18. März 2015

Mozarts Kammermusik in Historischen Aufnahmen (Budapester Streichquartett, Benny Goodmann, Artur Schnabel)

Das Quartett F-Dur KV 370 für Oboe, Violine, Viola und Cello entstand 1781 - in der Zeit seiner Oper "Idomeneo". Das reizvolle Stück ist ein Beispiel dafür, wie Mozart bekannten und befreundeten Musikern "auf den Leib" schrieb. Der Oboist Friedrich Ramm, den Mozart während seiner Reise nach Paris in Mannheim mit dem dortigen hervorragenden Orchester erlebt hatte, inspirierte deutlich die Ausformung der Oboenpartie dieses Stückes. Es ist auch ein Beispiel dafür, wie sehr Mozart bei der Komposition des Werkes vom Charakter des Soloinstrumentes her dachte.

Das Streichquartett C-Dur KV 465 führt den Beinamen "Dissonanzen-Quartett". 1785 entstanden, musste es sich wegen seiner kühnen Vorhaltstechnik die harsche Kritik von Mozarts Zeitgenossen gefallen lassen. Der herbe, chromatische Ton beherrscht das ganze Quartett. Mozart ist hier weniger Meister kontrapunktischer Verstrickungen, als vielmehr souveräner Beherrscher der motivisch-thematischen Technik.

Mozart schrieb sein Klarinettenquintett A-Dur KV 581 für Anton Stadler, den renommierten Klarinettisten der Wiener Kaiserlichen Hof-Musikkapelle. Es ist ein Stück, in dem sich Mozarts feiner Sinn für Registrierungen und Mischungen offenbart: voller Klangsinn verbindet Mozart das Blasinstrument mit den Streichern. Schon der erste Satz ist ein Musterstück für einen wichtigen Aspekt des Mozartschen Spätwerkes: Kontrapunktik als eher antiquiertes Stilmittel geht restlos ein in den klassisch-ausgewogenen Stil. Das Larghetto - ein lyrischer, überaus zarter Satz - leitet über zum Menuett mit zwei Trios. Ein schlichter, heiterer und dabei höchst kunstvoll gearbeiteter Satz beschließt das Stück, welches, was die Besetzung (Klarinette und Streichquartett) angeht, in der Musikgeschichte eine Neuheit darstelite.

Das Streichquartett D-Dur KV 499 erhielt seinen Beinamen „Hoffmeister“ nach dem Herausgeber, bei dem es 1786 im Druck erschien. Mozart schrieb das Quartett in zeitlicher Nachbarschaft zu so bedeutenden Werken wie dem "Figaro" und der "Prager Sinfonie". Einem, von kontrapunktischer Kombinierlust geprägten, ersten Satz folgt ein ausdrucksstarkes Menuett. Der langsame Satz - ein Adagio - ist erfülit von weit ausgebreiteten Kantilenen und vom vollen Klang der Streicher. Das Finale - ein lebendiges Allegro - basiert auf drei Themenkomplexen und einer unaufhörlichen Triolenbewegung.

Budapest String Quartet. Photograph, boldly signed by all four members:
Joseph Roisman (1932-1967), Jascha Gorodetzky (1949-1955),
Boris Kroyt (1936-1967), and Mischa Schneider (1930-1967).
From the Spring Catalogue 2011 of Schubertiade Music LLC
Die e-moll-Sonate KV 304 stellt in dem als "Opus 1" 1778 in Paris veröffentlichten Zyklus von "Sechs Sonaten für Klavier und Violine" (KV 301-306) kompositorisch einen Höhepunkt dar. Besonders deutlich werden hier die Erfahrungen, die Mozart in Hinblick auf die selbstständige (und nicht allein klang-bereichernde, begleitende) Rolle der Violine mit der Komposition der 1776 entstandenen Divertimenti für Klaviertrio gesammelt hatte.

In den drei späten Wiener Sonaten für Klavier und Violine, zu denen auch die Es-Dur Sonate, KV 481 gehört, erreicht Mozart die vollständige Gleichberechtigung der beiden beteiligten Instrumente. Sowohl das Klavier, als auch die Violine können hier ihre klanglichen und spieltechnischen Besonderheiten entfalten. So wie in den beiden anderen Sonaten (KV 454 und 526) ist auch in der vorliegenden Es-Dur Sonate der virtuose Duktus einem vertiefteren Musizieren gewichen. Der Reiz der feinen Abwandlungen und Kombinationen, verbunden mit ungewöhnlichen harmonischen Fortschreitungen bestimmen den Reiz des Stückes.

Quelle: Ein Anonymus im Booklet

An dieser Stelle sei auf den Kammermusikführer der Villa Musica verwiesen, dem ich die meisten Links zu den hier besprochenen KV-Nummern verdanke.

CD 1 Track 5: Streichquartett C-Dur, KV 465, II. Andante Cantabile


WOLFGANG AMADEUS MOZART 

CHAMBER MUSIC

CD 1
 
Quartett F-Dur, KV 370 
Quartet for Oboe and Strings in F major, K. 370 
01. I:   ALLEGRO                           6:45 
02. II:  ADAGIO                            3:14 
03. III: RONDO                             4:31 
Leon Goossens, Oboe / oboe - Jenö Léner, Violine / violin 
Sandor Roth, Viola / viola - Imre Hartman, Cello / cello 
recorded in: 1933 

Streichquartett Nr. 19 C-Dur, KV 465 'Dissonanzen-Quartett' 
String Quartet No.19 in C major, K. 465 'Dissonant' 
04. I:   ADAGIO. ALLEGRO                   7:21 
05. II:  ANDANTE CANTABILE                 7:33 
06. III: MENUETTO (ALLEGRETTO)             4:23 
07. IV:  ALLEGRO MOLTO                     4:24 
Budapester Streichquartett: 
Josef Roisman, Violine / violin - Alexander Schneider, Violine / violin 
Istvàn Ipolyi, Viola / viola - Mischa Schneider, Cello / cello 
recorded in: 1932 

Klarinettenquintett A-Dur, KV 581 
Quintet for Clarinet and Strings in A major, K. 581 
08. I:   ALLEGRO                           5:53
09. II:  LARGHETTO                         5:31 
10. III: MENUETTO                          6:16
11. IV:  ALLEGRETTO CON VARIAZIONI         8:38
Benny Goodman, Klarinette / clarinet 
Budapester Streichquartett: 
Josef Roisman, Violine / violin - Alexander Schneider, Violine / violin 
Boris Kroyt, Viola / viola - Mischa Schneider, Cello / cello 
recorded in: 1938 
                              Total Time: 64:50 

CD 2

Streichquartett D-Dur, KV 499 'Hoffmeister' 
String Quartet No.20 in D major, K. 499 'Hoffmeister' 
01. I:   ALLEGRETTO                        6:57 
02. II:  MENUETTO (ALLEGRETTO)             3:18 
03. III: ADAGIO                            8:52 
04. IV:  ALLEGRO                           4:32 
Budapester Streichquartett: 
Josef Roisman, Violine / violin - Alexander Schneider, Violine / violin 
Istvàn Ipolyi, Viola / viola - Mischa Schneider, Cello / cello 
recorded in: 1934 

Sonate für Klavier und Violine e-moll, KV 304
Sonata for Piano and Violin in E minor, K. 304
05. I:  ALLEGRO                            4:24
06. II: MENUETTO                           4:49 
Nikita Magaloff, Klavier / piano - Joseph Szigeti, Violine / violin 
recorded in: 1937 

Sonate für Klavier und Violine Es-Dur, KV 481 
Sonata for Piano and Violin in E flat major, K. 481 
07. I:   ALLEGRO MOLTO                     6:40
08. II:  ADAGIO                           12:10
09. III: ALLEGRETTO                        6:40 
Artur Schnabel, Klavier / piano - Joseph Szigeti, Violine / violin 
recorded in: 1948 
                              Total Time: 58:44

(P) + (C) 2002 

CD 2 Track 9: Violinsonate Es-Dur, KV 481, III. Allegretto


Eine brüchige Synthese



Max Klingers Monumentalgemälde "Christus im Olymp"



Max Klinger, Christus im Olymp, 1890-97, Hauptbild, Öl auf Leinwand, 362 x 722 cm, Österreichische Galerie Belvedere, Wien,
seit 1938 als Dauerleihgabe im Museum der bildenden Künste Leipzig.
Es war ein Jahrhundert-, wenn nicht gar ein Jahrtausendbild. Am Ende einer Epoche entstanden, öffnete es den Zeitgenossen das Tor zur Zukunft. Kein Superlativ schien zu hoch, kein Vergleich zu anmaßend, um es angemessen zu würdigen. Von einer "der großartigsten Schöpfungen monumentaler Kunst unserer Zeit" war die Rede, von der "bedeutendste(n) malerischen Leistung des 19. Jahrhunderts", gar vom "mächtigsten aller ,Historienbilder' der Welt". Sein Schöpfer galt als "eine der größten Gestalten der Kunstgeschichte": den man nicht nur mit Raffael und Michelangelo, sondern auch gleich fächerübergreifend mit Dante, Goethe, Beethoven und Wagner auf eine Stufe stellte; ihm als "ein(em) geistige(n) Führer der Zeit" huldigte, "der als einer ihrer Gipfel in die Zukunft ragt".

Was hier die wilhelminische (und habsburgische) Großkritik um 1900 an Panegyrik absonderte, galt nicht einem Manet, van Gogh oder Cezanne, sondern dem Leipziger Akademieprofessor Max Klinger (1857-1920) und seinem 1890-97 entstandenen Hauptwerk "Christus im Olymp", einem opulenten Gesamtkunstwerk aus Malerei, (Rahmen-)Architektur und Skulptur. Auch wenn man heute über dieses Bild nur mehr den Kopf schütteln kann, es als "hybrides Konstrukt" begreift, das sich in seiner "Hypertrophie und Überanstrengung letztlich selber ad absurdum" führt und "in der nicht gelungenen Einlösung (seines) Anspruchs zugleich ungewollt komisch" wirkt - um nur einige Negativ-Urteile aus dem letzten Jahrzehnt zu zitieren -, auch dann gilt der von einem seiner Verächter kürzlich geäußerte Satz: "... man muß sich mit (ihm) auseinandersetzen, will man die Epoche begreifen".

Klingers Werk kann nur im Rahmen seiner Idee vom Gesamtkunstwerk verstanden werden, das er nach Richard Wagners Vorbild im Bereich der bildenden Künste verwirklichen wollte und in der 1891 publizierten Schrift "Malerei und Zeichnung" propagierte." Es sollte aber, wie wir gleich sehen werden, viel mehr wiedervereinigt werden als bloß einige Kunstgattungen. Der "Christus im Olymp" ist der Versuch einer Synthese zur Potenz, die Versöhnung aller Gegensätze im Großreich der Kunst. Von Ausmaßen und Anspruch stellt dieses Bild die Summe der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts und die Übertrumpfung der darin führenden Franzosen dar. Auf fünfeinhalb mal neun Metern ist nichts weniger als der Gründungsakt der abendländischen Kultur zu sehen:

Die Aufhebung der heidnischen Antike durch das Christentum. Klingers Kühnheit (oder, wie man heute sagen muß: Aberwitz) besteht darin, diesen kulturgeschichtlichen und machtpolitischen Prozeß als historisches Meeting von Christus und den olympischen Göttern aufzufassen. Und um diesem Treffen maximale Glaubwürdigkeit und Lebensnähe zu verleihen, sind die Figuren mit einem das damalige Publikum teilweise schockierenden Naturalismus dargestellt, der die mythologischen und allegorischen Gestalten aktualisiert, zu modernen Zeitgenossen werden läßt (in dieser ebenso naiven wie effektvollen Kombination von Naturalismus und Phantastik war Klinger gewissermaßen der Steven Spielberg seiner Zeit). Die Anwendung der bisher nur bei Landschaften und profanen Genrebildern üblichen impressionistischen Hellmalerei soll dieser Aktualisierung dienen, wobei Klinger aber nicht so weit geht wie seine französischen Kollegen, auch die Konturen aufzulösen. Der buntfleckige Farbauftrag dient vielmehr der plastischen Modellierung der Figuren, die wie lebendige Statuen in einer atmosphärisch duftigen, durchaus impressionistischen Landschaft stehen.

Max Klinger, Christus im Olymp, 1897, Öl auf Leinwand, 550 x 900 cm, Österreichische Galerie Belvedere, Wien,
 seit 1938 als Dauerleihgabe im Museum der bildenden Künste Leipzig.
Damit nicht genug, strebt Max Klinger auch eine Verschmelzung von Wandmalerei und Tafelbild an: Die hellen und gedeckten Farben erinnern mit dem architektonischen Aufbau und Rahmen an ein Fresko; die atektonische Neigung des Hauptbildes zur Vermeidung von Spiegelungen verrät hingegen mit seiner Präsentationsform das Ölgemälde. Dieses Zusammenzwingen von Unvereinbarem, von autonomer Staffeleimalerei und architekturbezogener Monumentalkunst, französischer Moderne und deutschem Neuidealismus, folgt zum einen der Logik der gesamtkunstwerklichen Groß-Synthese, erklärt sich aber auch aus dem Kontext des Ausstellungswesens, das, beginnend beim Salon des 18. Jahrhunderts, zu einer zunehmenden Theatralisierung und Inszenierung der Malerei führt. Klingers "skulpturaler Fresko-Impressionismus" erneuert die für die gesamte Historienmalerei des 19. Jahrhunderts paradigmatische Rolle des "tableau vivant", des Nachstellens von Gemälden oder Statuengruppen durch Schauspieler.

Wie bereits bei seinem "Parisurteil" und der "Kreuzigung" hat Klinger den Bildraum im wesentlichen als flache, bühnenartige Terrasse gestaltet, die hier als elysische Blumenwiese mit Hecken und Bäumen erscheint, mit dem bewaldeten Gipfel des Olymp und weitem Meerblick als Prospekt. Durch den Freskoton, die friesartige Reihung der Figuren und die architektonische Fassung erinnert das zunächst an die zeitgleiche Wiederbelebung der Quattrocento-Wandmalerei durch Puvis de Chavannes oder Hans von Marées. Die impressionistische Natürlichkeit und psychologisierende Vergegenwärtigung der Personen hebt aber das Theatralische hervor, verlebendigt die Wandkunst zum monumentalen Spektakel. Gesteigert wird der Bühneneffekt durch die horizontale Abtrennung eines niedrigen Sockelstreifens, der wie eine dunkle Unterbühne oder ein Orchestergraben wirkt:

Hier befindet sich der Tartaros, die Hölle der Antike. Vom Hauptbild sind außerdem durch geschnitzte Palmstämme zwei kleine Seitenteile abgetrennt, hinter denen die Landschaft aber weiterläuft. Das unterstreicht nochmals den Fenster- oder Guckkastenbühnen-Effekt und vervollständigt zusammen mit dem Sockelgemälde und den flankierenden Marmorskulpturen die Assoziation zum Altarflügelschrein, dem kirchlichen "Gesamtkunstwerk" der frühen Neuzeit mit Mitteltafel, Seitenflügeln und Predella. Diesen christlich geprägten Bildtypus verschränkt Klinger mit dem Historienbild antiker Prägung, was durch das betonte Breitformat, die friesartige Reihung der Figuren und schließlich den Mäander des abschliessenden Gebälkstreifens zum Ausdruck kommt. Eine Begegnung oder Synthese von Antike und Christentum wird also bereits durch die eigentümliche Bildform thematisiert.

Max Klinger, Das Urteil des Paris, um 1885-87, Öl auf Leinwand, Holz,
370 x 720 cm, Österreichische Galerie Belvedere, Wien.
Klingers Gesamtkunstwerk führt ein Geschichtsdrama auf, das doppelte religiöse Weihen hat (christliche und heidnische), und ein religiöses Mysterienspiel, das den Realismus einer zeitkritischen Milieustudie besitzt. Mit dieser Mixtur verfolgt Klinger geschickt eine Doppelstrategie: Einerseits befriedigt er die Schaulust des nach Sensationen, Massenszenen und Spektakel gierenden Publikums der zu dieser Zeit populären Panoramen, andererseits transferiert er diese massenmedialen Effekte "auf die Ebene der Kontemplation", der hohen und erhabenen Stilkunst.

Am besten gelang dies im Jahre 1899 bei der Präsentation des Bildes in der Wiener Secession: "In einem ansonsten in leichtes Dämmer getauchten Raum erstrahlte das Gemälde allein in hellem Licht; der Besucher wurde durch eine Allee von Lorbeerbäumchen darauf zugeführt, dunkle Vorhänge umrahmten den Aufbau: Man befand sich an einem Ort der Andacht, Festspielhaus und Panoptikum in einem." Und die Rechnung ging auf, wie Ludwig Hevesi berichtet: "In langer Reihe sitzen die Leute davor, Herren und Damen, und schauen und flüstern, halbe Stunden lang. Es herrscht eine eigene Art von Andacht in dem Saale, kritische Andacht zum Teil, eine zögernde, halb widerwillige Gemütserhebung, als betete einer und stieße dazwischen Anzüglichkeiten gegen den lieben Gott aus." Die paradoxe Verquickung von Blasphemie und Andacht betrifft im Kern alle Synthetisierungsbemühungen Klingers: Ist die Verschmelzung gelungen, oder hat er bloß zusammengezwungen, was nicht zusammengehört? Um dies beurteilen zu können, muß man sich seine Inszenierung zunächst im Detail ansehen.

Auf der "Oberbühne", dem Hauptbild, haben sich um den Marmorthron des Zeus die olympischen Götter versammelt. Klinger zeigt keine idealisierten Heroen in klassischer Nacktheit, sondern reale Zeitgenossen, die sich für ihren Auftritt vollkommen nackt ausgezogen und möglichst natürlich wirkende, betont unklassische Posen eingenommen haben - eine "Annäherung an die mit Mängeln, ja Häßlichkeiten behaftete Realität des durchschnittlichen Körperbaus". Der Parnass erscheint von Göttern bevölkert, die "mit den Körpern und Seelen reicher Bankiers, berühmter Rechtsanwälte und pflichtbewußter Hausfrauen" ausgestattet sind. Und diese "modernen Götter" gehen tatsächlich ihrem Fin de siècle entgegen. Zeus ist kein potenzstrotzender Blitzschleuderer mehr, sondern ein weißhaariger Greis, der sich zornig der Umarmung seines Lustknaben Ganymed entwindet. Der Grund seines Mißbehagens steht nur wenige Schritte vor ihm:

Mitten in die heidnische Gesellschaft ist Christus getreten, ein hagerer Asket, dessen goldglänzendes Haar und Kleid in der Abendsonne erstrahlen. Der neue "Sonnenkönig" mit deutlich germanischen Gesichtszügen weist Zeus von dessen Platz, und hinter ihm steigt, als meteorologischer Vorbote der Götterdämmerung, weißer Nebel empor, der die blühenden Hänge des Olymp bald in eisiges Grau getaucht haben wird. Wie zum Ausgleich sind aber unter den Tritten des Heilands Veilchen gewachsen, die Blumen der Bekenner und der Demut" - gleichsam die fromme Alternative zur polytheistischen Farbenpracht des Göttergartens. Christi Gefolge bilden "präraffaelitisch kostümierte Gouvernanten", die züchtig bekleideten Personifikationen der vier Kardinaltugenden, welche ein großes schwarzes Kreuz tragen, und eine Gruppe ausgemergelter Jammergestalten, die links im Hintergrund händeringend und betend die Plattform erklimmen, während ein lesbisches Nymphen- oder Bacchantinnenpärchen die Flucht ergreift.

Max Klinger, Kreuzigung Christi, 1890, Öl auf Leinwand, 251 x 465 cm,
Museum der bildenden Künste Leipzig.
Anhand der Reaktionen der Olympier auf den unerwarteten Besuch entfaltet Klinger eine ganze Skala psychischer Regungen, angefangen bei panischem Entsetzen über ungläubiges Staunen bis hin zu Gleichgültigkeit. Sie sind quasi der Text des stummen Religionsdramas, den der Betrachter zu entziffern hat und der ihm auch dabei hilft, über den daraus geoffenbarten Charakter die jeweiligen Götter zu identifizieren. Denn auf gegenständliche Attribute hat Klinger, um den Naturalismus nicht zu gefährden und das bildungsbürgerliche Ratespiel nicht vorzeitig zu beenden, wohlweislich verzichtet. Am schwierigsten gestaltet sich das bei den Kardinaltugenden. Jene mit dem durchdringenden Blick ganz links könnte die "Klugheit" sein, neben ihr die "Mäßigung", die bescheiden und sanft lächelnd die Augen niederschlägt, rechts vorne die "Tapferkeit", die wie eine kampfbereite Suffragette ihre Rechte forsch in die Hüfte stemmt, während die "Gerechtigkeit" nachdenklich den Kopf auf die Seite legt, das Geschehen beobachtet und das Kreuz wie abwägend in ihren Händen hält.

Als Kontrast zu diesen hochgeschlossenen Viktorianerinnen, die wie eine Abordnung der Heilsarmee im Nudistenclub wirken, fungieren gleich hinter ihnen drei nackte Göttinnen. Nahezu übereinstimmend werden sie als Hera, Athene und Aphrodite bezeichnet, die schon zuvor beim "Parisurteil" um ihre Schönheit wetteiferten. Bei der Schwarzhaarigen ganz rechts, die etwas pikiert und von oben herab die ungeladenen Gäste mustert und mit ihren eingestemmten Armen das Gegenstück zur "Tapferkeit" bildet, handelt es sich zweifellos um Hera. Klinger macht aus der chronisch betrogenen Zeusgattin eine stolzfrustierte First Lady. Die sich zierende Nackte in der Mitte wendet uns den Rücken zu und zeigt den Neuankömmlingen die kalte Schulter. In betonter Keuschheit hat sie ihre Beine zusammengekniffen und wie fröstelnd die Arme um den Körper geschlungen. Sie wird abwechselnd mit Athene oder Aphrodite identifiziert. Die dritte Göttin ist gerade im Begriff, sich umzuwenden; herausfordernd öffnet sie ihr Haar und blickt neugierig zur Gruppe um Christus.

Rund um den Thron des Göttervaters herrschen Sorge, Verwunderung und naive Ignoranz. Sichtlich verdutzt, blickt sich der Götterbote Hermes, ein braungebrannter Sportler, der lässig seinen Heroldstab wie einen Golfschläger hinter sich herzieht, nach den Neuankömmlingen um. Artemis ist in Ohnmacht gefallen, ihr Bruder Apoll hat sie aufgefangen und dreht sein leidendes Beethoven-Antlitz zum Orte des Geschehens. Dahinter brütet der "schwarze Brahmskopf" des Poseidon mißmutig vor sich hin; seine ahnungslose Gattin Amphitrite versucht vergebens, ihn aufzumuntern. Am rechten Rand verschläft Hades seinen Untergang im Schoß seiner kassandrahaften Gemahlin, die wie eine Stummfilmdiva das aufziehende Unheil allein in ihren großen, schwarzumrandeten Augen spiegelt. Hephaistos, ein tapsiger, lüsterner Greis, nutzt die Gelegenheit und macht sich an die schöne Persephone heran (oder will er bloß den Schläfer wecken und warnen?). Darüber zieht Kriegsgott Ares kampflustig vom Leder; mit Degen, Kappe und buntem Rock sieht er aus wie ein Corpsstudent, von dessen überaus prahlerischem Gehabe die christliche Abordnung wohl nicht viel zu fürchten hat. Weiter hinten am Berghang tanzen vier nackte Gestalten einen bacchischen Reigen. Sie haben von ihrem drohenden Ende ebensowenig bemerkt wie die herumtollenden Fangenspieler links hinter dem Zeusthron, denen ein übermütiger Satyr im Gebüsch aufgelauert hat. Oder ist die wie leblos zu Boden sinkende Nymphe bereits ein Anzeichen für das Sterben der sinnenfreudigen Naturreligion?

Max Klinger, Christus im Olymp, Detail
Nur zwei Olympier reagieren positiv auf das Erscheinen des Nazareners: Dionysos und Psyche. Dionysos, ein femininer Schönling (womit Klinger auf dessen notorisches Gender-Crossing anspielt) wankt offensichtlich beschwipst auf Christus zu und bietet ihm einen Willkommenstrunk an, aber man hat den Eindruck, daß er nicht recht begreift, wen er vor sich hat. Anders Psyche: Sie, die Verkörperung der unsterblichen menschlichen Seele, hat erkannt, daß der strenge Fremdling, so blond, ernst und germanisch wie sie, allein zu ihrer Rettung gekommen ist. Unterwürfig am Boden sitzend, umfaßt die nackte Bittstellerin mit beiden Händen seine Rechte und blickt - ganz in der Art einer reumütigen Maria Magdalena - schmerzerfüllt zu ihm empor, wohl darauf hoffend, daß er sie wieder aufrichtet. Psyche ist nicht das junge Mädchen, dessen Schönheit einst Aphrodite in den Schatten stellte, nicht die "zarte seelenlose Puppe", wie sie das 19. Jahrhundert so liebte, sondern eine abgehärmte Nervenkranke, die erst durch ihr Leiden ganz Seele geworden ist: Eine "magersüchtige Hysterikerin, die voller Erwartung vor dem Meister kniet, (um) von ihm in psychiatrische Behandlung genommen zu werden." Ihr Gatte Amor ist davon allerdings gar nicht erbaut. In jäher Bewegung weicht er zurück, um voller Zorn seine Pfeile gegen den Eindringling zu schleudern. Dabei verheddert er sich mit dem Bein in Psyches Kleid, wodurch er sie entblößt, aber zugleich wie durch ein blaues Band der Treue an sie gebunden bleibt. Klinger verdeutlicht die Entfremdung von Amor und Psyche durch rassistische und soziale Klischees: Amor erscheint als südländischer Rabauke, als roher Triebmensch, den Welten von der edlen Vornehmheit und Größe des nordischen Duos Christus und Psyche trennen.

Da die Rahmen- und Sockelteile des Gemäldes im Zweiten Weltkrieg beschädigt und teilweise zerstört wurden und seither fast immer nur das Hauptbild in Ausstellungen zu sehen war, kann man sich vom Rest nur mehr anhand der historischen Photos und Beschreibungen ein Bild machen. Den gemalten Sockelstreifen widmete Klinger der Unterwelt. Eng aneinandergekauert vegetieren dort die von den Olympiern gefangengehaltenen Titanen vor sich hin. Eine Gruppe von ihnen versucht, mit wuchtigen Keulenschlägen das Fundament des Zeusthrones zum Einsturz zu bringen. Die Kunde von der Götterdämmerung dürfte also schon den Hades erreicht haben, und die Unterdrückten nutzen die Gelegenheit zur Revolte.

Das Höllenbild ruhte auf einem farblich darauf abgestimmten dunkelroten Marmorsockel und wurde von zwei Marmorblöcken - gleichsam den Pfeilern des Olymp - seitlich eingefaßt. Hier ging die Malerei gemäß Klingers Vorstellung vom Gesamtkunstwerk in neobarocker Weise in Architektur und Skulptur über. Als Sockelfiguren fungierten beidseits zwei weibliche Akte aus weissem Marmor. Die linke, meist als Allegorie der "Reue", aber auch der "Trauer" oder der "Verzweiflung" tituliert, steigt aus dem roh belassenen Block und verhüllt den Kopf in ihren verschränkten Armen. Ihr Schrittmotiv wiederholt jenes des fliehenden Frauenpaares darüber, sodaß sie, je nach Ideologie des Betrachters, die Trauer der Bacchantinnen über das Ende der erotisch unbeschwerten Antike oder die Reue ob ihrer sündigen Lüsternheit zum Ausdruck bringt. Da es aber keinen Hinweis auf ein reumütiges Verhalten gibt, ist das neutralere "Trauer" wohl die bessere Bezeichnung. Die rechte Figur, in der Regel als" Hoffnung" angesprochen, ist nur ein Torso. Daß der Unterleib, Sitz der Geschlechtsorgane, fehlt, der bei der "Trauer" das Zentrum der Figur bildet, dürfte kaum Zufall sein. Die "Hoffnung" blickt in Richtung der christlichen Ankömmlinge, in Armhaltung und sehnsuchtsvollem Gesichtsausdruck Amors Gattin vergleichbar: "Sie ist eine andere Psyche, die den Erlöser fand und eine reinere Welt aufgehen sieht."

Max Klinger, Christus im Olymp, Detail
Wenn man die Frage nach der Aussage des Bildes stellt, muß man zwei Ebenen streng auseinanderhalten: Was war die Intention Klingers? Und was kommt dabei unbewußt oder gar ungewollt noch zum Ausdruck? Klingers Zeitgenossen waren sich - wenn sie das Bild nicht ablehnten - weitgehend darin einig, daß es Christentum und Heidentum als erbitterte Gegensätze darstellt, die in der Person Psyches versöhnt werden. Dabei versucht Klinger, beiden Kontrahenten gerecht zu werden. Der Untergang jener homerischen Welt wird als schmerzlicher Verlust empfunden, aber als unabwendbare, geradezu biologisch-evolutionäre Tatsache. Was das Christentum an naiver Sinnlichkeit zerstört, gleicht es durch seelische Vertiefung aus. Positives wie Negatives findet sich auf beiden Seiten. Als guter Regisseur weiß Klinger, daß eine simple Schwarzweiß-Malerei der dramatischen Wirkung eher abträglich wäre - und politisch außerdem gefährlich.

Symptomatisch ist dafür die Geste, die Christus mit seiner linken Hand vollführt. In der Regel wird sie als Ablehnung des Willkommenstrunkes des Dionysos gedeutet. Eine nach außen gedrehte Handinnenfläche wäre da aber plausibler gewesen. Offensichtlich wollte Klinger damit noch eine Reihe anderer Deutungsmöglichkeiten offenhalten: Die Gebärde erinnert auch an einen "Segen, der den heidnischen Pokal in einen Abendmahlskelch verwandelt." Zugleich ist sie eine "segnende Schutzgebärde über dem Haupte Psyches", mit der sich Christus aber auch gegen die Attacke Amors verteidigt. Abschließend kann man sie auch in Richtung Zeus verstehen: als stummen Befehl, den Platz zu räumen. Dieser Vieldeutigkeit entspricht das Sowohl-als-auch in der Bewertung des gesamten Geschehens, was Klinger in den Allegorien der "Trauer" und der "Hoffnung", den Ecksteinen der Komposition und damit auch der Interpretation, zum Ausdruck bringt. Sympathie- und Antipathieträger sind unter den Vertretern von Christen- und Heidentum gleichmäßig verteilt.

Bei den Göttern sind etwa Poseidon und Apoll mit den Physiognomien von Brahms und Beethoven eindeutig positive Identifikationsfiguren, während Ares, Hephaistos und Hades lächerlich gemacht werden, Zeus Mitleid und Amor eher Ablehnung hervorrufen. Mit den Jammergestalten am Ende des christlichen Zuges ganz links, von denen nur die Köpfe zu sehen sind, dürfte Klinger, gewissermaßen als Randglosse und in satirischer Entsprechung zu Ares & Co., religiösen Fanatismus und fundamentalistische Frömmelei karikiert haben. Die hochgeschlossenen Kreuzträgerinnen mögen zwar auf den heutigen Betrachter besonders lächerlich wirken und außerdem der Lobrede auf den nackten Körper widersprechen, die Klinger am Ende von "Malerei und Zeichnung" anstimmte: aber es deutet nichts darauf hin, daß er sie als nur negativ darstellen wollte, denn ihre viktorianische Steifheit findet sich auch als Merkmal der nackten Göttinnen (besonders bei Hera und Aphrodite) - aber das lag wohl außerhalb von Klingers Intentionen.

Max Klinger, Christus im Olymp, Detail
Uneingeschränkt positiv schildert Klinger die Person Christi, und das beweisen vor allem die nicht unerheblichen Abweichungen von der Tradition. Christus ist kein "bleicher, bluttriefender Jude, mit einer Dornenkrone auf dem Haupte", wie ihn Heinrich Heine in seiner antiklerikalen "Stadt Lucca" schildert und der das fröhliche Gelage der Olympier zum Verstummen bringt - ein Text, der einmal fälschlicherweise als literarische Grundlage des "Christus im Olymp" herangezogen wurde -, sondern ein blondgelockter Herrenmensch, der den arioheroischen Tendenzen der Zeit entgegenkommt. Bereits 1899 pries der Klinger-Apologet Hevesi die "urdeutsche, teutonisch wilde Phantasie" des Bildes. Nur drei Jahre später zeigte sich Lothar Brieger-Wasservogel von Christi "blonden Locken, dem blonden Barte eines Germanen" derart angetan, daß er unverblümt feststellte: "Er (Christus) bestärkt uns in unserer Nationalität, folglich sehen wir ihn überhaupt als einen Deutschen an. Wir verlangen, daß er blonde Haare und blaue Augen hat... das ist eine durchaus berechtigte Forderung."

Die Bezeichnung "Christus der Germanen" etablierte sich dann vor allem durch das zwischen 1899 und 1926 fünfmal in der populären Reihe der Knackfuß Künstler-Monographien aufgelegte Klinger-Buch von Max Schmid. Entscheidend ist dabei die ebenfalls dem arischen Ideal entsprechende Gestalt der Psyche - gerade durch ihre äußeren Liebreiz hinter sich lassende Leidensfähigkeit und geistige Reife; galt es doch "als das Vorrecht deutscher Anschauung, ... die innerliche Beseeltheit" höher zu stellen als bloße (an italienischer Kunst geschulte) "Sinnenschönheit". Für Brieger-Wasservogel symbolisierte der "Christus im Olymp" demnach den Triumph des "Geist(es) über die leere Schönheit". Brieger-Wasservogel war auch der erste, der Klingers Bild auf den seit der Romantik stets virulenten Traum vom "dritten Reich" zurückführte, der Sehnsucht nach einer "neuen Weltanschauung, die Homer und Jesus Christus in sich vereinte."

In Abwandlung der geschichtstheologischen Spekulation des Joachim von Fiore (1130/35-1202), der ein "drittes Reich des Heiligen Geistes" prophezeit hatte, das unter einem "neuen Führer" die vorhergehenden Epochen des Vaters und des Sohnes miteinander verschmelzen und Vollkommenheit und Freiheit bringen würde - eine Idee, die u. a. Hegel stark beeinflußte -, hoffte man auf eine hegelsche Synthese von Antike und Christentum. Diese neue "Religion aus Ästhetik" erwartete man sich vom Gesamtkunstwerk und seinen Priestern, den deutschen Genies: Beethoven, dessen Idee einer 10. Symphonie griechischen Mythos und Kirchengesang vereinen sollte, natürlich Richard Wagner und - Max Klinger. Beethovens 10. Symphonie wäre "Christus im Olymp" geworden, schwärmte etwa Felix Zimmermann in seiner vergleichend-ästhetischen Studie Beethoven und Klinger von 1906, die mit den hymnischen Worten schließt: "Beethoven und Klinger - eine kühne Parallele, eine stolze Schau auf zwei weithingebreitete Schönheitsreiche, die im Sonnenglanz des Genius schimmern - und ihre Grenzen schwimmen und verschwimmen in der Ferne immer mystischer in Eins, bis an den aufblitzenden Streifen Meer, in dem am Horizont die selige Insel des dritten Reiches winkt..."

Max Klinger, Christus im Olymp, Detail
Die nachfolgende Klinger-Literatur griff den Gedanken des "dritten Reiches" zum Teil begeistert auf, sodaß es etwas mehr als wie ein Zufall wirkt, daß der "Christus im Olymp", nachdem er in der Zwischenkriegszeit im Oberen Belvedere in Wien ein unbeachtetes Dasein als Depotware fristete, seine "Auferstehung" ausgerechnet im Jahr des Anschlusses Österreichs an ein - nun etwas anders geartetes - Drittes Reich erfuhr: als Dauerleihgabe im Museum der bildenden Künste in Leipzig. Die Nationalsozialisten bereiteten dem von den Vertretern der Moderne vielgeschmähten Werk - Julius Meyer-Graefe z. B. verspottete es als "Marne-Schlacht deutschen Geistes" ein kurzes Revival. Der Leipziger Museumsdirektor Werner Teupser lobte in seiner 1939 publizierten Denkschrift Klingers Christus als "kein Haupt voll Blut und Wunden, sondern eine rein germanische, fast siegfriedhafte Natur, die eine große einmalige weltgeschichtliche Idee verkörpert", zu dem sich in der Figur der Psyche die "edle Einfalt und stille Größe" der Antike rette. Und ausgerechnet "1938 - im Jahre des auch von Klinger so heiß ersehnten neugeschaffenen Zusammenschlusses von Großdeutschland", wäre dieses Gemälde heim in seine Vaterstadt Leipzig geholt worden, quasi die künstlerische Groß-Synthese als sinnreicher Ausdruck der Synthese Großdeutschlands, mit dem dritten Reich der 10. Symphonie als weihevollem Überbau, wo sich Geniekult und Führerkult, Gesamtkunstwerk und Gesamtreich zu (un)heiliger Allianz vermischen.

Selbstverständlich darf man Klinger seine spätere faschistische Vereinnahmung nicht in die Schuhe schieben. Aber an seiner Grundidee, die Synthese und evolutionäre Überwindung von Antike und Christentum in einer Art "vergeistigtem" Deutschtum der Zukunft anzusiedeln, das im germanisierten Paar "Christus und Psyche" seinen sichtbaren Ausdruck findet, kann kaum ein Zweifel bestehen. Christus wird - wie auch in den übrigen Christusbildern Klingers - aus der kirchlichen Tradition herausgelöst und zur Zentralfigur der neuen Religion vom Gesamtkunstwerk gemacht. […]

In Klingers zahlreichen Christusbildern ist eine deutliche inhaltliche Entwicklung festzustellen, sodaß man diese nicht wahllos und ungeachtet ihrer Entstehungszeit für eine wechselseitige Interpretation heranziehen darf. Nur eines bleibt stets konstant: Christus wird nicht mehr als Gottes Sohn und Heiland im Sinne der kirchlichen Tradition betrachtet, sondern als herausragender Mensch. In den 1880er Jahren entwickelt Klinger das Bild des "Großen Einzelnen", der sich der Masse widersetzt und mit den Ausgegrenzten solidarisch zeigt. In dem Blatt "Christus und die Sünderinnen" aus dem Epilog des Graphikzyklus "Ein Leben" von 1884, der mit schopenhauerschem Pessimismus das sexuelle Schicksal der Frau behandelt, steht Christus inmitten einer Gruppe nackter Frauengestalten, die sich zum Teil hoffnungsvoll und reumütig um ihn scharen, den Rocksaum küssen und - genau wie in der Folge beim" Christus im Olymp" - mit bittender Geste die Rechte umfassen. "Ich zog Christus gewissermaßen als Einleitung zum E(pilog) an", schreibt Klinger 1885, "er ist der erste wenigstens für unsere Gesichtsweise zugänglich, der sich menschlich mit der Hure beschäftigte - wenigstens sich nicht ihrem Co(n)takt entzog."

Max Klinger, Christus und die Sünderin (Blatt 13 aus "Ein Leben"), 1884,
 Radierung und Stich, 297 x 408 mm, Museum der bildenden Künste Leipzig
Mit der "Kreuzigung" (1890) bekommt der sozialkritische Aspekt eine idealistische Schlagseite. Christus wird zu einem zweiten "Prometheus, ein sieghaft gescheiterter Titan" mit bereits deutlich germanischen Zügen. Rein dem Idealismus verpflichtet ist dann der Entwurf für das nicht ausgeführte Wandgemälde "Der Morgen" im Leipziger Museum, der Ende 1896, also kurz vor Fertigstellung des "Christus im Olymp", entsteht. Klinger beschreibt die Szene mit knappen Worten seinem Förderer Alexander Hummel: "Meer Sturm, in der Ferne Insel im Meer. Weit draußen ein Boot. Christus mit den Aposteln. Nackt über das Meer schreitet die Natur und fordert Christus auf jetzt ihr entgegen zu kommen. Christus setzt einen Fuß aufs Wasser." In origineller Weise verknüpft Klinger das Motiv der schaumgeborenen Venus mit dem des über den See Genesareth schreitenden Jesus, wobei Venus/Natur die auffordernde Rolle Christi, Christus die Rolle des Petrus einnimmt, und wie in Michelangelos "Erschaffung Adams" die Natur Christus über die ausgetreckte Hand "inspiriert" und sich mit ihm vermählt. […]

Ein als historische Begegnung inszeniertes Zusammentreffen von Christus und den olympischen Göttern mußte zwangsläufig zu deren wechselseitiger Demontage führen. Am klarsten hat das bereits im Jahre 1899 Hermann Bahr erkannt, der "Christus im Olymp" durchaus schätzte: "Hier Christus, dort Zeus ... das kann doch nur heißen, daß Christus jetzt in derselben Entfernung von uns ist wie der Zeus. Glauben wir an den Zeus? Wir können ja sagen, indem wir es in einem vagen pantheistischen Sinne meinen und mit ihm die ewig waltende Kraft in der Natur verstehen: an einen lebendigen und persönlichen Zeus, der noch unter uns vermummt nach schönen Frauen auf Abenteuer geht, glauben wir nicht mehr, er ist uns nur noch ein Zeichen einer Idee ... Der Künstler drückt aus, dass Christus uns dasselbe geworden ist, was uns Zeus oder Ares oder Apollo ist. Er hat ihn unter die alten Götter treten lassen und wir glauben an die alten Götter nicht mehr. Man könnte auch malen: Wotan begegnet dem Zeus. Aber nur, wenn Wotan dem Zeus schon gleich geworden ist: wenn sie beide nur Mythologie sind. Ein gläubiger Germane würde niemals seinen Gott durch eine solche Begegnung entheiligen lassen. Dass es heute gute Christen gibt, die dieses Bild ertragen können ..., kann uns beweisen, wie es mit ihrem Christenthum ist: sie glauben an Christus, wie wir an den Zeus."

Vielleicht hat Klinger diese Einschätzung geteilt, allerdings hätte er dann mit Bahr einen entscheidenden Aspekt übersehen: Das Bild zeigt uns weder Zeus noch Christus als mythologische Figuren, als "Zeichen einer Idee", sondern als historische, naturalistisch gemalte Gestalten. Im Prinzip wird hier Zeus auch als Mythos vernichtet, so wie Christus - durch seine Kombination mit Zeus seine Historizität einbüßt, mit der ihn Max Klinger in der "Kreuzigung" noch in besonderem Maße ausgestattet hatte. Der Mensch Jesus von Nazareth, der Zeus im Olymp trifft, kann nie ein realer Mensch gewesen sein. Der Gott Zeus, den dieser Jesus besucht, kann nie ein realer Gott gewesen sein. Instinktiv dürfte Klinger dieses ontologische Dilemma gespürt haben, und möglicherweise ist sein zum germanischen Übermenschen stilisierter Christus der - mißglückte - Versuch einer Lösung. Mißglückt deshalb, weil die Diskrepanz von heidnischer, christlicher oder "arioheroischer" Heilsgeschichte einerseits und positivistischer Weltgeschichte andererseits, die von der Relativität aller Religionen (einschließlich der vom Übermenschen) ausgeht, bestehen bleibt. Klinger relativiert nicht nur die Religionen im Geist des Historismus, er entzieht ihnen - ohne es zu wollen - jegliche reale oder allegorische Basis. Diese wechselseitige Demontage Gottes und der Götter ist eine Folge der Ideologie vom Gesamtkunstwerk, die nicht nur eine historische Buchreligion mit einem Mythos, sondern auch einen naturalistischen Stil mit einem symbolistischen Inhalt zur Synthese bringen will, die dabei schon im Ansatz in die Brüche geht. […]

Max Klinger, Morgen (Christus auf dem Meere), 1896, Öl auf Leinwand,
114 x 200 cm, Museum der bildenden Künste Leipzig
Quelle: Anselm Wagner: Eine brüchige Synthese. Max Klingers Monumentalgemälde "Christus im Olymp". In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. ISSN 1025-2223. Heft 2/2000, Seite 4 - 17 (gekürzt).

Anselm Wagner arbeitete nach dem Studium der Kunstgeschichte als Kurator, Kunstkritiker, Galerist und Universitätsassistent. Derzeit [2000] ist er Redakteur der Wiener Kunstzeitschrift "Frame" und Lehrbeauftragter für Kunstgeschichte an der Universität Mozarteum in Salzburg.

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