hexenhysterie brach aus, religiöse Sekten sprossen aus dem verwüsteten Boden.

Das war aber auch alles, was aus ihm sproß. In den Städten und den Wäldern, in die sich die Landbevölkerung flüchtete, kam es zu furchtbaren Hungerkatastrophen. Und wie bei allen Katastrophen zu allen Zeiten fiel auch hier die Hemmung vor dem großen Menschheitstabu. […] Es ist keine Frage, daß es auch im verheerenden Hunger des Dreißigjährigen Krieges immer wieder zu Infantizid und Kannibalismus gekommen sein muß. Die Märchen, auch wenn man es nicht merkt, bewahren die Erinnerung daran.

"Kunst bringt Gunst", Holzschnitt von Ludwig Richter, 1857
An dem Morgen, an dem die Kinder im Wald ausgesetzt werden sollen, weckt die Mutter die Kinder mit dem rüden Ruf: »Wacht auf, ihr Faulenzer«. Fast wörtlich gleich weckt die Hexe Gretel mit dem Morgenruf: »Steh auf, Faulenzerin«. Auch das oft überlesene Ende des Märchens deutet daraufhin, daß Mutter und Hexe insgeheim identisch sind. Nach der Ausschaltung der Hexe überqueren die Geschwister den erwähnten Fluß:

Darnach fanden sie bald ihre Heimat. Der Vater freute sich herzlich als er sie wieder sah, denn er hatte keinen vergnügten Tag gehabt, seit seine Kinder fort waren. Die Mutter aber war gestorben. Nun brachten die Kinder Reichtümer mit, und sie brauchten für Essen und Trinken nicht mehr zu sorgen.

Nur ein karger Satz klärt uns darüber auf, wie hier zwei Schicksale miteinander verbunden sind. Die Mutter also war gestorben - natürlich: denn auch die Hexe ist ja gestorben, und wenn die Hexe das andere Ich der Mutter ist, kappt der Tod die verzwirnten Lebensfäden mit einem Schnitt. Wenn die eine stirbt, muß auch die andere sterben: in dem Moment, in dem die Hexe in den Ofen geschoben wird, fällt am Rande des Walds die Mutter tot um.

Ganz am Ende, im letzten Satz, wendet sich das Märchen wieder dem Thema zu, das es im ersten Satz angeschlagen hat: dem Hunger und seinem erträumten Gegenteil. Das glückliche Ende gehört fast zwingend zum Märchen - am Ende müssen alle Sorgen vergehen, und Essen und Trinken quellen bis in alle Ewigkeit. Das Schlaraffenland ist nicht real; um so realer der Kern, der im Märchen aufbewahrt wird. Dieser Kern ist ein Glutkern, etwas Traumatisches, ein starkes Tabu, das nur in der Asbesthaut der runden Geschichte transportabel und mitteilbar wird. Märchen überleben deshalb, weil sie solche Tabus als Glutkerne einbauen, die verletzende Strahlkraft dieser Kerne aber zugleich durch die Form der runden Geschichte auf ein warmes Glimmen heruntermildern. Die Hexe endet im Ofen, und daß eigentlich die Mutter ihre Kinder geschlachtet haben würde, wird nirgends gesagt. Nur indirekt wird davon gesprochen, und genau dieses Indirekte ist der Trick der Märchen und das Geheimnis ihres Erfolgs. Jeder Mensch weiß es: Das Schlimmste ist das, wovon nicht gesprochen werden kann. Und darum aber auch umgekehrt, gerade das Schlimmste drängt danach, in irgendeiner Form besprochen zu werden. Eben dazu gibt es Märchen. Sie sprechen von den ältesten und von den jüngsten Menschheitserfahrungen, unter denen viele schlimme und grausame sind, und sie tun es auf eine Weise, die den Erzählern und Zuhörern wohltut. Wer Märchen hört oder liest, muß nicht die Kastanien aus dem Feuer holen. Er kann sie leichtmütig schälen und genießen. Aber darüber keine Illusionen: Es ist Feuer, und manchmal Höllenfeuer, aus dem die Märchen kommen.

Quelle: Die Braut des Kannibalen. In: Michael Maar: Die Glühbirne der Etrusker. Essays und Marginalien. DuMont, Köln, 2003, ISBN 3-8321-7848-1, Seite 163-187 (gekürzt)

Mehr zu Hänsel und Gretel aus dem Goethezeit-Portal

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