10. Juni 2016

Haydn: Missa Cellensis in honorem BVM (Missa Sanctae Caeciliae), Paukenmesse (Missa in tempore belli), Schöpfungsmesse

Zwei der drei hier vorliegenden Messen, die Paukenmesse und die Schöpfungsmesse, komponierte Joseph Haydn in seiner letzten Schaffensphase, das heißt nach seinen beiden triumphalen Aufenthalten in London. Die Missa Cellensis, bei weitem die längste und heterogenste seiner Messen, befördert uns drei Dekaden zurück bis in die frühen Jahre des Komponisten am Hofe der Esterházys. Zwei Jahrhunderte hatte man angenommen, dass Haydn diese grandiose Missa solemnis Anfang der siebziger Jahre für einen Wiener Gottesdienst zur Feier der Heiligen Cäcilie verfasst habe (so kam es im 19. Jahrhundert zu dem Beinamen Cäcilienmesse). 1975 tauchte dann ein autographes Fragment des ersten Kyrie und des Christe mit der Jahreszahl 1766 und dem Titel Missa Cellensis (Zeller Messe) auf, was nun auf die Wallfahrtskirche Mariazell in der Steiermark hindeutete. Angesichts der dürftigen musikalischen Mittel, über die diese Kirche verfügte, wird die Messe wohl nicht zur Aufführung in Mariazell selbst, sondern für einen Wallfahrtsgottesdienst in einer der Wiener Kirchen entstanden sein. Ferner gibt es einige (allerdings nicht unbedingt stichhaltige) Hinweise dokumentarischer und stilistischer Natur, aus denen man schließen könnte, dass man 1766 nur Kyrie und Gloria gegeben hat, während die übrigen Sätze erst um 1772/73 für einen Gottesdienst hinzukamen, der ein komplettes ordinarium missae verlangte. (Vielleicht hat es sich dabei tatsächlich um eine der alljährlichen Feiern der Wiener Cäcilien-Kongregation gehandelt).

Wie die Messen in h-moll von Bach und in c-moll von Mozart überspannt auch die Missa Cellensis ein gewaltiges stilistisches Spektrum von verzierten Opernarien (besonders spektakulär ist das "Quoniam" des Soprans) bis hin zu kunstvoll ausgearbeiteten Chorfugen, vom Archaischen bis zu den aktuellen Modeerscheinungen. Insgesamt gibt es vier voll ausgeführte Fugen, unter denen das "Et vitam venturi" durch seine packende Spannung und Energie besonders emporragt. Einige der bemerkenswertesten Abschnitte findet man allerdings dort, wo der rotgoldene Glanz der Tonart C-dur verlassen wird: in der strengen Schönheit des "Gratias", einer inspirierten Verbindung fugierter und akkordischer Texturen; in dem suchenden "Et incarnatus - Crucifixus"; oder in dem außergewöhnlich düsteren Benedictus in c-moll, in dem auf die Violinen der Schatten einer selbständigen, ausdrucksvollen Fagottlinie fällt. Seit den siebziger Jahren kennt man diese Textur in Haydns Musik, in den Sechzigern hingegen war sie noch nicht zu finden.

Als er seine beiden triumphalen England-Reisen unternahm, war Haydn berühmter als je ein anderer Komponist es zu seinen Lebzeiten gewesen war. Ganz in London zu bleiben lehnte er allerdings ab, und er beschloss, seinen Dienst bei der Familie Esterházy wieder aufzunehmen. Sein neuer Dienstherr, der arrogante (und für seine Ausschweifungen berühmte) Fürst Nicolaus II., interessierte sich weit mehr für die bildenden Künste als für die Musik. Von seinem prominenten Kapellmeister verlangte er kaum mehr als eine Messe pro Jahr zum Namenstag seiner Gemahlin, der Fürstin Marie Hermenegild. Das Ergebnis war eine Folge von sechs grandiosen Werken, die die österreichische Messentradition krönte und transzendierte. Deutlich erkennt man darin den Ausdruck einer lebensbejahenden katholischen Frömmigkeit, die "nicht von düsterer, gequälter Art, sondern vielmehr heiter und versöhnt" war, wie es Haydns Freund und Biograph Georg Griesinger formulierte.

Joseph Haydn (1732-1809)
Als Einzige der späten Messen wurde die Missa in tempore belli ("Messe in Zeiten des Krieges") nicht zum Namenstag der Fürstin uraufgeführt. Zwar dirigierte Haydn ihr zu Ehren das Werk auch im September 1797, doch die eigentliche Premiere fand am 26. Dezember 1796 in Wien bei einem Gottesdienst statt, mit dem Joseph Franz von Hoffmann in sein Priesteramt eingeführt wurde. Hoffmanns Vater, k.k. Kriegszahlmeister, hatte diese Messe vermutlich in Auftrag gegeben und vielleicht sogar das "kriegerische" Sujet vorgeschlagen. Im Herbst 1796 lagen die napoleonischen Truppen bereits in der Steiermark: Paukenwirbel und Trompetenfanfaren beschwören im Agnus Dei auf theatralische Weise die vorrückenden französischen Armeen (der deutsche Beiname des Werkes lautet "Paukenmesse"). Das Thema des Krieges ist auch an andern Stellen zu spüren - flammend in den martialisch stampfenden Fanfaren des Gloria und des "Dona nobis pacem", unheilvoll in der langen Orchestereinleitung des Benedictus c-moll.

Mit der Arbeit an seiner vorletzten Messe, der so genannten Schöpfungsmesse, begann Haydn am 28. Juli 1801. Er beendete sie gerade rechtzeitig zur Uraufführung, die am 13. September im Rokoko-Ambiente der Eisenstädter Bergkirche stattfand. Wieder einmal verdankt sich der Beiname einem der unbedeutenderen Aspekte des Werkes: Im Gloria lässt Haydn das "Qui tollis peccata mundi" mutwillig zu einer derben Contredanse-Weise aus dem Oratorium Die Schöpfungen singen - und zwar zu dem Duett Adam-Eva ("Der tauende Morgen"). Wir können über diesen harmlosen Scherz des Komponisten nur lächeln. Doch Kaiserin Maria Theresia, eine der glühendsten Verehrerinnen Haydns, war offensichtlich "not amused": Auf ihr Geheiß merzte Haydn in ihrer gedruckten Partitur die anstößige Passage aus.

Wie in der Missa in tempore belli verbinden sich auch in der Schöpfungsmesse die Dramatik und intellektuelle Kunstfertigkeit der späten Haydn-Sinfonien mit einer leichten Brillanz und Flüssigkeit des Chorsatzes, in denen sich das Londoner Erlebnis der Händel-Oratorien spiegelt. Mehr noch als in seinen anderen späten Messen kultiviert Haydn hier entferntere Tonartenbeziehungen, wobei er ganze Abschnitte in kontrastierende Tonarten setzt (so das "Et incarnatus est" und das Agnus Dei in G-dur, das sich scharf gegen die B-dur-Umgebung abhebt) und seine Freude an dramatischen Tonartenwechseln innerhalb der Sätze hat. Der faszinierendste coup dürfte im Schlussteil des Credo zu finden sein, wo nach dem heiteren "Et iterum venturus est" des Solosoprans Chor und Orchester in einem weit entfernten Des-dur ausbrechen - eine hurtige, schmetternde Beschwörung des Jüngsten Gerichts.

Quelle: Richrd Wigmore [Übersetzung: Eckhardt van den Hoogen], im Booklet


TRACKLIST

Joseph Haydn 
1732-1809 

Missa Sanctae Caeciliae  
Missa in tempore belli 'Paukenmesse' 
Schöpfungsmesse 


CD 1                                             78.53 

Missa Cellensis in honorem BVM 'Cäcilienmesse' Hob.XXII:5 
Mass No.5 in C - Messe Nr. 5 C-dur - Messe N°5 en ut majeur 

   Kyrie     
 1   Kyrie eleison                                3.32   
 2   Christe eleison                              4.14   
 3   Kyrie eleison                                3.55   
   Gloria     
 4   Gloria in excelsis Deo                       3.10   
 5   Laudamus te                                  4.21   
 6   Gratias agimus tibi                          4.00   
 7   Domine Deus                                  5.55   
 8   Qui tollis peccata mundi                     6.28   
 9   Quoniam tu solus Sanctus                     4.13   
10   Cum Sancto Spiritu                           3.59   
   Credo     
11   Credo in unum Deum                           4.13   
12   Et incarnatus est                            4.34   
13   Crucifixus                                   2.48   
14   Et resurrexit                                5.21   
15 Sanctus                                        1.30   
16 Benedictus                                     6.06    
   Agnus Dei     
17   Agnus Dei                                    2.36   
18   Dona nobis pacem                             2.34   
  
Elisabeth Speiser soprano/Sopran - Helen Watts contralto/Alt     
Kurt Equiluz Tenor/tenor - Siegmund Nimsgern Bass/basse     
Stuttgarter Hymnus-Chorknaben     
Instrumentalensemble Werner Keltsch     
conducted by /Dirigent/direction Gerhard Wilhelm     

Recorded/Aufgenommen/Enregistre: XI.1969, Ev. Stadtkirche, Schwaigern 
Producers/Produzenten/Directeurs artistiques: Gerd Berg & Johann-Nikolaus Matthes
Balance Engineers/Tonmeister/Ingenieurs du son: Wolfgang Gülich
(P) 1971  
  
Missa in tempore belli 'Paukenmesse' Hob.XXII:9     
Mass No.9 in C - Messe Nr. 9 C-dur - Messe N°9 en ut majeur     

19 Kyrie                                          4.51   

CD 2                                             77.26   

   Gloria     
 1   Gloria in excelsis Deo                       2.48   
 2   Qui tollis peccata mundi                     5.41   
 3   Quoniam tu solus Sanctus                     2.17   
     Solo cello/Solo-Violoncello/violoncelle solo: Clemens Dillner     
   Credo     
 4   Credo in unum Deum                           1.12   
 5   Et incarnatus est                            3.53   
 6   Et resurrexit                                1.59   
 7   Et vitam venturi saeculi                     2.16   
 8 Sanctus                                        2.40   
 9 Benedictus                                     6.21   
   Agnus Dei     
10   Agnus Dei                                    3.31   
11   Dona nobis pacem                             2.25   
       
Margaret Marshall soprano/Sopran - Carolyn Watkinson contralto/Alt 
Keith Lewis Tenor/tenor - Robert Holl Bass/basse 
Hansjürgen Scholze organ/Orgel/orgue 
Rundfunkchor Leipzig (Chorus master/Chorleitung/Chef des choeurs: Jörg-Peter Weigle) 
Staatskapelle Dresden 
conducted by/Dirigent/direction Sir Neville Marriner 

Recorded/Aufgenommen/Enregistre: IV.1985, Lukaskirche, Dresden 
Producers/Produzenten/Directeurs artistiques: John Fraser & Bernd Runge  
Balance Engineers/Tonmeister/Ingenieurs du son: Claus Strüben  
(P) 1987 

Schöpfungsmesse Hob.XXII:13 
Mass No.13 in B flat - Messe Nr. 13 B-dur - Messe N°13 en si bémol majeur 

12 Kyrie                                          6.02
   Gloria 
13   Gloria in excelsis Deo                       7.01
14   Quoniam tu solus Sanctus                     3.13
     (Andrea Pitt, contralto/Alt & Reinhart Ginzel, Tenor/tenor) 
   Credo 
15   Credo in unum Deum                           1.59
16   Et incarnatus est                            3.06
17   Et resurrexit                                4.12
18 Sanctus                                        2.58
19 Benedictus                                     6.53
   Agnus Dei 
20   Agnus Dei                                    2.58
21   Dona nobis pacem                             3.17

Barbara Hendricks soprano/Sopran - Ann Murray contralto/Alt 
Hans Peter Blochwitz Tenor/tenor - Matthias Hölle Bass/basse 
Hansjürgen Scholze organ/Orgel/orgue 
Rundfunkchor Leipzig (Chorus master/Chorleitung/Chef des choeurs: Gert Frischmuth) 
Staatskapelle Dresden 
conducted by /Dirigent/direction Sir Neville Marriner 

Recorded/Aufgenommen/Enregistre: IX.1989, Lukaskirche, Dresden 
Producers/Produzenten/Directeurs artistiques: John Fraser & Bernd Runge 
Balance Engineers/Tonmeister/Ingenieurs du son: Claus Strüben  
(P) 1990

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This compilation (P) + (C) 2005 


Der illiterate Laie als Leser des Weltbuches

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt

In principio creavit Deus caelum et terram.
Die Metapher vom Buch der Natur enthüllt ihren rhetorischen Gehalt erst als Paradox in der Stoßrichtung gegen die Scholastik. Der nach der Zerstörung der antiken Bibliotheken in Jahrhunderten mönchischen Fleißes beängstigend wieder angewachsene Buchbestand, diese Welt von Handschriften, wird mit dem Hinweis auf ein Buch, auf das eine Buch der Natur, polemisch zur Seite gewiesen. Dabei spielt eine neue Rolle der Gegensatz zwischen dem Personal jener Bücherwelt, den Klerikern und Mönchen, und der zum Bewußtsein ihrer Tüchtigkeit kommenden Laienwelt der Stadtbürger, die, des Lesens unkundig und den Folianten abhold, ihre Weltklugheit gleichrangig formuliert sehen wollen.

Die Sprache für diesen Gegensatz bezieht ihre Kraft wie ihre Bilder aus der mystisch-meditativen Tradition, in der auch die Rede vom Buch der Natur anerkannt war. Mit dem Programm der Autarkie, mit Figuren der Unbedürftigkeit stoischer und kynischer Herkunft, mit der Lebensform der Askese oder wenigstens der Sparsamkeit als neuer Tugend (Sombart) hatte sich auch die Demutsformel verbinden lassen, mehr als dieses einen Buches bedürfe man nicht. Schon auf den Byzantiner Sokrates Scholastikus, der im 5. Jahrhundert die Kirchengeschichte des Eusebius fortgesetzt hatte, geht die Anekdote von dem heiligen Eremiten Antonius zurück, der einem Philosophen auf die Frage, wie er es in der Einsamkeit ohne Buch aushalten könne, geantwortet habe, die Welt sei sein Buch und er könne von dieser Lektüre nicht genug bekommen. Nur ein Buch - das ist also auch eine Formel der Unbedürftigkeit und Enthaltsamkeit von jedem unbekömmlichen Überfluß. Sie hat ihren Anteil noch an der Gestalt des Idiota bei Nikolaus von Cues.

Hl. Antonius Eremit. Serbische Ikone aus dem 17. Jahrhundert
In seinem neuen kunstvollen Idiom hat der Cusaner die beiden Sprachwelten, die der mönchischen Scholastik und die der meditativen Weltfrömmigkeit, zu vereinigen und dem alten Gegensatz einen versöhnlichen Ausdruck zu verschaffen gesucht. Der Laie, der nicht lesen kann, ist der unbefangene Leser des Buchs der Natur. Er antwortet dem gelehrten Redner auf die Frage, woher er denn seine Wissenschaft der Unwissenheit (scientia ignorantiae) habe: Nicht aus deinen Büchern, sondern aus Gottes Büchern, die er mit eigener Hand geschrieben hat. Das ist noch nicht die Formel von den beiden Büchern, Bibel und Welt, sondern die Vorstellung zweier Bibliotheken, der des Humanisten dort, der des Idiota hier. Aber Nikolaus wird die Metapher von den beiden Büchern gekannt haben, die sich in der verbreiteten »Theologia Naturalis« des katalanischen Humanisten Raymund von Sabunde aus dem Jahre 1436 fand, wie sie durch Montaignes französische übersetzung von 1568 weltgängig wurde. Raymund hatte die Metapher so erweitert, daß in dem Buch des Alls der Geschöpfe (liber universitatis creaturarum) jedes Geschöpf einen Buchstaben ausmacht: ... quaelibet creatura non est nisi quaedam littera digito Dei scripta.

Dem Konzil von Trient sollte sich Raymund von Sabunde durch die Akzentverschiebung suspekt gemacht haben, die er an den beiden Büchern vornahm: die Heilige Schrift ließe sich leicht durch unfromme Auslegung umstürzen, aber kein Ketzer sei imstande, das Buch der Natur zu verfälschen. Bei Raymund von Sabunde hatte sich vorbereitet, daß der Laie eine Figur der ›Unmittelbarkeit‹ zur Quelle der Weisheit sein wird, noch bevor solche Unmittelbarkeit auch für den Zugang zur Glaubensquelle in Anspruch genommen ist. Da sich Raymund aber noch mit dem Averroismus und seiner Freigabe der ›doppelten Wahrheit‹ auseinanderzusetzen hat, ist es ganz konsequent, daß er am Buch der Natur nicht die Eigenheit des Inhalts, sondern die Unverfälschbarkeit durch menschlichen Eingriff betont.

Raymund von Sabunde: Theologia naturalis, Nürnberg, Anton Koberger, 1502
Was der Laie beim Cusaner als Weisheit gegen Wissenschaft stellt, wird in einem seiner Aspekte Jahrhunderte später ›Selbstdenken‹ heißen. Die Unvermitteltheit von außen durch Lehre und Buch, die Nikolaus in seinen Dialogen betont, wurzelt in der platonischen Tradition und wohl schließlich in jenem unwissenden Knaben des Dialogs »Menon«, dem Sokrates die Anfangsgründe der Geometrie entlockt. Der Idiota allerdings benötigt keine sokratische Hebammenkunst mehr. Es ist erkennbar, worauf diese Verselbständigung beruht: Der Erfahrungsraum des avancierten Laien bietet neue Metaphern in Fülle, die zu Auslösern seiner natürlichen Mitgift an Wahrheitsbesitz werden, wie die aller Nachahmung der Natur enthobene Kunstfertigkeit des Löffelschnitzers oder die auf dem Markt geläufigen Reglemente von Zahl, Maß und Gewicht. Das Buch der Welt besteht nicht primär aus Sternen, Bäumen und Menschen, sondern aus jener eigentümlichen Zwischenwelt der Instrumentarien, mit denen sich die Vernunft alsbald Zugang zur Natur erzwingen wird.

Als Buch bietet die Welt einen doppelten Aspekt: den des Inhalts und den der Rückverweise auf den Autor. Die mittelalterliche Verwendung der Metapher steht im Dienst der Verweisung auf den Autor, seine Größe und Unerreichlichkeit, und auf den Sachverhalt, daß er selbst - im Gegensatz zur erhaltenden Tätigkeit der Weltbewegung durch vermittelnde Ursachen - mit eigener Hand dieses Buch geschrieben habe. Das ist angesichts der Fülle von Spekulation über Mittelbarkeit in allem und jedem, die die Transzendenz des äußersten Bezugspols zu steigern gestattet hatte, nicht gleichgültig. Es ist aber auch brisant für die Amplifikation der Metapher: Je mehr die Authentizität des Buchs der Natur angehoben wird, um so näher legt sich das Argument, man könne doch dann auch mit einem der beiden Bücher, nämlich mit diesem, zureichend versorgt und zur Weisheit angeleitet sein.

Aber die Erhabenheit und Eigentätigkeit des Autors kommt nicht von selbst der Verständlichkeit seines Werks zugute. Die Tradition, die sich in der Annahme mannigfacher Übersetzung und Verschlüsselung des Textes ergehen wird, rettet auf diese Weise den Beleg der Transzendenz trotz Unmittelbarkeit. Der Cusaner vergleicht das Buch der Natur zeitgemäß mit einem griechischen Codex des Plato, der einem Deutschen vorgehalten wird, damit dieser sich von der Mächtigkeit des platonischen Geistes überzeugen solle. Die Situation ist seit dem frühen Humanismus allvertraut: Petrarca bewies seine Bewunderung für den platonischen Geist durch den Besitz eines griechischen Codex mit Dialogen Platos, ohne Kenntnis der Sprache, die ihm darin zu lesen erlaubt hätte. Der Cusaner steht in einer gründlich gewandelten Situation. Er hatte an der Delegation nach Byzanz zur Vorbereitung des Unionskonzils von Ferrara und Florenz teilgenommen und die mit ihren Codices anreisenden Griechen als Lehrmeister des authentischen Platonismus kennengelernt. Er konnte nicht wissen, daß dies nur die Ankündigung der großen Traditionsströme war, die nach dem Fall von Byzanz am Ende des Jahrhunderts in den lateinischen Westen fließen sollten.

Nikolaus von Kues, auf dem Altarbild in der
Kapelle des St. Nikolaus-Hospitals, Cusanusstift (1460)
Jetzt erst wurden Codices in fremden Schriftzeichen, nach den griechischen auch die hebräischen, überall herumgereicht - und wenn die Welt nach der vertraut werdenden Metapher ein Buch sein sollte, dann mußte sie nicht das eine allgemeine und öffentliche Buch sein, in dem jeder Laie zu lesen imstande sein sollte. Es war nicht mehr von vornherein ausgemacht, in welcher Sprache und in welchen Zeichen Gott geschrieben hatte. Der philologische Pluralismus, den die Gelehrtenwelt des Mittelalters nicht gekannt hatte, multiplizierte die Vieldeutigkeit der Metapher.

In welchem Maße und mit welchen Mitteln die Metaphysik der Hochscholastik die Metaphorik vom Buch der Natur mit ihren Implikationen beiseite gedrängt hatte, wird beim Cusaner gerade deshalb deutlich, weil er die Gefährlichkeit des Nominalismus und des hinter ihm stehenden Voluntarismus für das mittelalterliche System erkannt hat und zurückzudrängen sucht. Wenn sich in der Schöpfung kein anderer personaler Wille als der zu ihrer bloßen Existenz bekundet - weil, was diese Existenz enthält und ausmacht, noch immer die vorgegebene Fraglosigkeit des antiken Kosmos umschließt -, kann nach dem, was sich etwa in Gestalt und Wesen der Natur ›ausdrücken‹ mag, nicht gefragt werden. Das All ist alles, es ist der Inbegriff der Vollständigkeit und damit der Einzigkeit. Von Welten - in diesem Plural - zu reden, ging an die Substanz. Daß, wenn überhaupt etwas wird, sogleich alles wird, ist die im Begriff der creatio ex nihilo gelegene ›Wahrscheinlichkeit‹. Denn der Sprung vom Nichts zum Etwas ist der entscheidende Hiatus, nicht die Differenz zwischen dieser Welt und irgend einer anderen, der für die Theodizee vom Leihniz-Typ alles bedeuten wird.

Grabmal des Nikolaus von Kues,
Basilica S. Pietro in Vincoli, Rom.
Diese Metaphysik des Kosmos hatte gegen den biblischen Schöpfungsgedanken standgehalten, indem sie dessen mögliche Implikation ausschaltete, der Urheber eines Werkes müsse in diesem und durch dieses ›sich ausdrücken‹ - also nicht nur seine absolute Macht über das Nichts demonstrieren. In dieser Differenz liegt alles an Information vorgeprägt, was die Wiederkehr der Metapher vom Buch der Natur zunächst leisten konnte. Die Probe auf die Richtigkeit dieser Feststellung ließ sich schon bei Bonaventura machen: Er hatte nicht nur die Buchmetapher, sondern auch die dazugehörige Metaphysik der Welt als ›Ausdruck‹, wie sie nur möglich ist, wenn nicht alles wirklich wird, was möglich ist.

Die Welt als ›Ausdruck‹, wovon auch immer - im Sinne des Cusaners: der ›Weisheit‹ -, kann nur aus der Selbstbeschränkung der absoluten Macht gegenüber der Allheit ihrer Möglichkeiten hervorgegangen sein. Die derart sich selbst beschränkende Macht erscheint unter dem Titel des Willens. Warum der Himmel Himmel und die Erde Erde und der Mensch Mensch ist, dafür gibt es keinen anderen Grund als den, daß der es so gewollt hat, der sie geschaffen hat. Was wir an der Welt in sinnlicher Erfahrung erfassen können, ist daher auch ohne Rückgriff auf die biblische Logosspekulation so etwas wie das Wort des Schöpfers, in dem er seine Absicht mit der Welt manifestiert. Insofern sich in der Erscheinungsweise der Weltwesen unendliche Vernunft und unendliche Macht zu endlichen Werken kontrahieren, ist zwar vom Willen, aber nicht von Willkür zu reden. Was als solche erscheint, ist gerade deren Gegenteil als Beschränkung des absoluten Umfangs der Macht. Es ist der Anfang des Weges zu Leibniz und zu seinem Widerspruch gegen Samuel Clarkes decret absolument absolu.

Hans Blumenberg (1920-1996)
Der Laie ist der Sprecher der Weisheit, die nicht nur das Pathos der größeren Tiefe gegenüber der Wissenschaft vom scholastischen Typus angenommen hat, sondern in Steigerung bis hin zu Charrons »De la sagesse« sich einen skeptischen, sogar polemischen Ton gegenüber allem zulegt, was Wissenschaft heißen will. Das hat immer zwei Seiten: Es moniert die Erfahrungsdistanz der scholastischen Begriffsspekulation, und es rekurriert auf den theologischen Hintergrund in den Formen einer schlicht gewordenen Mystik, für deren Typus die Devotio moderna steht. Dieser Laie, der beim Cusaner zur Figur eines zu rettenden Mittelalters wird, bildet noch den Empfänger solcher Botschaften wie der Luthers von der Absage an die Vernunft der aristotelischen Scholastik und von der Möglichkeit unmittelbarer Heilsgewißheit über dem Buch der Offenbarung. Denn der Idiota in den Dialogen des Nikolaus von Cues ist ein Typus der Unmittelbarkeit: Weil die schöpferische Weisheit sich den Partner ihrer Manifestation in der Welt selbst geschaffen hat, ist er in seiner unverstellten Natürlichkeit für sie ohne Beihilfe verständnisfähig. Das wird zum Stilmerkmal; wie der Laie in seiner alltäglich-handwerklichen Metaphernsprache der Gegentyp zum kunstvollen Berufsredner humanistischer Prägung wird, so ist das Buch der Welt ausdrücklich nicht im Stil der Rhetorik geschrieben. […]

Der skeptische Zug, der in der Typisierung des Idiota und seiner ›Weisheit‹ angelegt ist, läßt sich als frühe Ausprägung einer literarischen Gattung begreifen, die unter der Rubrik ›Moralistik‹ geführt wird. Wie sie sich in Montaigne in ihrer ganzen Mächtigkeit darstellt, hat sie allen Widerstand gegen Scholastik und Rhetorik bereits verarbeitet in der Wendung von der äußeren zur inneren Erfahrung, von der Begriffskonstruktion zur Beschreibung, von der Autorität der Antike zu ihrer Dienstbarmachung. Der skeptische Zug steht nicht unter der Nötigung neuer Gewißheitsbegründung im Subjekt, wie es im folgenden Jahrhundert bei Descartes sein wird, sondern eher unter der Signatur der Gleichgültigkeit äußerer Erfahrung für die innere, der souveränen Entschärfung aller Evidenznöte am Objekt durch die Ausschließlichkeit, mit der das Subjekt sich selbst entdeckt und von dieser neuen inneren Landschaft überwältigt ist. […]

Quelle: Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Suhrkamp, Frankfurt 1986. stw 592. ISBN 978-3-518-28192-5. Auszug aus dem VI. Kapitel, Seiten 58-64 und 65.


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Die Staatskapelle Dresden (unter Giuseppe Sinopoli) kann auch Webern. Und William Hogarth kann zeichnen: »Beer Street and Gin Lane« (1751).

Franz Schubert: Deutsche Messe mit Anhang »Das Gebet des Herrn«, D.872. Historische Aufnahme von 1956, mit Karl Forster.

Und zu Hans Blumenberg paßt Herbert Schnädelbach: Was Philosophen vom »Subjekt« und vom »Objekt« wissen. Bzw. was Franz Schmidt von Klarinettenquintetten wußte.

CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 22 MB
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Reposted on August 31, 2019
 

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