So überschwenglich äußerte sich 1674 der Musikgelehrte Antonio Libanori über den ehemaligen Organisten von St. Peter in Rom. Damals war Frescobaldi schon vierzig Jahre tot. Aber auch schon zu Lebzeiten galt er als einer der ganz großen Orgelspieler und Komponisten. Der Florentiner Musiker Severino Bonini schrieb um 1640:
"Der berühmte Girolamo Frescobaldi hat besonders im Cembalo- und Orgelspiel vor Jahren schon eine neue Manier entdeckt, welche - wie jeder weiß - mittlerweile von der ganzen Welt als einzig musikalische angesehen wird; wer heute nicht nach seinem Stil spielt, hat als Musiker jede Achtung verloren."
Frescobaldi scheute sich auch nicht, gegen die strengen Regeln der damaligen Kompositions- und Kontrapunktlehren zu verstoßen. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Monteverdi vertrat er die Ansicht, Musik solle vor allem "wahrhaftig" und ausdrucksstark sein.
"Der Ausführende möge seine Spielart, wie es auch bei den modernen Madrigalen üblich ist, nicht streng dem Takt unterwerfen. Denn obwohl manche der Madrigale auf den ersten Blick schwer erscheinen, werden sie dadurch erleichtert, daß man den Takt bald langsam, bald schnell führt oder sogar innehält, je nach ihrem Ausdruck oder dem Sinn der Worte. Deswegen habe ich auch in den Toccaten darauf geachtet, daß sie reich an verschiedenen Abschnitten und Affekten sind. An den Stellen, welchen den üblichen Regeln des Kontrapunkts scheinbar nicht entsprechen, trachte man vor allem, den Charakter dieser Stellen, die vom Komponisten beabsichtigte Klangwirkung und die gewünschte Art des Vortrags herauszufinden. Es bleibt allein dem guten Geschmack und dem feinen Urteil des Spielers sei es überlassen, das richtige Tempo zu treffen, das dem Geist dieser Satz- und Spielart am besten entspricht."
Frescobaldis freizügige Art zu komponieren, wurde zwar allenthalben in Europa gepriesen, aber es gab ebenso auch Stimmen, denen diese Musik ein solches Greuel war. Wer derart gegen die Regeln des Kontrapunkts verstieß, mußte auch in sonstiger Hinsicht ein kulturloser Barbar sein. Und so streute der Musikgelehrte Giovanni Battista Doni mit sichtlichem Genuß das Gerücht aus:
"Frescobaldi, von dem gesagt wird, daß keiner besser die Orgel spielt, muß doch, wenn er auf ein schwieriges Wort stößt, sofort zu seiner Frau laufen, um sich Sinn und Bedeutung erklären zu lassen. Und von einem solchen Manne, dessen ganzes Können nur in seinen Fingerspitzen steckt, werden es einige sicherlich nicht versäumen zu verkünden, er sei der König der Musiker unseres Jahrhunderts. O unvernünftiges und vulgäres Zeitalter!"
Donis verleumderisches Bonmot wirkt bis in unserer Jahrhundert nach. Noch heute kann man in Musiklexika lesen, daß Frescobaldi mit dem Lesen und Schreiben auf Kriegsfuß gestanden habe, obwohl es außer Donis Bemerkung keinen weiteren Beleg für diese Behauptung gibt. Im Gegenteil: Frescobaldis Widmungs-Schreiben und die instruktiven Vorreden zu seinen Musiksammlungen zeigen ihn als einen Komponisten, der sehr wohl mit der Sprache umzugehen verstand.
Sein künstlerischer Werdegang liegt weitgehend im Dunkeln. Im September 1583 wurde er in Ferrara als Sohn eines angesehenen Organisten geboren; wer aber seine Lehrer waren und wer ihn musikalisch prägte, darüber lassen nur Vermutungen anstellen. Immerhin - der Hof des Hauses Este in Ferrara war eines der bedeutenden kulturellen Zentren in Italien: Hier lebten die Dichter Torquato Tasso und Guarini, und an Musikern hatte Alfonso der Zweite unter anderem Gesualdo und Luzzaschi um sich gesammelt, so daß es für einen kunstsinnigen und -interessierten Menschen in jedem Falle genügend Anregungen gab.
Mit vierzehn Jahren dann erhielt Frescobaldi in Ferrara seine erste Anstellung als Organist; wenige Jahre später siedelt er nach Rom über und wird dort von etlichen reichen Gönnern und Mäzenen protegiert. Im Gefolge des Kardinals Bentivoglio reist er 1608 nach Flandern, besucht Brüssel und Antwerpen und veröffentlicht dort seine ersten Kompositionen, darunter das hier vorgestellte Erste Madrigalbuch. (Ein weiteres ist nicht mehr erschienen.)
Als Orgelspieler stand Frescobaldi zeitlebens in kirchlichen Diensten, unter anderem war er päpstlicher Organist an St. Peter in Rom und spielte im Dom zu Florenz. Von daher überrascht es, daß seine geistlichen Komposition nur einen geringen Raum einnehmen: zwei vollständige Mess-Vertonungen, eine Handvoll kleinerer geistlicher Vokal-Sätze und drei Orgel-Messen, die er 1635 unter dem Titel "Fiori musicali" veröffentlichte. Diese "Fiori musicali" sind allerdings nicht nur - wie der Titel besagt - eine musikalische Blütenlese, sondern Frescobaldi stellt hier noch einmal (gleichsam in einer Rückschau auf eine untergehende musikalische Epoche) sein ganzes Können unter Beweis.
Im letzten Ricercar der "Missa della Madonna" fügt er überraschenderweise dem Orgelsatz eine fünfte Stimme hinzu mit dem Hinweise, diese Stimme solle man singen, aber nicht mitspielen. Ob Frescobaldi an eine vokale oder auch an eine Ausführung mit Bläsern oder Streichern gedacht hat, ist nicht sicher, wie auch die Einsätze dieser obligaten Stimme sind nicht angegeben sind. In diesem rätselhaften Kontext ist wohl auch das Zitat zu verstehen, daß Frescobaldi diesem Ricercar beigibt. Selbstbewußt setzt Frescobaldi der Komposition eine Zeile aus der Canzone 105 von Francesco Petrarca voran:
"Verstehe mich, wer kann; die Hauptsache, ich verstehe mich!"
Quelle: Wolfgang Lempfrid, im Kölnklavier (gekürzt)
TRACKLIST Girolamo Frescobaldi (1583-1643) Il primo libro de' madrigali a cinque voci (Anversa, 1608) 01 Fortunata per me, felice aurora 1'56 02 Se la doglia e'l martire 3'04 03 Ahi, bella si, ma cruda mia nemica 3'12 04 Da qual sfera del ciel fra noi discese 2'04 05 Perchè spess'a veder la vostra luce 2'03 06 «Amor» ti chiama il mondo 1'46 07 Tu pur mi fuggi ancora 1'35 08 S'a la gelata mia, timida lingua 1'32 09 Vezzosissima Filli 2'17 10 Perchè fuggi tra salci 1'59 11 Giunt'è pur Lidia il mio [prima parte] 2'19 12 Ecco l'hora, ecco ch'io [seconda parte] 4'05 13 Lidia, ti lasso, ahi lasso [terza parte] 2'00 14 S'io miro in te, m'uccidi 4'10 15 Amor mio, perchè piangi 2'50 16 Lasso, io languisco e moro 2'43 17 Cor mio, chi mi t'invola 2'31 18 So ch'aveste in lasciarmi 2'50 19 Qui dunque, ohime, qui, dove 1'57 20 Se lontana voi sete 2'55 21 Come perder poss'io 2'06 Total Timing: 52'39 CONCERTO ITALIANO Rinaldo Alessandrini Rossana Bertini SOPRANO Elisa Franzetti SOPRANO Gloria Banditelli MEZZOSOPRANO Claudio Cavina ALTO Giuseppe Maletto TENORE Sandro Naglia TENORE Sergio Foresti BASSO Mara Galassi ARPA DOPPIA Andrea Damiani TIORBA Recording : Salone della Musica, Villa Medici, ora Giulini, Briosco, Italy, May 1995 Executive producer: Yolanta Skura - Recording producer, engineer: Paul Malinowski. Editing: Laurence Heym Cover: Gustave Courbet: Portrait of a young woman in the style of Labille-Guiard, Musee des Beaux-Arts et d'Archeologie, Besancon ® 1995 © 2010
Track 21: Come perder poss'io
Come perder poss'io | |
Come perder poss'io, Donna, la speme mia: non v'accorgete Che sola voi la mia speranza sete? Ho ben perduto il verde Che mi donaste, ma ne vostri rai S'io miro lo sperar in me rinverde. Non perderò giammai Dunque la speme mia, Se voi, Donna gentil, non perdo pria. | How can I lose hope, o my lady: do you not see That you are my only hope? I have lost the youthfulness you gave me: but if I look upon your rays of light, hope springs anew within me. Therefore can I never lose hope, unless, gracious lady, I lose you first. |
Cesare Rinaldi (1559-1636), Rime |
Henri Cartier-Bresson: Deutschland, 1945
Henri Cartier-Bresson: Deutschland, 1945 |
Dessau kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem Lager für »Displaced Persons« erkennt ein Nazi-Opfer eine ehemalige Gestapo-Informantin wieder. Der junge Henri Cartier-Bresson war zur Stelle und schuf ein Bild, das zur Ikone der Befreiung, zum Sinnbild für das Ende des Nazi-Terrors wurde.
Am Ende hat er sich dann doch überreden lassen. Er wusste, dass er kein großer Schreiber war, und ein Theoretiker schon gar nicht. Er kam von der Malerei, der Zeichnung und hat sein Leben lang darauf insistiert, Maler zu sein, mit den Augen eines Malers zu sehen. Dem Surrealismus fühlte er sich verhaftet, aber immer als Augenmensch und nicht als Autor von Theoremen und Programmen. Am Ende hat er sich dann aber doch hingesetzt - auf Drängen seines griechischen Verlegers Tériade - und »in fünf oder sechs Tagen« alles heruntergeschrieben. »Ich hatte alles schon von Anfang an im Kopf«, sagt Henri Cartier-Bresson, der sein erstes großes Buch, zugleich die fotografische Bilanz aus zwei Jahrzehnten, programmatisch Images à la Sauvette nannte, »Bilder im Vorübergehen«. Der mit 32 x 29 cm vergleichsweise große Band mit einem von Henri Matisse gezeichneten Cover erschien 1952 in den Editions Verve des besagten legendären Verlegers Tériade. Und es ist wohl kaum übertrieben zu behaupten, hier handle es sich um eines der bedeutendsten, weil einflussreichsten Fotobücher des 20. Jahrhunderts, auch wenn es letztlich die englische Ausgabe war, deren Titel auf nachgerade kongeniale Weise sein fotografisches Konzept zu bündeln schien: The Decisive Moment.
Wie maßgeschneidert stand die Formel über Henri Cartier-Bressons einleitendem Text, der, wie Wolfgang Kemp betont, »wie kein anderer zur Grundlage des engagierten Fotojournalismus wurde«, wenngleich gesagt werden muss, dass man den Titel als Zitat in einem Buch des Kardinal von Retz gefunden hatte, und es der amerikanische Verleger Dick Simon war, der das Motto über die englische Ausgabe stellte und damit zum geflügelten Wort in Fototheorie und Kamerapraxis werden ließ.
Henri Cartier-Bresson, dieser »Gigant in der Geschichte der Fotografie« (Klaus Honnef), dieser »Gottvater, Sohn und Heilige Geist« (Roger Therond), dieser »größte Fotograf der Moderne« (Pieyre de Mandiargues) und »Vorbild für alle späteren Leica Fotografen« (Peter Galassi), gilt als Meister im Erhaschen entscheidender Augenblicke. Seine Bildfindungen, so hat man sich seit Images à la Sauvette bzw. The Decisive Moment angewöhnt zu formulieren, sind auf nachgerade geniale Weise geführte Schnitte durch die Zeit. In ihnen kulminiert ein wie auch immer geartetes Geschehen, um Sekunden oder gar Bruchteile von Sekunden später schon wieder auseinanderzulaufen oder sich im Fluss des Alltäglichen aufzulösen. Damit gewinnt sein Fotografieren etwas Visionäres, geradezu Seherisches.
Tatsächlich spricht etwa Yves Bonnefoy angesichts seiner Aufnahme Place de l'Europe im Regen (1932) von einem regelrechten »Wunder«: »Wie konnte er so schnell die Analogie zwischen dem Mann, der über den Platz läuft, und dem Plakat im Hintergrund erkennen, wie aus derart vielen flüchtigen Elementen eine Szene komponieren, die ebenso perfekt im Detail wie geheimnisvoll in ihrer Gesamtheit ist?« Er sei einfach nervös, erklärt Henri Cartier-Bresson mit der ihm eigenen Lakonie die erstaunlichen Resultate seines fotografischen Tuns und fügt hinzu: »Ich liebe die Malerei. Was die Fotografie betrifft, davon verstehe ich nichts.«
Images à la Sauvette präsentierte insgesamt 132 Aufnahmen in Schwarzweiß. Dem Tafelteil vorangestellt war der besagte Text. Es sollte dies nicht die einzige verbale Einlassung des Fotografen bleiben, aber es war, es wurde seine wichtigste: Ein programmatischer Diskurs, Reflexion und Handlungsanweisung in einem, Rezeptur für ein »Fotografieren im Vorübergehen«, der unmittelbar nach Erscheinen des Buches, in den 1950er Jahren also, weltweit Legionen von ambitionierten Fotografen gefolgt sind und noch immer folgen.
Henri Cartier-Bresson, 1908 in Chanteloup geborener Spross wohlhabender Textilfabrikanten, Schüler des Malers André Lhote und seit dem Kauf der ersten Leica nimmermüder Chronist seiner Zeit, gilt zu Recht als einer der einflussreichsten und zugleich produktivsten Kamerakünstler unseres Jahrhunderts. Jedes veröffentlichte Bild tritt auf als scheinbar müheloser Beleg seines Credos: »Ich mag es«, hat er einmal gesagt, »wenn meine Bilder klar sind, oder besser: zugespitzt ... Das ist mehr eine Sache des Stils als der Technik.« Ein Ereignis auf dem Kulminationspunkt des Geschehens auf Zelluloid zu bannen, dafür steht bis heute sein Name. Obwohl er Reportagen erarbeitet, Essays publiziert, Sequenzen produziert hat, gilt Henri Cartier-Bresson doch vor allem als Meister des Einzelbildes, in dem sozusagen ein kleines Welttheater beispielhaft aufgehoben ist.
Germany, 1945, so der offizielle, durch Magnum gewissermaßen autorisierte Kurztitel unserer Aufnahme, findet sich auf Seite 33/34 von Images à la Sauvette, also doppelseitig, über den Bund laufend reproduziert. Bereits 1947 hatten Lincoln Kirstein und Beaumont Newhall die Arbeit in der ersten großen Nachkriegsausstellung des Fotografen, 1947 im Museum of Modern Art, berücksichtigt und in den schmalen begleitenden Katalog aufgenommen. Auch in praktisch allen späteren retrospektiven Monografien findet sich das Bild, am prominentesten vielleicht in Cartier-Bressons großer, 1979 bei Delpire erschienener Zwischenbilanz mit dem schlichten Titel Henri Cartier-Bresson photographe, wo die Arbeit neben vielen anderen Klassikern wie Rue Mouffetard, An der Marne oder Sevilla ganz selbstverständlich vertreten ist. Damit darf diese Aufnahme zu seinen bekanntesten, weil verbreitetsten gerechnet werden.
Mehr noch gehört das Bild zu jenen Schöpfungen, die einer erweiterten, erklärenden Legende für würdig befunden wurden. So heißt es auf der Rückseite des Schlüsselmotivs mit der Archivnummer HCB45003 W00115/25C: »Dessau. Grenze zwischen der amerikanischen und sowjetischen Zone. Transitlager für ehemalige Gefangene im ostdeutschen Raum: Politische Gefangene, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Displaced Persons. Eine junge belgische Frau und frühere Gestapo-Informantin wird wiedererkannt, ehe sie in der Menge untertauchen kann.«
Dessau also, jene anhaltinische Stadt, die vor dem Krieg als Heimat des Bauhauses international von sich reden gemacht hatte. Wann genau Cartier-Bresson die Aufnahme gemacht hat, wissen wir nicht (der Fotograf selbst äußert sich rückblickend nur ungern zu seinen Bildern). Aber es muss zwischen dem 21. April und dem 2. Juli 1945 gewesen sein, also noch zur Zeit der Amerikaner und vor dem Einmarsch der Russen. Ort des Geschehens ist eine ehemalige, nun als Durchgangslager genutzte Flak-Kaserne in Dessau-Kochstedt. Das im Hintergrund andeutungsweise sichtbare Gebäude war 1937 eingeweiht und bis zur »Wende« von den Sowjets als Kaserne genutzt worden. Heute steht hier der Wohnpark Mosigkauer Heide. An diesem Frühlingstag des Jahres 1945 ist der Himmel bedeckt, das Licht diffus. Nur manchmal bricht die Sonne durch und wirft lange Schatten, was auf Nachmittag, eher aber frühen Morgen schließen lässt. Wie immer hat Cartier-Bresson seine Leica dabei, ausgestattet mit einem 50-mm-Objektiv. Er ist also etwa drei Meter von den Protagonisten entfernt, nah genug, um das Geschehen zu erfassen, aber auch weit genug, um dem selbst gewählten Anspruch der Nichteinmischung gerecht zu werden. »Man muss sich auf Zehenspitzen an das Objekt heranschleichen«, hat er einmal formuliert, »selbst wenn es sich um ein Stilleben handelt. Man muss sich Samthandschuhe überziehen und Argusaugen haben. Nur kein Geschiebe und Gedränge; wer angeln geht, darf das Wasser vorher nicht aufwirbeln.«
Cartier-Bresson ist jetzt 36 Jahre alt, als Fotograf international bekannt, freilich noch weit entfernt von jenem Kultstatus, den er mit Erscheinen von Images à la Sauvette definitiv erlangen sollte. In den USA bereiten Kirstein und Newhall eine »posthume Retrospektive« vor: Man hält Cartier-Bresson für tot. Keine ganz abwegige Vorstellung, wenn man bedenkt, dass der im Widerstand aktive Fotograf bereits 1940 von den Deutschen gefasst und interniert worden war und erst beim dritten Versuch 1943 hatte fliehen können. Nun jedenfalls stand er in amerikanischen Diensten und drehte im Auftrag des Information Service einen Film über die Heimkehr französischer Kriegsgefangener. »Es war ein Film von Gefangenen über Gefangene. Während mein Kameramann filmte, spielte sich die Szene vor meinen Augen ab. Ich hatte die Fotokamera in der Hand und drückte ab. Die Szene ist nicht gespielt. Seltsamerweise sieht man dieses Bild nicht im Film.«
Ein weiteres (kaum bekanntes) Motiv aus der zwischen April und Juli 1945 in Dessau-Kochstedt entstandenen Serie. |
Nicht zum ersten Mal gestalten sich bei Cartier-Bresson Film- und Fotoarbeit parallel. Man erinnere sich nur an sein berühmtes Picknick An der Marne, das während der Regieassistenz bei Jean Renoir (La vie est á nous, Une partie de campagne) entstanden ist. Doch während An der Marne mit der Filmarbeit direkt nichts zu tun hat, erfassen Fotograf und Kameramann diesmal ein- und dieselbe Szene, auch wenn der »entscheidende Augenblick« im Film so nicht zu sehen ist. Le Retour entstand auf Initialive des Office of War Information sowie des französischen Ministère des Prisonniers. Der Film ist 32 Minuten und 37 Sekunden lang, schwarzweiß und der begleitende Kommentar von Claude Roy in der Originalversion in französischer Sprache.
Le Retour beginnt mit Bildern aus dem Ende April 1945 durch amerikanische Truppen befreiten Konzentrationslager Dachau. Es folgen Aufnahmen befreiter Gefangener, versprengter Soldaten, herumirrender Flüchtlinge, die, so der Sprecher, auf den Straßen chaotische Zustände verursacht und den alliierten Sieg verzögert hätten. Konsequenz sei die Einrichtung entsprechender Camps in beschlagnahmten Kasernen, Fabriken und Privathäusern gewesen. Schnitt. Die Filmkamera erfasst nun in einer Totalen einen großen Innenhof, der gleich Schauplatz jener durch Cartier-Bressons Foto berühmt gewordenen Szene werden wird. Wir blicken auf eine dicht gedrängte Menschenmenge von mehreren hundert Personen. In der Mitte ein säuberlich abgezirkeltes freies Feld. Im Hintergrund das hohe Satteldach der einstigen Kaserne, von der einige Fenster auch in Cartiers Aufnahme auszumachen sind.
Rechts unten im Bild der Tisch, an den - Schnitt und Halbtotale - jetzt eine junge Frau in dunklen Breeches, hellen Wollsocken bis fast zum Knie und flachen Schuhen herangeführt wird. Sie geht gebückt. Mit ernstem Gesicht und gesenktem Haupt tritt sie an den Tisch, an dem gleich gegen sie verhandelt werden wird. Der junge Mann mit Sonnenbrille und Scheitel links hebt den Finger, scheint sie zu ermahnen. Er heißt Wilhelm Henry van der Velden, ist 22 Jahre alt, Niederländer, eigentlich Medizinstudent und war, wie sein Bruder Karel, ab Februar 1943 im holländischen Konzentrationslager Westerbork interniert gewesen. Jetzt ist er auf Wunsch der Amerikaner Kommandant dieses Dessauer Lagers, in dem sich täglich Tausende auf ihrem Weg von West nach Ost bzw. Ost nach West begegnen. Vor allem, heißt es nun im begleitenden Filmkommentar, gelte es auf der Hut zu sein »vor jener Handvoll Elender, die versuchten, in der Flut der Deportierten unterzutauchen, heimzukehren, um dort wie gehabt ihren Geschäften nachzugehen«.
Noch steht die Frau im hochgeschlossenen dunklen Kleid, die in Cartiers Bildfindung die im doppelten Wortsinn zentrale Stellung einnimmt, mehrere Meter entfernt am rechten Rand. Aber - Schnitt und Vierteltotale - jetzt ist sie, eine Französin übrigens, an den Tisch herangerückt. Noch gefasst hält sie die Arme über der Brust verschränkt. Ein heller Beutel baumelt herab. Von Denunzianten, Gestapospitzeln spricht der begleitende Kommentar, von Folterknechten, die freilich nun von jenen überführt würden, die sie vormals ausgeliefert hätten. Wieder Schnitt. Close-up erfasst nun die Kamera die beiden Frauen. Die rechts im Bild spricht auf die andere ein, schreit sie an: Ja, sie sei eine Gestapo-Gehilfin gewesen, eine Agentin. Sie holt aus, schlägt zu, schlägt der anderen ins Gesicht, so dass die Beklagte regelrecht aus dem Bild geworfen wird. Sekunden später kehrt sie zurück, ordnet ihr Haar, blickt kurz und verstört ihre »Peinigerin« an, blutet aus der Nase. Exakt 30 Sekunden dauert die Sequenz im Film. Henri Cartier-Bresson dürfte 1/60 Sekunde belichtet haben.
Henri Cartier-Bresson: Images à la Sauvette: Die französische Erstausgabe des Buchklassikers erschien 1952 im Verlag des legendären Tériade mit einem Schutzumschlag von Henri Matisse. |
Cartier-Bresson erinnert sich richtig, wenn er sagt, die von ihm erfasste Szene komme so im Film nicht vor. Spekulationen, sein Bild sei nachträglich gestellt, erübrigen sich allerdings, wenn man die Beobachter im Hintergrund genau studiert. Nehmen wir etwa den jungen Mann mit schräg sitzender Baskenmütze. Im Film hält er mit der linken Hand die Schnalle seines Gürtels fest umklammert. In Cartier-Bressons Foto ist dieselbe Handhaltung auszumachen. Periphere Details wie dieses fänden in einer nachträglichen Inszenierung kaum Beachtung.
Warum aber hat die Filmkamera das Moment der Identifizierung nicht erfasst? Zeitlich liegt Cartiers Aufnahme zwischen der dritten und der vierten Einstellung des Films. Das heißt: Noch ist die Frau nicht überführt, noch der Schlag nicht erfolgt - sonst würde sie sichtbar aus der Nase bluten. Entweder, so ließe sich spekulieren, ist der Moment dem Schnitt zum Opfer gefallen, oder, was wahrscheinlicher ist, der Kameramann, der quasi auf Tuchfühlung neben Cartier-Bresson gestanden haben muss, hat die Optik gewechselt, um das weitere Geschehen c1ose-up zu erfassen. Jedenfalls hat er die nachfolgende heftige Tätlichkeit auf Zelluloid gebannt, während Cartier-Bresson die »entscheidendere« Sekunde des Entlarvens, des Identifizierens erfasst hat, jenen Moment, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das leidvolle Erinnern, das schmerzliche Erkennen und das daraus resultierende wutentbrannte Handeln zur Deckung gelangen. Das verzerrte Gesicht des Opfers, das zum Täter wird, ist Ausdruck der angespannten Gefühlslage.
Noch lange, berichtet Henri Cartier-Bresson, hätten ihn Anfragen erreicht, Briefe mit dem ausgeschnittenen Foto, einem Kreuz über einem oder einer der Abgebildeten im Hintergrund und der flehenden Frage: »Das ist mein Bruder, das ist mein Vater - bitte, sagen Sie uns, wo er jetzt ist! Wie können wir ihn finden?« Machen wir uns klar: Wenigstens zehn Millionen ehemalige ausländische Kriegsgefangene, Fremdarbeiter oder Verschleppte irrten nach 1945 als »Displaced Persons« durch Deutschland. So kam dem Bild, jedenfalls in den Jahrzehnten unmittelbar nach 1945 und in den Augen Betroffener, auch und nicht zuletzt eine ganz pragmatische Funktion zu. Künstlerisch überlebt hat es Dank seines, wie Jean-Pierre Montier es ausdrückt, »emblematischen Wertes«. Entgegen aller historischen Faktizität - in Dessau selbst gab es kein Konzentrationslager - wurde das Foto zum Sinnbild der Befreiung: In unserem kollektiven Bildgedächtnis steht es für die Öffnung, die Befreiung der Konzentrationslager.
Quelle: Hans-Michael Koetzle: Photo Icons. Die Geschichte hinter den Bildern. Band 2: 1928-1991. Taschen, Köln, 2002, ISBN-3-8228-1829-1. Zitiert wurden Seite 48-55.
Doppelseite aus Images à la Sauvette: Place de l'Europe im Regen, Paris, 1932 und Allée du Prado, Marseille, 1932 |
Henri Cartier-Bresson
Als Spross einer vermögenden Familie 1908 in Chanteloup/Frankreich geboren.
1927-28 Ausbildung bei André Lhote. Bekanntschaft mit den Arbeiten Munkácsis. In der Folge Hinwendung zur Fotografie.
1935 in New York. Filmausbildung bei Paul Strand.
1936-39 Zusammenarbeit mit Jean Renoir.
1940-43 Kriegsgefangenschaft in Deutschland.
1946 erste Einzelausstellung im Museum of Modern Art, New York.
1947 Gründungsmitglied Magnum.
1952 Buchpublikation Images à la Sauvette.
1954 Sowjetunion.
1958-59 China.
1960 Kuba, Mexiko, Kanada.
1965 Indien und Japan.
1967 Kulturpreis der DGPh.
1970 Heirat mit Martine Franck. Lebt in Paris.
CD bestellen bei jpc.de
CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 37 MB
Dem Infoset liegt ein Faksimile des Madigralbuchs bei
embedupload ---- MEGA ---- Depositfile --- bigfile
Unpack x215.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue+Log Files [52:39] 3 parts 211 MB
Reposted on May 13th, 2016
1 Kommentar:
Would it be possible to reupload Frescobaldi's Madrigals by Alessandrini? Thanks a lot in advance!
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