4. Februar 2013

Webern: Im Sommerwind, Orchesterstücke, Variationen

Weberns Musik verlängert in ihrem radikalen Ausdrucksbegehren, wie es die Musik der »Wiener Klassik« bis hin zur Spätromantik von Richard Strauss, Gustav Mahler und Arnold Schönberg im Stil- und Aufführungsideal des »Wiener Espressivo« gesucht hatte, die Tradition des 19. Jahrhunderts. Mit der gegenwärtigen Tiefenperspektive auf die vergangene Geschichte erscheint Webern nicht mehr als eine zentrale Figur des 20. Jahrhunderts, sondern als eine, die die Tradition der »Wiener Klassik« zu ihrem äußersten Höhepunkt geführt hat. Dies zeigt sich nicht nur im Ausdruckswillen dieser Musik, sondern auch im Prinzip der durchbrochenen Arbeit, bei der eine thematische Linie auf mehrere Instrumente verteilt wird. Die weit auseinandergezogenen und bei Webern oft durch Pausen unterbrochenen Melodiezüge noch hörbar und fühlbar zu machen ist denn auch das dringlichste Problem, das von einer musikalischen Interpretation der Werke Weberns zu lösen ist. Im Gegensatz zur seriellen Musik dürfen die einzelnen Töne nicht als isolierte Tonpunkte erklingen, sondern müssen in ihrer impulshaften Kraft über sich selbst hinauswachsen, bis sie sich mit dem nächsten Ton in einem anderen Instrument berühren, um sich mit ihm ganz zu verbinden.

Anton Webern hat ein präzise abgezirkeltes Gesamtwerk von genau 31 Tonstücken hinterlassen, deren Anfang und Ende zyklisch durch das Prinzip entwickelnder Variation verbunden ist. Sein Opus 1, die 1908 geschriebene Passacaglia, hat er bewusst als die Nummer 1, als Portalöffnung zu seinem Gesamtwerk komponiert. Erst als er offiziell seine Kompositionsstudien bei seinem Lehrer Arnold Schönberg abgeschlossen hatte, konnte er demonstrativ als Ausdruck der nun erreichten Eigenständigkeit mit der Zählung der Werke beginnen.

Die symphonische Dichtung Im Sommerwind von 1904 nach dem gleichnamigen Gedicht aus Bruno Willes Roman Offenbarungen des Wacholderbaums hat den Untertitel »Idylle für großes Orchester«. Sie trägt noch ganz die Spuren von Weberns Auseinandersetzung mit der Gattung der Tondichtung und eines poetisch bestimmten symphonischen Stils, dem Webern in der Musik Richard Strauss`, Arnold Schönbergs und Gustav Mahlers begegnet war. Aus der Sicht des Komponisten war es durchaus verständlich, wenn er dieses Werk in sein späteres Werkverzeichnis nicht aufnahm. Dennoch trägt es bereits Züge, wie sie den späteren Werken Weberns eigentümlich werden: die Bedeutung der Klangfarbe als ein Aspekt der Komposition, der die Vorgänge der Partitur nicht illustriert, sondern von eigenständig ausdruckgebender Substanz ist. Dies rückt diese Partitur bereits weit über Strauss hinaus, zeigt ihren Zusammenhang mit der Orchestrierung der späteren Werke Weberns, mit der vibrierenden Klangflächenkunst von Claude Debussy.

Die Passacaglia op. 1 (1908) enthält wie in einem Kern alle späteren Ausformungen. Sie geht zwar auf das thematische Gebilde einer Passacaglia zurück, wie sie uns als Bass-Modell durch Beethovens Eroica-Variationen op. 35 und durch das Finale von Brahms vierter Symphonie vertraut ist, zeigt aber bereits in der durch Pausen ausgesparten Verlaufsform eine Webern eigentümliche Erfindungsweise auf. Die angerissenen, aber auch gedämpften Saiten der Streicher erzeugen Töne, die über die Pausen hinweg zuammenhängen sollen. Zugleich werden die Pausen im Sinne des 19. Jahrhunderts als »sprechende Pausen« so bedeutsam und beredt wie die klingenden Töne. Damit ist ein für Webern zentrales Thema vorgezeichnet: die Aussparungen, die Leerräume und die Stille zum Gegenstand der Komposition zu machen. Gerade wenn die freien Partien in den folgenden zyklischen 23 Variationen mit großen Bewegungen und Akkordmassierungen ausgefüllt werden, zeigt sich immer wieder diese Gewalt der absichtsvollen Leere über das rauschende Klanggeschehen.

Anton (von) Webern
Das Opus 1 war noch ein durchgehend lineares Gebilde, das trotz vieler Episoden dramatisch auf einen symphonischen Höhepunkt hinstrebte. Die Sechs Orchesterstücke op. 6 (Neufassung 1928) dagegen erscheinen zunächst als aus größeren Kontexten herausgelöste und lange Verlaufsformen zusammenfassende Charakterstücke und die Fünf Orchesterstücke op. 10 (1911-13) aber dann als nochmalige Verdichtungen gleich einer ungeheuren Abbreviatur der Orchesterstücke op. 6. Das mag ihnen zusammen mit den Bagatellen für Streichquartett op. 9 die Bezeichnung von Aphorismen eingetragen haben, die sie als Verkürzungen ehemals ausgedehnter Formen auch sind. Da gibt es Trauermärsche und imaginäre Nachtmusiken, die an Mahlers fünfte und siebte Symphonie erinnern. Aber sie sind entweder im Verhältnis zu den extrem kurzen und schmerzhaft zusammengezogenen Stücken derartig gedehnt, dass sie wie die Schlussstücke von Opus 6 und 10 nicht aufzuhören scheinen, oder sie sind derartig verknappt, dass der Hörer, um ihnen überhaupt folgen zu können, glaubt, er müsse diese Stücke unters Teleskop nehmen, um sie derartig zu dehnen, dass sie dem hörenden Bewusstsein zugänglich gemacht werden können.

Während der langen mittleren Periode Weberns zwischen den Cellostücken op. 11 (1914) und dem Streichtrio op. 20 (1926-27) hat Webern ausschließlich Vokalwerke geschrieben, um durch die Auseinandersetzung, vor allem mit der Farbmetaphorik der Gedichte Georg Trakls, zu einem neuen Stil zu gelangen. Weberns Weg zur »Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen« ist dabei weniger entscheidend als die neue Art der gleichsam schwerelosen Führung der Vokal- und Instrumentalstimmen, die in ein vollständiges Gleichgewicht aller Stimmen eingebunden sind. Dies führt auch in den Orchesterwerken seit dem Opus 21 zur Gleichberechtigung aller Stimmen, von denen keine figurativ oder ornamental aufgefasst werden kann, weil jede gleich nahe zum thematischen Prozess der motivischen Grundgestalten ist.

Obwohl die Symphonie op. 21 (1927 - 28) mit ihren zwei Sätzen an traditionelle Werke auch zweisätzig-zyklischen Charakters der Symphonik und Instrumentalmusik erinnert (Beethovens Klaviersonaten op. 90 und Op. 111 und Schuberts h-moll-Symphonie), geht Webern hier doch einen anderen Weg: zunächst den Weg »zurück« in die zweiteilige Sonatensatzform, wie sie den ersten Satz der Symphonie bestimmt. Erst die an der Symphonik Beethovens orientierte Theorie fasste sie als dreiteilig auf, während um 1780 »Durchführung und Reprise« noch als ein einheitlich zweiter Teil verstanden wurde, der auf den ersten der »Exposition« folgte. Webern hat dieses historische Verständnis deutlich durch die Wiederholung sowohl des ersten als auch des zweiten Teils markiert, um den Bezug zur zweiteiligen Form anzudeuten.

Max Oppenheimer: Der Komponist Anton von Webern,
 1908/10, Von der Heydt-Museum, Wuppertal
Die zweite Satz macht ein anderes architektonisches Konstruktionsprinzip geltend, das im Widerspruch zur linear-dynamischen Bewegungsform etwa der Symphonien Beethovens steht. Wie die Zwölftonreihe symmetrisch um die Mitte des Tritonus geformt wird und mit Spiegelungen arbeitet, die auch in der Verbindung der Grundgestalten gehört werden können (etwa in der ersten Variation die Rückläufigkeit der Bewegung in der ersten Geige ab T.17), so überträgt Webern diese thematischen Ordnungsverhältnise dann auch übergreifend auf die Architektur der Form. Das Thema mit sieben Variationen und Coda verdichtet sich im Sinne einer von außen nach innen in die »Mitte« der vierten Variation gehenden Symmetrie. So entsprechen sich auf verschiedene Weise die Rahmenvariationen I:VII - II:VI - III:V, und die vierte ist die ambivalente Mitte zwischen dem Thema der Variationen und der Coda. Das klassisch-organische Formschema des späten 18. Jahrhunderts wird also von einem architektonisch-symmetrischen Schema durchkreuzt, wie J. S. Bach es uns in den Goldberg-Variationen und in seiner Actus tragicus-Kantate vorgeführt hat.

Auch für das Konzert für Neun Instrumente op. 24 (1931-34) ist die Bachsche Formarchitektur von Bedeutung. So schreibt Webern in der Phase des ersten Entwurfs am 19. September 1928 an den Verleger Emil Hertzka: »Mittlerweile habe ich mich auch bereits wieder einer neuen Arbeit zugewandt: einem Konzert für Geige, Klarinette, Horn, Klavier und Streichorchester. (In Sinne einiger Brandenburgischen Konzerte von Bach.).« Der Bezug auf J. S. Bach wird über diesen brieflichen Hinweis hinaus noch nachdrücklicher durch den Sachverhalt, dass Webern in der Phase der endgültigen Niederschrift des Opus 24 im Jahr 1934 das sechsstimmige Ricercar aus Bachs Musikalischem Opfer für Orchester setzte.

Mit Weberns vorletztem Werk, den Variationen für Orchester op. 30 (1940), schließt sich der Kreis zu seinem Opus 1. Es zeigt sich für Weberns Gesamtwerk tragend, aus einem unerhört vielfältig ineinander verflochtenen thematischen Gebilde einen Formprozess zu entwickeln, der auf verschiedenen Stufen das nach außen treibt, was in der Grundgestalt des Themas bereits vorgezeichnet war. Deswegen sind die Webernschen Themen, vor allem in seinen Variationswerken, nicht Ausgangspunkt, sondern Endpunkt, von dem aus die Komposition bis in ihren Anfang hinein zurückentwickelt wird (nicht zufällig sind deswegen viele seiner Formen rückläufig oder stellen die Grundgestalt der Reihe nicht zu Beginn, sondern erst im zweiten Satz vor). In einem Brief vom 3. Mai 1941 an den Schweizer Kritiker und Musikologen Willi Reich erklärt Webern: »Alles nun, was in dem Stück (op. 30) vorkommt, beruht auf den beiden Gedanken, die mit dem ersten und zweiten Takt gegeben sind (Kontrabass und Oboe)! Aber es reduziert sich noch mehr, denn die zweite Gestalt (Oboe) ist schon in sich rückläufig: die zweiten zwei Töne sind der Krebs der ersten zwei, rhythmisch aber in der Augmentation. Ihr folgt, in der Posaune, schon wieder die erste Gestalt (Kontrabass), aber in Diminution! Und im Krebs der Motive und Intervalle. So nämlich ist meine Reihe gebaut, die mit diesen dreimal vier Tönen gegeben ist.«

Quelle: Anonymus, im Booklet


Track 19: Anton Webern: Variationen op. 30 (Lebhaft)


TRACKLIST

Anton Webern (1883-1945)


     Im Sommerwind - 'Idylle für großes Orchester nach einem Gedicht von Bruno Wille'
     In the Summer Wind - 'Idyll for large orchestra after a poem by Bruno Wille' 
     Au Vent d'été - lIdylle pour grand orchestre d'après un poème de Bruno Wille' 
(01) Ruhig bewegt                  12'44 

     Passacaglia Op.1 
(02) Sehr mäßig, Tempo I           10'51 

     Six Orchestral Pieces Op.6 
     arr. for reduced orchestra 1928 
(03) Etwas bewegte                  0'55 
(04) Bewegt                         1'21 
(05) Zart bewegt                    1'03 
(06) Langsam - marcia funebre       4'55 
(07) Sehr langsam                   2'53 
(08) Zart bewegt                    1'52

     Five Orchestral Pieces Op.10 
(09) Sehr ruhig und zart            0'57 . 
(10) Lebhaft und zart bewegt        0'37 
(11) Sehr langsam und äußerst ruhig 1'47 
(12) Fließend, äußerst zart         0'38 
(13) Sehr fließend                  0'51 

     Symphony Op.21 
(14) Ruhig schreitend               6'03 
(15) Variationen                    2'52  
     Thema: Sehr ruhig - Variationen 1-7 

     Concerto Op.24 
     For flute, oboe, clarinet, horn, trumpet, trombone. violin. viola & piano 
(16) Etwas lebhaft                  2'33 
(17) Sehr langsam                   2'06 
(18) Sehr rasch                     1'15 

     Variations Op.30 
(19) Lebhaft                        7'01 

                               TT: 64'13

Staatskapelle Dresden 
Giuseppe Sinopoli conductor 

Recorded at the Lukaskirche, Dresden, in September and October 1996
Recording producer: Wolfgang Stengel
Recording engineer: Christian Feldgen 
Assistant engineers: Tobias Lehmann, Peter Weinsheimer
Digital editing: Andreas Florczak 

DDD
® l999 
© 2003 

William Hogarth: »Beer Street and Gin Lane«
Hogarths Geschäftskarte »The Shop Card« als Kupferstecher
Als William Hogarth (1697-1764) im Februar 1751 das Erscheinen der Blätter »Beer Street« und »Gin Lane« - »Bierstraße und Schnapsgasse« - gemeinsam mit »The Four Stages of Cruelty« (»Die vier Stufen der Grausamkeit«) öffentlich annoncierte, war er unbestritten der Erste seines Zeichens auf der britischen Insel. […] Er wurde einer der großen Neuerer in der Geschichte der Kunst - nicht indessen auf eine ingeniös explosive, sondem eine nach Bedürfnissen und Marktlücken spähende, kalkulierende Weise. In der Tat ist das markanteste und in der Konsequenz, mit der es in Erscheinung trat, verblüffendste Prädikat Hogarthscher Kunst das nimmermüde geschäftliche Kalkül als Voraussetzung für eine andauemde innovatorische Produktion. Die für diese Disposition - die klassische des Warenverkäufers - erforderliche Bedingung war dem jungen Hogarth sozusagen in die Wiege gelegt: Der materielle Zwang, erfolgreich zu sein.

Der Vater - Schulmeister und (verhinderter) Gelehrter - hatte wie viele das Land mit der Stadt vertauschen müssen, aber mit verschiedenen Unternehmungen nicht Fuß fassen können. Nach einer Bekanntschaft mit dem Schuldgefangnis (»Fleet«) - Haftbedingungen sind später ein thematischer Schwerpunkt im Oeuvre des Sohns - und einer Kaffeehausgründung hinterließ er (1718) diesem, seinem Ältesten, der noch in der Lehre war, nicht viel mehr als die Verpflichtung, die Familie zu versorgen. Die einzige Chance eines mittellosen Lehrlings lag, das hatte Hogarth später ausführlich in »Industry and Idleness« (»Fleiß und Faulheit«, 1747) demonstriert, in der unbedingten Einschwörung auf die Tugenden Ehrgeiz, Zuverlässigkeit, Fleiß, die eventuell über eine Verbindung mit der Tochter des Lehrherren zum Erfolg führen konnte. Aber anders als im Falle seines Helden »Francis Goodchild« mußte die Graviererlehre abgebrochen werden; Hogarth machte sich als Kupferstecher selbständig, seine eigene »Shop Card« ist eine erste Probe in der für ihn neuen Technik.

Als Stecher wäre es sein gewissermaßen natürliches Schicksal gewesen, lebenslang unselbständig in fremder Rechnung für Buchhändler und Verleger arbeiten zu müssen. Um dem zu entgehen, scheint er nichts dem Zufall überlassen zu haben. Statt der »Greuel von Heraldik« und aufgenötigter Buchillustrationen, schreibt er in den Notizen zu seinem Lebenslauf, setzte er auf künstlerische Weiterbildung und begann autodidaktisch, »Gegenstände aus der Natur zu zeichnen«. Erhellend und ernüchtemd zugleich ist der von ihm selber beschriebene Pragmatismus, mit dem er seine näheren und ferneren Ziele ansteuerte: Da es ihm an Zeit (vermutlich auch an Geld) mangelte, Zeichenunterricht zu nehmen, entwickelte er eine eigene Methode, trainierte er sich mnemotechnisch einen Formvorrat von Naturdetails an, die er nach Bedarf und Belieben zusammensetzen und künstlerisch verwerten konnte. Diese und weitere Formen des Selbststudiums, denen er später seinen Erfolg zuschrieb, ließen in ihm kunstpädagogische Ambitionen wach werden, die konsequenterweise zur Gründung einer privaten Akademie (1734) und zur Publikation der Schrift Analysis of Beauty (1753) führten. […]
Industry and Idleness, Bl. 4 (Der fleißige Lehrling, ein Liebling und
Vertrauter seines Prinzipals). Die positive Aussage wird indessen irritiert
 durch das Verhalten von Hund und Katze, die den sozialen Gegensatz
 zwischen Arbeit (City Porter) und Arbeitgeber stellvertretend austragen

In der Autobiographie heißt es weiter: »Ich heiratete dann und begann, kleine zwölf bis fünfzehn Zoll hohe Konversationsstücke zu malen. Da dies etwas Neues war, hatte ich einige Jahre lang Erfolg damit.« Diese nebensächliche, nur vom kommerziellen Aspekt bedachte Notiz betrifft nichts Geringeres als die Erfindung einer neuen Gattung, des Konversationsstücks (»Conversation Piece«). Diese Bilder enthalten kleinfigurige Bildnisse im familiären und privaten Rahmen, haben weder das Format und den Anspruch eines (Gruppen-)Porträts noch die Würde eines Historienbildes und kamen so dem wachsenden Sinn des Bürgers für Privatheit und Intimität entgegen. Das neue Genre erwarb sich schnell sein Publikum. Da jedoch ohne arbeitsteilige Produktionsweise der Gewinn aus diesen Bildern langfristig den Arbeitsaufwand nicht lohnte, sah sich Hogarth bald nach weiteren Wegen um: »(Ich) wandte deshalb meinen Blick auf ein neues Genre, nämlich das Malen und Stechen moderner Lebensbilder (»Modern Moral Subjects«), ein Feld, welches bisher noch in jedem Lande brach lag. Ich erkannte, daß die Schriftsteller und auch die Maler im historischen Stil die Zwischenstufe vom Erhabenen zum Grotesken übersahen. Das veranlaßte mich, auf meine Art zu zeichnen (zu malen).«

Das Resultat, eine Art mittleres »moralisches« Genre, das keineswegs mit der beschaulich-harmonistischen Sehweise der holländischen Sittenmalerei übereinstimmt, bedingte und bediente ein Publikum, dem der Gebrauch der Kunst zumal in ihren repräsentativen und dekorativen Konventionen noch fremd war, das statt dessen über zeitgenössische Themen und Sensationen ansprechbar schien: das großstädtische Kaffeehaus-, Journal- und Theaterpublikum, dem Hogarth denn auch zeitlebens eng verbunden war. Der »Lebenslauf einer Dirne« (»A Harlot's Progress«, 1731) machte den Anfang: Ein nicht eben seltener, wenngleich immer wieder hinreichend pikanter Vorgang konnte - geschützt durch seine moralisierende Dramaturgie - der weitreichenden Anteilnahme und des kommerziellen Erfolges sicher sein. In diesem Sinne verarbeitete und verurteilte Hogarth von nun an etwa zwei Jahrzehnte lang alle möglichen »modernen« Laster, Untugenden und menschlichen Schwächen, zumeist in gemalter (unikaler) wie auch in gestochener (reproduzierter) Version, um neben der Vervielfältigung seiner sittlichen Belehrungen zugleich auch seinen Umsatz und Gewinn zu vervielfachen.

Oben: A Rake's Progress, Bl. 1 (Der Lebenslauf eines
 Wüstlings). Das männliche Gegenstück zur »Dirne«.
Unten: A Rake's Progress, Bl 1, Raubdruck von ca 1735.
 Hogarth ließ 1734 in der Subskriptionsphase nur
eine Vorbesichtigung durch die Interessenten zu -
so mußte der »Räuber« aus dem Gedächtnis arbeiten
 - und verzögerte die Auslieferung bis zum
Inkrafttreten des von ihm initiierten
Urheberrechtsgesetzes am 25. 6. 1735.
Das so sehr hemmende Verlags- und Verkaufsmonopol der Buch- und Kunsthändler umging er, indem er Werbung und Vertrieb in die eigene Hand nahm. Er kündigte seine Arbeiten mittels Zeitungsannoncen an, lud gegebenenfalls gleichzeitig zu ihrer Subskription ein; als Quittung für erfolgte Zahlung, mit der er größere Produktionen finanzierte, vergab er kleinformatige Stiche, die er mit großer Sorgfalt und Reflexion auf die angekündigte Thematik und Tendenz entwarf und herstellte. Diese »Tickets« bilden zuvor nicht dagewesene Visualisierungen kunsttheoretischer und -politischer Standpunkte, sind als diskutierende Kunst ebensolche Neuerungen wie die genannten Gattungen. Die Gemälde, sofern er sie nicht unmittelbar verkaufen konnte, suchte er ebenfalls unter Umgehung des Kunsthandels mittels selbstveranstalteter Auktionen und Lotterien - mehr oder minder erfolgreich - zu verwerten. Selbstverlag und Selbstvertrieb konnten indessen langfristig nur erfolgreich sein, wenn dem weitverbreiteten unautorisierten Kopieren (»Piracy«) das Handwerk gelegt wurde, - allein vom »Harlot«-Zyklus sind acht Raubdrucke bekannt. Hogarths diesbezügliche Vorstöße bei der Legislative führten zur sog. »Hogarth-Akte« (1735) - »According to Act of Parliament« wird nun unter die Blätter gerückt -, in der erstmals das Urheberrecht grundsätzlich anerkannt und fixiert wurde.




Beer Street und Gin Lane: Schilderungen britischen Glücks und Elends


William Hogarth: Beer Street. Kupferstich mit radierten Anteilen, 35,8 x 30,2 cm
Nach all diesen Erfahrungen und Erfolgen stand Hogarth um die Mitte des Jahrhunderts auf dem Zenith seines Lebens. Seine Ambitionen und Zukunftspläne waren noch weitgespannt, aber er dachte bereits daran, von den Früchten, die er geerntet, als Wohltäter und Menschenfreund an die Gesellschaft zurückzugeben. In dieser Situation traf er auf das Thema des Alkoholismus sowie einiger Erscheinungsweisen menschlicher Grausamkeit, mit denen er, so weit wie noch nie zuvor, in die Öffentlichkeit dringen wollte. […]

Die Ankündigung der Publikation im General Advertiser (13.2.1751) äußert sich in dieser Hinsicht recht detailliert: »Am nächsten Freitag werden zwei große Drucke zum Preis von 1 s. (1 Shilling), gezeichnet und gestochen von Mr. Hogarth, mit dem Titel Beer Street und Gin Lane publiziert werden. Eine Lieferung wird in einer besseren Qualität für den Liebhaber zum Preis von 1 s. 6 d. (1 Shilling und 6 Pence) gedruckt. Und am darauffolgenden Donnerstag sollen vier Drucke über das Thema Grausamkeit erscheinen, - zum selben Preis und im selben Format. N.B. (nota bene): Insofern die Themen dieser Drucke berechnet sind in der Hoffnung, ihnen größtmögliche Verbreitung zu gewährleisten, nämlich um gewissen grassierenden Lastern namentlich der Unterklasse zu steuern, hat sie der Autor auf preiswerteste Weise produziert. Sie sind zu haben in seinem Haus The Golden Head in Leicester Fields, wo auch alle seine übrigen Werke zu erwerben sind.«

Die Blätter stellen nun nicht etwa - wie es aus der Nominierung der Alkoholika Bier und Schnaps zu lesen naheläge - eine Steigerung des Lasters nach Art der gleichzeitig angekündigten vierstufigen Grausamkeit vor, sie bezeichnen vielmehr, bezogen auf die jeweilige Konsumentenschicht der Getränke, einen Kontrast moralischer und sozialer Natur, wie er in Hogarths und seiner Zeitgenossen Augen nicht krasser sein konnte.

Die Lesbarkeit dieses Sinnes wird buchstäblich vermittelt durch die unter die Darstellungen gerückten Verse. Sie stammen aus der Feder von Reverend James Townley (1714-1778), Stückeschreiber und Pädagoge, Hogarths Freund und Helfer vor allem in theoretischen Dingen:

O Bier! Gesunder klarer Gerstensaft,
Du kannst verleihen Manneskraft,
Wenn müde von des Tages Werken,
Wirst Du uns stets von Neuem stärken.

Arbeit und Kunst, durch Dich gehoben,
Wird Deinen Wert frohsinnig loben.
Dein würziger Genuß wird uns mit Fröhlichkeit umfassen,
Und Frankreich woll'n wir gern das Wasser überlassen.

Du, der Gesundheit Geist, empfange unseren Dank,
Weil Du uns gleichst der Götter Trank
Und neu erweckst in jedes Briten Brust
Der Freiheit und der Liebe Lust.
Beer Street, Detail:
Pärchen und Tageszeitung
Branntwein, entsetzlich' Gift! Der Hölle Fluch!

Du hast der Menschenopfer nie genug.
Mit heimlicher Verführung wirst Du stets berücken,
Um der Gesundheit Leben gänzlich zu ersticken.

Tugend und Wahrheit bringt er auf den Weg der Sünde,
Bis er in Diebstahl und Mord die Menschen wiederfinde,
Reißt aller Pflichten Band entzwei,
Bringt unseres Gottes Ebenbild zur Raserei.

Er ist der Menschen Fluch. Ein Feind dem Leben,
Ein Dämon, der der Hölle Dienst ergeben,
Kann die Vernunft in Wahnsinn umgestalten,
Durch sein verborgnes und verderblich' Walten.

Der Kontrast der beiden Blätter, ihre aus dem Gegensatz resultierende Beziehung, verlangt nach einer synoptischen Vorstellung. Das Nacheinander der Lektüre sollte durchs Nebeneinander in der Anschauung ergänzt werden. In beiden Fällen - bei Bier und Schnaps - läßt Hogarth in eine Straßenszene blicken; wie er aber nie etwas dem Zufall und der Beliebigkeit überlassen hat, so auch hier nicht in der Kennzeichnung der Örtlichkeiten: Das Bier hat seine Domäne im königlichen Sprengel von St. Martin in the Fields, wo sich denn auch sein eigenes Haus - »The Golden Head« - befand; der Schnaps regiert im notorischen Slumviertel St. Giles' Parish in Westminster.

Der Kirchturm der Bierszene, der von St. Martin, erst in jüngerer Zeit (1721-26) von James Gibbs erbaut, ist auffällig beflaggt: Es ist der 30. Oktober, des Königs (Georgs II.) Geburtstag. Seine jüngste Thronrede (»His Majesty's Most Gracious SPEECH To both Houses of PARLIAMENT On Tuesday ye 29. Day of November 1748«) ist vorn im Bild auf dem Tisch der Zechenden - abgedruckt in The Daily Advertiser - deutlich zu lesen: »Lassen Sie mich Ihnen die Beförderung des Handels und die Ausbildung der Künste des Friedens dringlich empfehlen; Sie können sich hierbei auf meine herzliche Mitwirkung und Ermutigung verlassen«.

Beer Street, Detail: Die Fischmädchen mit der Heringsballade
Der königliche Appell scheint hier in sozialem Mikrokosmos bereits verwirklicht. Feier des Tages, Arbeit und Gewerbefleiß ergänzen sich zu einem erfreulichen Anblick. Das Wirtshaus »The Sun« floriert, das Dach und die Fassaden werden erneuert; die Dachdecker prosten einander zu. Vor dem Haus hat eine Sänfte haltgemacht, die dicke Dame darin muß - zwischen ihren hochgeklappten Reifrock geklemmt (über dieses Motiv wird noch zu sprechen sein) - in selbstverschuldeter Unbequemlichkeit ausharren, bis die Träger ihr billiges Bedürfnis, den brennenden Durst, mit Bier gelöscht haben. Im Obergeschoß des Nebenhauses sind drei Schneider am Werk - und trinken Bier. Die Pflasterer auf der Straße arbeiten teils, teils trinken sie - eines der wenigen Arbeitsmotive im Werke Hogarths und ähnlich bereits auf einem frühen Firmenschild zu finden (ca. 1725). Einer von ihnen hat Platz genommen vorn am Tisch beim Wirtshaus »The Barley Mow« (»Der Gersten-Schober«), wo er, Ramme und Bierkrug in der Rechten, einem jungen Hausmädchen - kenntlich an Marktkorb und Schlüssel - Avancen macht. Bis zum Mieder vorgedrungen, nähert er sich dem offenbar nicht sehr entschieden bewachten Schlüssel auf des Mädchens Schoß - seit den Niederländern des 17. Jahrhunderts beliebter Bildwitz über die Schwankungen zwischen Verschlossenheit und Zugänglichkeit. Der dicke Schmied daneben hält paffend und prostend eine gewaltige Hammelkeule mit seiner Linken in die Höh'. […] Ein nicht minder fülliger Schlachter ergänzt die behagliche Runde.

In der Mitte der Szene widmen ihre gesammelte Aufmerksamkeit zwei reizend gruppierte Fischmädchen einer »neuen Heringsballade« von Mr. Lockman (A new Ballad on the Herring Fishery by Mr. Lockman). John Lockman (1698-1771), genannt »The Herring Poet« und ein Freund von Hogarth, war Sekretär der national gesinnten »Society of the free British Fishery«; diesen seinen Posten verinnerlichend, besang er britische Fischerei und britischen Hering, u.a. in der Schrift The Shetland Herring and Peruvian Gold-Mine (1751), worin er den Gewinn aus ehrlicher heimischer Arbeit, sonderlich dem Fischfang, der spekulativen Profiterwartung aus exotischen (peruanischen) Goldminen entgegensetzte. Das mußte Hogarth aus der Seele gesprochen sein, der sich - graphisch -selbst mehrfach mit den peruanischen Goldminen und ähnlichen, wirre Psychosen auslösenden »bubbles« (»Seifenblasen«) beschäftigt hatte. Das Mädchen mit dem Fischkorb auf dem Kopf - es erinnert an Hogarths berühmtes Gemälde »The Shrimp Girl« (»Die Garnelenverkäuferin«, ca. 1745, National Gallery, London) oder das Milchmädchen in »The Enraged Musician« (»Der aufgebrachte Musiker«, 1741) - war ihm Inbegriff und Inkarnation gesunden und nützlichen Volkslebens.

Ganz rechts im Bild macht ein »City Porter« - als Lastträger erkennbar an dem Wappen der Stadt London - Porter trinkend, seine angesichts der gewaltigen Last wohlverdiente Pause. Die Schriften in seinem Korbe sind adressiert »For Mr Pastem the Trunk maker in Pauls Ch Yd« (»Für Mr. Pastem, den Kofferfabrikanten in St. Paul's Church Yard«), mithin ausgewiesen und bestimmt, als Fütterungsmaterial bei Mr. Pastems (= paste them = klebt sie) Kofferfabrikation bei St. Paul's Cathedral Verwendung zu finden.

Beer Street, Detail: Der City Porter
Die von Hogarths Hohn zu Makulatur verdammten Titel repräsentieren alles, was, für ihn abscheulich, gegenwärtig Konjunktur zu haben schien: Hill on Royal Societies meint John Hill A Dissertation on Royal Societies (London 1750), in der sich der Autor über die Ablehnung seiner Mitgliedschaft in der »Royal Society« beleidigt Luft macht. Bei Turnbul on Ant(ient) Painting handelt es sich um George Thurnbull A Treatise upon Ancient Painting (London 1740), der die »alte« klassische Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts, die gegenwärtige Kunst dadurch in Hogarths Augen im Geschäft schädigend, übergebührlich preist: diese seine Privat-Querele hat er in »The Battle of the Pictures« - dem »Kampf der Bilder« (1745) - und zahlreichen anderen Äußerungen hartnäckig ausgetragen. Lauder on Milton, das ist William Lauder An Essay on Milton's Use and Imitations of the Moderns in his 'Paradise Lost' (London 1750), in dem der von Hogarth hochverehrte (und illustrierte) John Milton (1608-1774) in betrügerischer Absicht und mit einer Raffinesse, der selbst die Gelehrsamkeit des Dr. Johnson erlegen war, des Plagiates bezichtigt wird. Zu guter Letzt sind in des City Porters Kiepe noch Modern Tragedys Vol: 12 und Politicks Vol: 9999 zu sehen, - zeitgenössische Manien karikierende Titel sozusagen im Dutzend.

Beer Street, Detail:
Der Schildermaler
In diesem Bilde der Prosperität und des Glücks ist einzig der Pfandleiher (»N. PINCH PAWN BROKER«, pinch = pressen, quälen) mangels Nachfrage ruiniert; sein Haus, notdürftig von einem Pfosten gestützt, ist in fortschreitendem Verfall und sein Gewerbezeichen im Sinken begriffen. Augenscheinlich darf er sich der Gefahr wegen, selber als Schuldner verhaftet zu werden, nicht auf die Straße wagen, bekommt deshalb seinen Pint vom Bierjungen durch die Klappe des einst respektablen Portals gereicht. Nachdem, mit Ausnahme seiner selbst, allhier keine Seele als Schuldner zu ködern und zu fangen ist, hat er sich - man sieht die Falle im demolierten Fenster - auf die Jagd nach Mäusen verlegt. Man beachte dagegen seine 'soziale' Rolle und Geltung in der Gin-Szenerie!

Allein der Maler, der freihändig auf der Leiter mit dem Wirtshausschild »The Barley Mow« beschäftigt ist, verbleibt noch abgezehrt und abgerissen. Verliebt in seine prosaische Leistung ist er dabei, eine aufgehängte Ginflasche auf ein Schild zu kopieren, wo sie neben einem Becher wiederkehrt, in welchen sich ihr Inhalt in hohem Bogen sozusagen supranaturalistisch ergießt. […] Hier ist die Ginflasche eher der 'liquidierte' Störenfried im Reiche des Biers, das sich in der Inschrift eben dieser Tafel auffällig zu Wort meldet: »AN CALVAR(T'S) BEST BUTT (BE)ER« - »ein Faß besten Calvart-Biers«. Calvert war eine namhafte Londoner Brauerei. Auf dem zierlich gerahmten Schild des Wirtshauses hat sich dessen Name zur Szene verwandelt: »Health to the Barley Mow« - ein Haufen geernteter Gerste, den mit Hilfe einer angelehnten Leiter ein fröhlich winkender Zecher erklommen hat, um den ausgelassenes gerstensaftberauschtes Landvolk tanzt.

William Hogarth: Gin Lane. Kupferstich mit radierten Anteilen, 35,8 x 30,2 cm
Welch einen Kontrast bietet der Blick in »Gin Lane«, auf die Kehrseite des Londoner Lebens! Mit der urbanen ist auch die soziale Situation regelrecht ins Gegenteil gewendet. Das in beiden Szenen augenfälligste Motiv - des Pfandleihers Haus -, dem der bürgerliche Wohlstand so schlecht bekommen ist, macht hier im Elend eine prächtige Figur. Sein Gewerbekreuz ist hoch gereckt und scheint der Kirchturmspitze aufgesetzt - eine harsche Eröffnung an die Adresse der Amtskirche. Doch auch die staatliche Autorität ist angesprochen; der Turmhelm nämlich - St. George vom Londoner Sprengel Bloomsbury - ist hierher nach Westminster verpflanzt. Die Plazierung des als Nachbildung des Mausoleums von Halikarnass verstandenen Turmes (von Nicholas Hawksmoor, 1661-1736) setzt diesem Bild des Elends- und Seuchentodes wahrhaftig die Krone auf: Die Spitze trägt das Denkmal des gekrönten Hauptes von Britannien, König Georgs I.

Links im barock überfangenen Portal des Leihhauses sind ein Mann und eine Frau dabei, ihr wohl letztes Hab und Gut zu versetzen. Der Geschäftsinhaber »Gripe« (= Griff) ermittelt seinen Preis für die Pfänder - Rock, Säge, Teekessel, Kochtopf und Feuerzange, allesamt unentbehrliche Dinge, nach deren Aufgabe eine auch bescheidene bürgerliche Haushaltung ausgeschlossen scheint. Wieviel Wert ward dagegen in »Beer Street« aufs Präsentieren des Berufs- und Alltags-Instrumentariums gelegt! Gripe, in dessen Haus sich wertvolle Gefäße sichtbar im Fenster ansammeln, scheint alle in der Szene Versammelten bereits im »Griff« gehabt zu haben; am wirkungsvollsten wohl den Balladenverkäufer rechts unten auf der Treppe, wo ein Stützbalken seinen stillen Dienst leistet.

Von dem Hündchen, der weniger geschädigten Kreatur, begleitet und bewacht, ist er so entkräftet hingesunken, daß ihm nicht mehr anzusehen ist, ob er noch unter den Lebenden weilt. Den skelettierten Körper deckt lediglich restliche Oberkleidung - Erfüllung des populären Gin-Slogans »Stripe-me-naked«. Aus seinem Korb hängt ein Exemplar der Balladen mit dem Titel The downfall of Mdm Gin (Der Untergang von Madame Gin). Hogarths Biograph und Kommentator John Ireland will aus dem Munde ähnlicher Stadtstreicher den Ruf vernommen haben: »Buy my Ballads, and I'll give you a glass of Gin for nothing«; und noch jetzt (um 1790!) existiere an einem Barbierladen nahe der Drury Lane das inschriftliche Angebot »Shave for a penny, and a glass of Gin into the bargain« (»Die Rasur für 1 Penny und ein Glas Gin obendrein«).

Gin Lane, Detail: Die Syphilitikerin mit dem stürzenden Baby
Auf den Treppenstufen hat sich eine syphilitische Trinkerin - nicht ohne einen Anflug heruntergekommener Grazie - niedergelassen; während sie sich mit Schnupftabak versorgt, stürzt ihr Kind über das Geländer zu Tode. Sein Gesichtchen, zunächst kindlich glatt, ist seit dem 3. Druckzustand in einen Skelettkopf umgezeichnet, was wohl sagen soll, es hätte auch ohne den Unfall nicht heranwachsen können. Hinter der Brüstung nagen ein Mann und ein Hund am selben Knochen, und eine betrunkene Schläferin verharrt schon so lange unbewegt in ihrer Stellung, daß eine Schnecke sie zu beklettem vermochte, ein Motiv, das schon an der Allegorie der Faulheit in »The Lottery« (1721) erscheint. Darunter gewahrt man die Kellerspelunke »GIN ROYAL« mit der einladenden Formel:

»Drunk for a Penny
Dead drunk for two pence
Clean Straw for Nothing«

(»Betrunken für 1 Penny, zu Tode betrunken für 2 Pence, reines Stroh umsonst«).

Vor dem Ausschank von »KILMAN (= Menschentöter) DESTILLER« herrscht großes Gedränge; ein Blinder und ein Lahmer prügeln sich, zwei Waisenkinder, das »GS« von St. Giles Parish am Ärmel der Anstaltstracht, machen ihre erste Ginprobe, ein Kleinkind bekommt seinen Schnaps aus Mutterhand noch zeitiger verpaßt. Auf gleiche Weise wird auch ein herbei- oder hinweggekarrter Säufer getränkt. Ein im Delirium Tobender hat - vor den Augen der entsetzten Mutter - ein Baby aufgespießt; wie ein Tambourmajor stolziert er einher, der mitgeführte Blasebalg ist vielleicht für den Pawnbroker bestimmt. Der Barbier, erkenntlich an seinem Gewerbezeichen, dem Horn des Narwals, hat sich in seinem Haus aufgehängt. Es folgt das Anwesen des Leichenbestatters, sein Firmenschild ist der Sarg, der vergleichbar dem Faß in »Beer Street« vor der gepflegten (!) Fassade prangt. Gleich dem Pfandleiher hat er, wie man sieht, Konjunktur; unter Aufsicht des Gemeindedieners, der professionell gravitätisch wie bei einem Staatsbegräbnis sein Amt versieht, wird gerade eine nackte junge Frau eingesargt, ihr Baby hockt weinend dabei. Es ist die ebenso hoffnungslose Umkehrung der zentralen Szene, in der das Kind zu Tode kommt, während die Mutter für den Augenblick überlebt. Hinter einem Schutthaufen verschwindet gerade der vorherige Leichenzug, während rechts das letzte Haus der Gin-Straßenzeile zusammenstürzt. Im Hintergrund ziehen sich bis unter die Füße Georgs I. Trümmer und Ruinen hin.

Gin Lane, Detail:
Die Spelunke »Gin Royal«
Die Wirklichkeit: Wie der Alkoholismus verursacht und bekämpft wurde

Den unmittelbaren Anlaß für die Produktion der Blätter hatte eine im Januar 1751, d.h. einen Monat zuvor erschienene Schrift von Henry Fielding (1707-1754) gegeben; sie führte den nach damaliger Art umständlichen Titel An Enquiry into the Causes of the late Increase of Robbers, etc. with some Proposals for Remedying the growing Evil. In which the present reigning Vices are impartially exposed; and the Laws that relate to the Provision for the Poor, and to the Punishment of Felons are largely and freely examined... (Eine Untersuchung über die Zunahme von Räubern in jüngster Zeit, mit einigen Vorschlägen zur Steuerung des wachsenden Übelstandes. Hierin werden die gegenwärtig herrschenden Laster unparteiisch vorgestellt und die Gesetze, die sich auf die Fürsorge für die Armen, als auch auf die Strafe für die Missetäter beziehen, ausführlich und freimütig geprüft).

Die Wendung »reigning Vices« tritt auch auf in der öffentlichen Ankündigung Hogarths. […] Hogarth selbst erinnert sich in seinen Autobiographical Notes dieser seiner Absicht: »Beer Street und Gin Lane wurden geschaffen, als die fürchterlichen Folgen des Gin-Trinkens auf ihrem Höhepunkt waren. In 'Gin Lane' ist jeder Umstand seiner entsetzlichen Wirkung zu Gesicht gebracht, allen zum Schrecken nichts als Armutselend und Verfall zu sehen. Not bis hin zu Wahnsinn und Tod, und nicht ein Haus in erträglichem Zustand mit Ausnahme des Pfandleihers und des Gin-Ladens. 'Beer Street', Pendant von Gin Lane, war als Gegenstück gemacht, worin das belebende Getränk empfohlen wird, um das andere aus der Gunst zu drängen. Hier ist alles vergnüglich und gedeihlich. Fleiß und Heiterkeit gehen Hand in Hand. Des Pfandleihers Haus ist an diesem glücklichen Ort das einzige, das zugrunde geht, wohinein eben des Bieres kleinstes Quantum fließt, gereicht durch ein Pförtchen aus Furcht (des Inhabers) vor drohender Arretierung.« […]

Gin Lane, Detail: Waisenkinder
und Säuglinge beim Gin-Konsum
Die »Orgie des Schnapstrinkens«, wie sie in der britischen Geschichtsschreibung figuriert, erreichte ihre traurigen Rekorde zwischen den Jahren 1720 und 1751. Als man, auf sie aufmerksam geworden, 1725 eine Untersuchungskommission einsetzte, wurden in der Metropole (ohne City und das Gebiet auf dem anderen Flußufer) 6187 Verkaufs- und Ausschankstätten für destillierte Getränke gezählt (»in same parishes every tenth hause, in others every seventh, and in one of the largest, every fifth hause«). Schnaps konnte - im Gegensatz etwa zum Vertrieb von Bier - von jedwedem und an jedwedem Ort ohne Lizenz verkauft und ausgeschenkt werden; vor allem sein Einzug in die Krämerläden (Chandlers) machte ihn für jeden, der eine alltägliche Besorgung zu erledigen hatte, unmittelbar zugänglich.

Der Regierung und dem Parlament blieb dies nicht verborgen, dennoch ließ man gewähren, entsprach man doch den Interessen der vom Grundbesitz geprägten Volksvertretung. Die über Jahrzehnte anhaltend gute Versorgungslage - einzig von wenigen Mißernten der Jahre 1727/28 und 1740 unterbrochen - hatte große Getreideüberschüsse gezeitigt, die mangels Massenkaufkraft nicht konsumierbar, somit vorzugsweise durchs Brennen verwertbar waren. Über den Umweg der Destille fand dieses Korn als billigster Schnaps den Weg dennoch zu denen, die ihn als Lebensmittel nicht bezahlen konnten, denen er dann, wenn sie süchtig geworden, als Ersatz-Lebensmittel diente. […]

Die Wende, für die man von privater Seite seit den 1720er Jahren Sturm zu laufen begann, wurde von den Autoritäten erst eingeleitet, als die »Bills of Mortality«, die gesetzliche Registratur der Taufen und Bestattungen, ein zunehmend ins Ungünstige schreitendes Verhältnis zwischen Geburten und Todesfällen auswiesen: Im Jahr 1741/42 war die Zahl der Taufen auf 13571 gesunken, die der Bestattungen auf 32169 gestiegen, und seit man zusätzlich (ab 1728) auch die Lebensalter registrierte, wurde eine erschreckende Kindersterblichkeit offenkundig, die in den Jahren zwischen 1730 und 1749 durchschnittlich ca. 75% aller (getauften) Kinder unter fünf Lebensjahren betrug.

Die Ursachen schienen auf der Hand zu liegen: Es galt allgemein als ausgemacht, daß die Schnapsflut die erschreckende Todesrate ursächlich bedingte. Unter dem Druck dieser Einsicht und der bürgerlichen Öffentlichkeit beschloß das Parlament 1729 die Lizenzierung des Schnapsverkaufs (£ 20 pro Lizenz, s 2 pro verkaufte Gallone), ein Beschluß, der allerdings schon 1733 unter dem Einfluß der Landlobby wieder anulliert wurde. Eine erneute, verschärfte Prohibition im Jahr 1736 führte zu Aufständen des - wie es hieß - Straßenmobs und zu tödlichen Ausschreitungen gegenüber den Aufsichtsbeamten. Auch demonstrierte man auf vielerlei Art und Weise, beging provokante Begräbnisprozessionen für »Madame Geneva«, die nun zur Tarnung unter verschiedenen poetischen (»The Ladies' Delight«, »Cuckold's Comfort« u.a.) und sarkastischen Decknamen (»Parliament Brandy«, »Cholick Water« u. a.) gehandelt wurde. […]


Fieldings »An Enquiry«, Titelblatt
Nach erneutem Hin und Her in der Tolerierung oder Unterbindung des Gin-Konsums schien dieser - so wird übereinstimmend berichtet - um 1750 seinen Höchststand erreicht zu haben; ein Strom von Petitionen, Denkschriften, ärztlichen Gutachten etc. drängte das Parlament zu einer endgültigen Entscheidung. Es wurden grauenhafte Details der Sucht publik, etwa der Fall der Judith Dufour, die ihr im Arbeitshaus frisch eingekleidetes zweijähriges Kind erdrosselte, um seine Kleider gegen Schnaps zu versetzen: Sie sei, sagte später ihre Mutter aus, »nie mehr klar im Kopf gewesen und unablässig herumgestrichen«.

In diese Situation fielen Fieldings literarischer und seines Freundes Hogarth graphischer Appell; gemeinsam mit den übrigen Vorstößen erwirkten sie im Sommer 1751 ein Gesetz, die Gin-Akte, das dieser extremen Weise des großstädtischen Alkoholismus nachhaltig ein Ende machte. […]

Der Umstand, daß die Graphik nicht etwa ein oder mehrere Jahre danach die vergangenen, aber noch unvergessenen Zustände zu Markte trug, sondern die Not, als sie gegenwärtig war, beschrieb, reiht sie in die vielfaltigen Spielarten der Publizistik ein, die - schreibend, spielend, zeichnend, singend - derzeit entstanden, um der Mehrheit eine Interessenvertretung gegen die Mächtigen - in Parlament, Regierung, Justiz - zu sein.

Die Ursachen des Alkoholelends haben weder Fielding noch Hogarth beim Namen genannt; beide gingen davon aus, daß der Suff der Armut vorausgehe, und nicht etwa, wie es hundert Jahre später Charles Dickens (1812-1870) sah, daß die Reihenfolge auch umgekehrt sein könnte. Staat und Amtskirche waren ihnen kritikwürdig nur wegen mangelnder Für- und Vorsorge, nicht aber, weil sie etwa an sich parteiisch und partiellen Interessen hätten hörig sein können. Ihr Land, Staat und ihre Gesellschaft erschienen ihnen als die bestmöglichen auf dieser Welt; es galt, ihren Bestand zu sichern, und nicht, sie in Frage zu stellen.

Wie er sein England ohne die Irritationen der sich abzeichnenden Klassengesellschaft sah, setzte Hogarth in »Beer Street« neben und vor das Schreckensbild des Schnapses. Das Blatt zählt mit den entsprechenden des gleichfalls antithetischen Zyklus »Industry and Idleness« zu seinen wenigen einer positiven Aussage verpflichteten Arbeiten. Wohl aufgrund des Symmetriezwanges hatte er als Leitmotiv ebenfalls ein Getränk wählen müssen, das Bier. Hiermit sollte nun nicht ausgesprochen sein, daß Bier - in jeglichem Quantum genossen - ein stets unschädlicher, ja heilsamer Trunk sei; es stand indessen nach alter Tradition - nicht viel anders als bei den Deutschen - im Ruf eines Volksnahrungsmittels, dessen Genuß Fröhlichkeit und Geselligkeit auslöse und dessen Rausch eine ehrenhafte und anständige Sache sei: »An honest drunken fellow is a character in a man's praise« (»Ein mit Anstand betrunkener Kerl ist aller Ehren wert«), wie es Defoe 1702 auszusprechen beliebte.

Quelle: Berthold Hinz: William Hogarth. Beer Street and Gin Lane. Lehrtafeln zur britischen Volkswohlfahrt, Frankfurt/Main, 1984, ISBN 3-596-23909-5, Seite 5-38

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Reposted on September 07th, 2015



1 Kommentar:

sneffels hat gesagt…

Leider sind alle Links tot ist.
Ich hoffe, Sie können sie zu beheben.
Danke sehr viel!
Sadly, all the links are dead.
I hope you can fix them.
Thank you very much!

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