7. Februar 2014

Alfonso Ferrabosco: Consort Music (Rose Consort of Viols)

Das europäische Musikleben des 16. Jahrhunderts wurde in ganz erheblichem Maße von italienischen Musikern beeinflußt, und das nicht nur auf dem Festland, sondern auch in England. Es war eine Truppe fahrender jüdischer Musikanten aus Italien, die in den vierziger Jahren am Hofe Heinrichs VIII. das erste Violenconsort bildeten und damit eine Tradition begründeten, die ihre Nachkommen dann im Dienste der jeweiligen Könige fortsetzten. Um 1600 tummelten sich so viele italienisch-stämmige Musiker bei Hofe, daß selbst ein durch und durch englischer Mann wie John Cooper es für opportun hielt, sich mit dem Namen Coprario einen italienischen Anstrich zu verleihen.

Wenn man unter allen »italienischen Engländern« die einflußreichste Einzelpersönlichkeit suchte, so stieße man mit großer Wahrscheinlichkeit auf Alfonso Ferrabosco I., der 1543 als Sohn einer Bologneser Musikerfamilie geboren und schon 1562 als Lautenist von Elizabeth I. in Dienst genommen wurde. Dieses Anstellungsverhältnis währte gut anderthalb Jahrzehnte, und das, obwohl Ferrabosco immer wieder nach Italien reiste - sei's, um Familienangelegenheiten zu regeln oder vielleicht auch, um für seine Königin als Spion zu fungieren. 1578 kehrte er für immer in die Heimat zurück, wo er bis zu seinem Tode (1588) im Dienste des Turiner Herzogs von Savoyen stand.

Ferrabosco hatte sich jedoch 1569 »lebenslang« bei Elizabeth verdingt, und diese mochte ihn nicht einfach ziehen lassen: Nach seiner überhasteten Abreise unternahm sie noch verschiedene Anläufe, ihn zur Rückkehr in seine Dienste zu bewegen, so hoch war die Wertschätzung, die er bei Ihrer Majestät genoß. Einige venezianische Besucher registrierten, daß er einer der Diener in der »privaten Kammer der Königin ist und sich bei Ihrer Majestät einer überaus großen Gunst erfreut maßen ein so vorzüglicher Musiker ist». Er scheint freilich, wie etliche Virtuosen späterer Jahrhunderte, ein etwas launischer Charakter gewesen zu sein. 1577 bezichtigte man ihn, einen Musiker des vornehmen Höflings und Dichters Sir Philip Sidney beraubt und ums Leben gebracht zu haben; fernerhin hieß es, er habe bei der fluchtartigen Verlagerung seines Wohnsitzes zwei uneheliche Kinder zurückgelassen.

Außer Frage steht freilich der nachhaltige Eindruck, den Ferrabosco bei den englischen Musikern hinterlassen hat. Aus Italien brachte er profunde Kenntnisse auf dem Gebiet jener kontrapunktischen Musik mit, wie sie vor allem Palestrina meisterhaft beherrschte. Zwar wird man in Ferraboscos eigenen Werken nur selten die Anzeichen jenes aktuellen italienischen Stils entdecken, den man gegen Ende des 16. Jahrhunderts in der dramatischen Chromatik des modernen Madrigals hören kann; gleichwohl sollte man seine diesbezüglichen Fertigkeiten nicht verkennen. William Byrd, der führende englische Komponist an der Wende zum 17. Jahrhundert, hatte Ferrobosco viel zu verdanken: Viele seiner Werke basieren auf Vorbildern des älteren italienischen Kollegen.

Königin Elisabeth I. mit einem Fächer (ca 1585),
Anonym, Privatbesitz, im Bristol Museum
[Quelle: Luminarium]
Welche Achtung und Bewunderung Alfonso Ferrabosco I. auf der Insel erfuhr, kann man noch in Thomas Morleys Plaine & Easie Introduction to Practicall Musicke nachlesen. Rund zwanzig Jahre nach der endgültigen Heimkehr des Signore Ferrabosco heißt es in der Publikation des Jahres 1597, daß »Master Alfonso … ein großartiger Musiker« gewesen sei, »dessen Werke zu den besten gehören und deswegen bewundert und berühmt sind». Was die englischen Komponisten ganz besonders schätzten, war die große »Kunstfertigkeit« des Italieners, will sagen, seine Fähigkeit, imitative kontrapunktische Linien scheinbar mühelos ineinander zu flechten. Es ist durchaus denkbar, daß Ferrabosco selbst das Prinzip des doppelten Kontrapunkts, mithin die simultane Aufstellung und kontrapunktische Behandlung zweier Themen, nach England brachte. In jedem Fall tat er sich einerseits auf dem Gebiet der majestätischen Motette hervor, indessen er andererseits auch als Komponist von Madrigalen und Fantasien glänzte.

Im 16. Jahrhundert war es durchaus üblich, vokale Werke auf Violen spielen zu lassen, namentlich Motetten wie Fuerunt mihi lachrime [3], deren tiefe Tessitura und düstere Intensität sowohl dem durchdringenden Instrumentalklang als auch der melancholischen Natur des Textes entspricht, dessen Vertonung womöglich für die geheimen Gottesdienste der im protestantischen England geächteten Katholiken entstand. Im Gegensatz dazu liegt dem Madrigal Solo e pensoso [4] ein Sonett von Petrarca zugrunde; das abwechslungsreiche, lebhalt rhythmisierte Wechselspiel der einzelnen Stimmen ist darauf angelegt, den poetischen Bildern der Dichtung zu entsprechen. Susanne un jour [20] ist eine Parodie oder Bearbeitung des berühmten Chansons von Orlando di Lasso, das 1570 auch in London veröffentlicht wurde. Die englischen Musiker lernten Ferraboscos Version in der Musica Transalpiana von 1588 kennen, wo sie zusammen mit dreizehn seiner englischsprachigen Madrigale veröffentlicht wurde.

Die Instrumentalmusik der Renaissance bediente sich gern vorgefertiger, bereits existierender Elemente. Das dreistimmige Ut re mi Fa sol la [11] zeigt, wie geschickt Ferrabosco variierte Themen zu entwickeln verstand, die - wie im vorliegenden Fall - auf dem grundlegenden Material eines auf- und absteigenden Hexachords beruhen. Das In Nomine [7/8] war ein typisch englisches Genre, in dem der Choral »Gloria tibi Trinitas« als strukturelles Gerüst benutzt wurde. Grundlage all dieser In Nomine-Kompositionen ist ein Ausschnitt aus der gleichnamigen Messe, die John Taverner in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts komponiert hatte; das Fragment verselbständigte sich als Instrumentalstück und wurde von den meisten jüngeren englischen Komponisten verwendet. Ferrabosco hat in seinen Fassungen die Choralstimme jeweils in den langsam voranschreitenden Altus gelegt; die anderen vier Instrumente flechten darum ihre farbigen Kontrapunkte. Das In Nomine II [8] ist insofern ungewöhnlich, als ihm ein Dreiermetrum zugrundeliegt.

Die wichtigste instrumentale Gattung der damaligen Zeit war die Fantasy, auch Fancy genannt. Das hier eingespielte vierstimmige Stück [19] ist eines der ältesten Beispiele, das englische Quellen überliefern; zwar ist es heute nur noch als Clavier=Stück erhalten, doch aus der Existenz einer Alt=Stimme läßt sich schließen, daß es auch eine Fassung für Consort gegeben hat. Die Fantasy Di sei bassi [12] ist eine außergewöhnliche Komposition, in der die reiche Klangwelt der tiefen, darmbesaiteten Violen zu ihrem Recht kommt und dabei mit ihren grandiosen, warmen Farben Ferraboscos harmonische Fähigkeiten demonstriert.

König Jakob I., von Paul van Somer dem
Älteren (1577-1621), Museo del Prado, Madrid
Als sich Alfonso Ferrabosco I. im Jahre 1578 absetzte, ließ er eine Tochter und seinen Sohn Alfonso Ferrabosco II. in der Obhut des Flötisten Gommer van Oostrewick zurück, der seinerseits in königlichen Diensten stand und dafür sorgen sollte, daß die Kinder auf Kosten der Monarchin erzogen würden. Es ist durchaus denkbar, daß Elizabeth die beiden jungen »Ferraboschi« als Geiseln betrachtete und auf diese Weise den Vater zur Rückkehr zwingen wollte. Zumindest versuchte dieser vergeblich, sie nach Turin ausliefern zu lassen. Immerhin erhielt Alfonso junior schon 1592 die stolze Summe von 26 Pfund 13 Shilling 4 Pence pro Jahr als »Musicus auf denen Viollen«, einem höfischen Amt, dem er später noch 50 Pfund als »Violinist« hinzufügen konnte.

1605 wurde er Musiklehrer des Prinzen von Wales, der ein großer Kunstmäzen war. Im Jahre 1612 starb Prinz Henry plötzlich und unerwartet, und es dauerte einige Zeit, bis sein jüngerer Bruder Charles ein eigenes musikalisches Ensemble etablierte und Alfonso Ferrabosco der Jüngere seinen musikalischen Einfluß bei Hofe wieder geltend machen konnte. Welche Rolle Ferrabosco II. am jakobitischen Hofe spielte, wird aus seiner Zusammenarbeit mit Ben Jonson ersichtlich, mit dem er zahlreiche opulente Masques zur Gemütsergötzung des Königs lieferte. Für Violenspieler ist er freilich aus einem anderen Grund von Interesse: Zunächst wegen der Entwicklung einer als »lyra way« (nach Lyrenart) bezeichneten Technik, deren akkordischer Satz und Tabulatur direkt mit der Laute konkurrierte; zum andern aufgrund seiner Arbeit mit den Kammermusikern des Prinzen Henry, einer Instrumentalgruppe, die mit ihm selbst sowie Kollegen vom Range eines Thomas Lupo, John Coprario und Orlando Gibbons (an der Orgel) besetzt war.

Für dieses Ensemble hat Ferrabosco junior wohl auch die vierstimmigen Fantasien [9/10] komponiert, in denen er vorführte, welch große musikalische Vielfalt in ein und derselben Form möglich war - von sehnsüchtigem Schmachten bis zu vergnügter Spielerei. Im Vergleich mit dem Ut re mi la sol la [11] des Vaters zeigen die Hexachord-Fantasien [13/14] des Sohnes einerseits eine größere strukturelle Strenge, andererseits aber auch eine größere harmonische Zügellosigkeit. Eine Diskantviole wiederhalt die Töne des Hexachords, die in der ersten Fantasie auf-, in der zweiten hingegen absteigen und dabei bei jeder Wiederholung um einen Halbton höher (bzw. tiefer) gespielt werden. Dieses Verfahren treibt die Musik in einige entfernte Tonarten, was vor allem dann auffällt, wenn wir annehmen, daß die Violen nicht temperiert gestimmt waren. Tatsächlich ist zu hören, daß Ferrabosco II. für die Abschnitte, die sich in ungewöhnlichen Tonarten bewegen, geheimnisvollere Themen geschrieben hat als für die triumphalen Augenblicke, in denen die Spieler wieder die »Grundtonart« erreichen.

In seinen sechsstimmigen Fantasien erkundet der jüngere Ferrabosco eine Vielzahl unterschiedlicher Texturen, unter anderem in der Fantasy Nr. 8 »for three trebles« (zu dreien Diskanten) den Gebrauch hoher Instrumente [17] oder - in der Fantasy Nr. 3 [6] - die Skordatur der unteren Baßsaiten mit dem Ziel, eine noch größere Tiefe zu erreichen. Während er einerseits die klangliche Fülle des jeweiligen »Sextetts« ausnutzt, unterstreicht er andererseits die Episoden durch kleinere, eher solistisch gehaltene Besetzungen (beispielsweise ein hohes oder tiefes Trio). Immer wieder steuert seine Musik auf grandiose, von langen Orgelpunkten markierte Schlußpassagen zu.

Henry Frederick Stuart, Prince of Wales, (ca 1610),
von Robert Peake dem Älteren (1551-1619),
 National Portrait Gallery, London
In vielen seiner Fantasien verzichtet Ferrabosco II. auf die madrigalartige Gliederung nach verschiedenen Abschnitten. Er bevorzugt statt dessen eine Gesamtkonzeption, bei der die meisten Gedanken aus dem ersten Thema entstehen - wie etwa in der noblen Fantasy Nr. 6 [5], die ganz schlicht in den beiden Tenorviolen beginnt und dann expandiert, um auch die Bässe und Diskante einzuschließen. Ein andermal unterteilt Ferrabosco junior ein Stück in lediglich zwei große, miteinander kontrastierende Abschnitte. Das Extrem dieses Verfahrens ist in der Fantasy Nr. 2 [21] zu hören, wo der zweite Teil das ernste Moll des ersten in ein lebhaftes Dur-Gezwitscher verwandelt.

Zur damaligen Zeit hatte die Pavane ihre überragende Rolle als höfischer Tanz bereits eingebüßt; als Gefäß für die erhabene Melodik des Violenconsorts hingegen lebte sie fort, beispielsweise in der glanzvollen Pavan in C [15] ader den dunkleren Tönungen der Dovehouse Pavan [1]. Die Almains [2/16] mit ihren klar konturierten Phrasen und ihren lebhaften Rhythmen paßten eher zu den Masquen-Tänzen des jakobitischen Hofes und verraten Ferraboscos II. Gespür für gesanglich-einprägsame Weisen, die sich hier ohne allzu komplexe kantrapunktische Strukturen entfalten können. Wie die meisten englischen Komponisten dieses »Goldenen Zeitalters« hat auch Ferrabosco II. seine Beiträge zur Entwicklung des In Nomine geleistet. Seine sechsstimmige Vertonung [18] stellt den Choral in die Mitte der Textur, derweil die paarweise geführten hohen und tiefen Instrumente das Thema mit ihren kunstvollen Linien umfangen. (Die Baßstimme ist verschollen und wurde hier von David Pinto rekonstruiert.) Die In Nomine Fantasy No. 7 [22] ist eine einzigartige Verbindung alter und neuer Gedanken: Die Choralmelodie wird hier nicht in einer der Stimmen gespielt, sondern vielmehr sechsmal in verschiedenen Tonarten wiederholt, wobei sie sich vom ersten Diskant an abwärts »durch alle Partien« bis zum zweiten Baß bewegt. Anstelle der üblichen langen Notenwerte, mit denen das Thema für gewöhnlich versehen wurde, gibt es hier vielfältige rhythmische Muster, die dem Komponisten natürlich eine weitaus größere Freiheit gewähren.

Dieses Stück ist ein zeitloses Zeugnis für den Erfindungsreichtum des jüngeren Ferrabosco. Es überrascht nicht, daß der Künstler gegen Ende seines Lebens neben seinen bisherigen höfischen Aufgaben auch noch den Posten eines Komponisten für König Charles I. zu erfüllen hatte. Immerhin hatten Seine Majestät, wie uns der Musikverleger Henry Playford im 17. Jahrhundert wissen läßt, in jungen Jahren »seinen Part auf der Baßviole stets mit großer Genauigkeit gespielt». Es scheint nur folgerichtig, daß nach dem Tode Alfonso Ferraboscos II. im Jahre 1628 die traditionellen Aufgaben von den Söhnen Alfonso III. und Henry gemeinsam wahrgenommen wurden.

Quelle: John Bryan, im Booklet. Übersetzung: Eckhardt van den Hoogen

Track 12: Di sei bassi a 6 viols [Ferrabosco I]


TRACKLIST


Alfonso Ferrabosco I  (1543-1588) 
Alfonso Ferrabosco II (1578-1628) 

Consort Music 

01 Dovehouse Pavan a 5 viols [Ferrabosco II]                    4'44    
02 Almain a 5 viols [Ferrabosco II]                             2'17           
03 Fuerunt mihi lachrime a 4 viols [Ferrabosco I]               2'46     
04 Solo e pensoso a 5 viols [Ferrabosco I]                      3'59           
05 Fantasy No 6 a 6 viols [Ferrabosco II]                       2'29     
06 Fantasy No 3 a 6 viols [Ferrabosco II]                       3'26           
07 In Nomine No 1 a 5 viols [Ferrabosco I]                      2'55     
08 In Nomine No 2 a 5 viols [Ferrabosco I]                      2'20       
09 Fantasy No 14 a 4 viols [Ferrabosco II]                      3'15    
10 Fantasy No 16 a 4 viols [Ferrabosco II]                      2'46       
11 Ut re mi a 3 viols [Ferrabosco I]                            1'38           
12 Di sei bassi a 6 viols [Ferrabosco I]                        3'20           
13 Hexachord Fantasy No 1 a 5 viols [Ferrabosco II]             3'41 
14 Hexachord Fantasy No 2 a 5 viols [Ferrabosco II]             3'55   
15 Pavan in C a 5 viols [Ferrabosco II]                         4'07   
16 Three almains in C a 5 viols [Ferrabosco II]                 3'16   
17 Fantasy No 8 »for three trebles« a 6 viols [Ferrabosco II]   2'26   
18 In Nomine No 2 a 6 viols [Ferrabosco II]                     3'41   
19 Fantasia a 4 viols [Ferrabosco I]                            3'57   
20 Susanne un jour a 5 viols [Ferrabosco I]                     3'25   
21 Fantasy No 2 a 6 viols [Ferrabosco II]                       3'52   
22 In Nomine through all parts a 6 viols [Ferrabosco II]        6'02   
                                                         T.T.: 75'36   

Rose Consort of Viols     
John Bryan - Alison Crum - Sarah Groser     
Roy Marks - Susanna Pell - Peter Wendland     

Recording: Forde Abbey, May 31 - June 2, 1997, Westdeutscher Rundfunk Köln 
Recording Supervisor: Barbara Valentin - Recording Engineer: Arnd Coppers 
Digital Editing: Dirk Franken - Executive Producer: Klaus I. Neumann 
C + P 2003

Track 22: In Nomine through all parts a 6 viols [Ferrabosco II]


Adolph Menzel (1815-1905)


Aus: »Die Phantasie in der Malerei. Schriften und Reden« von Max Liebermann


Adolph Menzel: Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci, 1852, Öl auf Leinwand, 142 x 205 cm,
Alte Nationalgalerie, Berlin   [Quelle, mit Bildbeschreibung]
In keiner Galerie der Welt ist das Lebenswerk eines Malers in solcher Fülle und Reichhaltigkeit gesammelt wie in der Nationalgalerie zu Berlin das Werk Adolph Menzels: Hier können wir den Meister, ich möchte fast sagen, vom ersten bis zum letzten Tage in seiner Arbeit verfolgen, nicht nur in seinen Hauptwerken, in seinen zahllosen graphischen Blättern, sondern in beinahe noch zahlloseren Zeichnungen, Skizzen, Entwürfen, in seinen durchgeführtesten Bildern ebenso wie in Kritzeleien oder 'Griffonagen', die der Augenblick gebar und die in ihrer Ursprünglichkeit das Genie Menzels deutlicher erkennen lassen als die großen Gemälde, denen die Arbeit oft die Frische nahm. Wir staunen und bewundern. Und wenn auch in die staunende Bewunderung manches Mal ein Bedauern über philiströse Kleinlichkeiten und Geschmacksverirrungen dringen sollte, so wird doch in jedem Beschauer seines Werks die Überzeugung reifen, daß wir in Menzel die größte malerische Begabung, die Deutschland im neunzehnten Jahrhundert hervorgebracht hat, zu verehren haben. […]

Das Genie ist ein Geschenk, das die Götter dem Künstler in die Wiege gelegt haben, und mit Recht setzt es Kant, indem er die Kunst als Kunst des Genies definiert, apriori bei jedem Künstler voraus: Wie er aber mit diesem Pfunde wuchert, ist sein Werk und hängt von seinem Charakter ab. Nun hat es wohl selten einen Künstler gegeben, der mehr seiner Kunst gelebt hat, als Menzel, der mit größerer Inbrunst, mit mehr Hingebung und größerem Fleiße mit und nach seiner Kunst gerungen hat. Jeder, auch der flüchtigste Strich seiner Zeichnungen beweist den Ernst und die Stärke seines Charakters. Ja, ich möchte sagen, während manch ein Künstler an zuwenig Charakter leidet, litt Menzel an zu vielem Charakter. Statt von seinem Genie sich das Gesetz vorschreiben zu lassen, schrieb sein Charaker ihm den Weg vor.

Das Äußere des Menschen ist von seinem Inneren nicht zu trennen: Das Gefallen an sich selbst macht gefällig, das Gefühl eigener Anmut anmutig, sagt Goethe, und ich glaube, daß der eigensinnige und rauhbeinige Zug in seinem Charakter, der sich oft störend in seinem Werke zeigt, durch sein Äußeres, wenn nicht bedingt, doch sehr vermehrt wurde. Denn Menzel hatte das Aussehen eines Gnomen. Ein kolossaler Kopf saß auf einem winzigkleinen Körper, als hätte eine böse Fee den großen Geist in ein viel zu kleines Gefäß gepreßt. Ein riesenhafter Zwerg und ein zwerghafter Riese. Wie er sich selbst auf einem seiner schönsten Bilder im Atelier 1848 mit seinen Geschwistern gemalt hat. »Unbrauchbar zum Militärdienst wegen Gnomenhaftigkeit«, steht in dem Ausmusterungsschein, den die Nationalgalerie aufbewahrt. […]

In seinem Testament schreibt er: »Nicht allein, daß ich ehelos geblieben, habe ich auch lebenslang mich jederlei Beziehung zum anderen Geschlecht (als solchem) entschlagen. Kurz, es fehlt an jedem selbstgeschaffenen Klebestoff zwischen mir und der Außenwelt.« Der Verzicht, der aus diesem Bekenntnisse spricht, wird nicht ohne schweren Kampf vor sich gegangen sein, denn sonst würde Menzel »in höheren Jahren«, wie er schreibt, dessen nicht erwähnen. Aber auch aus den Briefen an seinen Freund Arnold in Kassel ist die Liebe zu dessen Tochter zu erkennen, noch deutlicher aus dem Porträt, das er 1844 von der jungen Dame gemalt hat. Es ist also Resignation, die ihn auf den Umgang mit Frauen verzichten läßt, und daraus erklärt sich unschwer der mit den Jahren immer stärker hervortretende Zug eines mürrischen, ingrimmigen Humors. Als wollte er sich rächen an dem Schicksal, das ihm die irdischen Freuden der Liebe versagte, Daher auch seine ruhe- und rastlose Tätigkeit: Er hatte nichts als seine Arbeit.

Adolph Menzel: Hinterhaus und Hof, 1844, Öl auf Leinwand,
 Alte Nationalgalerie, Berlin
Böcklin hat Menzel einen großen Gelehrten genannt, womit er ihm nicht mehr und nicht weniger als das Genie abspricht (denn nach Kant ist das Wort Genie auf Gelehrte überhaupt nicht anwendbar: Lernen ist nicht mehr als Nachahmen, und so kann die größte Gelehrigkeit nicht für Genie gelten. Genie ist die angeborene Begabung, die sich nicht lernen läßt). Nie hat ein Künstler über den anderen ein schieferes Urteil ausgesprochen. Menzel verdankte alles seinem Genie, Beweis dafür, daß gerade seine Parerga, die Werke, die nebenher entstanden, die besten sind, wo er unbewußt seinem Genius folgte. Richtiger könnte man sagen: Menzel war ein großes Genie, aber ein sehr schlechter Gelehrter, denn sonst hätte er seine Begabung besser begriffen. Die Illustrationen zu Kugler nannte er Jugendsünden, und seine schönsten Sachen blieben bis in sein höchstes Alter in irgendeinem Winkel seines Ateliers versteckt, bis sie ein findiger Kunsthändler ans Tageslicht der Öffentlichkeit zog. Ja, manch Schönstes kam erst nach seinem Tode zum Vorschein. Wenn aber Böcklin Menzel einen Gelehrten nannte, um damit anzudeuten, daß er sehr viel gelernt hatte, so ist das ebenso falsch. Wohl war Menzel ein Virtuose in seinem Metier, aber die Virtuosität war ihm wie jedem wahren Künstler angeboren.

Man spricht heute wieder so viel von der künstlerischen Gesinnung, und zwar sehr zum Schaden der Kunst, als machte das Wollen den Künstler. Nein: Das ihm voluisse sat est ist nirgends falscher als in der Kunst: In ihr sind Wollen und Können eins. Das Genie kann nicht nur, was es will, sondern es will nicht, was es nicht kann. In der Beschränkung zeigt sich der Meister. Wer nicht vom Handwerk ausgeht, kann nie ein großer Maler werden, und hätte er das Wollen eines Raffael oder Rembrandt. Was ist denn Kunst anderes als Ausdruck der Empfindung des Künstlers: Er denkt nicht nur mit, sondern auch in den Mitteln seiner Kunst. Denken und Anschauung ist beim Künstler dasselbe, und malerisches Denken heißt, die Welt so auffassen, daß die Auffassung mit den Mitteln der Malerei zu realisieren ist. Die gestaltende Phantasie ist nicht minder göttlichen Ursprungs als die schöpferische Phantasie, und ein Maler, der sein Metier nicht versteht, ist vielleicht ein großer Dichter, aber nie ein großer Maler.

Kunst und Handwerk sind unlösbar miteinander verwachsen, und auch die scharfsinnigste ästhetische Analyse vermag nicht zu sagen, wo das Handwerk aufhört und das Kunstwerk anfängt. Wohl kann jeder malen lernen, ja, er kann so wie sein Meister malen lernen. Aber dann bleibt er Nachahmer. Seinen Empfindungen mit Pinsel und Farbe Gestalt zu geben kann niemand lernen, denn nur das Genie ist original. […]

Die Worte Schopenhauers »Goethe war so sehr Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinnen wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekt vorgestellt werden« passen nicht sowohl auf den Realisten in Goethe als auf den Künstler in Goethe. Sie passen auf jeden Künstler, auch auf den eingefleischtesten Idealisten. Kann es überhaupt einen Künstler geben, dem nicht die Erscheinung des Gegenstandes der Gegenstand selbst ist? Die Kunst hat es nur mit dem Schein und nicht mit dem Sein zu tun. Der Künstler sieht nur seine Vision von der Wirklichkeit, und je unverfälschter er seine Vision im Bilde wiederzugeben imstande ist, desto überzeugender wirkt er, das heißt, desto wahrer ist er. Daher gibt es in der Kunst nur subjektive Wahrheit.

Adolph Menzel: Das Balkonzimmer, 1845, Öl auf Leinwand,
 Alte Nationalgalerie, Berlin
Indem nun die Photographie zum ersten Male ein objektives Bild von der Wirklichkeit gab, mußte sie auf unser ganzes Sehen, also auch auf das künstlerische Sehen, den größten Einfluß ausüben, und zwar einen sehr unheilvollen, denn sie bestärkte den Künstler in dem ästhetischen Irrtum, der schon, wie aus der Fabel von den Früchten des Apelles und den Spatzen hervorgeht, bis auf die alten Griechen zurückdatiert, daß die Kunst in der möglichst wahren Wiedergabe der Wirklichkeit bestände. In der wahren Wiedergabe der Anschauung liegt allein die künstlerische Wahrheit, und daher ist der Künstler viel wahrer als die Photographie, mag er sich von der Wirklichkeit auch meilenweit entfernen.

Auch wenn wir nicht wüßten, daß Menzel seinen jüngeren Bruder in den später zu großer Ausdehnung gelangten photographischen Verlag von Schauer gesetzt hatte, müßten wir doch annehmen, daß der Wahrheitssucher, der er war, von der Photographie stark impressioniert werden mußte. Nicht etwa, daß er sie wie so viele andere bei der Arbeit benutzte, im Gegenteil, er verachtete die Maler, die aus Impotenz, weil sie nicht zeichnen konnten, oder aus Faulheit nach der Photographie arbeiteten - nur die Porträts von zwei Herren auf dem Krönungsbilde, die, während er an dem Bilde malte, gestorben waren, hat er, wie er mir einmal sagte, mit Zuhilfenahme der Photographie gemalt - aber sein von Natur aus auf die Beobachtung und Wiedergabe auch des minutiösesten Details gerichteter Sinn mußte durch die Photographie neue Nahrung erhalten.

Es ist der tragische Zug in Menzels Entwicklung, daß sein Charakter den freien Flug seiner Phantasie zu fesseln versuchte, daß seine künstlerische Gewissenhaftigkeit die Gebilde seines Genies gleichsam sezierte und somit das Höchste, das Leben, seiner Kunst zu nehmen drohte. Und wenn er bei zunehmendem Alter noch Bilder wie das Krönungsbild, das »Walzwerk«, das »Ballsouper« schuf, so ist das nur der Beweis seiner eminenten Begabung, an der seine Theorien - dem Himmel sei Dank - wenn auch nicht wirkungslos abprallten, doch in ihrer Wirkung abgeschwächt wurden. […]

Die bekannte Äußerung Menzels, daß er das »Flötenkonzert« des Kronleuchters wegen gemalt hätte, ist natürlich ein Witz und daher cum grano salis zu verstehen, aber es steckt doch ein Körnchen Wahrheit darin (wie in jedem Witz, wenn er gut ist): Nicht die einfache Tagesbeleuchtung reizte ihn, sondern die künstliche Beleuchtung, das Spiel der Kerzen auf den Uniformen und auf den reich verzierten Rokokowänden des Schlosses, die von Fackeln erhellte Nacht, wie auf der »Schlacht bei Hochkirch«, oder das rotglühende Eisen auf dem »Walzwerk«. Er liebte das Komplizierte, vertrackt Geistreiche in der Natur. Die einfache Natur war ihm zu langweilig. Seine Werke sprühen von Geist und Witz, aber Geistreichtum kann die fehlende Einfachheit nicht ersetzen. Die Werke eines Tizian oder Michelangelo, des Rubens oder Rembrandt, eines Cezanne oder Manet sind nicht geistreich, sondern Geist schlechthin.

Adolph Menzel: Blick auf den Park des Prinzen Albrecht, 1846,
 Öl auf Leinwand, 68 x 86 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin
In der Mitte des Lebens und auf der Höhe seiner Schaffenskraft stehend, malte er das Krönungsbild: eine Leistung, an die keiner seiner zeitgenössischen Kollegen, die französischen eingerechnet, auch nur entfernt heranreichen kann. […] Ein Repräsentationsbild und dabei, wenigstens in einzelnen Teilen, von einer Lebendigkeit, wie sie ihm kaum vorher oder nachher wieder geglückt ist, zum Beispiel in der Gruppe der Minister, wie von der Heydt unter dem goldgestickten Ministerfrack und all seinen Orden zu schwitzen scheint. Mit dem Krönungsbild verläßt er die Schilderung der Epoche Friedrichs des Großen, um sich fortan der Darstellung der Gegenwart zuzuwenden: nicht nur eine Wandlung seines Stoffgebietes, sondern eine Entwicklung zur Freiheit in seiner künstlerischen Anschauung. Als er 1861 den Auftrag erhielt, die Krönung Wilhelms I. in Königsberg zu malen, war er an dem räumlich größten Bilde beschäftigt: »Die Ansprache Friedrichs vor der Schlacht bei Leuthen«. Es ist kein Zufall, daß er das Bild über vierzig Jahre bis zu seinem Tode unvollendet in seinem Atelier stehenließ. Im Krönungsbilde hat er sich frei gemacht vom konventionellen Historienbilde, jetzt wollte er sich befreien vom Zwange des Kostüms, der Orden und Uniformen. Er wollte nicht mehr kostümierte Menschen malen, sondern den Menschen. Und wenn ihm dieser Schritt nicht ganz gelang, so ist das nicht auf das Konto seiner mangelhaften Entwicklung, wie manche glauben, zu setzen, sondern es liegt tief begründet im Instinkt seiner Natur. Menzel war kein Pionier, der den Weg bahnt für eine neue Epoche, er war der Vollender seiner Epoche. […]

Es war ein Zufall, daß dem jungen, noch ganz unbekannten Menzel die bedeutende Aufgabe, Kuglers Friedrichs-Buch zu illustrieren, übertragen wurde. Aber es war kein Zufall, daß Menzel aus dem Gegenstück zum scheußlichen Napoleons-Buch des Horace Vernet - dem es äußerlich bis ins kleinste, bis auf die Umränderung der Blattseiten, aufs Haar gleicht - ein unvergleichliches Meisterwerk schuf.

Aus der Tatsache, daß sich an dem Friedrichs-Buche sein Genie entzündete, können wir schließen, daß Zeit und Welt des Rokokos Menzel kongenial waren. Beweis für die Richtigkeit dieses Schlusses ist, daß die Bilder, deren Stoffe der Gegenwart entlehnt sind, ihm nicht in demselben hohen Maße gelangen. […]

Wenn wir den Park von Sanssouci oder das Stadtschloß in Potsdam betreten, umfängt uns eine gewisse poetische Stimmung: Wir sind nicht mehr in der nüchternen Gegenwart, sondern in der Zeit des Alten Fritz. Menzel war es gegeben, diese Stimmung im Bilde wiederzugeben. Aber für die Bilder aus der Gegenwart fehlte ihm dieser verklärende Schleier der Poesie, es fehlte ihm die nötige Distanz. Mit anderen Worten: Obgleich die Bilder, die moderne Stoffe behandeln, objektiv wahrer sind, sind sie subjektiv unwahrer. Die Friedrichs-Bilder sind mehr Menzel. Seine grenzenlose Gewissenhaftigkeit gegen sich selbst, das heißt gegen seine Kunst, wurde ihr zum Verhängnis: Das Studium schädigte die Kunst. Indem er, ich möchte sagen, »das Ding an sich« wiedergeben wollte, zerstörte er den es umgebenden Zauber. Indem er glaubte, durch die Behandlung moderner Stoffe realistischer zu werden, wurde er nur nüchterner, das heißt unwahrer. […]

Indem Menzel gegen seinen ethischen Menschen dieser Forderung nach Wahrheit zu sehr genügte, schädigte er sie gegen den ästhetischen Menschen, und zwar weil sein Dämon ihn zu immer größerer Detaillierung trieb, weil er die Ausführung fälschlicherweise in der Ausführlichkeit erblickte.

Adolph Menzel: Die Berlin-Potsdamer Bahn, 1847,
Öl auf Leinwand, 42 x 52 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin
Im Jahre 1872 hatte Menzel mein erstes Bild »Die Gänserupferinnen« bei dem Kunsthändler Lepke gesehen, und er ließ mich auffordern, wenn ich, der damals auf der Kunstschule in Weimar war, wieder nach Berlin käme, ihn zu besuchen. Ohne seine Aufforderung hätte ich es nie gewagt, denn ihn in seinem Atelier aufzusuchen wurde für eine Tollkühnheit, etwa wie das Eindringen in den Löwenkäfig, angesehen. Er empfing mich mit den Worten: »Ihr Talent haben Sie vom lieben Gott, ich schätze am Künstler nur den Fleiß«, welche Äußerung ich mehr für die väterliche Ermahnung des Meisters dem Anfänger gegenüber hielt. Aber später in Jurysitzungen, bei Prämiierungen und dergleichen konnte ich bemerken, daß er nur nach dem aufgewandten Fleiß die Arbeit beurteilte. Aber nicht nur die Bilder der anderen, sondern auch seine eigenen. Ich bin der letzte, der den Fleiß in der Kunst geringschätzt, ich bin sogar überzeugt, daß er ein integrierender Teil des Genies ist, denn das Genie drängt zur Produktion. Aber Fleiß ist nicht Sitzfleisch, und auch die höchste Anstrengung kann Kunst nicht erzeugen ohne die schöpferische Inspiration. Und das war gerade das Merkwürdige an Menzel, daß er nicht den Fleiß des Genies, sondern den Uhrmacherfleiß schätzte, die mechanische Arbeit. Er wollte alles sich zu verdanken haben: Das Kunstwerk sollte nicht unter seiner Hand entstehen, sondern seine Hände sollten es im eigentlichen Sinne des Wortes machen.

Ich glaube, keines andern Künstlers Procédé war so selbstherrisch und eigenwillig wie das Verfahren Menzels. Ich habe sowohl die Anfänge des »Walzwerkes« wie des »Marktes in Verona« gesehen: Eine waagerechte Linie auf der blanken Leinwand bezeichnete den Horizont, dann sah man vertikale Linien, mit roter oder blauer Kreide gezogen, die die Größen einer Figur an der betreffenden Stelle angaben, und während zum Beispiel auf dem »Walzwerk« das Räderwerk des Hintergrundes, auf dem »Markplatz« die Häuserreihe mit der Luft fix und fertig waren und nie mehr berührt wurden, war der Raum, den die Vorderfiguren einnehmen sollten, mit der größten Sorgfalt und Vorsicht ausgespart. Und das Bild war vollendet, sobald die Leinwand überall mit Farbe bedeckt war.

Diese erstaunlich selbstbewußte Malweise, zu der er sich durchgerungen hatte, wird um so erstaunlicher, wenn man weiß, daß er seit dem unvollendeten Bilde »Ansprache Friedrichs vor der Schlacht bei Leuthen« keinen Karton, keine Skizze oder irgendeine andere vorbereitende Arbeit für das Bild außer seinen Zeichnungen machte. Auch malte er ins Bild nie nach der Natur, sondern nur mit Zuhilfenahme seiner gezeichneten Studien, an die er sich allerdings sklavisch hielt. Ich sah, wie er den zwei oder drei Zentimeter großen Kopf eines alten Weibes im »Markte von Verona« wohl sechsmal bis auf die Leinwand herunterkratzte und ihn immer wieder von neuem malte, da er dem Kopf auf der Zeichnung nicht »ähnlich« genug war.

Ähnlichkeit war überhaupt das erste, was er vom Bilde verlangte, aber er verlangte nicht nur die künstlerische Ähnlichkeit, die nur die Synthese geben kann, indem sie das Charakteristische unterstreicht und das Detail unterdrückt, sondern er wollte auch die analytische Ähnlichkeit der Photographie. Jeder Mensch hat die Schwächen seiner Vorzüge: Er wollte oder er konnte keine Opfer bringen. Jede Zufälligkeit, die er in und an der Natur beobachtet hatte - und wer beobachtete so im Fluge und so genau wie er? -, jedes witzige Detail, das er notiert hatte - und wessen Notierungen waren witziger und geistreicher? -, alles, was das Zimmermannsblei, dessen er sich stets bediente, in unübertroffener Sicherheit niedergeschrieben hatte, sollte auf dem Bilde zu sehen sein. […]

Adolph Menzel: Aufbahrung der Märzgefallenen, 1848,
Öl auf Leinwand, 45 x 63 cm, Kunsthalle, Hamburg
Kraft der Autonomie des Genies schafft sich jeder Künstler seine eigene Technik, aber keine zufällige, sondern die ihm von seiner Natur vorgeschriebene. Sein eminent richtiger Instinkt für das Handwerkliche in der Kunst hatte ihn zur Primamalerei geführt, ganz gegen die damals herrschenden Vorschriften, zu dieser Malweise, deren sich alle »Malermeister«, alte wie moderne, bedient haben und bedienen werden und deren Vorzug, abgesehen davon, daß sie für die Behandlung der Ölfarbe die geeignetste ist, vor allem darin besteht, daß sie der Realisation der künstlerischen Vision am nächsten kommt, indem sie dem augenblicklichen Impulse seiner Phantasie, seiner augenblicklichen Empfindung den möglichst adäquaten Ausdruck verleiht.

Aber gerade dieser größte Vorzug der Primamalerei ging unter Menzels Hand wieder dadurch verloren, daß er, statt frei aus dem Gedächtnis - sein Gedächtnis war so stark, daß er, wenn ihm in der Unterhaltung der Name jemandes entfallen war, den Betreffenden rasch zeichnete, um festzustellen, um wen es sich handele - oder von neuem nach der Natur ins Bild zu malen, sich strengstens an seine gezeichneten Studien hielt: Die Bilder sind daher nur die Übersetzung seiner Zeichnungen in Ölfarbe und daher viel schwächer als jene, denn wenn er auch mit seinem riesigen Können und Wissen die Zeichnungen auf die Leinwand übertragen konnte, so konnte er ihnen doch gerade das nicht geben, was ihre Schönheit ausmacht und wodurch keine Kopie das Original erreichen kann: die Inspiration, die ihm beim Zeichnen die Hand geführt hatte.

Wo Menzel alla prima ganz vor der Natur oder aus dem Gedächtnis nach der Natur malt - beides ist im Grunde dasselbe -, schafft er schlechthin Unsterbliches. Beweis: die zahllosen Pastelle, Guaschen, das »Balkonzimmer« und die andern Interieurs aus seiner Wohnung in der Ritterstraße - kürzlich ist erst wieder eins entdeckt -, die »Aufbahrung der Särge der Märzgefallenen«, der »Garten des Prinzen Albrecht« - nur die Vordergrundfiguren sind später hineingesetzt und keine Verbesserung -, »Das Gymnase-Theater«, wo auch die Zuschauer im Parkett später hineingesetzt sind, ohne, dem Himmel sei Dank, die Schönheit des Bildes zu beeinträchtigen. Alle diese Arbeiten, die nebenbei entstanden, zur Erholung von den Anstrengungen an den großen Bildern, und die deshalb von Menzel wenig oder gar nicht geschätzt wurden, sind unübertreffliche Meisterwerke und aus einem Guß: In ihnen löst die Form den Inhalt restlos aus. Sie sind zeitlos.

Wenn in den späteren Bildern, was nicht geleugnet werden soll, ein Erdenrest bleibt, so ist der Grund nicht in mangelnder Entwicklung zu suchen, sondern in der Wesensart seines Genies: Der Illustrator, der stärker in ihm war als der Maler, wollte die verschiedenen Vorgänge einer Handlung, die die Illustration in Bildern hintereinander gibt, auf demselben Bilde nebeneinander geben. Der Illustrator in Menzel wollte oder konnte nichts dem Maler opfern, nicht etwa, weil er nicht malen konnte, sondern obgleich jedes seiner späteren Bilder maltechnisch ein Fortschreiten bedeutet. Weil seine späteren Bilder als Malerei immer besser wurden, trat ihre illustrative Wesensart immer deutlicher zutage. Und selbst die Technik eines Menzel - wenn Technik die Kunst in der Kunst ist - ist nicht imstande, einheitlich aneinanderzuschweißen, was nicht einheitlich zusammen erschaut ist. […]

Adolph Menzel: Eisenwalzwerk, 1875,
Öl auf Leinwand, 158 x 254 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin
Der geborene Zeichner, der er war, geriet mit dem Maler, der er sein wollte, in Zwiespalt und nahm den späteren Bildern die Einheitlichkeit seiner früheren Werke. Im »Balkonzimmer« oder in der »Aufbahrung der Särge der Märzgefallenen« ergab der naive Ausdruck für den Eindruck seiner Anschauung das Bild: Er malte, was er sah oder was er gesehen hatte, eine sozusagen geistige Primamalerei, die mit der technischen im schönsten Einklang war. Auch die späteren Bilder sind alla prima gemalt, aber nur im Handwerklichen: Sie sind zeichnerisch gedacht und nur malerisch gemacht.

Menzel wurde, der er war. Der Zwiespalt, der sich in seinem Werke zeigt, ist nur der Reflex des inneren Zwiespalts: Es ist der Gegensatz zwischen dem Analytischen und dem Synthetischen.

Die künstlerische Form gibt nicht den Gegenstand wieder, sie kopiert ihn nicht, sondern sie gibt die Auffassung des Künstlers von dem Gegenstand: Sie ist Objekt und Subjekt zugleich. Je subjektiver sie ist, desto eigenartiger ist sie; je objektiver, desto typischer. Beides, das Besondere und das Allgemeine, in einer Form restlos zu verbinden ist das künstlerische Problem. […]

Nach seiner Wesensart wird jeder Künstler mehr dem einen oder dem andern zuneigen. Selbstverständlich, daß das Eigenwillige, Selbstherrliche in Menzels Natur ihn zur charakteristischen Form drängte, zu der Form, die nur er allein erschaut hatte. Indem er sich nie genugtun kann in der genauen Wiedergabe seiner Vision, die ja für den Künstler die Wirklichkeit bedeutet, verfällt er ins Übertreiben, aber jeder Strich ist er Menzel. Er duldet keine Zufälligkeit, und wäre sie auch noch so gelungen. Er befiehlt seiner Hand, aber nur scheinbar, denn in Wirklichkeit gehorcht er seinem Genius, der ihm die Hand führt. Wie hätte er sonst seinen Gestalten das stupende Leben geben können, daß wir in den Geschöpfen seiner Phantasie Geschöpfe der Natur zu sehen vermeinen.

Nur die Gesetzmäßigkeit des Genies vermag, eine Welt uns vorzuzaubern, die nicht existiert, aber existieren könnte. Dieses Wunder zu verrichten, vermag nur die schöpferische Kraft des Genies, dessen Werke sich gerade durch ihren Organismus vom genialischen Unsinn unterscheiden. Es hat viele Künstler gegeben, die an Menzels Größe auch nicht entfernt heranreichen, die harmonischere Bilder gemalt haben, aber es hat keinen zeitgenössischen, wenigstens in Deutschland, gegeben, in dessen Werken mehr Leben und Bewegung ist als selbst in den spätesten Bildern unseres Meisters. […]

Menzet als im schillerschen Sinne sentimentaler Künstler, liebte an der Natur, was er ihr lieh, das heißt, er liebte sein Werk, wie er denn in Ausstellungen oft stundenlang in der Betrachtung seiner eigenen Bilder versunken zu sehen war, während gemeinhin der Künstler seine öffentlich ausgestellten Arbeiten zu umkreisen pflegt. Nicht etwa, daß nicht alle Künstler ihre Werke gleichermaßen lieben, aber Menzel sah nur das Handwerk, das er geschaffen, nicht das Kunstwerk, das er erschaffen hatte. Er betrachtete sein Werk als Objekt, während andere Künstler ihrem Subjekt, also gleichsam einer Prostitution ihres Selbst, in ihrem Werke gegenüberzustehen wähnen. Daher war er ein so schlechter Beurteiler eigener wie der fremden Werke, weil er im Bilde nur das Handwerkliche, was die Hand gemacht hatte, nicht, was durch die Hand der Phantasie gelungen war, sah oder wenigstens sehen wollte. Er betrachtete das Bild vom kunstgewerblichen Standpunkt aus.

Adolph Menzel: Das Ballsouper, 1878,
Öl auf Leinwand, 71 x 90 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin
Gewiß lag Menzels Überschätzung der Technik seine übergroße Gewissenhaftigkeit zugrunde, auch wohl die Freude an der Überwindung technischer Schwierigkeiten und - last not least - ein gut Teil Malice gegen die sogenannte Poesie der Romantiker und Nazarener, denen zum Wollen das nötige Können fehlte. (Daß er im Alter die jüngere Generation der Faulheit bezichtigte, weil sie in ihrem Streben nach subjektiver Wirklichkeit die Technik zu vernachlässigen schien, indem sie der Phantasie mehr Raum ließ, lag wohl mehr in der Verhetzung von seiten seiner Umgebung.)

Während die Technik der Tizian und Velazquez, der Rubens, Rembrandt und Frans Hals mit dem Alter immer größer und freier wurde, vollzog sich bei Menzel das Umgekehrte:. Er wurde immer komplizierter und ausführlicher. Während jene nur das Große und Einfache sahen, unterstrich Menzel das Kleine, ja sogar das Kleinliche. Dabei mag seine große Kurzsichtigkeit mitgewirkt haben, aber diese, ich möchte sagen umgekehrte Entwicklung hatte doch einen inneren Grund in seinem Mangel an Geschmack. Solange er die Zeit des Rokokos bearbeitete, war er vor Entgleisungen geschützt, als er sich aber der Darstellung der modernen Zeit zuwandte, als er ganz Menzel wurde, machte sich dieser Mangel immer fühlbarer. […] Der ästhetische Geschmack liegt in dem Sinn für große, einfache Verhältnisse. Der Geschmack ist kein produktiver, sondern ein Beurteilungsvermögen und hat daher mit dem Genie nichts zu tun. Es gibt Maler mit sehr großem Geschmack, aber ohne Talent, und ein Genie wie Menzel, der keinen künstlerisch ausgebildeten Geschmack besaß.

Für die Beurteilung von Menzels Größe ist dieser Mangel belanglos, aber er hat es verschuldet, daß Menzel statt, seiner Begabung gemäß, eine Weltberühmtheit nur eine nationale Größe geworden ist. Daumier, Frankreichs genialster Künstler im vorigen Jahrhundert, hat einen weiteren Horizont als Menzel, der dem Franzosen aber in der Kunst der Darstellung unendlich überlegen ist. Man muß schon bis zu Rembrandt zurückgehen, um einen ihm ebenbürtigen Meister in Beherrschung der künstlerischen Mittel zum Vergleich zu finden.

Trotz der minutiösesten Ausführung bleibt sein Vortrag stets breit und frei, trotz seines fabelhaften Fleißes lassen seine Werke nie den Schweiß, den sie gekostet, oder das Öl der Studierlampe spüren. Er herrscht frei als unumschränkter Gebieter über seine wenn auch etwas kleinbürgerliche Welt, aus der er stammt, denn man darf nicht vergessen, daß Menzel, der Autodidakt, sich aus kleinsten Anfängen hat emporringen müssen.

»Das Höchste, was man vom Genie verlangen darf, ist Wahrheit.« Diese Forderung Goethes hat Menzel wie selten ein Künstler erfüllt. Wahrheit ist die Grundlage seiner Kunst, und nur völlige Unkenntnis von Menzels Eigenart kann uns weismachen wollen, daß er dem Geschmack des Publikums zuliebe gearbeitet hätte. Richtig ist, daß sein Geschmack mit dem des Publikums in manchen Dingen, wie in seiner übertriebenen Liebe zur Detaillierung, übereinstimmte, aber Konzessionen hat er nie gemacht, weder als Künstler noch als Mensch. […]

Dostojewski schreibt in einem seiner Romane: »Es gibt keine traurigere Zeit, als wenn wir nicht wissen, wen wir zu verehren haben.« Freuen wir uns, in dieser traurigen Zeit in Menzel einen Mann zu besitzen, den wir als Künstler und als Menschen gleicherweise verehren dürfen.

Quelle: »Menzel«. In: Max Liebermann: Die Phantasie in der Malerei. Schriften und Reden. Der Morgen, Berlin, 1983, Seite 130-147 (gekürzt). (Ursprünglich veröffentlicht 1921 als Vorrede zu: Adolf Menzel, 50 Zeichnungen, Pastelle und Aquarelle aus dem Besitz der Nationalgalerie)

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